Titelseite
Impressum
Erster Teil: 2001
Zweiter Teil: 1962 – 1967
Dritter Teil: 1968
Vierter Teil: 1977/1978
Fünfter Teil: 1990 – 1994
Sechster Teil: 1995 – 2001
Siebter Teil: 2006
Achter Teil: 23. Oktober – 4. November 2006
ROMAN
Rotbuch Verlag
Von György Dalos liegen bei Rotbuch außerdem vor:
Jugendstil (2007)
Balaton-Brigade (TB 2007; 2006)
eISBN: 978-3-86789-528-6
1. Auflage
© 2012 by Rotbuch Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: toepferschumann.de
Umschlagabbildung: plainpicture / Millennium
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Rotbuch Verlag GmbH
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10178 Berlin
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www.rotbuch.de
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
Für András Lakatos (Budapest) und Lisa Ndokwu (Wien)
DIE HANDLUNG, PERSONEN UND INSTITUTIONEN DES ROMANS SIND FREI ERFUNDEN.
Ein Mann ist reif erst, wenn nicht Rücksicht auf Vater ihn und Mutter quält …
ATTILA JÓZSEF1
1 Aus dem Ungarischen von Franz Fühmann
Der Vater starb Anfang Oktober an einem Mittwoch. Am Dienstag war ihm nach dem gemeinsamen Mittagessen übel geworden, er beschwerte sich über Schmerzen in der linken Schulter und atmete schwer. Gábor Kolozs rief mehrfach in der Praxis des Bezirksarztes an, aber die Leitung war besetzt. Inzwischen ging es dem Vater ein wenig besser, so dass Kolozs ihm beim Anziehen half und ein Taxi kommen ließ. So fuhren sie zur Arztpraxis. Sie nahmen soeben Platz auf der weißen Bank, als der junge Doktor in der Tür erschien und sie außer der Reihe einließ. Er hörte den Vater mit dem Stethoskop ab, maß den Blutdruck und fragte, ob der alte Mann je ein Problem mit dem Herzen gehabt hätte. »Ja«, antwortete der Vater, »1960 hatte ich mal einen Herzinfarkt.« – »Ich fürchte«, sagte der Arzt und richtete seinen Blick auf Kolozs, »dass sich bei Ihrem Vater gerade wieder etwas Ähnliches ankündigt. Wir sollten vorsichtig sein.« Er war bereits am Telefon und wählte die Nummer der Rettung – auch hier eine besetzte Leitung. »In diesem Land funktioniert nichts mehr«, sagte der Arzt gereizt und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Wissen Sie was? Ich schreibe die Krankenhaus-Einweisung, Sie rufen ein Taxi und fahren mit Ihrem Vater direkt dorthin.« Auch die Taxi-Rufnummer war besetzt, und für Kolozs zog sich jede Minute quälend. Erst der vierte Versuch war erfolgreich. Kolozs nahm neben dem Vater auf dem Rücksitz Platz. »Bitte lass mich nicht allein«, flehte der Alte wie ein Kind. »Natürlich nicht, Vater«, beruhigte ihn Kolozs und nahm seine Hand, die eiskalt war. »Du wirst untersucht, und dann rufen wir ein Taxi und fahren wieder nach Hause.«
Doch es kam anders. Das EKG ergab einen rückseitigen Infarkt, und der Vater wurde gleich auf die Intensivstation gebracht. »Wo werde ich hier beten können?«, fragte er verstört und schaute sich mit flatterndem Blick im Krankenzimmer um. Kolozs fuhr nach Hause und packte die Habseligkeiten des Alten ein, darunter den Talis und die Tefillin für das morgige Gebet.
Dazu sollte es nicht mehr kommen. Dr. Dániel Kolozs wurde von der diensthabenden Schwester am frühen Morgen tot im Bett aufgefunden. Gleich morgens um acht händigte man Kolozs den Leichenschauschein aus, dazu den Personalausweis des Vaters und die wenigen persönlichen Gegenstände, die er am Vorabend in die Klinik gebracht hatte.
