Originalausgabe. Copyright © 2011 by Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen, Verwertung bleiben vorbehalten.

ISBN (eBook) 978-3-932337-92-5

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-932337-43-7

Internet: www.kristkeitz.de

 

Websites der Autorin: www.westlicher-himmel.de
www.sabine-huebner-zen.de

Inhalt

Vorwort

Einführung

Hauptkapitel – Śākyamuni Buddha

 1 – Der Ehrwürdige Mahākāśyapa

 2 – Der Ehrwürdige Ānanda

 3 – Der Ehrwürdige Śānavāsin

 4 – Der Ehrwürdige Upagupta

 5 – Der Ehrwürdige Dhṛṭaka

 6 – Der Ehrwürdige Miccaka

 7 – Der Ehrwürdige Vāsumitrá

 8 – Der Ehrwürdige Buddhānandī

 9 – Der Ehrwürdige Buddhāmitrá

10 – Der Ehrwürdige Pārśava

11 – Der Ehrwürdige Puñnyayaśa

12 – Der Ehrwürdige Aśvaghōṣa

13 – Der Ehrwürdige Kapimala

14 – Der Ehrwürdige Nāgārjuna

15 – Der Ehrwürdige Kānadevah

16 – Der Ehrwürdige Rāhulabhādra

17 – Der Ehrwürdige Saṃghanandī

18 – Der Ehrwürdige Saṃghayathāta

18 – Der Ehrwürdige Saṃghayathāta, zweiter Teil

19 – Der Ehrwürdige Kumāralāta

20 – Der Ehrwürdige Śāyata

21 – Der Ehrwürdige Vasubandhu

22 – Der Ehrwürdige Manorāta

23 – Der Ehrwürdige Haklenayaśa

24 – Der Ehrwürdige Sīṁhabodhi

25 – Der Ehrwürdige Baśaṣita

26 – Der Ehrwürdige Puñnyamitrá

27 – Der Ehrwürdige Prajñādhara

28 – Der Ehrwürdige Bodhidharma (Bodaidaruma)

29 – Der Ehrwürdige Dazu Huike (Taiso Eka)

30 – Der Ehrwürdige Jianzhi Sengcan (Kanchi Sōsan)

31 – Der Ehrwürdige Dayi Daoxin (Dai-i Dōshin)

32 – Der Ehrwürdige Daman Hongren (Daiman Kōnin)

33 – Der Ehrwürdige Dajian Huineng (Daikan Enō)

34 – Der Ehrwürdige Qingyuan Xingsi (Seigen Gyōshi)

35 – Der Ehrwürdige Shitou Xiqian (Sekitō Kisen)

36 – Der Ehrwürdige Yueshan Weiyan (Yakusan Igen)

37 – Der Ehrwürdige Yunyan Tansheng (Ungan Donjō)

38 – Der Ehrwürdige Dongshan Liangjie (Tōzan Ryōkai)

39 – Der Ehrwürdige Yunju Daoying (Ungo Dōyō)

40 – Der Ehrwürdige Tongan Daopi, Tongan «der Erste» (Dōan Dōhi, Dōan «der Erste»)

41 – Der Ehrwürdige Tongan Guanzhi, Tongan «der Zweite» (Dōan Kanshi, Dōan «der Zweite»)

42 – Der Ehrwürdige Liangshan Yuanguan (Ryōzan Enkan)

43 – Der Ehrwürdige Dayang Jingxuan (Daiyō Kyōgen)

44 – Der Ehrwürdige Touzi Yiqing (Tōsu Gisei)

45 – Der Ehrwürdige Furong Daokai (Fuyō Dōkai)

46 – Der Ehrwürdige Danxia Zichun (Tanka Shijun)

47 – Der Ehrwürdige Zhenxie Qingliao (Shingetsu Shōryō oder Seiryō)

48 – Der Ehrwürdige Tiantong Zongjue (Tendō Sōkaku)

49 – Der Ehrwürdige Xuedou Zhijian (Setchō Chikan)

50 – Der Ehrwürdige Tiantong Rujing (Tendō Nyojō)

51 – Der Ehrwürdige Eihei Dōgen (Der erste japanische Linienführer des Sōtō-Zen)

52 – Der Ehrwürdige Eihei Koun Ejō

Anmerkungen

Lesetipps

Hinweis des Verlags

Standardschriftarten sind nicht in der Lage, alle in diesem eBook verwendeten Schriftvarianten darzustellen. Hierfür sollte im Lesegerät die «Verlagsschrift» aktiviert werden.

Vorwort

Wir gehen alle Tage unsere Wege, um die Aufgaben zu erledigen und die Bedürfnisse zu befriedigen, mit denen uns die industrialisierte Zivilisation beschenkt und bedrückt. Wir merken kaum mehr, wie sehr wir der Befreiung bedürfen, so sehr sind wir eingeordnet – und wenn wir es merken, wo und wie kann uns die Freiheit finden?

Gewiss sind der tägliche Trott, auch der Schmerz und die Schmerzen, auch die Leiden der Menschen und aller anderen Wesen, auch die Existenz unter der Gemeinheit und der Gier unserer Mitmenschen nicht das letzte Wort.

Was ist das Letzte Wort für uns, was ist die Freiheit, was ist das Leben – nicht irgendwann, sondern jetzt hier?

Wir hören davon in den Gesprächen, die die großen Meister, unsere Vorfahren auf dem Weg, miteinander führen. Sie leben in anderen Kulturen als wir, in anderen Jahrhunderten, doch sind sie uns verwandt, ja sie sind mit uns eins, durch DAS, was ihnen aufgegangen ist, was sich in uns zeigt.

Sabine Hübner schließt es uns auf in ihren Teishō, den Erklärungen für die Zen-Schüler im Nürnberg-Zendō und für uns. So brauchen wir, wenn wir richtig hören wollen, nicht eigensüchtig und ängstlich einen Ausweg zu suchen. Wir können uns vielmehr frei einreihen in die Gemeinschaft derer, die auf dem Weg sind. ES zeigt sich uns wie den alten Meistern, jedem nach seiner Art.

Alle Schritte, die wir bisher gegangen sind in unserem sozialen Leben, auf unseren Wegen mit unseren Menschen, in unserem politischen Handeln, in unserer Liebe zur Welt, in und neben der Religion, mit gutem Willen, waren nicht vergeblich: Sie sind ja die Schritte des WAHREN LEBENS. Wir gehen diese Schritte weiter, mitten unter allen Wesen. Unsere Meister lehren sie. Sabine Hübner macht sie uns einsichtig – und wir gehen sie unverdrossen.

Ich bin froh, diesen Weg zu gehen, und gewiss sind es auch Sie. Würden Sie sonst dieses Buch in die Hand nehmen?

Alle Wesen sollen ES erfahren!

Hans Neundorfer

Einführung

Der Mönch Keizan Jōkin lebte von 1268 bis 1325. Er stellte eine Sammlung von Kōan zusammen, das eigentliche Denkō-roku. Dieses ist ein wichtiges Sōtō-Buch, das weltweit als Kōan-Sammlung der Übung vieler Zen-Schüler dient.

Zu jeder Einzelnen der geschilderten Episoden dieser Kōan-Sammlung gibt es auch einen Vers und einen Kommentar von Keizan. Dieses Gesamt-Werk von Keizan heißt übersetzt «Aufzeichnungen des Mönchs Keizan über die Weitergabe des Lichts».

