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Eine Weltstadt, die aus Dörfern besteht, das ist Frankfurt. Viel gescholten als kalter Bankenplatz, sucht die Stadt andere Rollen und findet sie. Sie will zum Beispiel grün sein und glamourös, das eine schafft sie ganz gut, das andere nicht. Frankfurt ist für viele Menschen zunächst eine Durchgangsstation, in der sie nach Jahrzehnten plötzlich erstaunt feststellen: Ich bin ja geblieben!

 Eva Demski ist es genau so gegangen. Aus unzähligen Erkundungen, Wegbeschreibungen, Ortsterminen, Porträts, Pamphleten und Liebeserklärungen ist ein Frankfurt-Buch geworden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, dafür mit Überraschungen. Vergessene Parks und das Mainufer mit Max Beckmanns Blick, wenig Goethe, dafür seine Mutter und die Freundin Marianne von Willemer um so eingehender, selbstbewußte Häßlichkeiten und schüchterne Schönheiten, Veränderungswahn und Bewahrungsmühen – all das und mehr kennzeichnet die Stadt, von der Eva Demski einmal gesagt hat, sie liebe sie »wie einen häßlichen Hund« – was nichts anderes heißt als: ganz besonders.

 

Eva Demski, geboren 1944 in Regensburg, lebt in Frankfurt am Main. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 2008 erhielt Eva Demski den Preis der Frankfurter Anthologie.

 

 

Eva Demski

Frankfurt ist anders

Mein Stadtplan


Herausgegeben von Wolfgang Schopf

Insel Verlag

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4278.

© Insel Verlag Berlin 2014

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Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagabbildung: Hans Traxler

 

eISBN 978-3-458-73369-0

www.insel-verlag.de

Vorbemerkung

Die Stadt, in der ich geboren wurde, änderte sich scheinbar nicht. Man konnte sich auf sie verlassen. Schon meine Urgroßeltern hatten die gleichen Häuser gesehen, an denen ich als Kind vorbeilief, und sie würden noch da sein, wenn es mich längst nicht mehr gab. Ich kannte es nicht anders. Ein beinahe göttliches Gesetz: Menschen kamen und gingen, aber Städte blieben. Daraus konnte man folgern, daß Menschen nicht so wichtig waren. Der Gedanke war angenehm, machte aber träge.

 

Als ich dann von Regensburg nach Frankfurt kam, geriet ich ins Staunen. Diese Stadt grub sich andauernd selber um, änderte sich, kaum daß man ihr den Rücken zugedreht hatte, buchstäblich über Nacht. An manchen Plätzen sehe ich schon die dritte oder vierte Generation Häuser. Das heißt, ich sehe nur, was für eins grade da steht. Es gibt eine spezielle Frankfurter Amnesie, von der man angesichts eines Lochs in der Innenstadt einfach nicht mehr weiß, was für ein Gebäude kurz zuvor dort gestanden hat, und wenn es noch so hoch war.

Frankfurt wälzt sich auf seinem bißchen Platz wie ein Schlafloser auf zerknitterten Laken. Manchmal drückt es in seiner Verzweiflung etwas Altes an sein Herz, es kann auch etwas sein, das nur alt aussieht. Ich habe gar nicht bemerkt, wie oft ich im Lauf der Jahre über Frankfurt geschrieben habe. Wahrscheinlich wollte ich mich erinnern können, wenn wieder etwas zum Verschwinden gebracht worden war.

Frankfurt ist anders, jeden Tag. Wenn Sie das lesen, hat es sich schon wieder verändert. Auch das ist eine Art Verläßlichkeit.

