Zsolnay E-Book
Veit Heinichen
Im eigenen Schatten
Roman
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05628-2
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013
Textnachweis: Italo Svevo, »Zeno Cosini«
Copyright für die deutsche Übersetzung von Piero Rismondo
© 1959, 1987 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
If men define situations as real,
they are real in their consequences.
Dorothy Swaine Thomas,
William Isaac Thomas, 1928
Der Wein ist deshalb so gefährlich,
weil er nicht die Wahrheit ans Tageslicht bringt,
sondern gerade ihr Gegenteil:
Er enthüllt die vergangenen, vergessenen und erledigten Geschichten
der Menschen, und nur bedingt ihren gegenwärtigen Willen.
Er bringt willkürlich all die flüchtigen Gedanken ans Licht,
mit denen man vor längerer oder kürzerer Zeit gespielt
und die man wieder vergessen hat.
Er spottet der Absicht, irgendetwas zu streichen,
er liest alles aus dem menschlichen Herzen,
was trotz der Streichung immer noch lesbar geblieben ist.
Es ist weit leichter, ein falsches Indossament auf einem Wechsel
durch Streichung ungültig zu machen.
Kurz, unsere ganze Geschichte bleibt für immer irgendwie lesbar,
und der Wein liest alles laut vor und schreit es in die Welt hinaus,
ohne sich um die Korrekturen zu kümmern,
die das Leben später hinzugefügt hat.
Italo Svevo, 1923
Zu viel Alkohol, zu wenig Schlaf. In aller Herrgottsfrüh stieg Spechtenhauser aus dem Mercedes und wankte zum Hangar des Sportflughafens bei dem kleinen Ort Prosecco hinüber. Gäbe es am Himmel Alkoholkontrollen wie Samstagnacht in der Stadt, hätte er seinen Abflug sicherlich verschoben. Den Hangar aus Wellblechplatten hatten noch die Alliierten Ende der Vierziger erbaut, als sie nach dem Krieg das Free Territory of Trieste, ein erstes UN-Protektorat, verwalteten; er hätte längst einer grundlegenden Renovierung bedurft.
Ratlos betrachtete Spechtenhauser das Schloss und den Schlüssel in seiner Hand. Hatte hier jemand eingebrochen? Der Wachdienst fuhr nachts zweimal vorbei und sah nach dem Rechten, seit der alte Mann versprochen hatte, die Gebühren dafür zu übernehmen.
Die Torflügel öffneten sich mit blechernem Gerumpel, die Morgensonne fiel auf den Lack der einmotorigen Leichtflugzeuge, die in der vordersten Reihe standen. An keinem konnte Spechtenhauser Spuren eines Einbruchs entdecken, auch die Werkbank und die Vorhängeschlösser an den Werkzeugschränken waren unversehrt, genauso wie das Treibstofflager draußen. Während er seine beiden Fiat-Flugzeuge aus den dreißiger Jahren kontrollierte, musste er sich wiederholt aufstützen, was ihn belustigte. Sein kurzes dunkles Lachen verklang im Hangar. Dann raffte er sich wieder auf und nahm die zweimotorige Reims-Cessna F406 Executive unter die Lupe. Das Fahrwerk war in Ordnung, und nirgendwo entdeckte er Spuren von Gewaltanwendung. Zufrieden schloss er die Kabinentür auf, zog sich die Treppe hinauf und ging leicht gebückt zwischen den sechs ausladenden Ledersesseln nach vorne zum Cockpit, wo er sich auf den linken Pilotensessel fallen ließ. Er war in seinem Leben schon besoffener geflogen, und damals waren die Maschinen technisch lange nicht so ausgereift gewesen. Heute konnte einem eigentlich nichts mehr passieren, und der Flug dauerte ohnehin nicht lang.
Die in leuchtendem Rot und Matterhornweiß lackierte Cessna war ein komfortables Flugzeug, das 1989 in Reims in Frankreich gebaut worden war. Spechtenhauser hatte sie einem säumigen Schuldner abgenommen und damit ein blendendes Geschäft gemacht, doch setzte er sie nur für lange Distanzen ein oder wenn er Passagiere an Bord hatte. Müsste er sich nicht an vorgeschriebene Flugrouten halten, könnte er nach einer halben Stunde bereits auf der Landebahn des Flughafens Bozen aufsetzen. Zweihundert Kilometer Luftlinie waren es nur, doch selbst über den Wolken war die Freiheit nicht mehr grenzenlos. Mit der Fiat C.R.20 von 1931, an der er die Läufe der Maschinengewehre hatte verschweißen lassen müssen, würde ihn das ganze Regelwerk kaltlassen. Sie hatte weder Sprechfunk noch Radar und erst recht keinen Bordcomputer. Gute Augen, ein Kompass, ein Höhenmesser und eine Tankuhr genügten. Mit ihr war Spechtenhauser am liebsten unterwegs, sie war zwar nur halb so schnell wie die Reims-Cessna, doch flog man auf Sichtweite und mit einer Landkarte auf dem Schoß, wohin es einem beliebte. Und genau deshalb hatte er sich vor vielen Jahren entschieden, keine langen Strecken auf verstopften Autobahnen mehr zu machen.
Heute war ein großer Tag: In Spechtenhausers Aktenkoffer lagen drei fällige Schuldscheine, die eine Million wert waren. Und am Nachmittag würde er das größte Geschäft seines Lebens einfädeln, das er bis jetzt mit achthunderttausend Euro vorfinanziert hatte. Sein Plan war raffiniert. Alle würde er aufs Glatteis führen, die bisher unverschämt von seiner Großzügigkeit profitiert hatten. Es würde ein Fest werden. Und bevor er zurückflog, erwartete er am Flughafen die Lieferung seines Weinguts bei Eppan. Der Stauraum der Maschine war groß genug für die einzeln in Holzkistchen verpackten Riservas ausgewählter Spitzenjahrgänge, die er nun endlich verlagerte. In seinem Alter trank man keinen Fusel mehr.
