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Hans-Jürgen rusch

Gekapert

Der zweite Schlag des Arno Janning

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Auch wenn der Roman Ereignisse im August 2011 beschreibt,

ist dessen Handlung an die gesetzlichen Grundlagen angepasst,

wie sie nach der Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren (›Luftsicherheitsgesetz‹)

vom 03. Juli 2012 entstanden sind.

Damit beschreibt der Text die aktuelle Sicherheitslage

in der Bundesrepublik.

 

 

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© 2013 Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © crimson Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4068-7

Inhaltsverzeichnis

 

Teil 1 Vorboten

1 – Angepirscht

2 – Irrwege

3 – Ein Geist taucht auf

4 – Rätselraten

5 – Krisensitzung

6 – Im Kanzleramt

7 – Schiffsübergabe

 

Teil 2 Hindernisse

8 – Ein Aussteiger

9 – Inspektion

10– Was tun?

11– Strafexpedition

12 – Bruchlandung

13 – Hochverrat?

 

Teil 3 Weichenstellung

14 – Schöne Versprechungen

15 – Der reitende Bote

16 – Erster Schlagabtausch

17 – Planänderung

18 – Im Maritim Headquarter

19 – Rotgerber fehlt

20 – Ausgebootet

21 – Versteckt in Zitterpenningshagen

22 – Mayday! Mayday … Mayday!

23 – Auf dem Schlachtfeld

24 – Undurchsichtige Lage

25 – Marder, Luchs und Panther gehen in See

26 – Versorgung auf See

27 – Der Brief des Enkels

28 – Verdächtige Kontakte

29 – док петровский?

30 – Leck im Schiff

31 – Juno verwaist aufgefunden

32 – Raketencheck

33 – Von Janning missbraucht

34 – Gereizte Atmosphäre

35 – Bitte aufmachen – Polizei!

 

Teil 4 Schlussakkord

36 – Gewitter im Norden

37 – Auf Angriffskurs

38 – Zurück im Verlies

39 – Die Katastrophe verhindern

40 – Der Referatsleiter bringt sich in Stellung

41 – Flugkörper klar zum Einsatz!

42 – Entscheidende Minuten

 

Worte danach

 

Anhang

Seemanns-Latein

Interview mit Tino Semper zu den Wurzeln der Geschichte

Konflikte um die Baugenehmigung der Ostsee-Pipeline Nord Stream

AIS-Tarnung der 575 während derOperation BalticJump

 

Danksagung

 

Gewidmet den Frauen und Männern, die unsere Seegrenzen sichern, und den Menschen, die sich tagtäglich für die Sicherheit auf Nord- und Ostsee aufopfern.

 

Decksplan der Hans Beimler

 

 

Charaktere

 

Aufgeführt sind die wichtigsten Charaktere mit ihrem Geburtsjahr.

 

Ambron, Ingo (1957): Sprecher des 575-FanKreises

Bendler, Uta (1984): Stabsfunktion Organisation im Havariekommando

Constantinescu, Rajko: Gruppensprecher der (1960) rumänischen Roma

Fabre, Gerd (1977): Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle

Graf, Tilmann (1964): Mitarbeiter von Arno Janning

Itzig, Svenja (1965): Chefin eines Sicherheitsdienstes in Stralsund

Janning Arno (1937): Chef des Instituts für Entwicklungshilfe und Kooperation (IEK) in Bremen

Kernler, Karl-Heinz (1957): Beamter im Bundeskanzleramt Referat 712

Löffler, Otto (1944): Hauptkommissar a. D.; früher bei der Kripo Stralsund

Lüders, Jürgen (1953): Fregattenkapitän; Chef des MHQ im Flottenkommando Glücksburg

Marschmann, Malte (1975): Kapitänleutnant im Flottenkommando Glücksburg

Nastase, Nicolae (1962): rumänischer Roma

Ofzschak, Fedja (1975): rechte Hand von Arno Janning

Pit Itzig, Peter (1970): Journalist; Svenjas Ehemann

Referatsleiter (1963): Leiter des Referats 712 im Bundeskanzleramt

Rotgerber, Ludger (1964): Mitarbeiter in der Firma von Svenja Itzig

Steigleder, Rita (1975): erfolgreiche Autorin von Kriminalromanen

Teil 1
Vorboten

Oktober 2010

1 – Angepirscht

 

Kiel – Freitag, der 08.10.2010 18.25 Uhr

 

Lastwagen auf Lastwagen rollt auf das Fahrzeugdeck der LiscoGloria. Einweiser dirigieren die Vierzigtonner zu ihren Stellplätzen. Nur Zentimeter voneinander getrennt parken sie Heckklappe an Windschutzscheibe, Bordwand an Bordwand, in Dreierreihen nebeneinander.

In einer Nische auf dem Oberdeck steht ein Mann und beobachtet das Rangieren der Brummis. Ab und zu wirft er einen Blick in seine Kollegmappe, konzentriert sich aber sofort wieder auf die Lastzüge so, als erwarte er einen bestimmten. Lärm und Dieselabgase scheinen ihm Unbehagen zu bereiten; immer wieder wendet er sich ab, um kurz darauf neuerlich Ausschau zu halten. Plötzlich merkt er auf, blättert in seinen Unterlagen und läuft schließlich in Richtung eines Lasters, der gerade an der Backbordseite des Fahrzeugdecks zum Stehen kommt. Schnell schließen rechts und dahinter andere auf. Schon klettert der Fahrer aus der Kabine, und die Besatzungsangehörigen beginnen mit dem Verzurren des Brummis, während der Mann aus der Nische herankommt.

»Ich bin Ludger Rotgerber, von der SSK, der Stralsunder Sicherheitsdienst und Kurierfahrten GmbH. Sie haben sechs Kisten Medizintechnik geladen?«

»Sie überwachen den Transport?«, fragt der Fahrer.

»Ja. Ich wollte die Fracht schnellstmöglich übernehmen.«

»Soll mir recht sein.«

Die beiden Männer gehen zum Heck des Trucks und klettern auf die Ladefläche. An deren Ende stehen nebeneinander die Transportbehälter fest verzurrt, aber leicht zugänglich. Die Deckel zieren gelb-schwarze Laser-Warnsymbole. Der Fahrer öffnet eine Kiste nach der anderen und Rotgerber kontrolliert die wohlverpackten Geräte anhand seiner Unterlagen. Den vorderen Teil des Laderaums füllt ein Container aus, den die beiden nicht beachten.