In dem hier vorliegenden Buch sind aber nicht die Kommentare von Keizan Jōkin enthalten, sondern die Kōan selbst, deren dazugehörende Verse und die Kommentare der Autorin zu dem jeweiligen Kōan und dem jeweiligen Vers. Hiermit bekommen moderne Zen-Schüler aktuelle Kommentare zu den alten, klassischen Kōan des Denkō-roku in die Hände. Alle Kommentare wurden als Teishō, spirituelle Darlegungen, den Zen-Schülern in den Sesshin vorgetragen.

Die Sammlung schildert die Begebenheiten bei der Übermittlung des Dharma von Patriarch zu Patriarch und von Meister zu Meister bis zu Meister Dōgen und dessen Schüler, Meister Eihei Ejō-Oshō, dem zweiundfünfzigsten Zen-Vorfahren beziehungsweise Nachfolger des Buddha – und ist neben dem Shōbōgenzō des Meister Dōgen eine der wichtigsten Schriften der Sōtō-Schule. Man sieht daran, dass in alten Zeiten auch in der Sōtō-Schule mit Kōan gearbeitet und höchster Wert auf die Erfahrung der Wesensnatur gelegt wurde. Dieses geht sehr deutlich aus den Kōan-Geschichten des Denkō-roku hervor, aus denen zu ersehen ist, wie die alten Patriarchen und Meister zur Erfahrung der Buddha-Natur kamen.

Die Sanbō-Kyōdan-Schule, auf deren Tradition auch die Zen-Schule des Westlichen Himmels steht, bildet ab Meister Daiun Sōgaku Harada eine Zusammenführung von dessen Sōtō- und dessen Rinzai-Linie in seiner Person und beruft sich daher auf die Sōtō- und auch die Rinzai-Tradition. Die Zen-Schule des Westlichen Himmels ist in ihrer Form der Übung auf bestimmte Weise also auch Sōtō, und so arbeiten wir unter anderem mit dem Kōan-Buch Denkō-roku.

Auch im Denkō-roku werden, wie im Mumonkan, jeweils die Geschichte und der Vers als Kōan behandelt. Somit enthält das Denkō-roku 106 Kōan.

Nach Buddha gab es in Indien achtundzwanzig direkte Nachfolger, traditionell genannt «Patriarchen», von denen Bodhidharma der achtundzwanzigste war. Bodhidharma zog von Indien nach China, um dort den Buddha-Dharma zu verbreiten. So war Bodhidharma sowohl der achtundzwanzigste indische als auch der erste chinesische Patriarch. Die fünf chinesischen Nachfolger des Buddha wurden bis einschließlich Huineng ebenfalls noch als Patriarchen bezeichnet.

An dieser Stelle ein Wort zum Begriff «Patriarch»:

Das Wort selbst ist griechisch und bedeutet «Stammvater». Es ist die Bezeichnung für wichtige, hoch stehende biologische und geistige «Stammväter» in mehreren Kulturen.

Zum Beispiel ist es eine Bezeichnung für die biblischen Erzväter (Abraham, Isaak und Jakob). Im römischen Reich war «Patriarch» – vor allem in Palästina – zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert einer der Titel des Oberhauptes der Juden. Sodann wurden und werden die leitenden Bischöfe verschiedener orthodoxer Kirchen jeweils «Patriarch» genannt, und selbst in der römisch-katholischen Kirche führen der Papst selbst, aber auch die Bischöfe von Goa, Lissabon und Venedig diesen Titel.

Nun kommen wir zum Zen. Dort wurden und werden auch eine Reihe von alten Meistern, die in Śākyamuni Buddhas Linie standen, «Patriarchen» genannt.

Im Lexikon des Zen aus dem Goldmann-Verlag heißt es hierzu: «Patriarch; im chin. Buddhismus der Gründer einer Schule und seine Nachfolger in der Lehrübertragung. Siehe auch – Soshigata.»

Hierzu steht im Lexikon der östlichen Weisheitslehren, entsprechend der Erklärung des Lexikon des Zen: «Soshigata, jap.; die ‹Patriarchen› in der Übertragungslinie des Zen. Die Patriarchen sind große Meister, die den Buddha-Dharma von ihrem jeweiligen Meister in der ‹Übertragung von Herz-Geist zu Herz-Geist› an ihre Dharma-Nachfolger weitergegeben haben. In Indien folgten auf Śākyamuni Buddha 28 und in China 6 Patriarchen, wobei Bodhidharma sowohl der 28. indische als auch der 1. chinesische Patriarch ist.

Der 6. chinesische Patriarch, Huineng, hat das Patriarchat niemals in aller Form an einen Nachfolger weitergegeben, und so ist es erloschen. Huineng hatte allerdings fünf Meister-Schüler und Dharma-Nachfolger, auf die alle Schulen des Zen, die sich nach Huineng in mehreren parallelen Traditionslinien entwickelten, zurückgehen. In diesen Linien werden die hervorragenden Meister der auf Huineng folgenden Generationen, sowohl in China als auch in Japan, aus Verehrung und Hochachtung für ihre großen Leistungen oft als ‹Patriarchen› bezeichnet.»

Da also auf Anordnung des fünften chinesischen Patriarchen in China, Daman Hongren, durch seinen Nachfolger, den sechsten Patriarchen, Dajian Huineng, nicht mehr der Ehrentitel «Patriarch» weitergegeben werden sollte, gab und gibt es seit Huineng kein Patriarchentum mehr im Zen.

So werden wir in diesem Buch für alle Nachfolger des Huineng die Bezeichnung «Nachfolger» (des Śākyamuni Buddha) oder «Zen-Vorfahren» (in Hinsicht auf uns) verwenden, nicht mehr «Patriarch» und auch nicht den entsprechenden japanischen Titel «Soshigata». Dies wird ohnehin in China und Japan so gehandhabt.

Das Wort «Zen» leitet sich ab von dem Sanskrit-Wort «Dhyāna» – Meditation –, aus dem das chinesische Wort «Chan» wurde, das in Japan mit dem gleichen Schriftzeichen geschrieben, aber «Zen» gesprochen wird.

Der sechste Patriarch nach Bodhidharma, Dajian Huineng, jap. Enō, war also auf Anordnung seines Lehrers, des fünften Patriarchen Daman Hongren, der letzte mit der Patriarchenwürde in der Linie der großen Zen-Vorfahren. Die Würde allerdings kann ohnehin niemand einem Menschen absprechen, sie ist ihm angeboren. Es ist gut, wenn die Menschen sich entsprechend dieser ihrer Würde verhalten.

Des fünften Patriarchen Daman Hongrens Absicht war es, den Patriarchen-Titel an künftige Nachfolger nicht mehr weitergeben zu lassen, damit der Dharma nicht mit diesem Titel verwechselt werden solle. Daman Hongren hatte Erfahrungen damit gemacht, dass eifrige Zen-Schüler nach der Patriarchenwürde mitsamt dem Mönchsgewand und der Ess-Schale des Meisters schielten, also nach Zen-Karriere trachteten und somit bewiesenermaßen den Dharma nicht verwirklicht hatten. Heutzutage schielen einige übereifrige Zen-Leute nach dem Dokument, das die Nachfolge eines – sagen wir einmal – Linienführers des Zen bestimmt. Was für Kriege daraus entstanden, ist aus der Zen-Geschichte bis zum heutigen Tage ja hinreichend bekannt. Huineng gab also die Patriarchenwürde und deren Insignien, das Mönchsgewand und die Ess-Schale, nicht mehr weiter. Somit erlosch mit ihm das so genannte Patriarchentum.