Spechtenhauser schaltete die Zündung ein und überprüfte die riesige Instrumententafel vor sich. Um fünf nach sechs startete er den linken Propeller, rollte die Cessna F406 behutsam aus dem Hangar hinaus, stieg aus, um die Tore wieder zu schließen, und startete anschließend den zweiten Motor. Er warf einen Blick über den Flugplatz. Für diese Maschine war die Graspiste verdammt knapp, die als Start- und Landebahn diente. Es hatte alle seine politischen Verbindungen gebraucht, um die Sondergenehmigung zu erhalten, doch nicht umsonst hatte er über lange Jahre Opfer gebracht und sich als Senator in Rom um die Belange des Volks gekümmert.
Per Sprechfunk nahm Spechtenhauser Kontakt mit dem Tower des dreißig Kilometer entfernten Regionalflughafens Triest/Ronchi dei Legionari auf, gab sein Reiseziel durch und erhielt die Auskunft, dass das herrschende Hochdruckgebiet wolkenlosen Himmel frei von Turbulenzen bis nach Bozen garantierte. Die Sonne stand in seinem Rücken. Nach einem letzten Check schob er den Gashebel nach vorne und löste dann die Bremse. Am Sonntagmorgen um sechs Uhr und zwölf Minuten hob die Cessna ab und gewann rasch an Höhe. Bei voller Geschwindigkeit hatte sie eine Steigleistung von fünfhundertvierundsechzig Metern pro Minute.
Die Bewohner der Gemeinde Aurisina auf dem Karst wurden unsanft geweckt. Um sechs Uhr und vierzehn Minuten zerriss der Knall einer Explosion den friedlichen Morgen, ein Feuerball stand am Himmel. Die qualmenden Trümmer der Maschine hagelten auf den österreichisch-ungarischen Soldatenfriedhof, wo in einer Doline die Gebeine Gefallener des Ersten Weltkriegs bestattet waren. Leichtere Teile der Reims-Cessna prasselten weiter entfernt in die Vorgärten und auf die Dächer der Häuser am Dorfrand, deren Bewohner im Morgenmantel herausgestürzt waren und nun blass vor Schrecken auf der Straße standen. Ein Streifenwagen der Polizia di Stato hatte sich auf der Rückfahrt zum Kommissariat von Sistiana befunden, wo die Polizisten ihre Nachtschicht mit dem üblichen Papierkram zu beschließen hatten. Nur per Zufall waren sie in der Nähe gewesen und noch vor den Carabinieri aus der nahen Kaserne an der Absturzstelle eingetroffen, denen sie die Sache liebend gerne überlassen hätten. Die beiden Männer schimpften über ihr Missgeschick, verständigten das Polizeipräsidium in Triest und sperrten weiträumig die Zufahrt ab.
»Was geht mich ein Flugzeugabsturz an? Das ist Sache der Luftfahrtbehörde«, beschwerte sich Vicequestore Proteo Laurenti, als sein Telefon ihn um halb sieben aus dem Schlaf riss.
Den Sonntag hatte er am Meer verbringen wollen. Mit Laura, die in langen Ehejahren gelernt hatte, sich von den Notrufen, die ihren Mann weckten, nicht mehr stören zu lassen, sich umdrehte, die Decke über den Kopf zog und weiterschlief. Laurenti hingegen zwangen sein Pflichtgefühl und eiserne Selbstdisziplin auf die Beine, auch wenn er erst spät zu Bett gegangen war.
»Ich wusste nicht, wen ich sonst verständigen sollte«, entschuldigte sich die männliche Stimme in der Zentrale kleinlaut. »Die Vorschriften besagen, dass bei Abstürzen an alles gedacht werden muss.«
»Und das überlässt man am liebsten den Vorgesetzten«, raunzte der Commissario. »Raus mit der Sprache.«
Laurenti ließ sich die Absturzstelle beschreiben und legte grußlos auf. Unter der Dusche fand er dann endgültig ins Leben zurück. Auf der Fahrt hielt er kurz an einer Bar, um einen Espresso zu trinken, und um sieben Uhr bog er in Aurisina am Wegweiser in Richtung des Soldatenfriedhofs ab, wo er vor dem rot-weißen Plastikband parkte, mit dem die Kollegen das Strässchen blockiert hatten. Zwei Feuerwehrwagen standen am Straßenrand, die Besatzungen hatten keine Brandgefahr ausgemacht und warteten auf Anweisungen. Anwohner grüßten den Commissario, den sie aus der Osteria in Santa Croce kannten. Dort würde zur Mittagszeit am Tresen wohl heftig über den Vorfall diskutiert werden; die Tatsache, dass auch der Leiter der Kriminalpolizei eingetroffen war, ließ der Phantasie freien Lauf.
Die Kennung am Rumpf der Zweimotorigen war noch lesbar, die Besatzung des Streifenwagens hatte sie bereits durchgegeben, und vom Flughafen traf die Auskunft ein, dass der Funkkontakt zwei Minuten nach dem Abheben abgebrochen war. Als sie exakt tausendzweihundert Meter Flughöhe erreicht hatte. Der Pilot hieß Franz Xaver Spechtenhauser, war siebenundsechzig Jahre alt und ein erfahrener Flieger gewesen. Er wohnte nur drei Kilometer entfernt in einer Villa auf dem Karst. Laurenti kannte ihn flüchtig. Ein einflussreicher Mann aus Südtirol, der sich vor über dreißig Jahren hier niedergelassen hatte. Eine seiner Töchter bewohnte ein exklusives Haus über der Bucht von Duino, die andere lebte im vierzig Kilometer entfernten Seebad Grado.
