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Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

CORA Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

ROMANA, BIANCA, BACCARA, TIFFANY, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL

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1. KAPITEL

“Warum will eine Frau, die den Zahnarzt von Mel Gibson heiratet, ein von mir geschneidertes Brautkleid?” Sylvie Wagner betrachtete ihre langjährige Freundin Tricia Peterson mit dem geschulten Auge einer gelernten Schneiderin, während sie zwischen ihren schmalen, fuchsiarot geschminkten Lippen mehrere Stecknadeln festhielt. “Wenn ich Prinz Charming aus den Reihen der Reichen und Schönen heiraten würde, würde ich mich schleunigst auf den Weg zu Vera Wang oder Escada machen.”

Tricia Peterson drehte sich in ihrem Brautkleid vor dem Spiegel. Es war das schönste Kleid, das sie jemals getragen hatte, und ausgesprochen elegant in klassisch einfacher Linie. Die eierschalenfarbene Seide war schwer und glänzend, und durch den Perlenbesatz, den Sylvie sorgfältig in das Material eingearbeitet hatte, war es einer Prinzessin würdig. Mit dem tiefen Ausschnitt und dem an ihrem gerade schmaler gewordenen Körper wie angegossen sitzenden Oberteil fühlte sie sich fast schon grazil.

Das letzte Mal, als sie eine von Sylvies Kreationen getragen hatte, war sie eine dicke Möchtegern-Madonna auf der Highschool gewesen. Es hatte nicht an Sylvie gelegen, dass das Ergebnis alles andere als sehenswert ausgefallen war. Damals war Tricia das Pummelchen Pat Parker, das Dickerchen der Klasse, der Witz der Stadt gewesen. Selbst in Sylvies hübschem Kleid hatte sie einer Kreuzung aus Madonna und Miss Piggy geähnelt. Seitdem waren nach und nach immer mehr Pfunde verschwunden, so sodass sogar die überkritische Tricia sich als fast schlank einstufte.

Andere, weniger dramatische Veränderungen kamen hinzu. So waren ihre Haare in einem schimmernden Rostrot getönt, dass es von Natur aus nur sehr selten gibt. Und natürlich hatte sie einen neuen Namen. Sobald sie mit achtzehn Jahren Bee Lake, Louisiana, verlassen hatte, war aus Pat Tricia geworden. Der neue Nachname stammte von ihrer ersten Heirat.

Aber obwohl sie sich in dreizehn Jahren vom sprichwörtlich hässlichen Entlein in einen schönen Schwan verwandelt hatte, schrieb sie die Verwandlung heute vor allem Sylvies Kleid zu.

“Ich habe immer schon gesagt, dass du diejenige sein wirst, die mein Hochzeitskleid nähen soll.”

“Die Leute machen sich alle möglichen dummen Versprechungen, wenn sie auf der Highschool sind”, brummte Sylvie.

“Mir ist eine Sylvie Wagner lieber als alle Vera Wangs der Welt.”

Sylvie konnte ein lautes Lachen nicht mehr zurückhalten. “Ich könnte mich über dich totlachen.”

Tricia konnte sich wirklich nicht erklären, wie jemand, der ein so elegantes und romantisches Kleid entworfen hatte, derart ungerührt und zynisch sein konnte. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Sie und Sylvie mochten sich in den Jahren, seitdem Tricia von ihrer kleinen Heimatstadt nach Baton Rouge gegangen war, nicht so oft gesehen haben. Aber sie hatte sich niemals wirklich von ihrer besten Freundin, die ihr während der gesamten Schulzeit treu zur Seite gestanden hatte, entfernt.

Der Himmel wusste, dass sie auch nachdem sie Bee Lake verlassen hatte, eine Freundin brauchte. Mit Anfang zwanzig hatte Tricia eine katastrophale Ehe hinter sich und war von Job zu Job gewechselt. Schließlich hatte sie ihren Geschäftssinn entdeckt und eine Buchhandlung mit Café eröffnet, was glücklicherweise voll im Trend lag. Ein kleiner finanzieller Erfolg und Sylvies Unterstützung hatten ihr schließlich die innere Kraft gegeben, sich eines Nachmittags in eine Diätgruppe zu schleichen und sich zwei Jahre lang wie ein schlecht gefüttertes Nagetier zu ernähren.