Nicht jedoch erlosch der Dharma, obwohl er im Lauf der Jahrhunderte vielfach veräußerlicht wurde. Wirklich große und authentische Zen-Meister gab es gar nicht so viele, und heutzutage sind – vorsichtig ausgedrückt – einige von denen, die sich Zen-Meister nennen, nicht sehr überzeugend. Selbst in Japan ist die Hochblüte des Zen inzwischen sehr verwässert. Der letzte ganz große Zen-Meister war wohl der verstorbene Zenkei Shibayama.

Und doch geht der Dharma von Generation zu Generation weiter, wenn oft auch sehr verdünnt. Der kosmische Dharma ist ohnehin nicht auslöschbar, sonst wäre mit ihm auch der Kosmos auslöschbar.

Man kann mitbekommen, dass trotz der Anordnung des fünften Patriarchen bezüglich des Patriarchats ein sogar vielfaches Patriarchentum muntere Blüten treibt. Es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Zen-Linien, deren derzeitige Linienführer sich allesamt als «Patriarchen» bezeichnen. Ich habe selbst einige Menschen mir sehr stolz mitteilen hören, dass ihr Zen-Meister der soundsovielte Patriarch Soundso sei. Man mag das ansehen, wie man will. Des fünften chinesischen großen Vorfahren Daman Hongren verbindliche Anordnung wird jedenfalls bis heute missachtet. Dahinter steckt sicher kein böser Wille, sondern die derzeitigen Patriarchen sind ganz bestimmt tüchtige und seriöse Zen-Meister.

Wie auch immer sich dies verhält, hat die Zen-Schule des Westlichen Himmels nach Huineng keine weiteren Patriarchen mehr, sondern eine Linie von großen Vorfahren seit Śākyamuni, welche auf dem wunderbaren und unübertrefflichen Buddha-Weg gegangen sind und gehen.

Zurück zum Denkō-roku. Dieses unglaublich schöne und klassische Kōan-Buch voller Kostbarkeiten macht vielen Zen-Schülern große Freude. Jedes Kōan zeigt das Dharma-Tor auf, durch das ein großer, alter Meister schritt, als er noch ein Schüler war. Dies kann alle heutigen Schüler ermutigen, ebenfalls den Schritt durch das Dharma-Tor zu wagen – und dann die weiteren Schritte auf dem Weg und dann wiederum und wieder und wieder durch das jeweilig aktuelle Dharma-Tor – bis hin in die tiefe und ständige Erleuchtung des Nirvāṇa-Zustandes inmitten dieses bewegten Lebens.

Bemerkungen zu diesem Buch: Die Teishō in diesem Buch wurden, wie gesagt, den Zen-Schülern in den Sesshin vorgetragen, für gewöhnlich täglich eines. Einige der Texte, die hier Kapitel bilden, wurden auf zwei oder drei Tage verteilt. Aus den aufgeschriebenen Texten sind die Kapitel dieses Buches entstanden.

Hin und wieder ist der Name «Volker Fey» oder «Vijāya Volker Fey» in den Texten erwähnt. Er ist der Ehemann der Autorin, der hilfreich zum Verständnis der Geschichte des Zen, zu Übersetzungen von Namen und anderen Begriffen beigetragen hat. Volker Fey hat siebzehn Jahre seines Lebens in asiatischen Klöstern gelebt und an buddhistischen Universitäten sowohl Mahāyāna als auch Theravāda in den Originalsprachen studiert sowie die entsprechenden klassischen Wege durchlaufen. Sein Beistand beim Verständnis von buddhistischen Texten, auch Zen-Texten und deren Hintergründen, ist von unschätzbarem Wert.

Teishō über Kōan beinhalten selbstverständlich niemals Kōan-Lösungen. Diese müssen die Zen-Schüler in ihren Übungen im eigenen Innern selbst finden.

Es werden in diesem Buch die originalen und nicht die später japanisierten Namen der Meister verwendet. Die japanischen Namen der chinesischen Meister sind aber unter der Überschrift des jeweiligen Kōan-Textes aufgeführt, da die chinesischen Meister oft unter ihren japanischen Namen bekannter sind.

Die Leser werden feststellen, dass der sechste und letzte Patriarch in China, Huineng, der diesen Titel führte, eine bedeutende Rolle im Zen spielt. Er war von hohem und kühnem Charakter und hat den Dharma trotz großen Widerstands und ständiger Lebensgefahr zuverlässig weitergegeben.

Auf Huineng führen sich alle noch heute bestehenden Zen-Schulen zurück.

Die alten Meister waren nicht begabter für die geistige Disziplin als die heutigen Menschen. Mehr und mehr wächst deren Bedürfnis, sich in das eigene Wahre Wesen hinein zu entwickeln, um sich selbst und damit das Wesen der Welt zu erkennen.

Mögen die Teishō, die in diesem Buch wiedergegeben sind, helfen, Zen-Schüler auf ihrem nicht immer leichten Weg zu begleiten und ihnen den Rücken zu stärken, aber auch andere Menschen, welche dieses Buch in die Hände bekommen, zu ermutigen, sich ja vielleicht ebenfalls auf einen guten spirituellen Pfad zu begeben.

Mögen alle Wesen glücklich sein!

Sabine Hübner

Hauptkapitel – Śākyamuni Buddha

Als Śākyamuni Buddha den Morgenstern sah, erkannte er den WEG und sagte:

«Ich und die weite Welt und alle Lebewesen haben den WEG im selben Augenblick vollkommen erkannt.»

Wie ihr wisst, saß Śākyamuni gerade unter dem Bodhi-Baum in Versenkung, vielleicht in einer dem Shikantaza ähnlichen Übung, als der Morgenstern, die Venus, aufging. Beim Anblick des Morgensterns erkannte er den WEG, und voller Freude rief er aus: «Ich und die weite Welt und alle Lebewesen haben den WEG im selben Augenblick vollkommen erkannt!»

In einer anderen Übersetzung ruft er aus: «O, Wunder über Wunder! Im Grunde sind alle Wesen Buddhas!» Damit ruft er aus: «O, wie wunderbar! Nicht nur ich, dieser Mensch hier, hat den WEG, die BUDDHA-NATUR erkannt, sondern mit mir, und zwar in genau demselben Augenblick, haben alle Lebewesen und die ganze Welt die BUDDHA-NATUR erkannt!» Er sagt: «Ich und das Universum sind EINS und erkennen in diesem EINSSEIN den WEG! – Ich bin EINS! Ich bin der WEG

Jesus sagte: «Der Vater und ich sind EINS

Das sind nur verschiedene Ausdrucksweisen. Śākyamuni entdeckt im Augenblick der vollkommenen Erleuchtung, dass er mit dem gesamten Kosmos EINS ist und das BUDDHA-WESEN als das eigene und einzige WESEN erkennt. Indem er sich erkennt, erkennt der Kosmos sich. Nicht Śākyamuni erkennt, sondern das EINE SEIN erkennt sich als das EINE SEIN in diesem einzigen wunderbaren Augenblick.

Śākyamuni hat vielleicht das Wort WEG gebraucht. Der WEGist, was die Chinesen dasDAO nennen, in dem Yin und Yang, Oben und Unten und alle Gegensätze aufgehoben sind.Ob aberDAO oder WEG, das hat keine Bedeutung. Das sind lediglich verschiedene Begriffe. Die Begriffe tun es aber nicht.