Der Commissario forderte Kriminaltechniker, den Zivilschutz und die Spurensicherung an; auch Hunde sollten sie mitbringen. Die weitverstreuten Trümmer zusammenzutragen, konnte Tage dauern. Ohne sie aber ließ sich die Ursache des Unglücks nicht feststellen. Und den zerfetzten Leichnam einzusammeln, war ein delikates Geschäft und forderte bei der zu erwartenden Hitze schnelles Handeln, bevor sich Ameisen, Raubvögel, Wildschweine, Füchse und Schakale darüber hermachten. Als er aufgelegt hatte, fuhren zwei Wagen der Flugsicherheit heran. Laurenti informierte die Insassen in knappen Worten und sagte, er würde die Tochter des Piloten in Duino verständigen.
»Für derartigen Mist verschwendest du das bisschen Geld, das du verdienst, und wir können nicht einmal richtige Möbel anschaffen.«
Xenia war außer sich, Schweiß stand ihr auf der Stirn, der Puls raste. Voller Verzweiflung schleuderte sie die kleine Schmuckschachtel gegen die Wand. Dann zerbrach die Tischplatte unter ihrem zielgenauen Karatehieb, und nach der halbvollen Weinflasche zersplitterte auch der Teller mit den Spaghetti neben der Tür des Wohnzimmers. Die Tränen der Tomatensoße rannen über die weiße Wand, an der ein paar Nudeln hängen geblieben waren.
»Liebe ist doch kein Gefängnis. Seit Jahrhunderten heiraten die Menschen«, murmelte Zeno bedrückt. Der tief gebräunte junge Mann wagte sich nicht von seinem Stuhl zu rühren. Dem Chaos aus Scherben und Speiseresten zu seinen Füßen schenkte er keinen Blick. Er fixierte Xenia und wusste, dass er wieder einmal denselben Fehler begangen hatte. Ihre Augen flackerten wild, die Haut über den Knöcheln ihrer verkrampften Hände schimmerte hell.
»Ich will wissen, was du verkauft hast, um diese idiotischen Ringe zu bezahlen. Und ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich es hasse, eingesperrt zu werden«, sagte die junge Frau mit gepresstem Atem, deren feines hellblondes Haar streichholzkurz geschnitten war.
Der Gefühlsausbruch der Kommissarin war so vorhersagbar gewesen wie der schwere Hagelsturm, der am Vortag im Collio mehr als die Hälfte der Blütenstände von den noch zarten Trieben der Weinstöcke gerissen hatte. Xenia litt unter dem Stress im notorisch unterbesetzten Kommissariat, wo sie sich vergebens bemühte, fehlendes Personal durch doppelten Einsatz auszugleichen. In Zeiten einer dahinsiechenden Wirtschaft gab es immer mehr Schlaumeier, die versuchten, mit kleinen Gaunereien ihr Budget aufzubessern. Immer wieder Verhöre, bei denen die Verdächtigen rasch geständig waren, sobald sie begriffen, dass ihnen dies vor Gericht Vorteile brachte. Alles Routine, doch interessante Fälle, welche die Polizistin herausgefordert hätten, gab es keine.
»Beruhige dich, mein Schatz. Es wäre doch nur vernünftig«, sagte Zeno versöhnlich.
»Vernunft? Jetzt fängst du schon wieder an. Hast du eigentlich eine Ahnung davon, in welcher Welt du lebst?« Wie ein Tiger im Käfig raste sie drei Schritte vor und wieder zurück. Unversehens krachte ihr Mobiltelefon gegen die Wand hinter dem jungen Mann und zersplitterte. »Fünfunddreißig Jahre bin ich alt, und wir befinden uns mitten im Krieg. Dollar und Pfund gegen den Euro. Die Mafia hat das Finanzwesen übernommen und wäscht unter aller Augen Milliarden an schmutzigem Geld. Bankrotte Banken werden gerettet und treiben mit ihren Wetten trotzdem noch und völlig ungesühnt ganze Volkswirtschaften in den Abgrund. Die Bevölkerung wird geopfert. Eine Spielhölle ist das, in der ein paar wenige daran verdienen, unsere Zukunft zu ruinieren. Und wir beide sind notorisch pleite. Siehst du überhaupt, wie wir hausen? Schäbige Möbel vom Flohmarkt, nicht einmal für den Mist von Ikea reicht unser Geld. Aber dir fällt nichts anderes ein, als von Perspektiven zu reden, die es nicht gibt.«
Xenias Stimme überschlug sich. Ihr nächster Schlag mit der bloßen Faust traf die Türfüllung. Ein Bilderrahmen mit einem Foto der beiden vor einem Sonnenuntergang fiel zu Boden und zersplitterte, Putz bröckelte von der Wand.
Zeno machte vorerst keinen Versuch mehr, seine Freundin zu besänftigen. Nur seine dunklen Augen folgten ihr.
»Gut hat sie gelebt, die Generation vor uns. Und nichts dafür getan, dies zu erhalten oder etwa weiterzugeben. Zukunft? Vergiss es. Die Bank hat mir heute die Kreditlinie gekürzt, und dieser Waschlappen von Filialdirektor faselte von Anweisungen aus der Zentrale. Wir stehen vor Trümmern. Wie die, die mir meine Eltern hinterlassen haben.«
»Sicher nur ein Versehen. Red morgen nochmals mit ihm.«
»Was weißt denn du schon? Du hast nicht einmal einen festen Job und kaufst goldene Ringe. Als kleiner Aushilfslehrer hangelst du dich von Monat zu Monat, und bist auch noch glücklich darüber, wenn in letzter Minute ein Anruf kommt, mit dem sie dir für ein paar Wochen den nächsten Vertretungsjob anbieten. Für ein paar Kröten, von denen du nichts zurücklegen kannst.«
»Du übertreibst, Xenia. Ich liebe dich, das ist alles.« Ratlos strich Zeno sich mit beiden Händen über den fast kahlen Kopf, dessen schwarzes Haar er alle paar Tage mit dem Elektrorasierer trimmte. Seine Stimme klang verzagt, seine Widerrede würde ohnehin kein Gehör finden.