Den Rest des Tages verbrachte er damit, die notwendigsten Dinge zu erledigen. Als Erstes entnahm er dem Bankautomaten in der Filiale der Landessparkasse OTP auf der Király-Straße fünfzigtausend Forint, um fällige Ausgaben tätigen zu können. Um neun Uhr rief er von zu Hause aus bei der Chewra Kadischa an, um die Vorbereitung der Bestattung entsprechend den religiösen Vorschriften möglichst schnell in die Wege zu leiten. Der Vater hatte bereits in seiner slowakischen Geburtsstadt Košice eine Grabstätte im Voraus bezahlt, neben seiner Frau, die dort 1988 auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt worden war. Ebenso hatten sie bereits damals die Kosten für den zukünftigen Leichentransport und die Beerdigung beglichen. Kolozs musste jetzt nur noch beim Standesamt des 7. Bezirks die Sterbeurkunde beantragen, die er bei Vorlage des Leichenschauscheines und des Personalausweises seines Vaters umgehend in zwei Exemplaren erhielt, jeweils versehen mit einer staatlichen Siegelmarke im Wert von fünfzehn Forint. Als die Sachbearbeiterin erfuhr, dass man dem Verblichenen in Košice die letzte Ehre erweisen würde, riet sie, für alle Fälle den Personalausweis des Verstorbenen mitzunehmen. »Sie können ihn ja später hier abgeben«, sagte sie. Vielleicht von dem Trauerfall bewegt, fügte sie tröstend hinzu: »Das hat Zeit. Ihrem armen Herrn Vater ist es egal, und Sie haben jetzt andere Sorgen. Die Rentenkasse werden wir von hier aus informieren.«
Als Kolozs mit der Sterbeurkunde bei der Chewra Kadischa erschien, hatte diese bereits Kontakt zu ihrer Partnerinstitution in Košice aufgenommen – die Beisetzung war für Freitag um elf Uhr vorgemerkt. Kolozs eilte nach Hause, denn er klebte vor Schweiß. In einem Stoffbeutel an der Türklinke fand er das Mittagessen des Vaters, wie immer pünktlich und kostenlos von der Küche der jüdischen Gemeinde in Einweg-Plastikbehältern geliefert. Die gestrige Lieferung hatten sie mittags noch gemeinsam gegessen, wie seit Jahren fast jeden Tag. Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, verschlang Kolozs ohne Appetit ein paar Happen von dem Faschierten mit Brechbohnen und machte sich wieder auf den Weg. Am Nachmittag reservierte er in einem Reisebüro ein Zimmer in der billigsten Pension in Košice, und am Westbahnhof kaufte er sich das Zugticket. Ebenfalls dort besorgte er sich in einer Wechselstube ein paar Hundert slowakischer Kronen für die anstehenden Ausgaben. Kleine Beträge für die Leichenwäscher sowie für den Kantor und die Totengräber steckte er in Briefumschläge, die er sorgsam beschriftete. An die verschiedenen Erfordernisse erinnerte er sich noch von der Beerdigung seiner Mutter her. Allerdings gehörte Košice damals noch zur Tschechoslowakei, er hatte den Vater damals mit seinem eigenen Auto, einem Trabant, dorthin gefahren, und sie hatten mit tschechoslowakischem Geld bezahlt. Anderes Geld, ein anderer Staat, ein anderes Transportmittel, andere Rahmenbedingungen – und eine andere Leiche, grübelte Kolozs, während er mit seinem kleinen Koffer in den internationalen Waggon des Eurocity Borsod stieg und mit der Platzkarte in der Hand den Gang entlanglief, bis er das richtige Abteil gefunden hatte.
All diese Ereignisse verliefen in solch atemberaubender Geschwindigkeit, dass Kolozs erst während der Fahrt darüber nachdachte, was er möglicherweise vergessen hatte und nach seiner Rückkehr erledigen musste. Erstens: Am Montag würde er den Personalausweis des Vaters beim Standesamt abgeben. Zweitens: In irgendeiner Form musste er die Bekannten des Vaters von dessen Ableben unterrichten. Wahrscheinlich war es am einfachsten, wenn er in die Bezirksgemeinde am Bethlen-Platz ging und dort darum bat, eine schwarz umrandete Anzeige in der jüdischen Zeitung aufzugeben. In dieser sollte mitgeteilt werden, dass der Arzt Dr. Dániel Kolozs, Überlebender des Holocaust, im Alter von fünfundneunzig Jahren aus dem Leben geschieden war. Drittens: Einige seiner eigenen Freunde, die den Vater kannten und respektierten, musste er selbst informieren. Vor allem dachte er an seine ehemaligen Kommilitonen aus Moskau, Feri Túróczi und Laci Bakos. Viertens: Mit Márta, von der er sich nach einer kurzen, stürmischen Ehe getrennt hatte, musste er unbedingt sprechen. Márta liebte den Vater sehr, und auch dieser war ihr zugetan. Jedenfalls gehörte sie zu den ganz wenigen, denen es zeitweise gelungen war, seine Wortkargheit aufzubrechen. Und fünftens: Auf jeden Fall musste er Dr. Freiburger schreiben, obwohl dieser vielleicht gar nicht mehr unter den Lebenden weilte. Denn er hatte damals dafür gesorgt, dass die Schweizer Stiftung »Ärzte für Opfer« dem Vater eine monatliche Wiedergutmachung zukommen ließ. Freiburger war einige Jahre jünger als der Vater, hatte dieselbe Schule besucht, ein Arztkollege, der dann zum Freund wurde. Später war er sogar Trauzeuge bei der Eheschließung. Allerdings wartete er nicht den Zerfall der Tschechoslowakei ab wie der Vater, sondern wanderte rechtzeitig aus. In der Schweiz gründete er eine Familie, startete als Arzt eine ernsthafte Karriere und besaß eine Villa in Herrliberg. 1992, bei einem Besuch in Ungarn, schaute er sich erschüttert in der Wohnung des bereits verwitweten Vaters in der Klauzál-Straße um.