1978

 

 

… war mein erstes Jahr in Freiheit, mitsamt all ihren Frösten. Kein fester Job mehr, einen ungebackenen Roman im Hirnherd, ich saß in Oberhessen, im Hintergarten eines halb zusammengefallenen Bauernhauses von großer Schönheit, die Schafe des Nachbarn hießen Romeo und Julia, Romeo konnte, ganz Kavalier, unseren Zaun flachlegen, damit Julia an unseren Salat kam. Aus einem Scheunentürblatt und vier Pflöcken hatte man fürsorglich für mich einen Arbeitstisch gemacht, Hühner gaben vor, Anteil zu nehmen, es war sehr warm, und ich trug einen schwarzen Kittel. Jetzt steht dem Dichtersein nichts mehr im Weg, dachte ich und schaute meine Olivetti an. Die nebenan wohnenden Landwirte ließen sich durch sie beeindrucken. Wenns klapperte, war ich für sie ein irgendwie nützliches Wesen. So weit kamen sie mir schon entgegen. Bloß Nachdenken allein war nicht ernst zu nehmen. Vor Schlachttagen rieten mir alle, ich möge im Haus bleiben. Endlich konnte ich morgens schlafen, so lang ich wollte. Deshalb hatte ich schließlich auch Dichter werden wollen. Auf dem Land ging das nicht. Deswegen bin ich bald zurück in die Stadt gegangen und jedem an die Gurgel, der dort zu mir sagte: Um elf waren aber Ihre Gardinen noch zu!

So fing es an

Die ersten Jahre des Fernsehens

Im Jahr 1953 muß es gewesen sein, daß der arbeitslose Schauspieler und Regisseur Fritz Umgelter zu dem ebenfalls arbeitslosen Bühnenbildner Rudolf Küfner, meinem Vater, sagte: »Rudtle, in Frankfurt machets jetzt ebbes, des hoisch Fernsehen. Ein großer Schmarrn, aber sie händ viel Geld.«

Und so begannen die beiden, die einem neuen Intendanten des Wiesbadener Staatstheaters zum Opfer gefallen waren, ein anderes Leben. Sie kamen aus der einen Quelle, die das noch unbekannte Medium speiste: aus dem Theater. Die andere war der Film, damals hauptsächlich die ziemlich braun angestaubte UFA. Was sie in Frankfurt – und nur davon kann ich erzählen – vorfanden, war das Gebäude, das den Bundestag hätte aufnehmen sollen, wenn Adenauer den nicht näher bei sich daheim hätte haben wollen.

Das erste Fernsehstudio, an das ich mich erinnere, war im Glasrundbau, ziemlich klein, und alles darin passierte life. Theater und Film lieferten Technik, Autoren, Schauspieler, und vor allem die Vorstellung von Publikum. Im Anfang war die Fernsehgemeinde überschaubar und freute sich über alles, was sie kriegte. Selten kam mal jemand, der TV in Amerika gesehen hatte, da gäbe es Werbung und in Farbe, aber das interessierte von den deutschen Pionieren keinen.

Sie legten mächtig los und gaben sich selber einen Bildungsauftrag. »Rudtle«, sagte der vorhin schon erwähnte Fritz Umgelter, »wenn mir so weitermachet, weiß in zehn Jahren jeder Arbeiter, wer Kleist isch.« Und das wollten sie wohl. Regisseure wie Ludwig Berger, Michael Kehlmann und Harry Buckwitz waren sich nicht zu schade, die Möglichkeiten des kleinen Kastens auszuprobieren, und große Schauspieler, auf sie komme ich noch, auch nicht. Sie packten Shakespeare und Lenz, Büchner und Anouilh, Christopher Fry und Aristophanes, Goethe und Giraudoux und noch vieles andere in die Schachtel, und der Dramaturg Helmut Krapp sorgte für eine Dosis existentialistischer Düsternis. Er liebte irische Dramatiker. Ich durfte nur selten aufbleiben, vor allem bei Lysistrata nicht, was ich sehr übelnahm. Film und Theater – beides hatte sich mit den Nazis eingelassen, und so waren die Davongekommenen leidenschaftlich verliebt in das unschuldige, spurenlose Medium. Sie machten alles selber, man kann sich gar nicht vorstellen, wieviel und unter welchen Bedingungen. An Werkstätten, großartigen Handwerkern und Verrücktheiten aller Art war kein Mangel, der technische Aufwand wäre heute gar nicht mehr zu bezahlen. Es erwartet ihn eigentlich auch niemand mehr. Wenn zum Beispiel in einer der zahllosen Quizshows die Frage kommt: Welche Schiffe hatten Augen? Und dann die nackten Buchstaben der multiple choice-Antwort und sonst nichts – die Männer und die wenigen Frauen von damals hätten entrüstet gesagt: Das ist doch kein Fernsehen! Und ein in hundert Arbeitsstunden selbst gebautes Phönizierschiff mit Augen ins Studio einfahren lassen.