»Schweig! Irgendjemand verdient sich dumm und dämlich an der Misere der anderen. Und du denkst immer nur an solchen Quatsch wie Heiraten und Kinderkriegen, die keinen Platz in dieser Welt hätten. Für Ordnung müssen wir sorgen, kämpfen für Transparenz, Gleichheit, Gerechtigkeit, Eintracht, Demokratie. Steck dir dein Harmoniebedürfnis irgendwohin, du Herr der Ringe.«
Xenia wischte sich den Schweiß von der Stirn und tat einen Schritt durch die geschlossene Tür, deren Füllung am Boden lag und unter ihrem Schritt knirschte. Von einem Schränkchen nahm sie die Schlüssel des Bootes, steckte ein Päckchen Tabak samt Papierchen und Feuerzeug ein. Die Haustür flog hinter ihr ins Schloss. Um die Lichter, die in den beiden Häusern gegenüber angeknipst wurden, um die offenen Fenster, in denen sich die Köpfe neugieriger Nachbarn abzeichneten, scherte sie sich einen feuchten Kehricht.
Müde, angespannt und hungrig war sie nach Ende ihres Dienstes nach Hause gekommen. Als Letztes hatte ausgerechnet sie einem besinnungslos knutschenden Paar Einhalt bieten müssen, das sich, umgeben von Spannern, auch noch vor dem Eingang zur mittelalterlichen Kirche Santa Maria delle Grazie schon fast alle Kleider vom Leib gerissen hatte. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte sie die beiden in den Dienstwagen verfrachtet und den Vorfall anschließend im Kommissariat auf der Isola della Schiusa vorschriftsmäßig zur Anzeige gebracht. Ein Triestiner und eine Frau aus Udine, das würde Schlagzeilen machen, waren sich die beiden Städte doch in steter Missgunst verbunden. Und diese geilen Idioten hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als den Verstand unter den Augen der Touristenströme in diesem Badeort zu verlieren, den sie offensichtlich als Niemandsland empfanden.
Trotz der späten Stunde hatte Zeno ihr eine Pasta zubereitet und war vor Zuneigung übergequollen, während sie rasch zwei Gläser Wein hinabstürzte, in der Hoffnung, damit ihren Adrenalinspiegel zu senken.
Als die hochgewachsene Frau in der Dunkelheit verschwand, hallte nur noch ihr wütender Schritt durch die stille Via delle Pleiadi. Einmal noch leuchtete ihr Gesicht in der Finsternis auf, als sie kurz verharrte, um sich eine Zigarette anzustecken.
»Schon wieder ein neuer Tisch«, seufzte Zeno erschüttert und hob deprimiert die kleine Schachtel mit den Ringen auf, nach denen er wochenlang gesucht und sich dafür auch noch unter Wert von seiner LP-Sammlung und dem Plattenspieler getrennt hatte, für den er keinen Saphir mehr auftreiben konnte. Dann holte er Kehrschaufel und Mülleimer.
Wegen des immer gleichen Themas hing der Haussegen schief. Die schweren Wolken würden sich erst wieder heben, wenn Xenia sich nach ein paar Stunden abreagiert hatte. Kein Wort würde sie dann über den Vorfall verlieren, sondern sich irgendwann im Schlaf an ihn schmiegen und am Morgen gutgelaunt erwachen.
Seit drei Jahren waren sie zusammen, und seit elf Monaten lebten sie zur Miete in diesem unscheinbaren Häuschen in einer unbelebten Nebenstraße des Ortsteils Grado Pineta, nur hundert Meter vom langen Sandstrand und dem kleinen Hafen entfernt, in dem ihr Boot lag. Zeno wusste genau, dass Xenia die Fassung nur verlor, wenn sie litt. Panische Platzangst hatte ihr der Psychologe einst bescheinigt und ironisch behauptet, damit könne sie für den Rest des Lebens Invalidenrente beantragen. Im Beruf konnte sie die Klaustrophobie mit extremer Selbstdisziplin in Schach halten. Doch wenn sie konnte, vermied sie geschlossene Räume. Mit ihr zum Shoppen in Einkaufszentren zu fahren, wie es ganz normale Paare taten, um die Zeit bis zum Fernsehabend totzuschlagen, war schlicht unmöglich, zu viele Menschen. Und bevor sie einen Aufzug betrat oder mit anderen Leuten eine Rolltreppe teilte, war sie bereits im Treppenhaus verschwunden, egal wie viele Stockwerke sie zu bewältigen hatte.
»Warum zum Teufel hat sie mich damals laufenlassen? Hätte sie nach Vorschrift gehandelt, müsste ich ihre Ausbrüche heute nicht ertragen und wäre ein freier Mensch«, schimpfte Zeno, während er die Spaghetti von der Wand las und vergebens die Spuren der Tomatensoße zu entfernen versuchte. Anschließend schaffte er die Trümmer des alten Tischs hinaus. Beim Trödler hatten sie für wenig Geld bereits zwei andere gekauft, den ersten zum Einzug, den zweiten sechs Monate später, und erst vor kurzem diesen hier.