Um den Kauf des ersten Kleides in Größe 38 in ihrem Leben zu feiern, leistete sie sich dann einen sonnigen Urlaub in Cancún, wo sie ihr neues, aber immer noch angekratztes Selbstbewusstsein pflegte. Eingehüllt in ein Strandtuch, zog sie schon nach zehn Minuten den Blick von Manson Toler, Prominentenzahnarzt von Beverly Hills, auf sich. Manson lächelte sie in Hollywoodmanier an und sagte ihr, dass sie den attraktivsten Anblick bot, den er bisher in Mexiko gehabt hatte. Und noch bevor sie daran denken konnte, dass sie früher ein dickes Mädchen gewesen war, war Tricia in eine stürmische Romanze geschlittert.

Jetzt war sie mit einem wunderbaren Mann verlobt. Sie erlebte eine triumphale Rückkehr, um eine große Hochzeit in der Stadt zu feiern, in der sie seit ihrer Zeit im Kindergarten zur Verliererin gestempelt worden war. Ein Traum würde wahr werden. Und danach würde sie in Beverly Hills ganz neu anfangen. Das Leben schien nahezu perfekt zu sein.

Das dumpfe Geräusch von Schritten aus Sylvies Wohnzimmer brachte Tricia zurück auf die Erde. Kurze Zeit später lehnte ihr zwölfjähriger Sohn am Türrahmen. Er trug wieder einmal seine geliebten Rollerblades, die seine im Verhältnis zum übrigen Körper zu großen Füße noch klobiger wirken ließen.

Er musterte Tricia mit offensichtlichem Schaudern von Kopf bis Fuß. “Willst du das wirklich zur Hochzeit anziehen?”

Tricia brachte die Frage nicht aus der Fassung, denn ihr Sohn befand sich in einer Phase, in der ihm alles peinlich war, was sie anzog oder sagte. “Tom, hatte ich dir nicht gesagt, dass du die Rollerblades hier nicht anschnallen sollst?”

“Ich habe nichts beschädigt.”

“Tom …” Tricia warf ihm einen strengen Blick zu, um zu zeigen, dass sie es ernst meinte. Aber ihr Sohn rollte lediglich mit den Augen. Er war mit zu weiten Jeans und einem zu großen Baseballhemd im typischen Stil der Jugendlichen gekleidet. Sein kurzes braunes Haar stand büschelweise ab, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen. Er sah immer so aus. Obwohl es Tricia in den Fingern juckte, sein Haar mit etwas Wasser in Ordnung zu bringen, wusste sie, dass sie um ihr Leben laufen müsste, wenn sie nur die geringsten Anstalten in diese Richtung unternahm.

“Kann ich die Rollerblades anbehalten, wenn ich nach draußen gehe?”, fragte er.

“Natürlich, aber …”

Noch bevor sie ihm verbieten konnte, über den Linoleumboden zu skaten, hatte er ihn schon überquert und flog förmlich zur Küchentür hinaus. Tricia bezweifelte, dass Tom jemals gelaufen war, bevor sie in einem Moment mütterlicher Schwäche nachgegeben und ihm zum letzten Geburtstag Inlineskates gekauft hatte.

Sie drehte sich entschuldigend zu ihrer Freundin um. “Es tut mir leid, Sylvie. Er missbilligt die Hochzeit, nicht das Kleid.” Eingehend betrachtete sie Toms Spuren quer durch die Küche. “Ich hoffe, er hat dir nicht den Boden zerkratzt.”

Sylvie lachte. “Nein, hat er nicht. Und ich mache mir deshalb auch nicht so viele Sorgen wie du. Kids in diesem Alter sind immer widerspenstig. Und was das ständige Skaten betrifft, ist Tom genauso wie Casey.”

