Die Texte «Das Do im Morgengrauen», «Wo Goethe Tae­kwon­do trainieren würde», «Radical Brand», «Ein-Minuten-Tae­kwon­do» sowie «Das 50-plus-Tae­kwon­do-Manifest» erschienen erstmals 2009 in Spuren des Weges, vom gleichen Autor.

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Pinselzeichnung: © Wolfgang Schmitt. Coverfoto: Meister Miguel Chung / © Academia Mes­tre Chung, Lissabon.

ISBN eBook: 978-3-932337-96-3
ISBN gebundenes Buch: 978-3-932337-57-4

www.kristkeitz.de

Inhalt

Geleitwort von Prof. Dr. h. c. Park, Soo-Nam, 9. Dan:
  Brücken schlagen

Vorwort:
  Tae­kwondo 2.0 oder: Quo vadis, Tae­kwondo?

Das Do im Morgengrauen – oder: Das leise Samurai-Gefühl

Das 50-plus-Tae­kwon­do-Manifest – Tae­kwon­do als lebenslange Übung

Ein-Minuten-Tae­kwon­do

Radical Brand – Radical Tae­kwondo

Warum ein Gürtel allein nur wenig aussagt

Tae­kwon­do im Zeitalter der Ablenkung

Es könnte so einfach sein

Wo Goethe Tae­kwon­do trainieren würde

Was Kochen mit Tae­kwon­do zu tun haben kann

Tae­kwon­do mit dem Rasierpinsel

Nicht so verbissen, bitte!

Zu Besuch bei Mestre Russo

S-Bahn-Surfen

Tae­kwon­do unter der Dusche

Die, die wirklich kämpfen

Man kanns ja mal probieren …

70/30-Training

«Effortless Mastery»

Eine ungewohnte Art der Begegnung

Aufgepasst! Text mit erhobenem Zeigefinger!

Tae­kwon­do – die Kunst der Selbstverteidigung

Die 80/20-Formel und eine Projektidee

Haltung

Grão Mestre Chung und die Academia Tae­kwon­do in Lissabon

Einmal volltanken bitte! Aber mit frischer Luft!

Meditation – oder: Wie man vor und nach dem Training den Schalter umlegt

Ein Block ist ein Block – oder nicht?

Performance = Stress + Rest

«Ich seh dir in die Augen, Kleines!»

Tae­kwon­do ist Zauberei

Der Wunschzettel

Ach, die guten Vorsätze …

Die Kunst des Tötens

Sprachenvielfalt

Und schon waren zweieinhalb Stunden vorbei …

«Der Weg ist dort, wo die Angst ist.»

Meister oder Techniker?

Auf der Suche nach Zeit

Tae­kwon­do und der Virenschutz

«His smile can win even the hearts of little children; his anger can make a tiger crouch in fear.»

It’s only rock ’n’ roll

Some like it hot!

Einsicht

Kleider machen Leute?

Karate Kid

Der Autor

Brücken schlagen

«Ich lebe Taekwondo», hörte ich vor Kurzem einen langjährigen Taekwondo-Sportler und -Trainer sagen. Man kann davon ausgehen, dass seine Schüler – so heißen die Sportler im Taekwondo ganz klassisch – bei ihm in guten Händen sind. Denn er wird ihnen neben kör­perlichen Fertigkeiten auch Werte vermitteln, neben Tae und Kwon auch das Do.

Das tut auch Wolfgang Schmitt allmonatlich in seinen Texten in unserer Zeitschrift Taekwondo Aktuell. Dabei geht es ihm gar nicht in erster Linie darum, die Lehren des Taekwondo auf den Alltag zu übertragen. Im Gegenteil: Oft stellt er Erkenntnisse aus anderen Lebensbereichen vor und macht sie für das Taekwondo-Training fruchtbar. Zeitmangel, der Umgang mit Ängsten oder Kommunikationsstörungen sind ebenso Thema wie die Überflutung mit Reizen oder die mangelnde Fähigkeit, im richtigen Moment «abzuschalten». Wobei alle, die sich mit diesen Themen im Sport auseinandersetzen, natürlich auch fürs Leben dazulernen können. Es entsteht ein Wechselspiel von Beobachtungen und Erkenntnissen.

Manche Texte kommen mit einem Augenzwinkern daher, bei anderen ertappt man sich vielleicht auch selbst und überprüft die eigene Einstellung (nicht nur) zum Taekwondo.