Das Schuljahr hatte wie immer mit der letzten Maiwoche geendet. Ob er auch im nächsten an der gleichen Schule wieder einen Job fände, würde Zeno erst ein paar Tage vor Ende der Sommerferien erfahren. Prekariat bedeutete, gedemütigt zu werden, jederzeit abrufbar zu sein und jeden Plan für die Zukunft sogleich aus den Gedanken zu verbannen. Nicht einmal drohen konnte man, wenn man monatelang auf den Lohn warten musste. Der Schwächste übernahm das Beschäftigungsrisiko selbst und die Versicherungsleistungen dazu, selbst wenn der Arbeitgeber die öffentliche Hand war und keine Eile hatte, Schulden zu begleichen. Geld für einen Anwalt war ohnehin keines da. Für die Hochsaison hatte Zeno eine Stelle als Aushilfskellner in einem der unzähligen Hotelrestaurants gefunden. Dieses Mal sogar in einem Viersternekasten, mit einem Großteil an Stammgästen aus Österreich, welche der Hotelier als einigermaßen zivilisiert bezeichnete, und die nicht mit den Trinkgeldern knauserten. Doch bis dahin sollten noch drei Wochen vergehen, welche Zeno nutzte, um Xenia allabendlich zu bekochen, den Gemüsegarten zu pflegen oder mit dem Motorboot zum Fischen aufs Meer hinauszutuckern. In Zeiten anhaltender Finanzkrisen war es ein Glück, wenn man sich selbst versorgen konnte. Auch Xenias Gehalt war trotz ihres hohen Dienstgrades nicht üppig. Dass die Bank auch noch die Kreditlinie einer Beamtin zusammenstrich, war ein starkes Stück; sicherere Kundschaft gab es nicht.
Trotz ihrer gelegentlichen Ausbrüche war Zeno hoffnungslos in die hübsche Blonde mit ihren leuchtend blauen Augen verliebt. Er wusste, dass Xenia nichts dafürkonnte, und solange er selbst ruhig blieb, war es mit dem Aufräumen danach meist erledigt. Und wenn sie unbeschwert war, konnte man mit ihr Pferde stehlen.
Vor zwei Wochen erst hatten sie ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Damals war der junge Sizilianer schlauer gewesen und hatte seinen brennenden Wunsch, dank der amtlichen Zeremonie sich noch enger mit ihr zu vereinen, für sich behalten. Dabei hätten die Freunde auf der Party bei seinem Antrag sicher begeistert applaudiert.
Kein Schrei ohne Not. Das zweistöckige Haus der Familie Zannier hatte hundert Meter vom Ortskern entfernt gelegen und war bis auf die Grundmauern eingefallen. Die Dachsparren des Gebäudes ragten aus den Trümmern wie dürre Arme, die verzweifelt um Hilfe baten.
Am 6. Mai 1976 hatten um 21 Uhr 06 heftige Erdstöße die Kleinstadt Gemona am Auslauf des Kanaltals fast komplett zerstört. Auf der Mercalli-Skala wurde das einminütige Beben mit Stufe zehn gemessen, die Richter-Skala schlug auf sechs Komma vier aus. Das Epizentrum hatte am Monte San Simeone gelegen, und noch fünfhundert Kilometer weiter waren Erdverschiebungen registriert worden. Fast tausend Menschen hatten bei der Katastrophe ihr Leben verloren, und über fünfundvierzigtausend das Dach über dem Kopf. In den Tagen darauf rückten Helfer aus halb Europa an. Die ersten Rettungskräfte aber – Sanitäter, Feuerwehrleute und Soldaten –, die aus Triest und dem südlichen Friaul angefahren waren, kämpften sich keine Stunde nach dem Unglück schon mühsam durch die Trümmer der Häuser voran und suchten nach Überlebenden. Immer wieder vernahmen sie verzweifelte Rufe, halberstickte Schreie und Klagelaute von Menschen, die unter Steinen, Balken und Schutt begraben lagen.
Xenia Lepore, Bibliothekarin der Stadtbücherei, war im siebten Monat schwanger gewesen. Im Wohnzimmer in der ersten Etage war sie in einem Ohrensessel in die Lektüre des Romans »Todo modo« von Leonardo Sciascia versunken, als das Unheil ausbrach. Instinktiv war sie aufgesprungen, die Treppe hinunter zur Haustür gerannt, doch bevor sie den Fuß auf die Straße setzen konnte, hatte ein herabstürzendes Mauerstück die Achtundzwanzigjährige unter sich begraben. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, herrschte um sie herum Dunkelheit. Sie wusste nicht, wie lange sie ohne Bewusstsein gewesen war. Die Luft war voller Staub und die bleierne Stille erdrückend, ein schweres Gewicht lastete auf ihrem Körper, nur die linke Hand konnte sie bewegen, langsam zu ihrem Gesicht führen und eine Strähne ihres langen Haares aus dem Mund ziehen. Ihr Speichel schmeckte nach Blut. Xenia Lepore hustete, ihre Augen brannten, die Nase war verstopft. Sie lag auf der Seite und versuchte, ihren Körper wahrzunehmen. Wo waren ihre Beine? Die Zehen? Das Knie? Ihr rechter Ellbogen, ihre Hand? Und ihr Bauch mit dem ersten Kind? Jetzt spürte sie den Schmerz: Ein heftiger Stich im Nacken ließ sie laut aufstöhnen. Sie erschrak, als sie ihre eigene Stimme hörte und hielt einen Moment inne. Dann begann sie zu schreien, so laut sie konnte.