Wer die Erfahrung des vollkommenen EINSSEINS macht, hat kein Problem mehr mit Begriffen, wenn er in einer Erleuchtungsbeschreibung Worte hört. Wer diese Erfahrung kennt, versteht, wovon die Rede ist, auch wenn die Worte und Begriffe ES nicht sagen können.

Śākyamuni sah den Morgenstern, und in diesem Anblick sah er die BUDDHA-NATUR als EIN EINZIGES SEIN.

Nicht, dass da noch Śākyamuni war und dass außerdem da noch der Morgenstern war! Niemand, der sah, und nichts, was gesehen wurde; sondern in diesem einen Augenblick – die Ewigkeit!

In einer stümperhaften Sprache sagte Śākyamuni: «Ich und die Welt und alle Wesen darin ‹haben den Weg gesehen›»; denn wir haben nur eine stümperhafte Sprache zur Verfügung, um die LETZTE WIRKLICHKEIT damit auszudrücken.

Wieso hat Śākyamuni zugleich mit dem gesamten Universum den WEG erkannt?

Wieso haben alle Wesen in demselben Augenblick wie Śākyamuni den WEG erkannt?

Śākyamuni und alle Lebewesen der großen, weiten Welt sind seit jeher immer nur EIN EINZIGES WESEN, und zwar DAS WESEN.

Dieses EINZIGE, das IST, erkennt sich in dem ewigen, absoluten Augenblick als sich selber wieder. Es existiert im ganzen Universum nicht etwas Zweites! Dieses EINE aber ist die wirkliche Identität von Śākyamuni, also von jedem von uns.

Jeder hier im Raum ist das EINE, und neben ihm gibt es kein Zweites. Dass damit nicht die jeweils kleine menschliche raumzeitliche Form gemeint ist, müssen wir nicht extra betonen. Also wieso erkennen alle WESEN ihre WESENSNATUR, wenn ein einziger Mensch sie erkennt? Nun, das EINE WESEN erkennt das SEIN, und das ist immer nur das EINE GÖTTLICHE WESEN, das EINZIGE SEIN.

Wenn hier im Sangha jemand in EINEM Augenblick den WEG erkennt, erkennen alle anderen ihn auch. Das ist selbst dann der Fall, wenn die anderen es gar nicht mitbekommen.

Ich habe oft gesehen, dass jemand aus seiner WESENSNATUR heraus lebt, und obwohl das der Fall ist, hat er noch einen kleinen Schleier vor den Augen. In Wirklichkeit jedoch ist nicht einmal dieser Schleier da. Die meisten Schüler auf dem WEG glauben, da wäre noch so ein Schleier, der ihnen die Sicht nimmt. Nur diese Einbildung nimmt ihnen die Sicht. Wenn sie aber in EINEM AUGENBLICK die WAHRHEIT sehen, entdecken sie auch: «Immer war mir das vertraut! Immer war ich schon zu Hause! Es war mir nur entgangen. Jetzt habe ich erkannt, dass ich seit Ewigkeit immer schon erleuchtet bin und dass ich da angekommen bin, wo ich schon immer war!»

Es hilft zur Rettung aller Lebewesen, wenn auch nur ein einziger Mensch den WEG erkennt. Dieser Mensch erkennt damit, dass im Grunde alle schon gerettet sind, dass sie es vor lauter Scheuklappen nur noch nicht merken. Und aus dem großen Mitgefühl des Bodhisattva übt er tüchtig ohne Absicht für seine Person weiterhin Zazen. Wenn einer sich entwickelt, entwickeln alle Lebewesen sich.

Ihr wisst schon, das ist der Weg, Weltfrieden zu schaffen.

Vers

Ein Zweig sprießt aus dem alten Pflaumenbaum,

im Lauf der Zeit umschlingt ihn Dornengestrüpp.

Der Zweig ist der Dharma des Buddha. Mit diesem Dharma ist eigentlich der kosmische Dharma, das universelle Gesetz, gemeint, das aus dem «alten Pflaumenbaum», dem ABSOLUTEN URGRUND, wächst. Dieser Zweig steht für ES. Dem ist nichts hinzuzufügen. Der Zweig spricht für sich selbst. Er zeigt wortlos die WAHRHEIT. Im Lauf der Zeit umschlingt ihn Dornengestrüpp. Die Dornen sind die erklärenden Konzepte «darüber». Haltet aber nicht die Erklärungen und Konzepte «über die Wirklichkeit» für die Wirklichkeit selbst!

Seit Jahrhunderten wurden weise Lehren über das, was Śākyamuni Buddha gesagt hat, entwickelt. Daran allein ist an sich noch nicht unbedingt etwas falsch. Es geht aber um die Umsetzung und nicht das jahrelange Auswendiglernen von Bücherwissen. Alle heiligen Bücher nützen nichts, wenn die entsprechende Erfahrung fehlt. Die Inhalte der gelehrten Bücher und heiligen Schriften sind nur der «Finger, der zum Mond zeigt», nicht der Mond selber. In diesem Fall könnte man, wenn man will, auch «der Morgenstern» sagen. Śākyamuni sah einfach den Morgenstern – und schaute das WESEN unmittelbar.

Alle Lehren des Buddha zielen nur darauf ab, die Menschen zu der Erfahrung der LETZTEN WIRKLICHKEIT zu führen.

1 – Der Ehrwürdige Mahākāśyapa

Als einst der von der Welt Geehrte mit Augenzwinkern eine Blume in seiner Hand drehte, lächelte Kāśyapa.

Der von der Welt Geehrte sagte: «Ich habe den Augen-Schatz des Wahren Dharma, das Wunderbare Nirvāṇa-Bewusstsein. Dies übertrage ich dem Mahākāśyapa.»

Der Name «Kāśyapa» bedeutet «Lichtschlucker». Die Legende erzählt, dass bei der Geburt Kāśyapas das ganze Zimmer von einem goldenen Licht durchflutet wurde, welches von dem neugeborenen Kind geschluckt wurde.

Das Wort «maha» heißt «groß» und wird oft vor Namen von Heiligen gesetzt, dann in Form von «mahā», um diese zu ehren. Oft werden in den buddhistischen Klöstern Mahākāśyapa und Ānanda, die beiden ersten Zen-Patriarchen in Indien, zur Rechten und Linken des Buddha dargestellt.

Ursprünglich sollte nicht Kāśyapa, sondern Śāriputra der Nachfolger des Buddha werden. Śāriputra war der hervorragendste und fähigste Schüler des Buddha. Er war zusammen mit seinem Jugendfreund Mahāmaudgalyāyana in die Schülergemeinschaft des Buddha eingetreten. Auch Mahāmaudgalyāyana war einer der bedeutendsten Schüler des Buddha und wurde dessen enger Vertrauter auf dem Gebiet der höheren Jhāna-Praktiken. Er und sein Meister zogen sich oft ins Verborgene der Wildnis zurück, um sich den Übungen dieser höheren Jhāna-Stufen zu überlassen. Maudgalyāyana wurde wie auch Śākyamuni Buddha ein großer Meister der Abhiññā, der Praktiken und ausgereiften Fähigkeiten der außergewöhnlichen Kräfte. Auch Śāriputra und Maudgalyāyana werden oft rechts und links des Buddha gezeigt.

Da Śāriputra, der als Vipassanā-Meister sehr weise war, aus diesem Grund als Śākyamuni Buddhas Nachfolger vorgesehen war, frühzeitig und schon vor dem Buddha starb, trat Mahākāśyapa später an seine Stelle als erster Zen-Patriarch.