Fernsehen war Bilder. Man mußte was sehen können. Und wenn einem die Museen ihre kostbaren Stücke, wie zum Beispiel antikes Spielzeug, nicht leihen wollten, machte man es eben selber. Umgelter focht seine Schlachten aus und drehte eine stattliche Reihe von spannenden, sehr aufwendigen und fetzigen Kostümschinken, und mein Vater entdeckte die Unterhaltung.

Das, was man heute nostalgisch den großen Samstagabend nennt, war eine riesige, sich selbst durchaus ernst nehmende Spielwiese. Drei Männer waren, jeder auf seine Art, die Protagonisten: Hans-Otto Grünefeldt, der damalige Fernsehdirektor, dessen liebstes Kind diese Art von Circus war (und der, wahrscheinlich aus Schuldbewußtsein, auch jede Menge Avantgardistisches deckte), mein Vater, der ganz in der Stille auch den pompösesten Quatsch möglich machte und für einen Dreiminuteneinspieler das komplette Forum romanum gebaut hätte – nah dran war er fast in jeder Sendung –, und Hans-Joachim Kulenkampff, der seine unerfüllten Schauspielerträume ausleben konnte. Die Fragen dachten sie sich zu dritt aus, und zwar auf die Möglichkeiten des Sichtbar-Machens hin. Die drei wollten allerdings auch ihren Spaß haben. Ich erinnere mich, daß einmal ein Rolls-Royce in einer Frage vorkommen mußte, weil sie den unbedingt probefahren wollten. Dabei machten sie prompt eine Delle in das teure Stück. Was daraufhin passierte, weiß ich nicht, schlimm wird es nicht gewesen sein. Heutzutage kann man sich nicht mehr vorstellen, wie verspielt das alles begonnen hat. Jetzt ist es verwaltet.

Der alte Bildungsgedanke wurde aber nie außer acht gelassen, und der Hessische Rundfunk hatte damals einen Ruf wegen seiner ambitionierten Fernsehspiele. Würde man sich Produktionen wie Die Irre von Chaillot, Schatten der Helden, den sechsteiligen Shakespearezyklus, später dann Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Dutzende andere, die in den späten fünfziger, den sechziger und siebziger Jahren entstanden sind, heute anschauen, sähe man, wie stark das Theatralische in ihnen war. Bei den Fernsehspielen jener Zeit hatte die Bühne den Film überholt.