Um vier Uhr siebenunddreißig stieß Xenia Ylenia Zannier den ersten Laut ihres Lebens aus. Zwei blutige Hände umfassten ihren kleinen Siebenmonatskörper und übergaben ihn einem Sanitäter mit einer Rotkreuzbinde über dem Ärmel seiner Uniform. Der Militärarzt wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und stapfte müden Schrittes zum Waschbecken. Eine Frau steckte ihm eine Zigarette in den Mund, während er seine Hände im Sanitätszelt desinfizierte. Bevor der Arzt sich dem nächsten Opfer zuwandte, tat er drei tiefe Züge, noch einmal schweifte sein Blick zu dem leblosen Körper auf dem Operationstisch. Die junge Mutter hatte ihren letzten Atemzug gemacht, kaum dass er die Nabelschnur durchtrennt und sie kurz darauf die kleine Stimme vernommen hatte. Die Wiederbelebungsversuche des Arztes waren vergeblich gewesen, die offene Wunde des Kaiserschnitts klaffte auf dem Unterbauch der Verstorbenen. Zwei Männer hoben den Leichnam auf eine Trage und brachten ihn hinaus.
»Franz war ein warmherziger, bescheidener und stets hilfsbereiter Mann, der uns allen gezeigt hat, dass man durch harte, kontinuierliche Arbeit reich werden kann, dass reich zu sein keine Schande und dass Eigentum anzuhäufen nobel ist. Die vielen treuen Freundschaften – wir kennen uns noch aus der Zeit, als du ein junger Senator der Südtiroler Volkspartei warst, Franz, und ich dem Drängen vieler Verzweifelter nachgab, um mich der Verantwortung zu stellen und zur Rettung des Landes in die Politik zu gehen …« Der Premierminister hielt einen Augenblick inne und betupfte mit einem weißen Taschentuch die Augenwinkel, dann räusperte er sich und ließ den Blick über die Menge gleiten, die sich im ausladenden Kirchenschiff drängte. In dem frühchristlichen Fußbodenmosaik stritten ein Hahn und eine Schildkröte um einen Schatz, das Symbol des Lebens im Kampf mit dem der Unterwelt, der Häresie, die das Licht der Wahrheit scheut.
»An was ist er eigentlich gestorben?«, fragte der gelangweilt dreinblickende Herr mittleren Alters in einer mittleren Stuhlreihe, dessen Haar längst einen neuen Schnitt und neue Färbung benötigt hätte.
»Gewürztraminer!«
Ein spitzes Lachen zerriss die andächtige Stille und wurde als Echo mehrfach zurückgeworfen.
Mit hochrotem Kopf richtete der Sitznachbar rasch die himmelblaue Krawatte, die aus dem Jackett geschlüpft war, das über seinem Bauch spannte.
Für einen Sekundenbruchteil schien die Zeit in der mittelalterlichen Basilika von Aquileia zu verharren, bis sich schlagartig Hunderte von trauernden Menschen umdrehten, um den Schnösel auszumachen, der sich diese respektlose Grobheit erlaubt hatte. Auch die beiden Fabrikanten aus dem Friaul wandten sich sofort um. Keiner der beiden verzog eine Miene. Mittelständische Unternehmer in der Stuhlproduktion bei Manzano, die vorwiegend vom Export lebten und deren Geschäfte noch immer unter dem eklatanten Nachfrageeinbruch der vergangenen Jahre litten. Um Politik hatten sich die Industriellen höchstens dann gekümmert, wenn es darum ging, eigene Interessen durchzusetzen. Den Verblichenen kannten sie nur aus den Medien und von einem Abend, an dem er beim örtlichen Rotary-Club einmal als Gast geladen war und einen Vortrag über sein beispielhaftes Leben hielt. Doch wie der Großteil der Anwesenden fühlten sie sich zur Präsenz verpflichtet: Nur wer sich drückte, fiel auf. Die Fernsehkameras schwenkten über die Köpfe.
»Niemand, und ich wiederhole es, niemand wage es, die Ehre dieses Mannes zu verletzen, den wir zu Grabe tragen, und der sich um das Land verdient gemacht hat wie wenige andere!« Die Stimme des Premierministers knatterte durch die Lautsprecher wie die Salve aus einer automatischen Waffe. »Eine solche Respektlosigkeit dulden wir nicht. Verlassen Sie auf der Stelle diesen Ort der Andacht.«
Niemand rührte sich. Der Fabrikant konnte auf die Verschwiegenheit seines Sitznachbarn zählen – wie einst in der Schulbank versuchten sie krampfhaft, ihr Lachen zu unterdrücken, sie bissen sich auf die Lippen, hatten Tränen in den Augen und blickten angestrengt ins Leere. Als sich nach einer halben Minute niemand erhob, fuhr der Regierungschef mit bebender Stimme fort. Sein Auftritt hatte einiges von der perfekten Inszenierung eingebüßt.
»Die vielen treuen Freunde, die dir heute gedenken« – wieder räusperte er sich – »und sich in Treue und Dankbarkeit noch einmal um dich versammelt haben, beweisen, welch ein besonderer Mensch du warst. Unsere Wertschätzung und Freundschaft sind dir ewig sicher. Wir werden dich niemals vergessen.« Nun schneuzte sich der Regierungschef auch noch. »Cavaliere Franz Xaver Spechtenhauser, wir gedenken deiner in stiller Andacht.« Den sperrigen Nachnamen hatte er betont langsam und fast perfekt ausgesprochen.
Die Anwesenden erhoben sich gesenkten Hauptes.
»Ciao, Franz! Ruhe in Frieden.« Die Worte des Regierungschefs durchbrachen wie heiseres Bellen die Stille. »Ti voglio bene!«
Die monumentale Orgel stimmte die Fuge aus dem Mozart-Requiem an. Der Erzbischof und Metropolit von Gorizia trat an den Altar und hielt die Messe. Doch schon nach seinen ersten Worten erhob sich der Premier von seinem Platz in der ersten Reihe. Acht breitschultrige Männer, die in den Seitenschiffen hinter den mächtigen steinernen Säulen versteckt das Geschehen kontrolliert hatten, formierten sogleich einen menschlichen Sperrgürtel um ihn und bahnten den Weg zur gepanzerten Limousine, die ihn zum Dorfsportplatz brachte. Vor drei Wochen erst war auch der Papst nach seinem Besuch des einstigen Bollwerks gegen die Barbaren aus dem Norden, von denen auch seine Heiligkeit abstammte, von dort abgeflogen. Der dumpfe Lärm anschwellender Helikopterrotoren durchbrach den Klang der Orgel in der Basilika von Aquileia und entfernte sich.