Im Idealfall wird dies dazu anregen, selbst weiterzudenken und Brücken zu schlagen zwischen Alltag und Taekwondo – und umgekehrt. So ergibt sich eine inspirierende Lektüre, die weiter wirkt über den Augenblick des Lesens hinaus – wie das Taekwondo über die Trainingsstunde.

Aber auch über Landesgrenzen hinweg werden Brücken geschlagen: Wolfgang Schmitt unterrichtet Taekwondo in Saarbrücken und im benachbarten Frankreich und setzt sich dadurch mit unterschied­lichen Mentalitäten und Sprachen auseinander. Auch die Schüler nehmen gern die Möglichkeit wahr, in beiden Ländern zu trainieren, und entdecken über das Taekwondo das Gemeinsame und das Verbindende.

Taekwondo lebt. Über die Jahrhunderte gewachsen, als Kampfkunst Mitte des vergangenen Jahrhunderts erwachsen geworden, heute als olympischer Sport etabliert, erreicht Taekwondo Millionen Menschen, die unseren koreanischen Nationalsport in aller Welt betreiben. Ob im Breiten- oder im Spitzensport, ob im jungen oder im hohen Alter: Die intensive Beschäftigung mit Taekwondo geht über den Sport hinaus.

Daher freue ich mich, dass diese Texte nun gesammelt in einem Band erscheinen, um Taekwondoschüler und Taekwondolehrer gleichermaßen über den Sport hinaus zu inspirieren und zu bereichern.

Prof. Dr. h. c. Park, Soo-Nam, 9. Dan

Präsident der Deutschen Taekwondo Union

«Es gibt keine Trennung

zwischen Tae­kwon­do

und dem täglichen Leben.»

Tae­kwondo 2.0 oder: Quo vadis, Tae­kwondo?

Tae­kwondo ist Kampfsport, Tae­kwondo ist Kampfkunst. Tae­kwon­do kann aber noch mehr sein. Nicht für alle vielleicht, aber für einige. Für viele ist Tae­kwondo eine Freizeitbeschäftigung, die als Ausgleich zum Job betrieben wird. Zumindest ist dies eine oft genannte Motivation bei Einsteigern. Andere wollen schlichtweg fitter und gesünder werden, gegen Pfunde ankämpfen, beweglicher werden, eine bessere Haltung bekommen, Muskeln aufbauen – oder ganz einfach Spaß am Körper haben. Das Spektrum der Gründe, Tae­kwondo zu betreiben, ist vielfältig. Auch der sportliche Wettkampf kann ein Grund sein, schreibe ich in «Nicht so verbissen, bitte!». Wie die meisten der asiatischen «martial arts» bietet Tae­kwondo viele Zugangswege. Die meisten sind irgendwie körperlicher Natur. Wenige finden den Weg zum Tae­kwondo über das «Do», über den «Weg», über das, was Tae­kwon­do auch sein kann: eine Auseinandersetzung mit sich selbst, aber auch mit der Umwelt, mit dem, was einen umgibt.

Die hier in leicht überarbeiteter Form veröffentlichten Texte erschienen in den vergangenen Jahren in Tae­kwondo Aktuell, dem Fachorgan der Deutschen Tae­kwondo Union. Zunächst in der Rubrik «Mentales und Do», später dann – gewissermaßen solitär – auf der letzten Seite: als «Rausschmeißer». Nach vielen Informationen über aktuelle sportliche Ereignisse, sportpolitische Hintergründe, aber auch gesundheitliche Themen, schließt diese letzte Seite das Heft und öffnet es gleichermaßen auch wieder. Einerseits kann man das Heft mit der letzten Seite physisch zuklappen, andererseits will diese «letzte Seite» dem Leser den Weg zurück öffnen und ein wenig zum Reflektieren einladen. So wichtig sportliche Erfolge – persönlich oder auch gesellschaftlich – auch sind, Tae­kwon­do kann mehr sein als «nur» Sport. Dass dieses dem Begriff Tae­kwon­do immanent ist, wissen viele: Jeder Schüler kann etwas zum «Do» sagen, kann zumindest sagen, dass «Do» der «Weg» ist oder dass in «Do» der Begriff «Dao» steckt und dass Tae­kwondo vielleicht auch etwas mit Daoismus zu tun haben könnte … Irgendwie spürt man, dass da mehr sein kann – etwas, was über den Sport hinausgeht.