»Also, mein Alter«, sagte er zum Vater, »nach allem, was du mitgemacht hast, ist das hier nicht in Ordnung.« Kurz nach seiner Rückkehr in die Schweiz kam mit der Post ein deutschsprachiger Antrag an die Stiftung »Ärzte für Opfer«, den der Vater nur noch unterzeichnen musste. Anfang Januar 1993 ging die erste Monatszahlung von dreihundert Schweizer Franken auf dem Konto des Vaters bei der OTP ein. Das war ein unvorstellbar wohltuender Betrag, eine Verdoppelung der bescheidenen Rente des Vaters von sechzigtausend Forint, die kaum hinreichte, um nur das Allernötigste zu bezahlen. Später kam dieses Geld auch dem arbeitslos gewordenen Kolozs zugute, der seine Mietwohnung aufgeben musste und wieder an den Ort seiner Kindheit zog. Seither lebten Vater und Sohn aus diesen Einkommensquellen wie einst vom Gehalt des Vaters und der Mutter, bescheiden und sparsam. Nur die Rollen wechselten: Kolozs wurde zum Familienoberhaupt, teilte das Geld ein und führte den Haushalt, während der alte, zahnlose Vater zum Kind wurde, versorgt und bevormundet.
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Kolozs!« Der etwa vierzigjährige Rabbiner zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Bevor wir mit der Beisetzung beginnen, müssen wir einige Dinge besprechen.« Kolozs hörte aus der Rede des Rabbiners heraus, dass er nicht aus dieser Gegend stammte. Die Sätze waren semantisch in Ordnung, aber an den Worten klebte der fremde Akzent eines Menschen, der das Ungarische vielleicht als Kind erlernt, aber als Erwachsener nicht mehr benutzt hatte. Er dachte eben noch darüber nach, ob der Akzent englisch oder eher slawisch wäre, als der Rabbiner, als könne er in Kolozs’ Gedanken lesen, hinzufügte: »Mein Name ist Elieser, geborener Berger. Meine Eltern kamen aus den Karpaten, wo ich auch noch geboren bin, aber ich wurde in Jericho erzogen. Hier arbeite ich jetzt als Stellvertreter, denn der alte ehrwürdige Rabbi Strelecki kann nur noch schwer sein Amt ausüben. Übrigens befindet er sich heute auf einer Beerdigung in Prešov. Wir machen allmählich nur noch Bestattungen …« Nach einem kurzen Stoßseufzer fuhr er fort: »Bitte, lieber Herr Kolozs, ich möchte Ihnen gern einige Fragen zur Person unseres Toten stellen, damit ich ihn würdevoll verabschieden kann und sich dabei kein Irrtum in meine Rede einschleicht.« Aus der Schublade seines Schreibtisches nahm er ein kariertes Heft und einen Filzstift. Für Kolozs war auch dieses Verfahren nicht neu – ebenso hatte der Rabbiner Strelecki seine Fragen eingeleitet, die er ihm und dem Vater über die Mutter gestellt hatte, um aus den Antworten eine förmliche kleine Trauerrede zu gestalten.
»Sie sollten wissen«, begann Kolozs, »dass wir aus Košice stammen. Meine Eltern lernten sich hier kennen und schlossen ihre Ehe in der Synagoge auf dem Rákoczi-Ring. Košice war damals wieder ungarisch, aber sie zogen nach Budapest. Mein Vater war der Meinung: Je weiter weg von Hitler, desto besser. In Budapest wollte er als Arzt praktizieren, aber daran hinderten ihn die Judengesetze. Dann marschierte die deutsche Wehrmacht in Ungarn ein, und als die Mutter mit mir im neunten Monat schwanger war, wurde mein Vater nach Mauthausen deportiert. Von dort kam er nach der Befreiung als körperliches und seelisches Wrack zurück. So habe ich ihn kennengelernt, und daran sollte sich auch nichts mehr ändern. Nie mehr konnte er als Arzt arbeiten. Er bediente den Aufzug im Warenhaus Modehalle und ging 1960 in Invalidenrente. Dann erkrankte 1988 meine Mutter, die bis dahin immer kerngesund gewesen war, an Lungenkrebs und starb drei Monate später. Der Vater blieb allein zurück, und ich zog dann zu ihm.«
»Und wovon lebte Ihr lieber Herr Vater, wenn ich fragen darf?« Der Rabbiner blickte kurz von seinem Heft auf.