»Streut meine Asche ins Meer, wenn es so weit ist«, knurrte Proteo Laurenti und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Es war kurz vor elf Uhr, das Thermometer zeigte für die Jahreszeit außergewöhnliche einunddreißig Grad.
»Mir ist nicht nach Witzen zumute.« Neben ihm stand Xenia Ylenia Zannier und beobachtete missgelaunt die Edellimousinen mit Kennzeichen von Norditalien bis hin zur Hauptstadt.
Die dicken Wagen aus vorwiegend deutscher Produktion entfernten sich, sobald ihre Fahrgäste ausgestiegen waren. Einige Fahrzeuge kamen aus Bayern, Kärnten, Slowenien und dem kroatischen Teil Istriens.
Die Leiterin des Kommissariats im Badeort Grado war müde und nervös. Nur ein paar Stunden hatte sie in der Nacht noch geschlafen, als sie nach einer langen Tour mit dem Boot durch die Lagune ruhiger geworden war. Und bevor sie ihren Dienst am frühen Morgen antrat, hatte sie den Inhaber eines Telefonladens aus dem Schlaf geklingelt, um ein neues Gerät aus den preiswerten Sonderangeboten zu kaufen. Ihr Blick schweifte unstet von den Schaulustigen, die sich hinter der Absperrung drängten, über die grauen Häupter der unzähligen Herren, die sich meist in Begleitung energischer älterer Damen oder nur verhalten aufgedonnerter, noch unverwelkter Schönheiten entfernten. Die Polizistin trug im Gegensatz zu ihrem Kollegen aus Triest Uniform. Bei der Einsatzbesprechung hatte sie von Polizeipräsident und Präfekt die Anweisung erhalten, für die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen um die Trauerfeier herum zu sorgen. Der Distrikt jenseits der Straße gehörte nicht in ihre Zuständigkeit. Beamte, die dem Innenministerium direkt unterstellt waren, hatten den gepflasterten Vorplatz und den Sperrgürtel unter ihrer Kontrolle. Und auf dem Campanile, von dem der Ausblick unbegrenzt übers flache Land und die Lagune schweifte, waren mit bloßem Auge die Umrisse der Scharfschützen samt ihrer Präzisionsgewehre zu erkennen.
»Nimm’s gelassen, Xenia.« Laurenti lächelte. »Dies ist kein Ort für ein Attentat. An die Spitzenpolitiker kommt eh keiner ran, sonst säßen nicht so viele Greise am Ruder. Und alle anderen könnte man anderswo leichter umlegen. Es ist Teil des Spiels: Die Herrschaften fühlen sich umso wichtiger, je mehr Brimborium um sie veranstaltet wird.«
Er war in Begleitung von Pina Cardareto, einer ehrgeizigen Inspektorin aus seinem Kommissariat, von Triest herübergefahren, um sich die Trauergäste anzusehen, die Franz Xaver Spechtenhauser das letzte Geleit gaben. Der Mann, dessen Nachname ihm fast einen Kieferbruch bescherte, wenn er ihn aussprechen musste, war bedauerlicherweise in seinem Zuständigkeitsbereich ums Leben gekommen – und den Auswertungen der Spezialisten zufolge war es kein Unfall gewesen.
Während der Commissario sich mit der Kollegin unterhielt, die ihn um eine Handspanne überragte, streifte seine mit Bluejeans und dottergelbem T-Shirt gekleidete Mitarbeiterin über den Platz.
»Die Alternativen aus dem Black Block wollen Unruhe stiften, heißt es. Eine Meldung, die wir heute früh erhalten haben.« Xenia zeigte auf ein mit großen farbigen Lettern beschriftetes Leintuch, das aus dem Fenster eines der Häuser in der Zufahrtsstraße hing. »NO C/TAV« lautete das Motto und war gegen den Regierungschef und zugleich auch die dringend geforderte Hochgeschwindigkeitstrasse der Eisenbahn gerichtet, über die seit Jahren nur diskutiert wurde. »Die Leute sind sauer«, murmelte Xenia, nahm die Schirmmütze ab und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Es wäre verständlich, wenn sie hier Randale machten. Der ganze Club fährt in dicken Dienstwagen vor, nur weil einer von ihnen mit seinem Privatflugzeug abgestürzt ist. Mit den Mitteln, die dieser überdimensionierte Sicherheitsaufwand kostet, könnte man drei Schulen renovieren.« Xenia wurde vom kurzen Aufheulen einer Sirene übertönt, als der gepanzerte Audi vorfuhr, dem der Premier entstieg, der sein strahlend weißes Gebiss bleckte und dann von tiefer Trauer ergriffen mit gesenktem Haupt über den Platz schritt.
»Wo wird Spechtenhauser eigentlich beigesetzt?«, fragte Laurenti.