“Bills Tochter?” Der Hinweis auf Sylvies Bruder machte Tricia hellhörig. Bill Wagner war während der gesamten Schulzeit ihr großer Schwarm gewesen. Wovon er natürlich nichts gewusst hatte. Während sie als Zielscheibe des Spotts gedient hatte – der einzigen Sportart, an der sie beteiligt gewesen war – hatte er als Kapitän der Footballmannschaft geglänzt. Er war der begehrteste Junge auf der Schule gewesen.

Obwohl Tricia ihn seit zwölf Jahren nicht einmal mehr flüchtig gesehen hatte, redete Sylvie die ganze Zeit über ihn. Und so wusste Tricia, dass seine Tochter in Toms Alter war.

“Sie sind beide in einer feindseligen Phase.” Sylvie holte tief Luft. “Du solltest Bill wirklich mal anrufen, solange du in der Stadt bist!”

Tricias Herz schnürte sich vor Furcht zusammen. In ihrer Vorstellung war Bill immer noch der strahlende Footballheld, dem alle Mädchen nachliefen. “Das kann ich nicht.”

Tricia wusste, dass Sylvie immer die abwegige Idee gehegt hatte, dass ihre beste Freundin und ihr Bruder das perfekte Paar wären.

Als Sylvie leichthin fragte: “Warum nicht?”, suchte Tricia äußerlich unbeteiligt nach einer Antwort, die die Unsicherheit nicht zum Vorschein bringen würde, die auch jetzt noch hinter ihrem neuen, verschönerten Aussehen lauerte. Bei ihren Diättreffen hatte Tricia erfahren, dass einige Frauen durch den Wunsch beflügelt wurden, mit Glanz und Gloria in ihre Heimatstädte zurückzukehren und ihre Reize vor den Männern auszuspielen, die sie ehemals vor den Kopf gestoßen hatten. In der Theorie klang das großartig. Aber tief drinnen fürchtete sich Tricia davor, dass durch einen einzigen flüchtigen Blick von Bill ihre Fettzellen wachsen, ihre Poren verstopfen und ihre Haare wie die ihres Sohnes abstehen würden.

“Weil ich heiraten werde.”

“Soll das heißen, dass du nie mehr mit anderen Männern reden wirst?”

Tricia bedachte ihre Freundin mit einem mahnenden Blick. “Du kannst aufhören, mir deinen Bruder zu verkaufen, Sylvie. Ich bin praktisch eine verheiratete Frau.”

Sylvie entfuhr ein Seufzer. “In Ordnung. Ich schätze, ich kann dir nicht vorwerfen, dass du den Zahnarzt der Stars einem Kleinstadtpolizisten vorziehst.”

“Manson Toler ist erfolgreich und wohlhabend, aber das allein ist es nicht, was ihn für mich anziehend macht. Er ist ein wunderbar höflicher und anständiger Mensch.”

Seit ihrem ersten Dinner bei Kerzenschein in Cancún gab ihr Manson das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Und sie ging davon aus, dass es ein zusätzlicher Pluspunkt war, von einem Mann hingerissen zu sein, der nicht ahnte, dass das einzige Date in ihrer Schulzeit mit ihrem gockelhaften Cousin Mort stattgefunden hatte.

“Höflichkeit und Anständigkeit sind nicht gerade die wichtigsten Charaktereigenschaften eines feurigen Liebhabers”, wandte Sylvie bedächtig ein. “Aber selbst wenn, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand einen Traummann hat, der Manson heißt. Besonders in Kalifornien.”

Tricia zog einen Schmollmund. “Der Name hat in seiner Familie Tradition.” Mehr als einmal hatte sie den unglückseligen Namen ihres zukünftigen Ehemannes erklären müssen. Insbesondere ihrer Mutter, die ihn in schöner Regelmäßigkeit vergaß. “Du kannst dir doch vorstellen, dass ich nicht für jeden meine Buchhandlung verkaufen und mein ganzes Leben ändern würde.”