»Er bezog eine niedrige Rente und eine bescheidene Summe als Wiedergutmachung, und damit konnte er knapp auskommen«, antwortete Kolozs und fügte verlegen hinzu: »Das heißt, davon lebten wir beide, und …« – »Aber selbstverständlich haben auch Sie ihm beigestanden«, unterbrach ihn der Rabbiner. »Natürlich, meinen Möglichkeiten entsprechend«, entgegnete Kolozs errötend. Er fürchtete, der Rabbiner könne ihn nun nach seinen eigenen Einnahmequellen befragen. Dieser jedoch wollte nur noch eine einzige Frage klären: »Inwieweit hielt sich Ihr lieber Herr Vater an die Gesetze unserer Religion?« – »Aber hundertprozentig!«, rief Kolozs. »Er aß das koschere Essen der Gemeinde und betete jeden Morgen. Zu Jom Kippur fastete er, und solange er überhaupt noch vor die Tür gehen konnte, ging er an jedem Sabbatabend in die Synagoge … Selbst als er schon im Krankenhaus war, bat er mich, ihm Tefillin und Talis mitzubringen.« Der Rabbiner stand auf und gab Kolozs damit zu verstehen, dass er sich nun entfernen solle. »Ich bereite mich ein wenig vor«, erklärte er, »und wir sehen uns in der Leichenhalle wieder.«
»Heute begleiten wir einen Menschen zur ewigen Ruhe«, orgelte der Rabbiner Elieser-Berger in seinem klangvollen Bariton, »der aus dem unergründlichen Willen des Ewig-Seienden dreizehn Jahre lang seine liebende Gattin überlebte, um sich mit ihr nun entsprechend ihrem gemeinsamen letzten Willen hier zu treffen. Dr. Dániel Kolozs hat seinen Anteil von den Prüfungen des Holocaust mehr als reichlich erhalten. Er, den das Schicksal ursprünglich zum Arzt, zum Heilen anderer Menschen auserkoren hatte, war als körperlicher und seelischer Invalide selbst auf ärztliche Fürsorge angewiesen. Wir könnten den Schöpfer fragen, aus welchem Grund er ihm dieses Leid zuteil werden ließ, ebenso wie ihn seinerzeit Hiob fragte: ›Lass mich wissen, warum du mich vor Gericht ziehst. Gefällt es dir, dass du Gewalt tust und mich verwirfst, den deine Hände gemacht haben? Deine Hände haben mich gebildet und bereitet, danach hast du dich abgewandt und willst mich verderben?‹ Aber ähnlich wie Gott Hiob gegenüber seine nicht anzuzweifelnde Macht behauptete, hätte er auch Dr. Dániel Kolozs geantwortet: ›Ich habe die Welt geschaffen, ich weiß, was ich und warum ich es tue auf diesem von mir erschaffenen Erdklumpen.‹ Aber der Hiob hier vor uns im Sarge begriff dies offensichtlich selbst, denn er trug sein Leid mit Geduld und reinem Bewusstsein und verdammte deshalb niemals den Herrn der Himmel. Im Gegenteil: Solange er Kraft zum Gehen hatte, verbrachte er jeden Sabbatabend und die heiligen Feiertage unter seinen Glaubensgenossen, im Haus der Versammlung, und selbst am Morgen seines Ablebens zog er den Gebetsschal an und hob an seine Stirn den Gebetsriemen, um seiner Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer Ausdruck zu verleihen. Und er hatte hierfür einen guten Grund. Der Lebensabend des Dr. Dániel Kolozs wurde trotz allen Leids und aller Entbehrungen – denn an materiellen Gütern war er nie reich – regelrecht vergoldet: Sein Sohn Gábor, dieser vorbildliche Mensch, sorgte in Liebe für ihn. Man kann sagen, er versorgte den ohnmächtigen Greis, wie auch Dr. Dániel Kolozs als Vater ein halbes Jahrhundert zuvor ihn als kleines Kind gepflegt hat. Und als die letzte Stunde schlug, schloss Gábor seinem Vater die Augen, denn es gibt keine anderen Familienangehörigen, und er wird der Einzige sein, der nun mit Sohnespietät das Andenken des Vaters bewahrt. Nichtsdestotrotz wird dieser aber auch im Lichte aller für die Opfer des Holocaust entzündeten Kerzen weiterleben …«
Im Gleichschritt folgten sie der Kutsche mit dem Sarg, die von einem Friedhofswärter geschoben wurde. Zwischen dem Rabbiner und dem Kantor ging Gábor Kolozs mit der Kippa auf dem Kopf, die ihm sein Vater geschenkt hatte, und in jenem dunkelgrauen Anzug, den er 1990 unmittelbar nach den ersten freien Wahlen anfertigen ließ. Damals zog er als Mitarbeiter von Feri Túróczi in das »Weiße Haus« an der Donau ein, das früher Sitz des Zentralkomitees der einzigen Partei war und nun allen Fraktionen der im Parlament vertretenen Parteien zur Verfügung stand. Feri legte als stellvertretender Staatssekretär der siegreichen Regierungspartei großen Wert darauf, dass sein Freund Gábor vorzeigbar war. »Deine Intelligenzlerpullis schmeißt du am besten gleich weg«, sagte er, »und auch deine Turnschuhe gehören in die Mülltonne. Die wirst du nie mehr brauchen. Und lass dir eines sagen: Klamotten kauft man nicht, sondern lässt sie maßschneidern. Bloß nichts von der Stange! Kleiderfabrik 1. Mai hatten wir lange genug. Demokrat zu sein bedeutet, elegant auszusehen, wie schon der berühmte Bibó sagte!«1
In diesem Sinne staffierte sich Kolozs, dessen Gehalt nicht unbeträchtlich war, mit dem Nötigsten aus und mietete eine komfortable Zweizimmerwohnung in der Nähe der Budaer Burg. Aber von seinen Kleidungsstücken aus der Vorwendezeit mochte er sich nicht trennen. Er packte sie in eine alte Truhe, und seine geliebten ausgelatschten Schuhe trug er zu Hause. 1994 erlebte seine Partei eine vernichtende Wahlniederlage, die für ihn das Ende seiner kurzlebigen öffentlichen Laufbahn mit sich brachte. So holte er die alten, abgetragenen Kleider wieder hervor und verstaute nun sorgfältig den dunkelgrauen Anzug und andere Requisiten des guten Aussehens, wie zum Beispiel schneeweiße Hemden und seidene Krawatten, in der Mottentruhe. Als die Jahre vergingen, er selbst in seiner äußeren Erscheinung immer armseliger wurde und sich mehr und mehr von der larmoyanten Außenwelt entfernte, ließ bei ihm die Hoffnung nach, jemals wieder einen Anlass zu haben, der es wert war, sich anständig anzuziehen. Nun war dieser Anlass gegeben.