»Die Töchter haben sich Gott sei Dank für eine Urnenbestattung in seinem Geburtsort in Südtirol entschieden – nur ein Grab neben Ötzi«, sagte Xenia mit bitterem Lächeln. »Stell dir vor, wir müssten für die Wagenkolonne auch noch die Strecke zum Friedhof absperren. An einem Freitag! Gestern war ein Feiertag nördlich der Alpen, und die ersten Touristen haben pünktlich zum Auftakt der Saison die Autobahn verstopft. Der alte Spechtenhauser hat gewusst, wofür er ein eigenes Flugzeug hatte.«
Laurenti achtete genau darauf, wie seine Kollegin den Namen des Toten akzentfrei über die Lippen brachte. Sie könnte ihn tausendfach wiederholen, nicht einmal mit Hilfe eines Logopäden würde er das schaffen. »Seine Schlauheit hatte ihre Grenzen, Xenia. Die Spezialisten haben Sprengstoffspuren gefunden. Er wurde abgestürzt. Kurz nach dem Start.«
»Glückwunsch, Kollege. Hattest du vor seinem Tod schon einmal mit Spechtenhauser zu tun?«
Laurenti schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm gelegentlich in einer Osmizza auf dem Karst begegnet. Er wohnte bei San Pelagio, eine seiner Töchter begleitete ihn. Die aus Duino, glaube ich. Sie sind so schwer auseinanderzuhalten.«
»Gar nicht, wenn man sie ein bisschen kennt. Eine trägt die Narbe einer alten Verletzung am Unterarm, die andere eine kleine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen.«
Auf Laurentis Bitte hin hatte Xenia nach dem Flugzeugabsturz am frühen Morgen Magdalena Spechtenhauser in Grado über das Unglück informiert. Während die Polizistin um schonende Worte rang, hatte Magda längst verstanden, dass etwas Schreckliches passiert war.
»Wissen die beiden schon, dass es kein Unfall war?«, fragte Xenia schließlich.
Laurenti nickte. »Ich habe es Gertraud gestern Abend telefonisch mitgeteilt. Sie war außer sich und wiederholte mehrfach, ihr Vater sei ein Wohltäter gewesen und habe keine Feinde gehabt.«
»Wir sind von Selbstlosen umzingelt! Gott hab ihn selig.« Xenia verdrehte die Augen.
Laurenti verbiss sich jeden Kommentar. Unmöglich konnte er ihr von dem streng vertraulichen Bericht erzählen, den er zufällig im Flur vor dem Büro eines Kollegen von der Abteilung für Delikte mit politischem Hintergrund gefunden und natürlich unerlaubt eingesehen hatte, bevor er ihn zurückgab.
Spechtenhauser war darin als eine der grauen Eminenzen genannt, die dank ihrer Firmenbeteiligungen angeblich von den Spannungen zwischen dem Kosovo und Serbien sowie von den ethnischen Konflikten in Bosnien-Herzegowina profitierten. Dann sollten, zumindest dem Bericht mit dem Stempel des bundesdeutschen Nachrichtendienstes zufolge, stets unzählige Lastwagen illegal die Grenzen überfahren, weil die Sicherheitskräfte an den Brennpunkten im Landesinneren zusammengezogen wurden. Für die verbliebenen Wächter der Schlagbäume gab es Bargeld, das sie dazu motivierte, im richtigen Moment in die falsche Richtung zu schauen. Waffen, Drogen, Menschen und alles andere, was reichen Profit versprach. Handel, legal oder illegal, kannte keine Grenzen und keine Nation. Die Ausschreitungen wurden von den Bossen geschürt, die den unterschiedlichsten Ethnien angehörten und meist im Ausland residierten: in Zürich, Ljubljana, München, Hamburg, Wien, Triest. Der Bericht war bereits vier Jahre alt, und Laurenti fiel es schwer, ihm zu glauben. Zu oft schon hatten sich Geheimdienste als krude Konstrukteure falscher Tatsachen entpuppt.
»Wo sind die Zwillinge eigentlich?« Er schaute sich um.
Auf dem Vorplatz der Basilika von Aquileia hatte er sie nicht gesehen. Nur ihr Halbbruder Nikolaus war inmitten der Nobellimousinen in schwarzer Lederkluft auf einer röhrenden Moto Guzzi Aquila Nera vorgefahren, die er so knapp am Rand der Anfahrt abgestellt hatte, dass selbst die Eskorte des Premiers abbremsen musste, weshalb der Fahrer des vordersten Wagens kurz die Sirene antippte. Doch keiner der Beamten hatte gewagt, den Sohn zur Ordnung zu rufen.
»Wenn sie Trauer tragen, sind die Biester noch hübscher. Trudi und Magda haben den Seiteneingang genommen. Zusammen mit Spechtenhausers erster Frau. Sie wird von einem Mann begleitet, der sicher fünfzehn Jahre jünger ist und sich als Anwalt vorstellte, doch kann man förmlich riechen, dass die beiden anderes verbindet. Und Professor Moser war auch bei ihnen«, berichtete Xenia.
Laurenti kannte ihn. Moser, etwa so alt wie Spechtenhauser, stammte auch aus Südtirol und wohnte ebenfalls in einer luxuriösen Villa auf dem Karst. Der Mann war der Patenonkel der Zwillinge und Geschäftspartner des Verstorbenen gewesen.
»Magdalena sagte, sie wollten den Trauergästen erst beim anschließenden Empfang auf dem Gehöft begegnen. Auch du solltest dort hingehen, Proteo, sie erwarten über dreihundert Personen.« Die Kommissarin blickte auf das Funkgerät in ihrer linken Hand, das plötzlich aufgeregt zu knarren begann. »Entschuldige mich bitte einen Augenblick.«
Xenia hielt das Gerät ans Ohr und entfernte sich ein paar Schritte.
Laurenti sah, wie sie sich schon beim ersten Wortwechsel hektisch umschaute. Die Konversation blieb kurz. Mit einer energischen Geste winkte die junge Polizistin drei Beamte herbei, die ihr unterstellt waren. Aus dem Augenwinkel nahm Laurenti wahr, dass auch andere Polizisten sich plötzlich aufgeregt in kleinen Grüppchen zusammenfanden, Befehle erteilt wurden und die Beamten im Laufschritt entschwanden. Xenia vorneweg, sie winkte ihm nicht einmal mehr.