“Was ist denn so großartig an dem vornehmen Mr Toler?”

Tricia war sich sicher, dass ihre Freundin pikante Details hören wollte. Aber sie war nicht daran gewöhnt, Einzelheiten ihres Liebeslebens preiszugeben. Hauptsächlich deshalb, weil ihr Liebesleben bislang nicht so sehr viele Details zu bieten hatte. “Nur zu deiner Information: Manson hat einen ausgeprägten Sinn für Romantik. Er ist so romantisch, wie ich es noch nie bei einem Mann erlebt habe. Und ich bin zweiunddreißig und nicht mehr vierzehn.”

“Oh, ich verstehe. Du hast deine besten Jahre hinter dir, und jetzt ist es an der Zeit, einen Zahnarzt zu heiraten.”

“Einen Zahnarzt, der Tango tanzen kann”, konterte Tricia stolz. “Und wenn das deine charmante Art ist, mir zu sagen, dass ich jetzt reifer bin und mehr auf den Charakter eines Mannes achte als darauf, welches Auto er fährt, dann hast du recht.”

“Okay, okay”, sagte Sylvie, die sich schon damit abgefunden hatte, dass ihre Neugier nicht gestillt werden würde. Sie überprüfte den Saum des Hochzeitskleides, bevor sie fragend zu Sylvie hochschaute. “Welches Auto fährt er?”

“Einen Lexus mit Luxusausstattung.”

“Ich nehme an, Luxus ist hier das Schlüsselwort.”

Tricia gab ihr scherzhaft einen Klaps auf die Schulter. “Warte, bis du ihn triffst, Sylvie. Du wirst dir wünschen, dass du mit ihm vor den Altar treten würdest.”

Sylvie seufzte. “Solange ich in Bee Lake wohne, wird es mir nicht möglich sein, mit irgendjemanden vor den Altar zu treten. Nicht bei diesem Bruder!”

Solange Tricia zurückdenken konnte, hatte Bill Wagner einen Fehler. Er war ein Polizist mit dem besonderen Hang, die Romanzen seiner Schwester zu überwachen. Die arme Sylvie hatte in all den Jahren nie eine Beziehung gehabt, bei der es ihr Bruder nicht geschafft hätte, den betreffenden Mann zu vergraulen.

“Vielleicht solltest du dir jemanden aus einer anderen Stadt suchen.”

Sylvie verwarf die Idee. “Selbst wenn ich nach Bora Bora ginge, würde Bill einen Weg finden, die Beziehung zu stören.”

“Er hat dich auch schon vor heiklen Situationen gerettet. Das musst du zugeben. Erinnere dich an den letzten Jungen, der … Wie hieß er noch mal?”

“Ted war ein Mann”, verteidigte Sylvie ihre letzte gescheiterte Romanze.

Tricia sah ihre Freundin ruhig an. Er war verheiratet.”

“Okay, niemand ist perfekt”, murmelte Sylvie, deren Wangen sich mit einer leichten Röte überzogen.

“Er hätte dir vielleicht niemals gestanden, dass er eine Frau und Kinder hat, wenn Bill es nicht herausgefunden hätte.”

“Das stimmt allerdings”, seufzte ihre Freundin.

Das erste Mal seit Jahren musterte Tricia Sylvie eingehend und war schockiert über das, was sie sah. Eine graue Strähne zeichnete sich in ihrem dunkelblonden Haar ab. In den Winkeln ihrer leuchtend blauen Augen begannen sich die ersten Fältchen zu zeigen. Ihre Schultern wirkten knochig, als sie sich über ihren Nähkasten beugte.

Sylvie war früher immer die Ausgelassene und Sorglose gewesen. Diejenige, die außergewöhnliche selbst geschneiderte Kleider trug, während fast alle Mädchen aussehen wollten wie alle anderen auch. Aber jetzt wirkte sie ein bisschen müde, und wer wollte ihr daraus einen Vorwurf machen? Sie hatte sich siebzehn Jahre lang im Hamsterrad der Verabredungen abgestrampelt und nie den Richtigen gefunden.