»Alles exakt, wie es sein soll«, resümiert Rotgerber eine halbe Stunde später. Der Fahrer nickt, beginnt die Behältnisse wieder zu schließen, und Rotgerber versiegelt sie anschließend mittels Draht und Plombe. Nach einem letzten Blick auf die Ladung klettern beide auf das Deck hinunter.

»Ich kontrolliere kurz vor dem Auslaufen noch einmal die Sendung«, erklärt Rotgerber dem Fahrer, der sein Gepäck aus dem Fahrerhaus holt.

»Meinetwegen. Hinten ist ja offen. Kommen Sie in Klaipeda mit zum Kunden?«

»Ja. Bei drei Millionen Versicherungssumme muss ich die Fracht persönlich beim Empfänger abliefern.«

Der Fahrer nickt erneut. »Soll mir recht sein. Ich erwarte Sie während des Anlegens hier am Wagen. Ich mach jetzt Feierabend.« Er tippt den Zeigefinger an den Schirm seines Käppis und verschwindet in Richtung Aufbauten.

Rotgerber sieht ein letztes Mal auf die Ladefläche des Trucks und läuft dann auch zum Schott, das in das Deckshaus führt.

 

Auf Deck 8 liegen die Kabinen der gehobenen Preisklasse in einem abgeschlossenen Bereich, den die Passagiere mit ihrer Bordkarte öffnen können. Gleich am Eingang hängt ein Automat, der Getränke und Snacks enthält. Scheinbar in eine Plauderei vertieft stehen hier eine junge Frau und ein älterer Mann beieinander.

Auf einmal klingelt das Handy des Alten, das er in der Hand hält. Sein Blick senkt sich auf das Display. »Er kommt.«

Die Frau sieht ihn fragend an und deutet den Gang hinunter. »Da lang und am Ende rechts?«

»Genau.« Zwei tiefe Falten, die von der Nase zum Mund verlaufen, geben dem Gesicht des Alten einen ernsten Zug. »Rotgerber bewohnt die 873, gleich gegenüber Ihrer Kabine.«

»Ist gut.« Zögerlich geht die Frau los.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, gibt ihr der Alte mit auf den Weg. »Rotgerber wird Sie anhimmeln. Er kennt alle Ihre Bücher.«

Die Frau nickt.

»Intimitäten werden nicht notwendig sein. Halten Sie ihn die nächste Stunde vom Fahrzeugdeck fern und verheißen Sie ihm einen netten Abend.«

»Okay.«

Die Frau verschwindet an der nächsten Ecke des Gangs. Wenige Meter von ihrer Kabine entfernt trifft sie auf Rotgerber.

Der scheint überrascht. »Frau Steigleder?«

Die Frau lächelt und fragt nach dem Weg zum Ausgang, sie verlaufe sich stets aufs Neue, wolle eigentlich nur in der Bar einen Kaffee trinken.

Rotgerber erwacht aus seiner Überraschungsstarre und bietet an, sie dorthin zu begleiten. Er müsse lediglich sein Gepäck abstellen. Mit zitternden Händen öffnet er die Tür, wirft Reisetasche und Kollegmappe in den winzigen Korridor dahinter und schließt wieder ab. Gemeinsam verlassen die beiden den Kabinentrakt und steigen ein Deck tiefer.

Der Alte registriert wohlwollend die rege Unterhaltung zwischen Rotgerber und der Autorin. Als sie das Bordcafé betreten, bleibt er zurück, drückt auf dem Handy eine Taste, spricht einige Worte, geht währenddessen auf den Ausgang zu und verlässt das Schiff.

 

Aus einer dunklen Ecke des Fahrzeugdecks lösen sich drei Männer und steuern auf den Lastzug zu, auf dem Rotgerber vorhin die Fracht übernommen und verplombt hat. Dort angekommen klettern zwei von ihnen auf die Ladefläche, während der dritte unten stehen bleibt und die Umgebung beobachtet. Die beiden auf dem Laster öffnen den Container, den Rotgerber und der Fahrer nicht beachtet haben. Zum Vorschein kommen zahlreiche Holzkisten alle mit der Aufschrift: Danger! Explosive!. Im nächsten Moment schneiden sie den Plombendraht der sechs Frachtkisten durch und entfernen die Sicherungen. Behände tauschen sie die Ladungen des Containers mit denen in den Frachtkisten aus. Nach getaner Arbeit fädeln sie wieder die Plombendrähte ein, knüpfen die zuvor getrennten Enden zusammen und verstecken die schadhaften Stellen hinter den Laschen der Verschlüsse. Schnell springen sie von der Ladefläche auf das Deck und verschwinden.

Zehn Minuten später nähert sich ein kräftiger Bursche mit struppigen Haaren und einem Dreitagebart dem bewussten Brummi. Mit dem sonnengegerbten Gesicht und in seinem orangefarbenen Ölzeug ähnelt er einem Besatzungsangehörigen. Er scheint die Verzurrung zu kontrollieren, kriecht dann aber unter die Bodenwanne gleich neben den Vorderrädern und befestigt am Fahrgestell ein schwarzes Päckchen in der Größe eines Schuhkartons.

2 – Irrwege

 

An Bord der LiscoGloria – 23.32 Uhr

 

»Wie spät haben wir es eigentlich?« Rita Steigleder sah unvermittelt auf ihre Uhr.

Ludger tat es ihr gleich halb zwölf. Nun saßen sie noch keine zwei Stunden hier beisammen, und Rita schien die Lust an ihrer Unterhaltung verloren zu haben. Er kämpfte gegen die aufkeimende Enttäuschung an.

Nach dem Besuch im Bordcafé hatte Ludger die von ihm verehrte Krimiautorin zu einem Abendessen eingeladen, das er beinahe überstürzt hatte verlassen müssen, um die abschließende Inspektion der Ladung durchzuführen. Zum Glück hatte sich Rita ob seiner Dienstpflichten keineswegs enttäuscht gezeigt und einem anschließenden Beisammensein in der Bar zugestimmt wenn er nicht zu lange für seine Arbeit benötige, wie sie mit einem zauberhaften Lächeln hinzugefügt hatte.