Mahākāśyapa war von sehr hoher und strenger Sittlichkeit und Reinheit, die er dank großer und sorgfältiger Disziplin erreichte. So war er ein leuchtendes Vorbild für die anderen Schüler. Wer sein Leben diszipliniert in der Hand hat, bringt es sehr weit in seiner menschlichen und spirituellen Entwicklung, und seine Geistesschulung zeigt großen Erfolg. Es gibt keine störenden Hindernisse auf dem Weg, keine täuschenden Gedanken und Gefühle, keine Steine emotionaler Art vor dem Fuß, und die «alten Sachen» sind aufgearbeitet.

Bei den Begriffen «Disziplin» und «strenge Sittlichkeit» ist nicht brutale Dressur einer falsch verstandenen Erziehung durch Eltern, Lehrer und andere Autoritäten gemeint, in der ein erwünschtes Wohlverhalten eingeprügelt und «eingestraft» werden, sondern hier geht es um die Eigenverantwortung und Selbsterziehung des Menschen, die bereits zu Beginn der spirituellen Schulung praktiziert werden, beispielsweise mit der Ausrichtung am Achtfachen Pfad, den der Buddha gelehrt hat, oder anhand der Vier Göttlichen Verweilzustände.

So sollte niemand, der sich selbst nicht erziehen konnte, die Verantwortung für ein verpfuschtes Leben seinen Eltern in die Schuhe schieben. Diese Verantwortung hat jeder Mensch selbst.

Dieses lebte Mahākāśyapa seinen Dharma-Brüdern in leuchtendem Beispiel vor.

Wie ihr wisst, wird der Achtfache Pfad schon lange vor dem Eintreten der Erleuchtungserfahrung eingeübt und in diesem Abschnitt des Weges «der Erste Achtfache Pfad» genannt. Die Einübung in den Ersten Achtfachen Pfad wird praktiziert, um Steine psychischer und charakterlicher Art aus dem Weg zu räumen, alte Verhaltensweisen zu «überschreiben», wie es in der buddhistischen Psychologie heißt.

Nach gemachter und ausgereifter Erfahrung fallen die Früchte der Praxis des Achtfachen Pfades dem Schüler mühelos zu. Er hat sich mit dem ganzen Universum als Eines erfahren. Da ist er eins mit dem Fluss des Lebens im erleuchteten Zustand, und alle Gesetze und Lebensregeln erfüllen sich harmonisch von allein. Diese so mühelose Art des Achtfachen Pfades wird «der Zweite Achtfache Pfad» genannt. Man könnte sagen, nun ist der Schüler auf dem Weg ein wirklicher Bodhisattva geworden.

Und nun könnt ihr verstehen, warum Mahākāśyapas hohe und disziplinierte Sittlichkeit für ihn keine Härte bedeutete, sondern voll Leichtigkeit und wie im Tanz vollzogen wurde. Für ihn war der Weg leicht geworden.

Auch ihr habt potenziell die gleichen Fähigkeiten wie Mahākāśyapa und braucht nicht bescheiden auf eure eigene wunderbare Entwicklung dieser Fähigkeiten zu verzichten.

In die Zeit nach Śāriputras Tod fällt die Begebenheit unseres heutigen Kōan.

Śākyamuni hatte seine Schüler auf dem Geierberg um sich versammelt, um ihnen eine Dharma-Unterweisung zu geben. Die Schüler standen also um den Welterhabenen herum und warteten auf das Teishō. Der Welterhabene aber sprach kein Wort. Er stand gelassen dort, eine Blume in der Hand. Und dann schließlich hob er diese Blume hoch und drehte sie, wie es hier heißt, augenzwinkernd in der Hand.

Niemand sprach ein Wort. Die Schüler warteten betreten. Sie warteten auf mehr. Wann würde der Welterhabene denn zu sprechen beginnen? Dabei hat die großartigste Predigt bereits stattgefunden! Die Welt war gerettet. Die Mönche standen jedoch verunsichert herum. Niemand merkte etwas. Wie schade!

Nur der große Kāśyapa lächelte.

Der von der Welt Geehrte lächelte ebenfalls und sagte der ganzen Schülerversammlung: «Ich habe den Augen-Schatz des Wahren Dharma, das wunderbare Nirvāṇa-Bewusstsein. Dies übertrage ich dem Mahākāśyapa.»

Im Mumonkan wird diese Geschichte im Fall 6, «Buddha hält eine Blume hoch», dargestellt. Hier sagt der Buddha, als er Kāśyapa lächeln sieht, die wunderbaren Worte:

«Ich habe das kostbare Auge des WAHREN DHARMA,

den wunderbaren GEIST des NIRVĀNA,

die WAHRE FORM der Nicht-Form,

das geheimnisvolle DHARMA-TOR.

Es hängt nicht von Buchstaben ab,

sondern wird auf besondere Weise

außerhalb aller Lehren übermittelt.

Jetzt vertraue ich es dem Mahākāśyapa an.»

Mit diesen Worten überträgt der Buddha seine Lehre dem Mahākāśyapa.

Er sagt, dass er das geheimnisvolle DHARMA-TOR dem Kāśyapa anvertraut.

Ānanda stand staunend dabei. Viel später – der Buddha war schon gestorben und der Lieblingsschüler des Buddha, Ānanda, war Kāśyapas Schüler geworden –, sollte Ānanda den großen Kāśyapa auf dieses Erlebnis der Dharma-Übertragung ansprechen.

So einfach ist das: Ein Meister sagt zu seinem Schüler: «Ich vertraue dir den Dharma an.» Oder er sagt: «Führe Schüler auf dem Weg!» Oder er sagt: «Ich übertrage dir den Wahren Dharma.» Oder: «Unterweise alle Wesen!»

Mit diesen Worten wird dem Schüler nicht von einem Augenblick auf den nächsten irgendetwas Zauberisches übertragen, sondern mit diesem Wort sagt der Meister: «Ich lade dir hier eine große Last auf den Rücken! Komm dieser Verantwortung nach und tu dein Bestes. Frage nicht, ob du dazu Lust hast oder nicht!»

Hat so ein Meister seinem Meister-Schüler nun irgendetwas übertragen? Hat er ihm etwas gegeben?

Er hat ihm gar nichts gegeben.

Den Dharma kann man nicht wirklich jemand anderem geben. Ich weiß schon, dass sehr viele Menschen in den westlichen Ländern glauben, sie müssten nur zu einem indischen Gūru gehen, der würde ihnen die Hand auflegen oder sie an der Stirn berühren oder ihnen auf den Rücken schlagen, und dann würde in ihnen eine herrliche Ekstase ausgelöst, und diese Ekstase wäre dann der Dharma, wäre die Erleuchtung.

Pustekuchen!

Ich habe einige Leute gesehen, die bei einem indischen Gūru waren, der in ihnen Ekstasen ausgelöst hatte. Diese Leute hatten keinen Dharma übertragen oder geschenkt bekommen. Ihr Zustand war nicht einmal empfehlenswert. Die Ekstase hatte jedenfalls nichts gebessert. Sie hatte nicht ihr Leben auf die Reihe gebracht und ihnen auch keine Einsicht in ihr eigenes Wesen ermöglicht. Am Tag nach der Ekstase war alles weg, und nichts blieb ihnen außer der Sehnsucht und dem Katzenjammer. Und sie hatten irrtümlich sogar geglaubt, ihr Gūru habe ihnen die Erleuchtung übertragen. Welch trauriges Missverständnis! Welche Enttäuschung!