“Warum gehst du nicht von hier fort, Sylvie?”, fragte Tricia plötzlich. “Du könntest in Baton Rouge viel mehr Geld verdienen. Und wenn ich dir mein Haus vermieten würde …”

Ihre Freundin sah sie skeptisch an. “Du willst das Haus verkaufen, erinnerst du dich?”

“Ich hatte es vor, aber vielleicht ist es auch besser, es zu vermieten. Oder du könntest es kaufen.”

“Ich kenne niemand in Baton Rouge”, sagte Sylvie. “Und erzähl mir nicht, dass du mich mit anderen Leuten bekannt machen könntest. Denn du wirst nicht mehr dort sein, Miss Beverly Hills.”

“Warum kommst du dann nicht mit nach Kalifornien und machst dort ein Geschäft auf?”

Sylvie lachte laut auf. “Richtig. Alles, was ich machen muss, ist, mich neben Versace niederzulassen.”

“Wer weiß. Vielleicht hättest du großen Erfolg.” Tricia raffte den Rock ihres Kleides und drehte sich im Kreis. “Grace Kelly wäre stolz darauf gewesen, dieses Kleid zu tragen. Oder Audrey Hepburn.”

Sylvie lächelte süffisant. “Oder eine drittklassige Künstlerin, die in einem Verzehrtheater in Munsie Don’t cry for me, Argentina zum Besten gibt.”

Tricia wollte sich nicht durch Sylvies unerbittlichen Zynismus von ihrer Idee abbringen lassen. “Glaube mir, wenn du es schaffst, dass ich so gut aussehe, ist das Talent.”

Sylvie schüttelte den Kopf. “Wenn ich du wäre, würde ich Mansons Millionen in die Weight Watchers und nicht in Maison Sylvie investieren.”

Tricia spielte die Beleidigte. “Ich versuche, dich zu retten, und du willst nicht in das Rettungsboot einsteigen.”

“Mach dir keine Sorgen, ich bin Expertin im Paddeln.”

Jetzt, da ihr Leben praktisch perfekt war, entwickelte Tricia einen geradezu missionarischen Eifer darin, dem Leben anderer Menschen eine neue Wendung zu geben. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass sie aus ihrem Trott ausgebrochen war und den Richtigen gefunden hatte, während Sylvie – die schöne, lustige und gestylte Sylvie – als Single in Bee Lake versauerte. Sie würde alles dafür geben, ihre Freundin glücklich zu sehen.

Sylvie lehnte sich zurück und lächelte. “Es ist nicht so schlecht hier, Trish. Selbst wenn ich fortgehen könnte, weiß ich nicht, ob ich es wirklich wollte. Mein Bruder und ich sind mittlerweile zu Co-Abhängigen geworden. Er bewahrt mich vor unguten Beziehungen, und ich verhindere seit seiner Scheidung, dass er unglücklich und einsam ist.”

Bill war unglücklich? Einsam? “Aber ich dachte, er und seine Frau sind nicht gut miteinander ausgekommen?”

Sylvie nickte. “Das stimmt. Du kennst ja die Geschichte. Zwei süße Teenager heiraten und merken zehn Jahre später, dass sie außer einem verblichenen Sammelalbum von der Highschool nichts gemeinsam haben. Bill war glücklich, dass er das Sorgerecht für Casey bekommen hat, nachdem Andrea ihn verlassen hatte. Aber das ist jetzt zwei Jahre her. Und glaub mir, ich kann ein Lied davon singen, dass er einsam ist.”

Bill Wagner und einsam! Nicht zu fassen! Aus purer Neugier wollte Tricia gerade nach Bills Verabredungen seit seiner Scheidung fragen, als das laute Geräusch von Rollerblades ihre Unterhaltung beendete.