Beschwingt war Ludger auf das Fahrzeugdeck geeilt, wo ihm ein Mann der Besatzung den Weg versperrt hatte während der Fahrt habe niemand etwas zwischen den Brummis zu suchen. Nur durch allergrößte Überredungskünste und mit dem Versprechen, nach zwei Minuten zurückzukehren, hatte er die Abschlusskontrolle erledigen dürfen. Ein Rundblick über die Transportkisten hatte glücklicherweise ausgereicht, um deren Unversehrtheit festzustellen. Nach getaner Arbeit war er unter die Dusche gesprungen und hatte sich in Schale geworfen, soweit das die mitgeführte Garderobe erlaubte, und schließlich mit klopfendem Herzen Rita abgeholt. Bei einem gepflegten Gläschen Wein waren die beiden einander näher gekommen und wie von selbst zum vertraulichen Du übergegangen.

»Mir steht morgen eine anstrengende Recherchereise bevor.« Rita schmunzelte. »Wir nehmen jetzt noch einen klitzekleinen Absacker ohne Alkohol und verschwinden in unsere Kabinen.«

Mit gequältem Lächeln zeigte sich Ludger einverstanden und bestellte zwei Orangensäfte. Irgendwann endete halt auch der schönste Abend. Aber die eine Frage wollte er unbedingt noch stellen. Falls Rita ihm diese verübelte, vergab er sich nichts mehr sie gingen eh gleich auseinander. »Ich habe bisher alle deine sieben Romane gelesen. Warum erschien eigentlich in den vergangenen drei Jahren keiner?«

Rita bemühte ein verlegenes Lächeln, nippte an ihrem Saft und schaute ihn an. »Um ehrlich zu sein, weil ich um einen Neustart kämpfe.«

»Du?«

»Vielleicht erinnerst du dich, gerade meine jüngsten beiden Bände wurden von der Presse zu wertlosem Altpapier deklassiert.«

»So ein Quatsch«, protestierte Ludger, »irgendwelche Experten neideten dir den Erfolg. Ich habe deine letzten Bücher ebenso verschlungen wie die vorangegangenen.«

»Aber viele Leser glaubten den Pressekritiken. Die Verkaufszahlen brachen dramatisch ein, und der Verlag setzte mich vor die Tür.« Rita senkte den Blick und spielte mit ihrem Ring am linken Mittelfinger. Die winzige Handschelle, die daran hing, funkelte im Licht der Barbeleuchtung. »Leider nützen mir die Lorbeeren vergangener Zeiten heute nichts mehr.«

Auch keine Gesamtauflage von 200.000 verkauften Exemplaren?, zweifelte Ludger in Gedanken. Als eingefleischter Krimifan wusste er natürlich, dass die Vereinigung der europäischen Krimiautoren den Mitgliedern eben jenen Goldring mit der Handschelle verlieh, die die Schallmauer überwanden.

Rita sah auf und faltete ihre Hände im Schoß ineinander. »Seither habe ich alle meine eingereichten Manuskripte samt fadenscheiniger Begründungen wieder zurückbekommen.«

»Das verstehe, wer « Ein lauter Schlag draußen auf dem Oberdeck ließ Ludger verstummen.

»Was war das?«

»Keine Ahnung.« Er hob unschlüssig die Schultern und blickte in die Runde. Kaum einer der anderen Gäste hatte den Knall registriert an den Tischen plauderten die Leute ungestört weiter.

»Vielleicht haben wir einen Eisberg gerammt?«

Ludger überlegte, ob er Ritas Bemerkung ernst nehmen sollte. »In der Ostsee gibt es keine Eisberge.«

»Auf der Titanic sollen die Passagiere lange « Rita schnupperte. »Riechst du das auch? Qualm.«

»Meinst du?«

»Oder doch nicht? Ich schreibe zu viele Krimis.« Mit einem entschuldigenden Lächeln winkte Rita ab, langte nach ihrem Glas und prostete Ludger zu. »Auf eine ungestörte Nachtruhe.«

In dem Moment schrillten Klingeln durch die Decks.

»Was ist denn nun los?« Rita blickte erstaunt in die Runde.

Ludger erkannte das Signal sofort sieben Mal kurz und einmal lang bedeutete Generalalarm. Um diese Zeit eine Seenotrettungsübung abzuhalten, würde keine Reederei wagen. Also musste etwas passiert sein. Aus den Lautsprechern quäkte eine Durchsage in englischer Sprache. Allein das Wort Fire alarmierte Ludger. Ritas Nase schien tatsächlich die richtige Lunte gerochen zu haben. Er rutschte vom Barhocker und langte nach ihrer Hand. »Komm mit. Schnell.«

»Wo willst du hin?«

»An Bord muss Feuer ausgebrochen sein. Ein ziemlich heftiges, wenn die mitten in der Nacht Generalalarm geben.«

»Und jetzt?«

»Komm einfach.«

Die anderen Gäste standen mittlerweile in kleinen Gruppen beieinander und lauschten der Durchsage oder redeten aufeinander ein. In dieser Situation kamen Ludger die Erfahrungen als Marineoffizier zugute. Er rannte mit Rita im Schlepptau zum Ausgang der Bar, den langen Gang entlang, musste an dessen Ende aber stoppen Qualm und Brandgeruch schlugen ihnen entgegen. Ohne zu überlegen, zog er seine Begleiterin auf die gegenüberliegende Steuerbordseite, wo weit weniger Rauch die Luft verpestete. Er drückte sie in die Ecke neben dem Niedergang. »Warte hier!«

»Worauf?« Das Weiß ihrer Augen blitzte ängstlich auf.

»Ich hole unsere Schwimmwesten. Und warme Kleidung.«

»Schwimmwesten?«

»Zur Sicherheit.«

»Nimm mich mit.« Ihre Stimme bettelte wie die einer Zehnjährigen.