Nein, es kann nichts übertragen werden. Auch die Meisterschaft kann nicht übertragen werden. Die Meisterschaft entwickelt sich bei einem Menschen im Lauf vieler Jahre – oder auch nicht. Sie kann nicht «gegeben» werden. Wenn ein Meister jemand anderen zu einem Meister erklärt, gibt es noch lange keine Gewähr dafür, dass hierdurch ein Meister entstanden ist. Vielleicht heißt er «Meister» oder «Gūru» oder «Rōshi», ist aber nicht unbedingt einer.

Nun, ich meine sowieso, dass ein anständiger Lehrer erst ein anständiger Lehrer durch seine Schüler wird. Es heißt ja auch, jeder Zen-Meister bekommt die Schüler, die er verdient hat. An der Qualität der Schüler kann man die Qualität des Meisters ablesen – und umgekehrt. Das ist schon wahr! Und so kann nicht aus einem rohen und unbehauenen Klumpen Mensch durch eine Dharma-Übertragung ein Meister entstehen.

Schüler und Meister müssen jahrelang ihr Bestes geben, und so formt sich das wunderbare, klar leuchtende Wesen aus dem rohen Klumpen heraus. Wenn der Schüler nach vielen Jahren reif geworden ist, andere Menschen – andere rohe Klumpen – anzuleiten und zu führen, dann wird der Meister ihm, wie man es nennt, den Dharma «übertragen». Aber zum Meister entwickelt haben muss er sich schon vorher, und um dies zu verwirklichen, braucht er keinen Titel.

Nun, in alten Zeiten wurde doch etwas übertragen: Der Meister gab seinem Schüler bei dessen Lehrbeauftragung sein Mönchsgewand und seine Ess-Schale. Dieses war aber nur das äußere Zeichen als Bestätigung dafür, dass dieser Schüler wirklich durch ihn, den Meister, beauftragt wurde, andere Menschen zu führen. Am Mönchsgewand konnte man – damals – diese Tatsache äußerlich erkennen.

Mein Meister erklärte bei meiner Lehrbeauftragung, es sei nicht mehr üblich, das Mönchsgewand zu «übertragen», und seines würde mir auch gar nicht passen. Und so überreichte er mir ganz einfach so einen Holzknüppel, nämlich den Meisterstab, als äußere Bestätigung für den gegebenen Auftrag.

Hat er mir damit aber den Dharma übertragen?

Jeder Zen-Schüler muss den Dharma in sich selber entwickeln, aus-wickeln, und das WAHRE WESEN, das leuchtend und rein übrig bleibt, braucht niemand dem Schüler zu geben! Der Meister kann den Entwicklungsstand des Schülers nur noch bestätigen.

Und dieses geschah, als Śākyamuni dem Kāśyapa den Dharma «übertrug».

Im Denkō-roku wird der Wahre Dharma auch das «Wunderbare Nirvāṇa-Bewusstsein» genannt. Dieses Nirvāṇa-Bewusstsein kann niemals übertragen oder anvertraut oder gegeben oder genommen werden. Immer und ewig ist ES schon.

Das Nirvāṇa-Bewusstsein des Meisters ist das Nirvāṇa-Bewusstsein des Schülers. In Ewigkeit ist es immer das einzige unendliche Nirvāṇa-Bewusstsein.

Es ist euer Nirvāṇa-Bewusstsein. Niemand kann es euch geben und niemand kann es euch nehmen.

Indem ihr eine Blume in den Fingern dreht, zeigt es sich deutlich sichtbar.

Indem der Herbstwind durch den Ahorn rauscht, offenbart es sich unmissverständlich.

Indem uns ein kühler Schauer über den Rücken läuft und der Regen uns in den Kragen tropft, ist das Nirvāṇa-Bewusstsein zweifelsfrei spürbar.

Mahākāśyapa sah ES, und dieses wiederum sah Śākyamuni. Sie sahen mit dem gleichen Auge.

Und so lächelten sie.

Vers

Du kennst den einsamen, tiefen Ort der bewölkten Täler.

Immer noch steht dort die heilige alte Kiefer,

die durch die Kälte vieler Jahre gegangen ist.

Liebe Zen-Schüler, welches ist der einsame, tiefe Ort der bewölkten Täler? Dieser einsame, tiefe Ort ist der Urgrund unseres Wesens, der von unendlicher Tiefe ist, ohne Boden, ohne Grund. Er ist der grundlose Grund und damit der ortlose Ort. Diese tiefen Täler sind wolkenverhangen. Sie sind so tief und unergründlich, dass der Blick irdischer Augen die Wolken der menschlichen Denkkonzepte nicht durchdringen kann.

Die alte heilige Kiefer mit Namen WESENSNATUR steht dort seit Unendlichkeiten – und Raum und Zeit sind an ihr vorübergewandert. Der Wirbel der Welt hat sie nicht berührt, und so ist sie durch die Kälte vieler Jahre gegangen, während sie zeitlos und unwandelbar dort steht.

Auch wir sind in Wahrheit unsichtbar, unberührbar und unwandelbar.

Warum sich dann so viel Kummer machen? Warum sich so quälen? Alle Dinge gehen vorüber, aber wir selbst bleiben in UNENDLICHKEIT stehen – und sind selbst die UNENDLICHKEIT."

2 – Der Ehrwürdige Ānanda [→ 1]

Der zweite Patriarch, der Ehrwürdige Ānanda, fragte den Ehrwürdigen Kāśyapa: «Hat der von der Welt Geehrte dir noch irgendetwas anderes außer dem goldenen Brokatgewand übertragen?»

Kāśyapa rief: «Ānanda!»

Ānanda sagte: «Ja!»

Kāśyapa sagte: «Hau die Fahnenstange vor dem Tor nieder!»

Ānanda erfuhr große Erleuchtung.

Kāśyapa oder Mahākāśyapa – der große Kāśyapa – war der erste große Nachkomme von Śākyamuni in Indien, und Ānanda war der zweite. Beide waren besondere Schüler des Buddha, die sich sehr verdient um dessen Lehre gemacht haben. Ānanda hatte zwar schon zu Lebzeiten des Buddha Erleuchtung erfahren, die aber später noch ganz andere Dimensionen erreichte.

Eines Tages nun fragte Ānanda seinen älteren Dharma-Bruder und direkten Nachfolger des Buddha voller Sehnsucht: «Hat der von der Welt Geehrte dir nicht doch noch etwas Besonderes übertragen außer seinem Meistergewand? Hat er dir nicht noch ein Geheimnis verraten, das wir anderen nicht kennen? Hat er dir, als er noch unter uns weilte, nicht noch eine bis dahin unausgesprochene Lehre gegeben – eine Lehre, die mich weiterführen könnte? Was hat er dir denn noch anvertraut?»

Kāśyapa sah, wie sehr Ānanda sich quälte vor lauter Verlangen nach den Geheimnissen des geliebten Buddha, und er sah auch, wie sehr Ānanda auf dem Holzweg war: Ānanda suchte nach einer gesprochenen, mitgeteilten Lehre, einer geheimen Lehre, einer vermeintlich noch weiteren Lehre, die er dann lernen könnte, ein Geheimnis, das man ihm doch bitte verraten sollte.

Im Zen ist aber «Lernen» und «Studieren» kein intellektuelles Anhäufen von Wissen. Es ist kein Wissen, das durch Buchstaben und Worte übermittelt werden könnte. Dieses «Studieren» auf dem Zen-Weg ist das Durchdringen dessen, was gerade gegenwärtig ist. Worte und angelerntes «Wissen» stören da nur.