Unterwegs nach Hause im Zug stellte Kolozs erstaunt fest, dass er in der Tiefe seiner Seele keinen Mangel verspürte, obwohl der Vater seit drei Tagen tot war. Die Erklärung, dass er seit Mittwochmorgen ausschließlich mit Verrichtungen beschäftigt gewesen war, die sich aus dem Tode des Vaters ergaben, und somit der Alte durchaus stark in seinem Leben präsent war, lag auf der Hand. Vielleicht war dies jetzt sogar mehr der Fall als in der letzten Zeit: Der Vater hatte vom Morgen bis zum Abend wortlos dagesessen, sein Essen verzehrt und murmelnd gebetet. Am Abend war er ebenso leise in sein Bett gegangen, das vom übrigen Teil des Zimmers durch einen Vorhang abgetrennt war. Die Formel konnte jedoch auch umgekehrt stimmen: Vielleicht warf sich Kolozs deshalb so heftig in die Aktivitäten um die Beisetzung, damit die Trauer nicht gleich zu nahe kam – damit er nicht allzu schnell mit der eiskalten Wirklichkeit konfrontiert wurde, ein Gesicht nicht mehr sehen, eine Stimme nicht mehr hören, einen Arm nicht mehr berühren zu dürfen. Von diesem Gesichtspunkt aus, dachte er, haben es die tiefgläubigen Juden leichter: Sie sitzen tagelang Schiwe, lassen Asche auf ihr Haupt fallen, zerreißen ihre Kleider, essen ausschließlich gekochte Eier und beten jammernd das Kaddisch. Nach einer gewissen Zeit enden die Rituale des Todes, und das Leben kann weitergehen.
Kolozs hatte während seiner ganzen Kindheit schreckliche Angst vor dem Tod des Vaters gehabt. Mit vierzehn oder fünfzehn wurde er immer wieder von demselben Alptraum heimgesucht: Er kommt aus der Armenküche der jüdischen Gemeinde mit dem Henkelmann, in dem das Mittagessen für den Vater schwappt, aber er klingelt umsonst im Hof an der Tür der Erdgeschosswohnung. Er hört weder die schlurfenden Schritte noch die Stimme des Vaters, die »ich komme schon« brummt. Das kann nur eines bedeuten: Der Vater ist tot. Kolozs hat im Traum keinen eigenen Schlüssel. Aber selbst wenn er ihn hätte: Die Wohnung ist von innen verschlossen, zweifellos muss die Tür aufgebrochen werden. Die Mutter ist noch in der Genossenschaft, früher als um halb sechs kommt sie nie zurück. Er hat nicht einmal eine Münze, um dort anzurufen. Wie soll er sich verhalten? Wen soll er ansprechen, was soll er sagen? Soll er weinen oder nicht? Oder soll er so tun, als wäre er noch gar nicht da? Dann müsste er draußen warten, vielleicht gegenüber vor dem Lebensmittelladen – der Mutter auflauern, damit er nicht allein einem leblosen, kalt gewordenen Leichnam gegenüberstehen muss. Gleichzeitig quälen ihn Schuldgefühle, weil er sich mit dem Henkelmann von der Síp-Straße über den Gozsdu-Hof der Klauzál-Straße angenähert hat, was nicht der kürzeste Weg ist.
Diesen Umweg nahm er seit dem Spätherbst 1958 fast rituell, und zwar einem Gegenstand zuliebe. Im Gozsdu-Hof hatte ein privater Uhrmacher seine Werkstatt, und im Schaufenster gab es eine backsteingroße Wand- oder Tischuhr, auf deren weißem Zifferblatt keine Zeiger, sondern schwarze Ziffern die Veränderung der Zeiteinheiten darstellten. Das Gerät erinnerte an ein offenes Heft, und von seiner rechten Seite bewegten sich nach jeder sechzigsten Sekunde die dazugehörigen Ziffern auf die linke Seite und demonstrierten damit, dass die bisherige Uhrzeit, zum Beispiel 13.14 Uhr, bereits der Vergangenheit angehörte, weil nun die genaue Zeit bereits 13.15 Uhr hieß. Kolozs war fasziniert von der sprunghaften Wanderung der Zifferblätter und wartete meist den Augenblick ab, wenn die eine Stunde in die andere überging und auf dem schneeweißen Zifferblatt die 13.59 Uhr auf 14.00 Uhr hüpfte. Im Bruchteil des Moments, wenn dies geschah, fühlte sich Kolozs jedes Mal, als hätte er die vergehende Zeit auf frischer Tat ertappt. Unter dem Wunderwerk fand sich ein Schild: »Nicht zum Verkauf bestimmt!« Das ist auch besser so, dachte Kolozs, soll doch die Uhr lieber all jenen gehören, die regelmäßig zum Schaufenster des kleinen Ladens pilgern, um sie zu bewundern.