“Hey, Mom, solltest du nicht um elf Uhr bei Großmutter sein?”

Tricia warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und rang nach Luft. Es war bereits fünf Minuten nach elf. “Oh nein!” Sie schaute Sylvie alarmiert in die Augen. “Meine Mutter wird ihre Freundin, die Plaudertasche Irene, zu Besuch haben. Sie will Fotos von mir machen.”

Sylvie nickte. “Dann behalt das Kleid einfach an.”

“Aber ich muss rennen.”

“Dann spring ins Auto, und fahr los. Was kann dem Kleid schon auf einer Fahrt um den Block passieren?”

“Ich werde bis heute Abend zurück sein.” Tricia schnappte sich ihre Tasche mit den Kleidern, die sie vorher getragen hatte, und legte ihrer Freundin dankbar die Hand auf die Schulter. “Nochmals vielen Dank für alles.”

Sylvie verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. “Du kannst sicher sein, dass ich dir alles Glück der Welt für diese Heirat wünsche. Wer weiß, wenn du erst mit Dr. Toler verheiratet bist, laufe ich vielleicht eines Tages in seinem Wartezimmer Mel Gibson in die Arme und werde im siebten Himmel sein.”

Tom ließ sich mit einer Jammermiene, zu der nur ein Zwölfjähriger fähig ist, auf den Beifahrersitz fallen. Er schien von dem Gedanken paralysiert zu sein, mit einer Mutter im Brautkleid in einem schrottreifen Auto entdeckt zu werden.

“Möchtest du dir heute Abend einen Film im Kino anschauen?”, fragte Tricia, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.

“Es gibt hier nur ein Kino, und dort steht Dumbo auf dem Programm.”

Tricia erinnerte sich, dass das früher einer ihrer Lieblingsfilme gewesen war. “Oh, ich würde mir ihn noch einmal anschauen.”

Tom sah sie an, als wollte sie sich einen Jux mit ihm machen.

“In Ordnung, Bee Lake ist ein bisschen klein. Aber denk daran, dass wir in ein paar Wochen in Kalifornien leben werden. Das ist das Land der Kinos.”

“Ich wette, Mister Langeweile würde sich Dumbo nur zu gern gleich zweimal anschauen.”

“Manson mag neue Filme”, entgegnete Tricia. “Als er uns in Baton Rouge besuchte, haben wir uns einen Jackie-Chan-Film angesehen, erinnerst du dich? Und er hat euch beiden gefallen.” Sie hatte sich zu Tode gelangweilt, aber das stand auf einem anderen Blatt.

Als sie an einem Stoppschild anhielten, rutschte Tom bekümmert hin und her. “Mom, können wir nicht einfach so weitermachen wie bisher? Warum musst du unbedingt heiraten?”

Sie runzelte die Stirn und nahm seine Hand, was er ihr nur widerwillig erlaubte. “Ich liebe dich über alles, Tom. Aber kannst du das nicht verstehen? Da Manson in Kalifornien lebt und wir in Louisiana, würde es schwierig sein, eine Beziehung zu führen, ohne verheiratet zu sein. Außerdem würden manche Kinder alles dafür geben, um in Kalifornien zu leben.”

“Ja, aber sie würden nicht alles dafür geben, um sich zu Tode zu langweilen.”

Tricia nahm den Fuß vom Gas und bog in die Sycamore Street ein, wo ihre Mutter lebte. Zugegeben, Manson konnte nicht besonders gut mit Kindern umgehen, aber das konnte sie ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Er hatte vorher nie viel mit ihnen zu tun gehabt. Er und Tom wussten im Moment noch nicht, wie sie miteinander reden sollten. Aber sie hoffte, dass sich das mit der Zeit geben würde.

Sie parkte den Wagen am Zaun vor dem Holzhaus ihrer Mutter und wandte sich an ihren Sohn. “Alles wird sich einspielen, Tom. Denk doch mal an all die Dinge, die du jetzt haben können wirst.”