Auch ein Geheimnis gibt es nicht. In der Wirklichkeit ist alles offenbar.

Wir haben schon öfter über das WAHRE WISSEN außerhalb des Denkens und der Worte gesprochen. Jedes Wort führt von diesem WAHREN WISSEN weg, vor allem, wenn man aus den Worten und wortreichen «Lehren» schöpft und glaubt, nun wüsste man etwas. Diese trügerische Hoffnung wollte Kāśyapa dem Ānanda nehmen, und voller Mitleid mit Ānanda rief er auf dessen Frage nach einem weiteren Vermächtnis des Buddha dem Ānanda zu: «Ānanda!»

Damit hatte Kāśyapa die Frage beantwortet.

Damit hatte Kāśyapa alle Fragen der Welt beantwortet.

Kāśyapa hatte seine WEISE EINSICHT bewiesen.

Er zeigte die Wirklichkeit in diesem Ruf, er zeigte das WESEN.

Spontan antwortete Ānanda: «Ja!»

Und auch mit diesem Ruf manifestierte nun Ānanda das WESEN. In diesem Ruf nahm das formlose WESEN Form an.

Das ewige BUDDHA-WESEN offenbarte sich in dem Ruf: «Ja!»

Glaubt nicht, dass es der Wortinhalt dieses «Ja» ist! Dass in diesem «Ja» irgendeine Bedeutung stecken könnte! Nein! Es steckt nichts davor und nichts dahinter! Es ist ganz einfach diese spontane Antwort: «Ja!»

Ānanda beantwortete seine eigene Frage selber in diesem Wort.

Dem war eigentlich nichts hinzuzufügen. Es war bereits vollkommen.

Es war die vollkommene, klare Manifestation des WESENS.

Es war der Ausdruck des SEINS.

Es kann nicht gegeben werden, auch nicht vom Buddha. Der Buddha kann es nicht Kāśyapa geben, und er kann es nicht Ānanda geben. Es ist immer schon da.

Aus Ānandas tiefstem Wesen steigt dieser Ruf: «Ja!»

Aber – wie schade – Ānanda merkte ES nicht. ES lag vor seinen Füßen, aber er bekam ES nicht mit. ES stand vor seinen Augen, aber er war wie mit Blindheit geschlagen. ES stieg aus seinem Wesen. Er war ES selbst.

Aber Ānanda merkte nichts.

Aus übergroßem Bodhisattva-Mitempfinden und dem tiefen Wunsch, Ānanda zu helfen, sagte Kāśyapa: «Hau die Fahnenstange vor dem Tor nieder!»

In diesem Augenblick erfasste Ānanda das WESEN der Welt und erfuhr damit die Erleuchtung.

Die Fahnenstange bedeutet angelernte Lehren, Konzepte, begriffliches, diskursives Denken und Denkkonstruktionen. Die Fahne wurde vor jedem Teishō des Meisters gehisst und nach jedem Teishō wieder eingezogen. Solange das Teishō dauerte, solange flatterte die Fahne draußen vor dem Tor. Die Fahne zeigte: «Jetzt werden Worte gemacht.» Die Fahne mitsamt ihrer Fahnenstange steht für die Konzepte.

Im Zen machen wir ab und zu notgedrungen Worte – in der Hoffnung, dass die Schüler sich daraus nicht weitere Konzepte bauen. Jedes Teishō soll die Inhalte des Geistes der Schüler löschen. Jedes Teishō soll ihnen etwas wegnehmen. Trotzdem bauen wir manchmal, notgedrungen, vorübergehend als Denkhilfen, Konzepte. Wir sagen: Dieses ist so und jenes ist so. Noch wichtiger als das ist es dann aber auch, das Konzept anschließend wieder zu zerstören. Wichtiger ist es, die Denkhilfen dann wieder zu vernichten. Unser herrlicher Intellekt ist ja zufrieden gestellt worden und kann nun Ruhe geben.

Nun findet der GEIST eine Chance, sich zu zeigen. Das GEISTAUGE kann sich öffnen und sehen, was ist.

Darum sagt Kāśyapa: «Zerstöre deine Konzepte! Zerstöre die Fahnenstange!» In diesem Augenblick begreift Ānanda die WAHRHEIT. Er erfährt ihr WESEN. Da war niemals ein Konzept. Da war überhaupt niemals irgendetwas, worüber Erklärungen abzugeben wären. Keine philosophischen Lehren! Keine philosophischen Erklärungen und Auslegungen! Keine Konzepte über die BUDDHA-NATUR! Das ist ungeheuer wichtig! Keine Definitionen von WESEN!

Das ist auch der Grund, warum im Zen, jedenfalls in unserer Schule, keine buddhistischen und philosophischen Konzepte und Glaubenssätze gelehrt werden: Sie hindern die spirituelle Weiterentwicklung. Alles, was hier gelehrt wird, soll den Geist des Schülers befreien, nicht aber ihn vollstopfen mit neuen oder alten religiösen Ideen. Nur die Wirklichkeit selbst darf gezeigt werden.

Als Mahākāśyapa sagte: «Hau die Fahnenstange vor dem Tor nieder!», ließ Ānanda schlagartig alle Glaubenssätze, Ideen, jemals gehörten Lehren und Konzepte fallen. Sein Geist wurde leer gefegt in einem einzigen Augenblick – und da sah und erkannte er das WESEN unmittelbar.

Zu dem Kōan von der Erleuchtung des Ānanda gibt es auch einen Vers.

Vers

Die Glyzinie ist verwelkt,

der Baum ist umgefallen,

der Berg vollständig zusammengebrochen.

Das Wasser im Tal fließt über,

und aus den Steinen sprüht Feuer hervor.

«Verwelkt», «umgefallen» und «vollständig zusammengebrochen» sind alle Hirngespinste des – ach so klugen – Intellektes. Das Feuer der klaren EINSICHT hat sie alle verbrannt. Nun kann das Wasser des ewigen GEISTES strömen und alle Täuschungen überfluten. Dieses Wasser ist die WESENSNATUR.

Wenn jetzt aber jemand sagt: «Das Wasser der Wesensnatur überflutet alle Täuschungen und Konzepte», und dies gar noch wie einen Lehrsatz auswendig lernt, hat er überhaupt nichts begriffen. Dann versteht er vom Zen nichts, sondern möchte nur Sprüche machen. Dann hat er sich ganz, ganz weit von der Wirklichkeit entfernt.

Ich rate euch, nicht «weise» Lehren in euch hineinzustopfen und dann schöne Sprüche von euch zu geben, sondern im Gegenteil euren Geist leer zu machen und völlig zu befreien.

Wenn ihr philosophische Fragen habt, lest ein Buch oder fragt einen Professor, wenn es schon nicht anders geht, aber bitte nicht hier im Haus, hier im Sesshin! Hier stört niemand seine innere Übung mit irgendwelchen philosophischen Ideen. Hier wird kein Kopfwissen gelehrt und empfangen. Auf jeden Fall gehen wir vorläufig noch lange sehr sparsam damit um. Eines Tages, wenn jemand tiefe Einsicht gewonnen und die Kōan-Schulung abgeschlossen hat, darf er hier auf seinem Zen-Weg philosophische Fragen behandeln, aber dann – bitte sehr – aus der Sicht der WESENSNATUR, aus dem Zustand des erleuchteten GEISTES heraus. Bis dahin wird in diesem Zendō nicht philosophiert und keine Religion – im Sinn von Konfession – gelehrt.