»Nein.« Er sei in spätestens zwei Minuten zurück. Allein komme er schneller voran. »Bitte gib mir deinen Kabinenschlüssel. Und lauf nicht weg.«

Mit zitternder Hand reichte sie ihm die Chipkarte. »Zwei Minuten?«

»Ja, allerhöchstens.« Er versuchte ein aufmunterndes Lächeln und hastete in das Deck 8 hinauf. Den Gang nach achtern verstopfte ein Menschenknäuel. Der Korridor auf die Backbordseite hinüber schien frei dessen Ende verschwand allerdings in grauen Rauchschwaden. Ludger hielt den Atem an und rannte los, wandte sich scharf nach links und erreichte schließlich seine Kabine. Hastig schloss er auf, schlüpfte in den Raum, warf die Tür wieder zu und schnappte nach Luft. Selbst wenn der Qualm längst durch die Ritzen gezogen war, schmerzte das Atmen hier drinnen weit weniger als draußen. Ludger riss die Schwimmweste unter der Koje hervor und zerrte die Jacke vom Kleiderhaken. Sein Blick fiel auf die Kollegmappe mit den Transportunterlagen. Die sperrige Ledertasche musste bleiben, wo sie war im Büro in Stralsund existierten Kopien. Er holte Luft und stürzte auf den Gang, wo ihn eine Rauchwand verschluckte.

Nur tastend gelangte er zu Ritas Kabinentür gegenüber. Er zog die Karte durch den Schlitz, das Schloss klackte, aber die Tür gab keinen Millimeter nach. Verflucht! Verzweifelt stieß Ludger mit der Schulter dagegen. Mit einem Ruck gab das Hindernis nach, und er stürzte drinnen auf den Teppich. Zeit zum Fluchen blieb keine. Noch im Liegen hob er die Schwimmweste aus ihrer Halterung und rappelte sich auf. Wo bekam er eine Jacke für Rita her? Die Kleiderhaken neben dem Eingang waren leer. Im schmalen Spind fand er das Gesuchte und nahm einen roten Anorak vom Bügel. In dem Moment schoss das Schiff nach vorn in die Tiefe. Ludger stolperte, taumelte gegen die Kabinentür, die laut zuschlug. Verdammt! Er riss an der Klinke, doch ohne Erfolg. Schließlich warf er seine Sachen auf den Boden und zerrte mit beiden Händen am Griff. Vergeblich. Sosehr er sich auch plagte das Gefängnis blieb verschlossen. Jetzt nach Hilfe rufen, würde wenig nutzen.

Ludger begutachtete das Fenster, das nach achtern zeigte, aber keine Möglichkeit zum Öffnen besaß. Vom Fahrzeugdeck tief unter ihm waberte dicker Qualm empor. Das Feuer musste irgendwo zwischen all den Lastern ausgebrochen sein. Ein, zwei Meter von der Scheibe entfernt stieg der Rauch wie in einem Kamin senkrecht nach oben. Der schmale Streifen Atemluft unmittelbar über der Kabinenaußenwand bot gute Überlebenschancen, wenn er auf den breiten Vorsprung unterhalb Deck 7 gelangte. Ludger löste den Karabinerhaken, der den Sessel neben ihm am Boden verankerte, wuchtete ihn hoch und rammte die stählernen Beine gegen das Fensterglas. Splitter flogen umher. Für einen Augenblick zog er den Kopf ein, schleuderte seinen Rammbock zur Seite und stieß mit dem Schuh die restlichen Scherben aus dem Fensterrahmen. Dann schnürte er Jacken und Schwimmwesten zusammen und hängte das Päckchen nach draußen. Er selbst streifte die Enden der Jackettärmel über die Hände, griff an die untere Fensterkante, kletterte hinaus und schob vorsichtig den Körper an der Wand hinab. Seine Füße hingen vielleicht zwei Meter oberhalb des Vorsprungs von Deck 7. Ludger ließ los, federte die Landung ab und warf den Oberkörper sofort gegen die Stahlplatten des Deckshauses. Nur nicht hinabstürzen! In der Tiefe tobte die Hölle überall züngelten Flammen, quoll dicker Rauch empor, knisterte das Feuer wie ein riesiger Scheiterhaufen. Ich muss hier weg, schoss es ihm durch den Kopf, sonst werde ich knusprig braun gegrillt. Ludger zerrte sein Bündel herunter und tastete sich an den Aufbauten entlang nach Steuerbord. Erst jetzt bemerkte er, welche Hitze der Stahl bereits abstrahlte. Bald würden auch die Kabinen dahinter brennen. Bloß runter vom Schiff, schnellstmöglich dieses Inferno löschte niemand mehr.

An der Ecke angekommen, wehte ihm frischer Wind entgegen. Ludger atmete tief ein. Gut drei Meter weiter vorn drängten sich unzählige Passagiere auf einer schmalen Galerie. Von oben schwebte das einzige Rettungsboot auf dieser Seite herab. Mit aller Macht schoben Männer der Besatzung die schreienden, kreischenden und schubsenden Menschen zurück. Ludger musste da rüber. Zwischen ihm und der Plattform stürzte die Bordwand senkrecht nach unten. Verdammt! Er legte sein Bündel ab und starrte sehnsüchtig zur Rettung verheißenden Galerie gegenüber.

 

*

 

Ein Hotel in Laboe Samstag, der 09.10.2010 00.20 Uhr

 

»Herr Janning?« Tilmann Graf berührte kaum die Schulter des Chefs, da schlug der die Augen auf.

»Ja?« Arno Janning richtete den Oberkörper auf. Der wenige Schlaf der vergangenen Stunde ließ seine beiden Falten, die sich von den Nasenflügeln zu den Mundecken zogen, tief in die Wangen eingraben. »Was gibt’s?«

»Die Fähre brennt.«

Janning stand auf. »Und der Transport?«

Graf zuckte die Achseln. »Die Zentrale in Bremen bittet, Sie sollen zurückrufen.«

Janning nickte, nahm sein Handy vom Nachtschrank und ging ans Fenster. Graf blieb wie ein pflichtbewusster Wachposten neben dem Bett stehen. Sein Chef sprach ruhig und leise, sodass er kein einziges Wort verstehen konnte.