Das Schuldgefühl aus dem immer wiederkehrenden Traum, die mit Herumlungern vergeudete Zeit könne mit dem Tod des Vaters zu tun haben, war nur Teil der tiefen Selbstvorwürfe, die eindeutig von der Mutter verursacht worden waren. In ihren endlosen hysterischen Schimpftiraden, die dem schlechten Schüler Kolozs galten, hörte dieser neben der Vorhaltung, er sei der Schandfleck des Gymnasiums, immer wieder die Drohung: »Du bringst deinen Vater noch ins Grab!« Eine andere Variante war die in einer zeternden Frage enthaltene Anklage: »Ist dir das Herz deines Vaters egal?« Überhaupt spielte das Herz als Organ in den Gesprächen zu Hause eine herausragende Rolle, obwohl der Bezirksarzt in der Hold-Straße aus einem EKG-Befund lediglich den Schluss gezogen hatte, der Vater müsse auf sein Herz achten, und ihm Tropfen aufgeschrieben hatte. Für die Mutter war jedoch eindeutig, dass ein Herzanfall oder, wie sie ihn wichtigtuerisch nannte, eine Herzattacke unmittelbar drohte, sich in direkter Folge von Kolozs’ Lieblosigkeit früher oder später ereignen und den Vater, dessen Kondition ohnehin geschwächt war, hinwegraffen würde. Kolozs wartete also mit Schrecken auf den Tod des Vaters und fühlte sich für diese unabwendbare Tragödie schon vorher verantwortlich.
Schließlich ereilte der Herzanfall den Vater im Frühjahr 1960 auf dem Weg zur Synagoge. In der Zeit unmittelbar zuvor hatten sich Kolozs’ schulische Leistungen wie durch ein Wunder sprunghaft verbessert. Auch der kommunistische Schulleiter nahm ihn plötzlich wahr und verhalf ihm sogar zur Aufnahme in den Jugendverband. Die häuslichen Konflikte drehten sich nun nicht mehr um schlechte Noten und Verwarnungen, sondern um Gábors fieberhafte Aktivitäten im Rahmen der Schulorganisation des KISZ2. An einem Freitagnachmittag vergaß Kolozs wegen seiner Verpflichtungen gegenüber dem Kommunistischen Jugendverband, das Essen für den Vater von der Gemeindeküche abzuholen und nach Hause zu bringen. Als er heimkam, brach die Mutter in ein enormes Geschrei aus und fuchtelte mit dem leeren Henkelmann herum, bis Kolozs die Nerven durchgingen und er auf ihre Hand schlug. Der Vater reagierte ganz gegen seine Natur mit heller Empörung, zog sich an und rannte in die Synagoge. Er kam aber nicht sehr weit: An der Ecke Wesselényi-Straße/Leninring brach er zusammen. Damals hatten sie noch kein Telefon, die Nachricht überbrachte ein Mann von der Rettung, der ihn in das Korányi-Krankenhaus eingeliefert hatte. Ein paar Tage lang sah es so aus, als habe des Vaters letzte Stunde geschlagen, und Kolozs wurde während der obligatorischen Mai-Kundgebung speiübel. Doch die Schwäche erwies sich als eine vorübergehende Nervenerschöpfung, der man mit leichten Beruhigungsmitteln beikommen konnte.
Die schlechten Ahnungen, die Gesundheit des Vaters betreffend, bestätigten sich damals nicht. Nach der Behandlung im Krankenhaus wurde er für vier Wochen ins Herzsanatorium nach Balatonfüred geschickt. Dort nahm er ein bisschen zu und kehrte mit Farbe im Gesicht und sogar in einem etwas besseren Gemütszustand zurück. Dennoch fand sich im ärztlichen Abschlussbericht die Empfehlung, er solle Invalidenrente beantragen: Sogar das Bedienen des Aufzugs, eine Halbtagstätigkeit, erachtete man als zu anstrengend für ihn. So blieb der Vater zu Hause und ging nun selbst jeden Mittag zur Gemeindeküche in der Síp-Straße, wo er gerne den Erzählungen der Glaubensgenossen zuhörte. Obwohl er kaum jemals ein Wort dazu sagte, hatte er doch das Gefühl, an den mit Wachstüchern bedeckten Tischen eine Art Gesellschaftsleben für sich entdeckt zu haben. Kolozs, der jetzt nicht mehr mit dem Henkelmann den gewohnten Weg tun musste, wirkte nun noch aktiver in der Jugendorganisation mit, in der er neben der Vorbereitung auf das Abitur auch das Pfand einer herausragenden künftigen Laufbahn sah. Gegen eine erfolgreiche Karriere hatte auch die Mutter nichts einzuwenden.