An die Produktion der Irren von Chaillot erinnere ich mich noch genau, schon weil da so viele Bühnenlegenden mitspielten. Hermine Körner als Irre, dazu Trude Hesterberg und Eva Vaitl, Joachim Teege als Lumpensammler, Ingrid Andree als Blumenmädchen, Buckwitz hatte Regie. Mein Vater benutzte seine Kostümentwürfe, um die Schauspieler alle zu porträtieren. Als man Hermine Körner ein Kreuz auf dem Studioboden zeigte, auf dem sie bitte bei einem bestimmten Auftritt stehenbleiben möge, denn da sei die Mitte, soll sie geantwortet haben: »Ich dachte, die ist sowieso da, wo ich stehe!« Hilde Hildebrandt nannte meinen Vater wegen seiner Haare »mein kleiner Pasternak«. In welcher Produktion sie mitgespielt hat, weiß ich nicht mehr. Maria Becker dagegen war Kassandra und brachte mir bei, wie man jemanden anschaut, ohne zu blinzeln. Wahrscheinlich war für all diese Legenden das Publikum ein besonderer Faktor, anders als beim Film und ganz anders als beim Theater konnte die ganze Nation dazu gemacht werden, nach der Tagesschau, jedenfalls der Teil, der einen Apparat hatte. Und das wurden, wie wir wissen, immer mehr. Quote gabs noch nicht. Bei alldem spielten die Kapazitäten des Senders eine große Rolle, die Werkstätten, Schneiderei, Maler, Schlosserei, Schreiner, die Bühnenbildnerkollegen, Requisite, Dekorateure. Viele von denen waren Künstler mit einem entsprechenden Selbstbewußtsein. Einer der Bühnenmaler namens Busch konnte von Rubens bis Dalí alles malen und tat das auch. Er signierte aus irgendeinem Grund immer mit William S. Bushie. Ich will damit sagen, daß es damals, egal für wen, etwas Besonderes war, beim Fernsehen zu arbeiten. Wenn in irgendeinem Dorf oder sonstwo ein Team auftauchte, kam in kürzester Zeit der Bürgermeister und lud es zum Essen ein.

Mein Vater, der erste sogenannte Ausstattungschef des Hessischen Fernsehens, verlor seine Liebe zum Theater dennoch nie. Er wollte das Studio immer zur Bühne machen, auch die Rhein-Main-Halle, oder wo immer der Samstagabendcircus seine Runden drehte.

Als Nurejew Rußland verlassen hatte, kam er ins Studio des Hessischen Rundfunks, und man erzählte, die Studiodecke sei für seine Sprünge zu niedrig gewesen. Dore Hoyer tanzte und Maurice Béjart, und als Josephine Baker mit Ernst Kreuder am Klavier eine Show aufnahm, durfte ich die Schule schwänzen. Sie gab mir ein Autogramm, drei oder vier ihrer ziemlich schlecht gelaunten Kinder wuselten um sie herum, und ich staunte darüber, daß ihre weiße Federboa ein bißchen schmuddelig aussah. Eartha Kitt, die mein Vater für einen Song in einen viel zu großen Männerschlafanzug gesteckt hatte, was sensationell aussah, nahm ihre ganzen Kostüme mit und rückte sie nie wieder raus. Und Caterina Valente. Und Heidi Brühl, für die mein Vater eine besondere Schwäche hatte. Auch ich hatte, um 1955, meine Chance und spielte unter Umgelters Regie in einem Agatha-Christie-Krimi, der Das Spinnennetz hieß, ein Kind namens Pippa Hailsham-Brown. Meine Kolleginnen Marlis Schoenau und Trude Moos gaben mir Tips. Die Sache war live, ich sollte umgebracht werden und wurde in letzter Minute gerettet. Wenn danach eine Flut von Angeboten gekommen sein sollte, habe ich jedenfalls nichts davon erfahren. Meine Großeltern folgten der Sache gespannt in einem Tegernseer Hotel und haben vor lauter Bildgegrissel kaum etwas gesehen.

Ich kann mich noch an den Tag der Umstellung auf Farbe erinnern, es war ganz merkwürdig feierlich. Wir hatten viele Gäste, und dann kam dieser Würfel und so ein teppichmusterartiges Ding. Waren die Entwürfe meines Vaters in der Schwarzweißzeit immer ziemlich farbig gewesen, wurden sie jetzt, in der Zeit des Farbfernsehens, immer schwarzweißer, grauer, zartfarbiger. Das schlimmste für ihn war, wenn das Fernsehen sich bunt aufführte, in jeder Beziehung.