Tae­kwondo kann auch politisch betrachtet werden. Zu Beginn durchaus aus politisch-gesellschaftlicher Notwendigkeit oder Eitelkeit heraus als Instrument genutzt, zieht sich durch die Geschichte des Tae­kwondo etwas Geheimnisvolles, lässt Tae­kwondo an und für sich als etwas Mysteriöses, manchmal auch als politisches Kunstprodukt erscheinen. Die Geschichte, die geschichtliche Bedeutung des Tae­kwon­do ist sicher noch nicht abgeschlossen.

Heute sind es viele Millionen Menschen, die Tae­kwondo betreiben, die von der Aura eines asiatischen Kampfsports fasziniert sind und die weit weg sind von den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Anfänge des Tae­kwondo begleitet haben. Zu spüren bekommt man diese allerdings auch noch heute manchmal, betrachtet man die unterschiedlichen Tae­kwondo-Stile, die sich mittlerweile entwickelt und Aus- und Abgrenzungen voneinander in ihre Programme geschrieben haben. Quo vadis, Tae­kwondo?

Analysiert man die inhaltlichen Grundpfeiler des Tae­kwondo: Anstand (Yeui 예의), Moralität (Yeomchi 염치), Geduld (Innae 인내), Selbstdisziplin (Geukgi 극기) und Un­be­ugsamkeit (Baekjeol Bulgul 백절불굴), so kommt man zu dem Schluss, dass diese Kampfkunst sicherlich die Vielfalt gelten lässt und Ausgrenzungen per se nicht zulässt. Aus zum Überleben notwendigen kämpferischen Fähigkeiten entstanden, kann Tae­kwondo heute als inte­grie­rende Kunst über sportliche, soziale und nationale Grenzen hinweg weitere Bedeutung erlangen: über den Sport und über das «Do» – wenn es in der Welt des Taekwondo ak­zeptiert und wirklich gelebt wird.

Tae­kwondo ist eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung: einerseits natürlich kriegerisch, andererseits aber auch als Idee zur kontroversen Beschäftigung mit sich selbst – und damit im Umgang mit anderen. Dies könnte, einmal gelebt, ein Weg für ein Tae­kwondo «2.0» sein – ob in der Schule begonnen oder im reiferen Alter, Tae­kwondo bietet hier die Chance.

Die Themen der «letzten Seite» aus Tae­kwondo Aktuell wollen hier ansetzen und den Weg über den Sport hinaus beschreiten.

Wolfgang Schmitt




Tae­kwon­do ist der Spiegel,
der, zu Anfang noch blind,
immer klarer wird,
bis dass du dich selbst erkennen kannst.
Wenn du willst.

(aus Spuren des Weges, 2009)

Das Do im Morgengrauen
oder: Das leise Samurai-Gefühl

«Nichts ist in dieser Welt unmöglich. Fester Entschluss kann Himmel und Erde bewegen, sagt man. Dinge scheinen weit jenseits der Macht eines Menschen zu liegen, weil er sein Herz aus Mangel an starkem Willen nicht auf ein schwieriges Projekt richten kann. Es hängt ganz von der geistigen Einstellung ab, sogar Himmel und Erde zu bewegen, ohne die eigene Stärke anzuwenden.»

So steht es im Hagakure, dem «Buch des Samurai» von Yamamoto Tsunetomo aus dem frühen 18. Jahrhundert.

Es gibt sicherlich tausendundeinen Grund, nicht aus dem Bett zu steigen. Aufzählen könnte man vieles. Aber eigentlich zählt nichts. Nur eins: den festen Entschluss vom Vorabend umzusetzen. Sicherlich, es kann schon mal zum Kampf kommen; da geht es um den viel und oft zitierten inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt. Das ist manchmal so. Da gibt es aber etwas anderes, etwas, was stärker ist als die mögliche Ausrede. Nur, was ist das? Ist es nicht so, dass etwas fehlen würde, trainierte man nicht? Ist es nicht so, dass man sich selbst gegenüber gewissermaßen untreu würde?

Es ist eigenartig. Man fühlt sich wirklich stark, hat man den Schritt vor die Haustür getan, sitzt man endlich im Auto oder in der Bahn und ist man auf dem Weg. Auf dem Do. Auch dieser Weg, dieses Do, ist Teil des Tae­kwon­do.