Nach zwei, drei Minuten legte Janning auf und drehte sich herum. »Da draußen gibt’s eine Katastrophe, die uns in größte Schwierigkeiten bringen kann.«

»Was ist mit unserer Ladung?«

»Können wir wohl abschreiben, falls die Nachricht unseres Mannes an Bord stimmt.«

»Wie geht’s dem?«

»Die wollen das Schiff evakuieren. Danach registrieren die Behörden alle Schiffbrüchigen. Der Kontaktmann fliegt dann auf. Und finden die die Reste unserer Fracht « Janning brach ab und schien zu überlegen. »Wir holen ihn da raus. Außerdem muss ich mir selbst ein Bild von der Lage verschaffen. Die Genossen aus Moskau werden Fragen stellen und überzeugende Antworten erwarten.« Er sah Graf an. »Machen Sie die Jacht klar. In 15 Minuten legen wir ab.«

3 – Ein Geist taucht auf

 

Stralsund – 01.20 Uhr

 

Das Handy summte auf dem Nachttisch. Peter Itzig, von Freunden Pit genannt, öffnete die Augen. Dieses Geräusch würde ihn selbst aus tiefstem Winterschlaf wecken. Schnell langte er nach dem Störenfried und drückte die grüne Taste, noch bevor seine Ehefrau Svenja ebenfalls hochschreckte sie drehte sich lediglich auf die Seite und atmete ruhig und gleichmäßig weiter.

»Ja?« Pit ging nach draußen auf den Korridor.

»Uwe hier. Vor Fehmarn brennt die Luft.«

Uwe hielt in dieser Nacht als Diensthabender in der Zeitungsredaktion die Stellung und durchforschte diverse Kanäle nach schlagzeilenträchtigen Ereignissen.

»Eine Seeschlacht?«, mutmaßte Pit.

»Quatsch! Eine Ostseefähre steht in Flammen. Lichterloh, sagt das Havariekommando.«

Verdammt. Wenn die Behörde in Cuxhaven bei einem Seeunfall eingriff, mussten die Wellen wirklich hochschlagen. »Weißt du Genaueres?«

»Nur, dass an der Ostseeküste alle verfügbaren Kräfte alarmiert wurden.«

»Verstehe. Bin schon unterwegs. Wie heißt der Dampfer?«

»LiscoGloria

»Irgend so ein Seelenverkäufer?«

»Nein. Keine zehn Jahre alt.«

»Na, okay. Ich schau mal, ob ich jemanden erwische. Du hörst von mir. Tschüss.« Pit legte auf und lief ins Bad. Als er nach einer belebenden Dusche in das Schlafzimmer zurückkehrte, saß Svenja aufrecht im Bett. »Was gibt’s? Jetzt, halb zwei?«

»Auf der Ostsee brennt eine Fähre; dem Vernehmen nach, wie ein ausgetrockneter Christbaum. Die Profis aus Cuxhaven kümmern sich darum. Ich mach runter zum Hafen sehen, ob noch ein Rettungsfuzzi rausfährt und mich mitnimmt.«

»Eine Ostseefähre? Weißt du den Namen?«

»LiscoGloria

»Nein!« Svenja schlug beide Hände vor den Mund und starrte Pit ungläubig an. Plötzlich rannen ihr Tränen über die Wangen. »Nein, nicht die!«

»Was hast du?« Pit eilte zu ihrem Bett, kniete nieder und zog seiner Frau die Hände herunter. »Kennst du das Schiff?«

Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Ludger.«

»Ludger fährt auf dem Dampfer?«

»Ja. Er begleitet einen Transport von Medizingeräten.«

Pit verspürte einen Krampf im Magen. Svenjas Spezialist fürs Maritime steckte in Schwierigkeiten.

»Du fährst da raus?« Als gelte es, einen Einbrecher zu vertreiben, sprang Svenja entschlossen aus dem Bett. »Ich komme mit.«

»Was?«

»Wenn du da rausfährst, komme ich mit!«

»Das geht nicht«, protestierte Pit. »Falls ich überhaupt noch jemanden erwische, muss ich den besoffen reden, damit der mich mitnimmt. Tauchen wir als Pärchen auf, zeigen die uns einen Vogel.«

»Pit, bitte! Mir bleibt keine andere Wahl, als da rauszugehen. Mein Mitarbeiter schwebt in Lebensgefahr.«

»Um den Dampfer kümmern sich jede Menge Profis. Womöglich sehe ich niemanden von den Verunglückten. Andere Schiffe fischen die längst aus dem Wasser.«

»Womit schlage ich die Zeit tot? Einfach liegen bleiben?«

»Fahr in dein Büro. Ruf Ludger an oder sonst wen. Nerv das Havariekommando. Was weiß denn ich?«

 

*

 

An Bord der LiscoGloria 01.30 Uhr

 

Die drei Meter zur Plattform jenseits der tiefen Schlucht aus Bordwänden würde Ludger niemals schaffen. Selbst wenn der Sprung gelänge, das Tohuwabohu der drängenden, keifenden und schubsenden Menschen dort drüben schloss jegliche halbwegs sichere Landung aus. In Gedanken hatte er mehrfach Schwung geholt und war in die Tiefe gestürzt.

Ludger sah auf die Meeresoberfläche hinunter, die in einer wundersamen Mischung aus Nachtschwarz und Glutrot schimmerte. Sollte er einfach in die See springen? Diese Frage quälte ihn von Minute zu Minute immer eindringlicher. Doch er durfte keinesfalls schwach werden! Bleib so lange wie möglich trocken, mahnte sein Verstand. Einmal vom Wasser durchnässt, kam schnell die Unterkühlung. Ludger zog die Jacke enger um den Oberkörper der scharfe Wind nagte mit schneidender Kälte an seinen Kräften. Das würde sich allerdings bald ändern, wenn der Brand vollends außer Kontrolle geriet, und die Temperaturen unerträglich anstiegen. Aber dann konnte er immer noch die Flucht ins Meer wagen. Neben der Sorge um das eigene Wohl plagte Ludger die Ungewissheit um Rita. Wo mochte sie stecken? Hoffentlich nicht mehr in der Nähe dieses vertrackten Niedergangs.