Der größte Unterschied zu den heutigen Medien war, glaube ich, das Fehlen des Zwischenhandels, der unendlich vielen geldverdienenwollenden und machtausübenwollenden Instanzen, aus denen die Sache heute besteht. Die Wege waren damals unfaßbar direkt, von der Idee, der Produktionsentscheidung bis zur Realisation. Beim allmorgendlichen Gang durch die Werkstätten wurden Ideen geboren, die schon beim Mittagessen abgesegnet werden konnten. Auch das erinnerte mehr an die Konstruktion eines Theaters, man hatte nie den Eindruck, in einer Behörde zu sein. Natürlich haben sie sich schon damals über zuviel Bürokratie aufgeregt, die Künstler. Wenn sie gewußt hätten!

Es war eine anarchische Zeit, das Kasino lag im Keller, und viele nutzten die Gelegenheit, dem Tageslicht für lange Zeit zu entfliehen. Es wurde unfaßbar viel geraucht und gesoffen, und daß es eine Menge amouröses Durcheinander gab, entnahm ich den Unterhaltungen meiner Eltern. Manchmal nächtigten zeitweilig Versprengte und Verjagte, Damen oder Herren, auf unserem Wohnzimmersofa. Die schliefen noch, wenn ich zur Schule ging. Es waren bekannte Namen dabei.

Heute leben offenbar alle gesund und trinken viel Wasser, um keine Falten zu kriegen. Es gibt festgezurrte Zeitpläne, es werden keine phönizischen Schiffe mehr für Unterhaltungssendungen gebaut, und die regierende Macht heißt Quote. Manchmal freue ich mich, daß ich sie erleben konnte, die Morgenröte eines ganz jungen, unschuldigen Mediums.

Unsere kleine Stadt

 

 

Seit zwei Tagen steht ein neues Schild vor unserem Haus. Darauf ist zu lesen, es würden Markierungsarbeiten vorgenommen. So fürsorglich gibt sie sich, unsere kleine Stadt, wie eine Mutter! Oder ist sie das nicht? Läßt sie sich mißbrauchen von den Grauen Herren der totalen Kontrolle?

Wenn das Schild nicht dagewesen wäre, hätte vielleicht keiner von den Anwohnern die große neue weiße 30 gesehen, die jetzt auf dem Asphalt glänzt. Zugegeben: Erst das Schild hat die Nachbarn in Suchende verwandelt, witternd sah man sie herumlaufen: Markierungsarbeiten? Was wird da wohl markiert werden? Warum markiert wird, wo es doch ein Tempo-30-Schild gibt, fragt längst niemand mehr.

Lange Zeit verhießen schief gekritzelte Plakätchen an den Bäumen, man könne im Bürgerzentrum die Diskussion über die Krümmungen der Radwege weiterführen. Ich bin damals nicht hingegangen, das war wahrscheinlich ein Fehler. Es fanden viele Diskussionen statt. Radwegekrümmungen scheinen eine schwierige, die Bürger wirklich fordernde Angelegenheit zu sein. Andererseits steht eine schöne, die Gegend an Juniabenden in einen wundervollen Duft hüllende Linde an der Ecke. Die ist trotz ihrer fortschreitenden Schwächung kein Thema. Denn das für sie zuständige Amt kennt zwar sie und ihre Probleme, kann den Hinweis, man möge ihr doch den Baumteller größer machen, damit sie mehr Regen kriegt, nur mit Bedauern zurückweisen. Da müsse ein anderes Amt tätig werden. Es gab keinerlei Diskussion im Bürgerhaus über die ungewisse Zukunft gewisser Bäume.