“Zum Beispiel …?”

“Jeden Unterricht, den du willst, eventuell Zeltlager im Sommer, gute Schulen…”

Tom riss den Mund vor Entsetzen weit auf. “Mom, willst du damit sagen, dass du jetzt, wo du endlich richtig Geld haben wirst, es für Schulen aus dem Fenster werfen willst?” Er machte einen Satz aus dem Auto und rollte davon.

Wieder einmal perplex über ihre unterschiedlichen Ansichten machte Tricia die Autotür auf und stieg ebenfalls aus. Sie schlug die Tür zu, raffte den Rock ihres Kleides und wollte gerade eilig zum Haus gehen, als sie sah, dass Tom schon um die Ecke des Häuserblocks sauste.

“Tom! Sei vorsichtig!”, rief sie.

Sie lauschte auf seine Antwort und glaubte, von dem pfeilschnellen Blitz, der ihr Sohn war, entfernt ein gebrülltes ‘Okay!’ zu hören, bevor er um die nächste Ecke verschwand.

Aus dem Haus ihrer Mutter schallte die Musik von Johnny Cash. Tricia holte Luft, um sich zu sammeln. Folsum Prison Blues war eines der Lieblingslieder ihrer Mutter. Peggy Parker mochte eine der beliebtesten Bürgerinnen von Bee Lake sein, aber als Mutter konnte sie zum Problem werden. Besonders wenn man mit einem derart angeschlagenen Selbstbewusstsein wie Tricia aufgewachsen war, hatte man es nicht ganz einfach mit einer Mutter, die den Schulbus fuhr, neonfarbene Hosenanzüge sowie eine aufgetürmte pechschwarze Frisur trug und genug Make-up auflegte, um ganz allein für einen guten Umsatz bei Max Factor zu sorgen. In den letzten zehn Jahren hatte ihr einziges modisches Zugeständnis darin bestanden, ihre Hosenanzüge gegen sportliche Jogginganzüge einzutauschen.

In die Jahre gekommen, konzentrierte sie sich nun aufs Canastaspielen und – in dieser Woche – auf die bevorstehende Hochzeit ihrer Tochter. In dieser Reihenfolge.

Tricia machte einen Schritt vorwärts und blieb abrupt stehen. Nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie keinen Schritt weitergehen konnte. Sie wurde durch irgendetwas festgehalten. Sie drehte sich um, um nachzusehen, und stöhnte auf. Ihr Kleid war hinten in der Autotür eingeklemmt. Außerdem prangte ein großer Schmierölfleck darauf – so etwas liebte sie!

Mit einem Seufzer zog sie an der Tür, um sich zu befreien. Doch nichts tat sich. Sie achtete immer gewissenhaft darauf, hinter sich die Tür zu schließen, wenn sie aus dem Auto ausstieg. Als sie ihre große Wildledertasche durchsuchte, erinnerte sie sich, dass sie leider nicht immer genauso achtsam war, wenn es darum ging, vor dem Aussteigen den Schlüssel abzuziehen. Sie starrte ins Autofenster und sah den Schlüssel im Zündschloss baumeln, als wolle er sie verspotten.

Schrecklich!

Tief durchatmen, sagte sie sich. Ließ man ihr Kleid mal außer Acht, war die Sache mit dem Schlüssel nicht so schlimm. Glücklicherweise war sie in der komfortablen Situation, jemanden rufen zu können, der über die nötige Praxis verfügte, ihr aus der Patsche zu helfen.

“Mom!”, brüllte sie in Richtung des weiß gestrichenen Holzhauses ihrer Mutter. Sie hörte das schwache Echo ihres Schreis und realisierte, dass sie ähnlich hysterisch klang wie Tom, wenn er in vergleichbaren Situationen nach ihr rief.

Sie holte tief Luft und stieß erneut einen Schrei aus. “Mom!” Dann legte sie ihre Hände wie einen Trichter um den Mund und brüllte noch einmal.

Das tat gut.