Drüben auf der Plattform boten die Männer von der Besatzung ihre letzte Energie auf, um die panischen Passagiere zurückzudrängen. Falls er jetzt um Hilfe rief, nähme ihn auf der gegenüberliegenden Seite niemand wahr. Erst recht nicht, wo das Rettungsboot langsam zur Einsteigeposition herabschwebte. Doch Moment mal! Wie eine Verheißung entdeckte Ludger auf einmal einen Fluchtweg. Vom Dach des Beiboots lief eine Führungsleine direkt auf das Deck über ihm. In wenigen Augenblicken musste der Tampen in seiner Nähe vorbeilaufen. Ludger presste den Rücken an die Bordwand. Da hing die Führungsleine auch schon in Reichweite. Er stieß seinen Körper ab und sprang. Mit beiden Händen bekam er das Seil zu fassen, das unter seinem Gewicht nachgab, einen Wimpernschlag darauf aber abrupt stoppte. Sein Klammergriff bewahrte ihn vor dem Absturz. Zaghaft setzte Ludger die hintere Hand nach vorn. Das Umgreifen bereitete keine Schwierigkeiten. Und so hangelte er zentimeterweise vorwärts.

Das Rettungsboot schwebte auf Höhe der Plattform ein. Ludger blieb wie ein großes Wäschestück an der Leine hängen, um den ersten Ansturm auf das Boot abzuwarten. Die Menschen wollten vorpreschen, doch die Besatzungsangehörigen hielten sie in Schach und ließen nur einen nach dem anderen an den Einstieg herantreten. Ludger hangelte weiter, erreichte die Außenhaut des Rettungsboots und zog seinen Körper auf dessen Dach. Über eine offene Luke kroch er ins Innere, das immer mehr Schiffbrüchige füllten. Zwei Männer wiesen den Menschen ihre Plätze zu. Jetzt, wo sie sich offensichtlich in Sicherheit wähnten, folgten die Leute willig den Anweisungen. Die Panik, die Ludger noch an Oberdeck in ihren Gesichtern gesehen hatte, war einer abgekämpften Niedergeschlagenheit gewichen.

Suchend schaute er in die Runde, konnte Rita aber nirgends entdecken. Er stakste zum Eingang und wollte an Bord der LiscoGloria zurückkehren.

»Wohin?«, fauchte ihn ein grobschlächtiger Kerl an und packte seinen Arm.

»Ich will eine Freundin holen! Die wartet drüben auf mich.«

»Das hätten Sie früher tun sollen. Jetzt bleiben Sie hier.«

»Ich muss «

»Vergessen Sie’s.« Der Mann stieß Ludger wie einen lästigen Trunkenbold zurück.

 

Ludgers Armbanduhr zeigte mittlerweile 02.15 Uhr. Die Menschen standen dicht gedrängt an Oberdeck der Neustrelitz. Das Schiff der Bundespolizei war als eines der ersten am Unglücksort eingetroffen und hatte auch die Schiffbrüchigen von Ludgers Rettungsboot übernommen. Er lehnte am Schanzkleid, das den Bug umgab, und starrte zur LiscoGloria hinüber, auf der die Flammen ungehindert tobten. Schlepper versuchten, mittels Wasserkanonen der Katastrophe Einhalt zu gebieten. Das Unterfangen wirkte lächerlich, als wolle ein Kind mit seiner Gießkanne den Brand eines Müllcontainers löschen.

Sofort nach dem Übersteigen auf die Neustrelitz hatte Ludger nach Rita gesucht doch vergebens. Anstatt die Autorin zu finden, hatte er überall nur das Elend der Geretteten entdeckt. In Decken eingehüllt und warme Getränke in den Händen trugen dennoch die meisten Gesichter Spuren von Angst, Schmerz und Strapazen. Und jetzt mussten sie noch mit ansehen, wie das unbändige Flammenmeer ihr sicher geglaubtes Schiff verschlang.

Mittlerweile steuerte die Neustrelitz direkt auf eine Fähre der Reederei Scandlines zu. Ludger entzifferte im blutroten Streulicht den Namen Deutschland an deren Heck.

 

*

 

Ostsee, nahe Ostseefähre Deutschland 03.40 Uhr

 

Graf stand neben dem Skipper im Fahrstand der Motorjacht und sah dem Fährschiff entgegen, auf das sie zuhielten. Janning ruhte mit geschlossenen Augen auf einem der Drehsessel in der achteren Kabine und schien die Welt um sich herum vergessen zu haben. Über den Sprechfunkverkehr, der hier draußen am Unglücksort ununterbrochen quäkte, hatten sie mitbekommen, dass die Schiffbrüchigen der LiscoGloria auf die Deutschland gebracht worden waren. Kurz entschlossen hatte Janning deshalb befohlen, dorthin zu fahren.

Mittlerweile trennten sie nur noch einige Kabellängen vom Fährschiff, das vor Anker lag. Graf tappte nach achtern und informierte seinen Chef, dass sie gleich da seien. Janning stand auf und kam mit zum Steuerstand. Der Skipper hielt genau auf die geöffnete Lotsenluke der Deutschland zu.

»Und denken Sie daran«, wandte sich Janning an Graf, »falls die uns nicht auf den Dampfer lassen wollen, ich habe Sie aus dem Wasser gefischt und liefere Sie jetzt ab.«

Graf nickte. Diese Legende hatten sie vorhin abgesprochen.

Die Jacht ging an der Deutschland längsseits. Die beiden Männer, die offensichtlich den Zugang zur Fähre kontrollierten, wollten sie gleich wieder wegschicken. Janning reagierte unwirsch, deutete auf Graf und spulte die verabredete Legende herunter. Der Schiffbrüchige dürfe an Bord kommen und sonst niemand, kam umgehend die abweisende Antwort.

»Jetzt reicht’s mir aber!«, plusterte sich Janning auf. »Ich helfe den Einsatzkräften, rette den armen Mann aus einem längst abgetriebenen Rettungsfloß, und Sie wollen mich einfach abwimmeln.« Er sprang auf das Fährschiff hinüber.

Ob dieser Kaltschnäuzigkeit schienen die Einlasskontrolleure beeindruckt und wichen einen Schritt zurück.

»Ich liefere den Herrn persönlich ab. Und wenn ich mich überzeugt habe, dass es ihm gut geht, fahre ich auch wieder. Verstanden? Oder soll ich das mit Ihrem Sicherheitsoffizier besprechen? Holen Sie ihn doch.« Noch ehe einer der beiden Aufpasser reagieren konnte, drängte Janning an ihnen vorbei und zerrte seinen Schiffbrüchigen hinter sich her. Niemand versperrte ihnen den Weg.