Aber was hört man da? Sonderlinge sind das, die da frühmorgens ihren Weg ins Training suchen. Verbissene, Besessene! Übereifrige! Immerhin, es ist wahr: Einige müssen schon um fünf Uhr morgens aufstehen, um das Frühtraining zu besuchen. Verbissene, vielleicht; Besessene, vielleicht; das muss jeder für sich selbst beantworten. Aber eines ist allen mit Gewissheit gemein: Der Tag muss mit Tae­kwon­do beginnen. Der Weg, das Do, den man beschlossen hat zu gehen, beginnt mit dem Weg ins Training. Das geht sicher allen so, die es ernst meinen mit Tae­kwon­do und – vor allem –: es mit sich selbst ernst meinen.

Aber da ist auch noch ein anderes Gefühl, das es nur am frühen Morgen zu geben scheint. Da gibt es den Nebel, die Sonne, die aufgeht, da muss man manchmal «mitten in der Nacht» Eis am Auto kratzen … Und dann, einmal unterwegs … Eigentlich unglaublich, was da morgens schon auf der Autobahn oder in der Bahn oder in der Stadt los ist. Der Wagen der Straßenreinigung fährt vorbei, die Lichter spiegeln sich in den Regenpfützen, in den Bäckereien brennt Licht, Lkw liefern Waren an, da sind die Vögel, die den Frühling herbeizwitschern. Gedanken kommen: all diese Fleißigen, die sich auf den Weg zur Arbeit machen. Aber da gibt es auch die, die in der Bahn bereits das erste Bier öffnen … Und man selbst? Man gehört irgendwie nicht dazu. Zumindest jetzt nicht. Man weiß: Okay, irgendwann am Tag beginnt auch die Arbeit – aber jetzt … jetzt gehört man sich erst mal ganz allein. Man ist auf dem Weg!

Vielleicht wie ein Samurai, allein mit sich, damals mit seinem Schwert, wir – heute – mit unserem Dobok im Gepäck.

Fester Entschluss kann Himmel und Erde bewegen, kann man im Hagakure lesen: Es hängt ganz von der geistigen Einstellung ab, sogar Himmel und Erde zu bewegen, ohne die eigene Stärke anzuwenden.

Das 50-plus-Tae­kwon­do-Manifest – Tae­kwon­do als lebenslange Übung

«Versuche erst gar nicht, in einen Wettbewerb mit Typen zu geraten, die gut 20, 30 Jahre jünger sind als du.

Das bereitet nur Schmerzen. Psychische einerseits, physische liegen auch in Reichweite.

Denke daran, du musst dir nichts mehr beweisen. Diese Zeit liegt längst hinter dir.

Geglaubt, dich beweisen zu müssen, das hast du früher getan.

Hab jetzt Spaß am Tae­kwon­do!

Lass die ‹Cracks› sich austoben und beobachte sie. Lächle!

Du warst auch mal so. Bist auch ständig mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren.

Du musst nicht länger auf der Überholspur fahren, denn du bist längst angekommen.

Lass die ‹Cracks› gewinnen wollen. Die brauchen das. Das weißt du.

Deshalb hast du längst gewonnen, noch bevor der ‹Fight› angefangen hat.

Denn: Es gibt keinen ‹Fight› für dich.

Genieße deine Bewegungen!

Konzentriere dich auf die Bewegungen!

Zeige die Formen so, dass die Formen dich zeigen!

Da steckt der Wettbewerb!

Mit dir selbst zum einen.

Manchmal aber auch mit anderen.

Auch mit jüngeren.

Nur nicht gegen.

Doch vergiss nicht: Lächle.

Hab Spaß am Tae­kwon­do!»

Ein-Minuten-Tae­kwon­do

Tae­kwon­do! In just one minute! Wenns wirklich so einfach wäre!

Man sagt doch, Tae­kwon­do zu erlernen, erfordere beständiges Training, und das über Jahre hinweg?

Aber was ist das mit dem Ein-Minuten-Tae­kwon­do in der Überschrift? Gibt es das wirklich? Ich glaube, ja!

Das Ein-Minuten-Tae­kwon­do ist die Konzentrationsübung schlechthin. Und eigentlich universell einsetzbar.

Macht einmal folgenden Versuch: Lasst vor eurem geistigen Auge eure höchste Hyeong ablaufen. Und stellt euch vor, ihr selbst führt diese Hyeong aus. Seht euch dabei zu, wie ihr die Hyeong ausführt. Wie in einem Traum, nur, dass ihr den Traum steuern könnt. Also: Beobachtet euch selbst – mit geschlossenen Augen – beim Ausführen einer ­Hyeong.