Im tiefsten Grund hat es nämlich niemals eine Fahnenstange gegeben. Wozu so tun, als ob, und uns künstlich Schwierigkeiten bereiten?

Und nun wenden wir uns wieder nach innen – und gehen in unsere tiefe Stille, auf den Grund aller Gedanken und Gefühle, in den URGRUND unseres SEINS – und lassen das ganze Universum, auch Gott und Buddha, hinter uns zurück.

3 – Der Ehrwürdige Śānavāsin

Der dritte Patriarch, der Ehrwürdige Śānavāsin, fragte den Ehrwürdigen Ānanda: «Was ist die Wesensnatur aller Dinge, die nie wirklich geboren wurde?»

Ānanda zeigte auf die Ecke von Śānavāsins Kesa.

Śānavāsin fragte erneut: «Was ist die Wesensnatur des Höchsten Weges aller Buddhas?»

Ānanda fasste erneut die Ecke von Śānavāsins Kesa und zog daran.

In diesem Augenblick erfuhr Śānavāsin große Erleuchtung.

In unserem Kōan erscheint der zweite Patriarch, der treue Schüler des Buddha, Ānanda. Hier ist er der Meister, nachdem er früher selbst als junger Schüler zuerst noch keine Einsicht in die Buddha-Natur erreichen konnte. Er hat also volles Verständnis für seinen eigenen Schüler Śānavāsin, der sich, sehnsüchtig fragend, mit den Worten an ihn wendet:

«Was ist die Wesensnatur aller Dinge, die nie wirklich geboren wurde?»

Das ist die Frage aller Fragen. Das ist die Frage der Welt.

Also noch einmal:

«Was ist die Wesensnatur aller Dinge, die nie wirklich geboren wurde?»

Wesensnatur ist der leere Urgrund. Die Dinge sind die Ausformungen der Leerheit, des Nichts.

Dieser Urgrund ist immer schon da. Er war niemals nicht da, und er wird niemals nicht da sein. Der Urgrund ist immer nur.

Da die Wesensnatur, die der absolute Urgrund ist, immer nur ist, wurde sie niemals geboren und ist auch nicht sterblich.

Dieser absolute Urgrund ist der Urgrund aller Dinge. Sie ist ihre Wahre Natur. Sie ist ihre Buddha-Natur.

Aus der Wesensnatur, der Buddha-Natur, steigen alle Dinge der Welt in ihren hunderttausend verschiedenen Formen auf, so wie die Blasen aus dem Wasser aufsteigen, aber immer nur Wasser bleiben. Wie die Wasserblasen haben alle Dinge der Welt nur kurzen Bestand. Sie entstehen und sie vergehen. Das Wasser aber bleibt.

So ist es auch mit dem Menschenleben: Es entsteht und es vergeht. Das SEIN aber, nämlich die Wesensnatur, entsteht nicht und vergeht nicht. Sie bleibt. Da wir alle die Wesensnatur sind und uns nicht mit unserer äußeren Erscheinung identifizieren müssen, sind wir unsterblich, ungeboren und ewig.

Wir sind die Wesensnatur aller Dinge, die nie geboren wurde.

Śānavāsin fragt seinen Lehrer, den Ehrwürdigen Ānanda:

«Was ist die Wesensnatur, die doch nie begonnen hat, sondern immer nur ist?»

Er weiß schon eine ganze Menge da oben im Kopf. Er hat es gehört und auswendig gelernt: Die Wesensnatur ist ungeboren. Sie ist unsere ursprüngliche Natur, unsere wahre Identität, und sie ist die Wesensnatur aller Dinge und des ganzen Universums. Sie ist der ewige Brunnen, aus dem alles steigt.

Dies zu erfahren, ist aber etwas anderes, als es nur im Kopf gelernt zu haben, wie man das Einmaleins lernt. Erleuchtete erfahren sich selbst als diesen tiefen, ewigen Brunnen, aus dem alles steigt. Aus uns steigt die ganze Welt. Das ist eine völlig eindeutige Erfahrung. Nur – wie soll man sie erklären, rational ausdeuten, wie belegen? Es ist nicht möglich.

Und doch hat der Mensch mit diesen Erfahrungen den heißen Wunsch, auch andere an ihnen teilhaben zu lassen, damit doch auch sie diese Erfahrung machen möchten! Hieraus ergibt sich das Ideal des Bodhisattva. Ein weit entwickelter spiritueller Mensch geht von völlig anderen Grundsätzen aus als ein Normalmensch, dessen Prioritäten immer mit «mir», «mich» und «mein» zu tun haben. So spricht der Bodhisattva über die Letzte Wirklichkeit, um überhaupt etwas sagen zu können, indirekt, umschreibend, in Metaphern und Symbolen, in Geschichten und Legenden, vor allem aber in Negationen und scheinbaren Paradoxa.

Es gibt ein Kōan, in dem der Meister aufgefordert wird, die Sache direkt auszusprechen. Der Meister sagt: «Ich könnte es wohl, aber dadurch würde meinen Schülern der Dharma weggenommen.»

Es ist das Anliegen der echten und authentischen Zen-Meister, die Schüler den Dharma nicht auswendig lernen, sondern sie ihn selbst unmittelbar erfahren zu lassen. Dann und hinterher kann man reden, was man will, und sei es scheinbar der größte Unsinn, der größte Witz, was ja auch zutrifft! Der erfahrene Schüler erkennt nämlich den Unsinn und den Witz bei dem Versuch, die unsagbare Wirklichkeit zu sagen, und er lacht. Seine Schau ist durchdringend.

In einem anderen Kōan bedankt sich der Schüler im Anschluss an sein tiefes Kenshō, dass der Meister ihm auf seine quälenden und drängelnden Fragen nur mit Lachen geantwortet und ihm so die Chance für Satori gelassen hat. Jahre später äußert er: «In dem Lachen war von Anfang an ein Schwert.» Ja,es war das Schwert, das die Unklarheit vernichtet, und sein Gebrauch ist die beste Art zu lehren. Sie kann durch nichts Genaueres übertroffen werden.

Nach diesem kleinen Abschweifer darüber, dass die Wahrheit nicht mit dem Kopf erfassbar ist und dass höchstwahrscheinlich die Kopfbemühung in diesem Fall nicht nur überflüssig, sondern schädlich für nachfolgende Satori ist, kommen hier einige Versuche von Sehern aus dem uralten Indien, die Letzte Wirklichkeit zu sagen.

In der Aśtāvakra-Gītā heißt es:

«Wie ich alleinsam diesen Leib erhelle und entfalte:

So die ganze Welt.»

«Hier aus mir kommt die ganze Welt – oder nichts.»

«Wie Wellen, Schaum und Blasen

nicht von der Flut geschieden sind,

ist auch vom SELBST das All nicht unterschieden,

das aus dem SELBST hervorging.»

«Wie ein Gewand, wenn man’s betrachtet,

nichts als Fäden ist,

so ist das All – betrachtet – nichts als SELBST

«Wie im Safte des Zuckerrohrs

Zuckerkristall sich bildet und ganz vom Safte erfüllt ist,

so ist das All in MIR gebildet,

ganz und gar von MIR erfüllt.»

«In MIR, dem UNENDLICHEN WELTMEER – o wunderbar –

steigen die Wellen der Lebensfunken auf,

brechen sich, spielen und gehen in MICH ein,

wie sie ihr WESEN heißt.»

Unser WESEN ist Wesensnatur, ist Ungeborenes, ist UNENDLICHES WELTMEER. Jeder von uns ist das UNENDLICHE WELTMEER