Mit der Zeit schwächten sich ihre heftigen Zusammenstöße ab, und die Wunden, die sie sich gegenseitig geschlagen hatten, begannen langsam zu verheilen. Allerdings war die Mutter auch zwanzig Jahre später noch nicht imstande, Kolozs so zu akzeptieren, wie er war. Sie nahm ihm übel, dass er noch mit vierzig weder eine Familie noch eine eigene Wohnung hatte. Er hauste in Untermietszimmern oder in irgendwelchen Wohnungen von Freunden, die im Ausland arbeiteten, und ein schäbiger Trabant war sein ganzes Vermögen. Zudem fiel er von einem Extrem ins andere. Nach seiner anfänglichen Begeisterung für die Jugendbewegung wurde er oppositionell, was nach Auffassung von Magdolna Kolozs geborene Glücklich eine ebenso große Torheit war wie die kommunistische Schwärmerei: Er schade damit keinem außer sich selbst. Ein schwacher Trost für die ausgebliebene Karriere des Sohnes war für sie die Tatsache, dass er mit seiner freiberuflichen Tätigkeit als Übersetzer, Dolmetscher und mit gelegentlichen wissenschaftlichen Projektaufträgen immer gerade so viel Geld verdiente, wie er brauchte. Mehr noch: Anfang 1988, als der bankrotte Staat die in früheren Zeiten enteigneten Wohnungen den Bewohnern für einen Spottpreis zum Kauf anbot, erwarb er für seine Eltern die Wohnung in der Klauzál-Straße. »Nun bist du endlich erwachsen«, quittierte die Mutter den Vertrag mit dem Wohnungsbauamt. Sie freute sich, die Einsamkeit des Alters wenigstens in den eigenen vier Wänden erleben zu dürfen. Für alle Fälle sorgte sie dafür, dass Kolozs als Miteigentümer eingetragen wurde – eines Tages würde auch er ein paar Quadratmeter als Altersasyl benötigen.
Im Zeichen dieses beinahe entspannten Verhältnisses fuhren beide im Juni 1988 nach Košice, um sich dort, wie die Mutter sagte, ein wenig umzuschauen. In Wirklichkeit wollte die Mutter mit eigenen Augen prüfen, ob die dortige Chewra Kadischa dem in Budapest aufgegebenen und bezahlten Auftrag Genüge getan hatte. Es handelte sich um eine Doppelgrabstelle, in der wohl als Erster der Vater Ruhe finden würde, und sie würde ihm nachfolgen, sobald der Herr sie rief. Sie traten die Reise nur zu zweit an – den Vater ließen sie zu Hause, um ihm die Strapazen der langen Fahrt zu ersparen. Frühmorgens fuhren sie mit dem Trabant los, in Miskolc aßen sie zu Mittag, und am frühen Abend waren sie bereits am Zielort. Sie nahmen ein billiges Zimmer in einem ramponierten Hotel. Am nächsten Tag besuchten sie die jüdische Gemeinde in der Puschkin-Straße, wo der Rabbiner Strelecki ihnen den unmissverständlichen Eintrag im Friedhofsregister zeigte, der zugleich die künftige Grabinschrift war: »Dr. Dániel Kolozs (1906 –?) und seine Gattin, geborene Magdolna Glücklich (1918 –?). Euer ewig trauernder Sohn Gábor.« Dann gingen sie auf den Friedhof, um sich die Parzelle anzusehen.
Sie nahmen sich noch ein paar Stunden Zeit, und die Mutter führte ihn sichtlich bewegt durch die Stadt, die sie seit ihrer Übersiedelung nach Ungarn nicht mehr gesehen hatte. Der Fußweg durch die vertraute Umgebung setzte eine Fülle von Erinnerungen bei ihr frei, und auf der Rückfahrt erzählte sie über die Vorkriegszeit, in der die Stadt noch Kassa hieß, mit einer Begeisterung, die der Sohn an ihr noch nicht kannte. Ihre Augen leuchteten, und die Wangen waren mädchenhaft gerötet. Am späten Abend erreichten sie die Budapester Außenbezirke. Es wurde bereits kühl. Die Mutter nahm eine Strickjacke aus der Reisetasche. Als sie sie anzog, bemerkte Kolozs, dass ihr Handgelenk geschwollen war. Er sah seine Mutter fragend an, sie aber sagte nur: »Irgendeine Muskelentzündung.«
Erst als einige Tage später der Schmerz im Handgelenk unerträglich wurde und sich auf den ganzen Arm ausdehnte, entschloss sie sich, zum Bezirksarzt zu gehen. Dieser schickte sie zur Poliklinik in der Csengery-Straße, und von dort aus führte ihr Weg nach einer kurzen Röntgen- und Blutuntersuchung direkt zum Onkologischen Institut. Drei Monate später bekam sie die erste Morphiumspritze, und im Dezember 1988, kurz vor des Vaters zweiundachtzigstem Geburtstag, wurde sie zu der im Sommer inspizierten Grabstätte in Košice überführt. Die Kosten für das Begräbnis überschritten mit keinem Heller die Kalkulation der Mutter.