Die Verunglückten von der LiscoGloria belegten einen separaten Saal. Gleich an dessen Eingang kam ihr Kontaktmann auf Janning zu. Der schien die Hilfe sehnsüchtig erwartet zu haben.

»Das Erkennungszeichen?« Jannings Stimme klang eisig abweisend.

Der Kontaktmann fingerte die abgebrochene Hälfte eines alten NVA-Militärsportabzeichens aus der Hosentasche. Janning hielt sein Fragment daneben es passte lückenlos. Er steckte die beiden Teile ein und fragte: »Mussten Sie schon Ihre Personalien angeben?«

»Nein.« Der Kontaktmann, dessen Bild Graf vorhin erst gesehen hatte, dessen Namen er aber nicht kannte, zeigte den Handrücken vor. Eine schwarze 149 stand darauf. »Viele vermissen ihre Papiere, und so haben die uns schlichtweg durchnummeriert. Die Personalien sollen im Hafen festgestellt werden.«

Janning nickte. »Ihre auf keinen Fall. Sie verschwinden nachher Graf bleibt bei Ihnen.«

Auch das hatten sie im Vorfeld abgesprochen. Da die Schiffbrüchigen die Deutschland nicht einfach würden verlassen dürfen, sollten Graf und der Kontaktmann am Heck ins Wasser springen. Die Jacht würde sie anschließend aufnehmen.

»Was ist mit unserem Transport?«, wollte Janning wissen.

Der Kontaktmann verzog das Gesicht. Das Austauschen der Ladung habe prima geklappt. Der Rotgerber von der Sicherheitsfirma habe keinen Verdacht geschöpft. »Von meiner Kabine aus konnte ich während des Auslaufens das offene Fahrzeugdeck beobachten. Da sah ich auf einmal eine Gestalt an unserem Laster rumkriechen.«

»Wissen Sie, wer es war?«

»Ich glaube, einen aus der Karamassow-Gang erkannt zu haben.«

Kaum merklich zuckten Jannings Nase-Mund-Falten, und Graf spürte ein nervöses Grummeln im Bauch. Die Organisation der Zwillingsbrüder Karamassow beherrschte den Waffenhandel in die baltischen Staaten. Die Vorbereitung ihres eigenen Transports war nach Jannings ausdrücklicher Anweisung unter strikter Geheimhaltung abgelaufen, damit ihnen die Karamassows nicht auf die Spur kamen. Offensichtlich hatte es dennoch ein Leck gegeben.

»Sie hätten den Anschlag verhindern müssen«, herrschte Janning den verdatterten Kontaktmann an.

Der schilderte sogleich wortreich die Situation: Er habe das Geschehen zwar beobachten können, sei dann aber nicht mehr auf das Fahrzeugdeck gekommen, weil alle Schotten verschlossen waren. Der Karamassow-Ganove dürfte jemanden von der Besatzung gekannt haben.

»Woher wusste der über unsere Aktion Bescheid?«, schien Janning eher sich selbst zu fragen.

»Dass er das Umladen beobachtet hat, ist beinahe unmöglich«, erklärte der Kontaktmann. »Die Laster um unseren herum standen dicht an dicht.«

»Möglicherweise hat die Steigleder gesungen?«, mutmaßte Graf.

Janning schaute skeptisch. »Die kannte keine Hintergründe. Oder haben Sie ihr Informationen gegeben?«

»Nein, nein«, versicherte Graf schnell. »Ich meinte ja nur. Krimiautoren sind doch immer neugierig und scharf auf eine gute Story. Vielleicht hat sie «

Janning starrte auf einmal nach halb links. Er schien etwas entdeckt zu haben und nicht mehr zuzuhören.

»Chef?«

Janning blinzelte und blickte Graf an. »Okay. Suchen Sie die Steigleder und fühlen Sie ihr auf den Zahn. Ich kläre in der Zwischenzeit eine andere Angelegenheit. Wir verfahren dann nachher wie abgesprochen auf das Zeichen von der Jacht gehen Sie beide unauffällig über Bord.«

 

*

 

Er hockte jetzt seit mehr als einer Stunde in diesem Saal, mit einer Decke um die Schultern und einem Pott heißen Tee in der Hand. Unmittelbar neben ihm lagerte eine Schulklasse. Die Teenager schienen bereits wieder auf dem Weg zum Alltäglichen in ihrem neuen Leben unterwegs zu sein hier und da telefonierten einige und Der Anblick brachte Ludger sein eigenes Handy in Erinnerung. Das steckte in der linken Brusttasche, wie er deutlich fühlen konnte. Es müsste noch funktionieren. Er langte in seine Jacke und zog das Gerät heraus.

»Schön, Sie unter den Geretteten zu finden, Herr Rotgerber«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken. Ludger drehte sich herum und Die Teetasse glitt ihm aus der Hand.

»Na, nun mal nicht so schreckhaft.« Der Mann in dem dunkelblauen Maßanzug schüttelte einige wenige Spritzer von seinen Hosenbeinen. »Zumindest haben Sie mich wiedererkannt.«

Ludger glaubte, einen Albtraum zu erleben. Augenblicklich sah er die Schlagzeile vom September 2007 vor Augen: ›Holzklotz-Attacke tötet Autofahrer‹, und darunter war eindeutig gemeldet worden: ›Der Fahrer des Toyota Landcruisers Christian K. und sein Beifahrer Arno J. verstarben noch an der Unfallstelle.‹ Arno J. stand jetzt vor ihm ein Dämon?

»Ich weiß, was Sie denken«, fuhr der Geist fort. »Aber nicht alles Geschmiere in den Zeitungen entspricht der Wahrheit. Reporter verdienen arg wenig und flunkern schon mal, wenn man sie nachdrücklich darum bittet.« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

In Ludger stieg eine unbändige Furcht auf; als hätte das Feuer der LiscoGloria auf die Deutschland übergegriffen, und der Horror begänne von vorn. Konnte er denn den Hauptmann Janning, die graue Eminenz Janning, niemals abschütteln? Die schrecklichen Bilder, die er mit diesem Mann verband, tanzten durch seinen Kopf: Ludger beim Verhör, Ludger im Berlin des Frühjahrs 1990 festgenommen, und dann die Dramatik im Sommer 2007.

»Bevor Sie lange grübeln, möchte ich gleich zur Sache kommen.«

»Gehören Sie auch zu den Geretteten?«, fragte Ludger, um überhaupt etwas zu sagen.

»Sehe ich so aus?«

Nein, den Eindruck vermittelte Janning wirklich nicht. Seitdem Ludger ihn kannte, kleidete sich dieser Mann äußerst stilvoll. Als Offizier des MSA, des Marine-Sicherheits-Amtes der DDR, hatte er ausschließlich maßgeschneiderte Uniformen getragen. Und vor vier Jahren, als Ludger ihm erneut begegnet war, damals in der Rolle eines Repräsentanten des Instituts für Entwicklungshilfe und Kooperation aus Bremen, hatten den schlanken Körper ebensolche Maßanzüge gekleidet wie jetzt. Und er schien keinen Tag älter geworden zu sein, obwohl er die 70 inzwischen deutlich überschritten haben musste, wenn Ludger sich richtig erinnerte. Die Haare, etwas schütterer als früher, lagen in einem exakten Rechtsscheitel. Und die beiden markanten Nase-Mund-Falten, die die untere Gesichtshälfte in der Art einer Klammer dominierten, signalisierten noch immer Gefahr.

»Was wollen Sie von mir?« Ludger versuchte, seiner Stimme die notwendige Härte zu verleihen, um den Mann auf Distanz zu halten.

»Ich habe eine Reklamation.«

»An mich?«

»Mein Transport, den Sie absichern sollten, ist verloren gegangen. Wer ersetzt mir den Verlust? Immerhin neun Millionen Euro.«

»Ich verstehe nicht. Laut Frachtpapieren betrug der Wert der Ladung drei Millionen. Und seit wann handeln Sie mit Medizintechnik?«

Janning schüttelte den Kopf. »Irrtum, mein Lieber. In den Transportkisten lagen Sprengstoff und Präzisionszünder.«

»Unmöglich!« Ludgers Selbsterhaltungstrieb erwachte. Er musste dem Kerl die Stirn bieten. »Die sechs Kisten, die ich zu überwachen hatte, enthielten Medizingeräte. Die hatte ich mir bei der Übernahme angesehen und kurz vor dem Auslaufen noch einmal kontrolliert.«

»Ich weiß. Wie ich hörte, aber in ziemlicher Eile und ein wenig oberflächlich. Als Gentleman wollten Sie die junge Dame wohl nicht warten lassen?«

Ein Kübel siedendes Wasser strömte Ludgers Nacken hinunter. »Rita «

»Ach, Sie sind mit der Autorin zwischenzeitlich sogar per du. Das freut mich, Ihnen zu Beginn unserer neuerlichen Bekanntschaft einen angenehmen Abend geboten zu haben.«

»Rita traf mich in Ihrem Auftrag?«

»In meinem Auftrag? Das klingt so durchtrieben. Sagen wir lieber, ich animierte sie, Ihnen als passioniertem Krimifreund einen unvergesslichen Aufenthalt an Bord zu bereiten.«

»Womit haben Sie Rita bedroht, um mich abzulenken?«

Janning beugte sich vor und flüsterte. »Bedroht? Die Gute gierte förmlich nach meinem Angebot. Nach drei Jahren voller Pleiten, Pech und Absagen sucht die Autorin händeringend ein spektakuläres Thema das versprach ich ihr und legte noch zehn Mille drauf.«

»Rita wusste von der drohenden Katastrophe?«

»Nein, wo denken Sie hin. Oder meinen Sie, ich hätte den Dampfer angezündet? Wie bereits gesagt, ich wollte selbst wertvolle Ware nach Klaipeda bringen. Nein, Ihrer guten Rita reichte schon die Aussicht auf eine spannende Recherchereise und mein Honorar.«

»Lebt sie?«

»Wenn Sie das nicht wissen?« Janning beugte sich vor. Ludger roch den Pfefferminzgeruch des Atems. »Flirten Sie eigentlich öfter? Toleriert Ihre Ehefrau solche Techtelmechtel?«

Ludger packte das kalte Grausen. Rita hatte mit ihm gespielt, ihn bei Laune gehalten wie eine Nutte; und jetzt wollte ihm dieses Scheusal hier einen Strick daraus drehen? Er musste diesen arroganten Fatzke schnellstmöglich loswerden. »Was wollen Sie?«

»Dazu kann ich noch nichts verraten Ihre Dienste werden erst in einigen Monaten benötigt.«

»Dann auf Wiedersehen.«

»Bleiben Sie stehen!«

Erst jetzt fiel Ludger auf, dass Janning offensichtlich sein Zischeln beim Betonen von S-Lauten abgelegt haben musste. Früher hatte er diese sprachliche Eigenheit des ehemaligen Offiziers, die sich wie Nadelstiche in den Ohren anfühlten, als Folter empfunden.

Janning neigte seinen Kopf ein wenig nach links, das untrügliche Zeichen für höchste Konzentration. »Die Schulden vom verlustig gegangenen Transport werden Sie abarbeiten. Andernfalls wandert Ihre Truppe in den Knast eine Anzeige wegen illegalen Waffenhandels und meine Schadenersatzklage am Hals. Vielleicht wird Sie auch noch die Reederei der LiscoGloria haftbar machen? Immerhin verursachte Ihr Laster den Brand.«

Ludgers Widerstand brach zusammen. Er musste Svenja sprechen. »Was erwarten Sie?«

»Bereiten Sie Ihre Chefin schon mal auf zukünftige Aufgaben vor.« Janning warf ihm ein kleines Metallstück in den Schoß.

Ludger betrachtete die zerbrochene Plakette ein halbes NVA-Militärsportabzeichen.

»Geben Sie das Ihrer Chefin. Wenn jemand mit der anderen Hälfte auftaucht, gibt’s Arbeit. Ich empfehle mich.« Unvermittelt wandte sich Janning ab und strebte dem Ausgang zu.

Ludger starrte ihm hinterher und kam erst langsam wieder zu sich. Sein Handy hielt er noch immer in der Hand.