Ob ich um den Vater trauern werde?, fragte sich Kolozs nun dreizehn Jahre später. Die arme Mutter habe ich kaum beklagt, gestand er sich beschämt ein. Ob mich sein Tod schmerzen wird, ob ich ihn wohl vermissen werde? Jetzt kann ich nicht mehr behaupten, wie noch vor ein paar Stunden, nur mit seinen Sachen beschäftigt zu sein. Meine Pflichten als Sohn habe ich mit der Beerdigung erledigt. Es gibt nur noch ein paar Formalitäten – die Abgabe seines Ausweises, die Benachrichtigung einiger ihm oder mir nahestehender Personen. Dann bleibt mir vielleicht nur noch der Schmerz, aber wie soll ich ihn, falls ich ihn empfinde, zum Ausdruck bringen? Seit meiner Schulzeit habe ich nie mehr geweint, und ich bin nicht fähig dazu, nicht einmal zu einer einzigen Träne. Noch lange werde ich seine schlurfenden Schritte hören und seine Morgengebete – aber wir werden nicht mehr gemeinsam essen. Ich werde ihm nicht mehr helfen, sich unter die Dusche zu stellen, und er wird nicht mehr behaupten, das doch allein zu können. Ich ziehe ihm nicht mehr seinen Bademantel an, bevor ich die Fenster zum Lüften öffne. Ich kaufe für ihn keine Fladen mehr in der jüdischen Konditorei, bei deren Geschmack in seinen alten Augen eine fast kindische Freude aufblitzte. All das wird mir noch einige Monate lang fehlen, aber auch dieser Mangel wird sich bald in zahllosen lösbaren und unlösbaren Sorgen verlieren.
Wäre ich ein frommer Jude, sagte sich Kolozs, müsste ich mir nun die Frage stellen: Schämst du dich nicht, Gábor Kolozs? Wie kommst du dazu, nicht für immer um den Mann zu trauern, der dich gezeugt hat, dem du letztlich dein Leben verdankst? Pechvogel, der du bist, kann es sein, dass es vielleicht doch einen Gott gibt, der dich persönlich zur Rechenschaft ziehen wird wie alle selbstgefälligen Atheisten! Während jedoch die Ungläubigen das Risiko eingehen, dass die Schrecklichkeit, die man als Leben bezeichnet, im ungünstigen Fall jenseits des Grabes weitergeht und jemand ihnen wegen ihrer Sünden später die Leviten liest, muss der gläubige Mensch ständig in einer anderen Angst leben. Egal wie tugendhaft er auch ist, vielleicht wird ihm niemand dafür im Jenseits den Kopf tätscheln – aus dem einfachen Grund, weil es wahrscheinlich kein Jenseits gibt.
Aber ich bin kein frommer Jude, und die Dankbarkeit, die ich meinem Vater angeblich schulde, kann ich nur im Namen einer abstrakten bürgerlichen Moral aufbringen. Für mich selbst muss ich sie in Frage stellen. Gut, wir haben sechs Jahre lang zusammen von seiner Rente und seiner Wiedergutmachung gelebt, und deshalb bin ich ihm gegenüber zu einigem verpflichtet. Aber hat er etwa vor seinem Schöpfer keine Verantwortung auf sich genommen, als er mich in die Welt gesetzt hat? Darum habe ich ihn nicht gebeten, hatte aber auch nicht die Möglichkeit dazu. Rechnen wir doch ein bisschen nach, grübelte Kolozs im Abteil zweiter Klasse des Eurocity Borsod, das er auf der Rückfahrt nach Budapest ganz für sich alleine hatte. Ich bin im August 1944 geboren, meine Zeugung fand also im November oder Dezember 1943 statt. Meine Eltern wohnten damals bereits vier Jahre zusammen und schliefen ab und zu miteinander – wenn schon aus keinem anderen Grund, dann aus Mizwe, eben weil es dazugehörte. Wollten sie überhaupt ein Kind, oder haben sie nur dem Schicksal die Frucht ihres freudlosen Beischlafs anvertraut? Welche Erwartungen hatten sie an ihre beschissene Zukunft? Schließlich wussten sie, dass der Krieg wütete und die Juden mit nichts Gutem zu rechnen hatten. Unter diesen Umständen war doch schon der bloße Gedanke an Nachwuchs eine Verantwortungslosigkeit! Sie hätten auch wissen können, dass sie sich um den, der da zur Welt kam, zeitlebens Sorgen machen mussten!
Aber dennoch, da war noch so manches andere – zum Beispiel der Alltag, den sein Vater und er geteilt hatten. Gemeinsam am Tisch sitzend, löffelten sie sechs Jahre lang die dünne Suppe der Gemeinde und waren durch diesen elementaren Akt miteinander verbunden, ohne ein Wort zu wechseln. Kolozs ertappte sich manchmal dabei, wie er Gesicht und Stirn des zahnlos und schwerfällig kauenden Vaters betrachtete. Er kannte alle Runzeln, jede Erhebung in diesem Gesicht, wie sich Kartographen auf der Landkarte mit Bergen und Gewässern auskennen. Für ihn war jedes Stöhnen und Gähnen eine Meinungsäußerung, jedes nächtliche Räuspern, Husten und Schnarchen eine Mitteilung. Nie in seinem Leben hatte es einen Menschen gegeben, geschweige denn eine Frau, mit dem ihn eine solch intensive körperliche Nähe verband. Und doch hütete er sich davor, diese Nähe als Liebe zu bezeichnen.