Mütterlichkeit einer Kommune kann zur Verblödung ihrer Kinder, der Bürger, führen. Oder zu einer Art Duldungsstarre. Auf unserer kleinen Kreuzung haben wir seit einiger Zeit eine walfischförmige, gestreifte Markierung. (Seither, weil das erst keiner gemerkt hat, wird auf allfällige neue Markierungen mit einem Absichtsschild hingewiesen.) Also, die Leute fuhren erst einmal so, wie sie es jahrzehntelang – ohne einen einzigen Unfall – getan hatten, und fuhren fröhlich dem auf die Straße gemalten weißen Walfisch über den Bauch. So ging das nicht, und in die Mitte der Malerei kam ein Schild mit einem mächtigen Betonfuß, damit die Anarchie auf der Kreuzung endlich ein Ende habe. Es ist schon zweimal über den Haufen gefahren worden, beim zweiten Mal haben die Anwohner applaudiert. Aber immer wieder kommt jemand und stellt es auf. Was ich vermisse, ist ein Schild, auf dem Schilderaufstellungsarbeiten angekündigt werden.

Es liegt mir fern, mit derlei Nachrichten aus der städtischen Provinz weitermachen zu wollen. Ich liebe die kleine Stadt, das kann man mir ruhig glauben. Sie ist vielleicht so unschuldig wie die meisten ihrer Bewohner.

Manchmal wünsche ich mir, sie würde nachts von einer marodierenden Gruppe Riesen durchstreift. Die alles wegräumen, womit man sie angefüllt und verunziert hat: Waschbetonkübel, überflüssige Poller, Schilder für Schwachsinnige, verbogene Fahrradständer, Betonrampen, megalomane Müllbehälter an lieblichen Ecken, mobile Klohäuschen an ebensolchen: Die Riesen rissen alles weg und fräßen es auf. Diese ganze elendigliche Stadtmöblierung verschwände in den Mäulern gütiger Giganten. Das wäre doch wunderbar, ein Ganzkörperpeeling gewissermaßen, um die Haut frei und klar zu machen für eine umfassende Behandlung. Man könnte auch ein ernsteres Bild bemühen: Die Stadt, von allen Geräten zur Erziehung und Gängelung ihrer Bewohner befreit, ungeschützt und voll Vertrauen deren Willkür – oder Zuneigung – preisgegeben. Ich hör euch schon schreien: Was dann passieren würde! Autos bis in die Straßenmitte übereinandergestapelt, Müll in Haufen, Grünzeug wie es den Leuten so paßt. Ein Desaster! Bloß: Das wissen wir gar nicht. Die keine Grenzen duldende Volkserziehung ist in den Städten so vor sich hingewuchert, und jetzt gibt es ein aufmerksames Heer von Beamten, die darauf achten, daß nichts wächst, wie es will, und kein Bürger gezwungen ist, selbständig zu denken und zu entscheiden. Wir haben uns daran gewöhnt, wenn man uns mißtraut. Wir finden es vielleicht sogar richtig, daß unsere Schritte gelenkt, unsere Blicke geführt, unsere Hinterlassenschaften verwaltet werden.

In den alten, unzerstörten, mit wehrhafter Schönheit beschenkten Städten geht das nicht so leicht: Irgend etwas Schutzwürdiges steht da immer im Weg und verhindert die ordentliche Lenkung der Bürger. Gassen sind krumm und bucklig, Torbögen eng und störrisch, Parkleitsysteme nähmen sich albern aus an bröckeligen Mauern, und Waschbetonblumenkübel würden auf unebenem Pflaster wackeln. Den Ordnungsverwaltern solcher Städte haftet immer etwas Erschöpftes an. Sie führen einen fast aussichtslosen Kampf.

In unserer Stadt dagegen ist nach der Zerstörung des Alten eine Menge Ordentliches und leicht zu kontrollierendes entstanden, Rechtwinkligkeit wälzte sich unaufhaltsam über leere oder mit Trümmern bedeckte Grundstücke. Und weil sie nun einmal da war, diese Rechtwinkligkeit, die notgeborenen Schuhkartons der Fünfziger, folgten ihr in den nächsten Jahrzehnten und bis heute weitere, luxuriösere, monströsere Schuhkartons. Es ist, wie es ist. Man gewöhnt sich.

Was könnte aus der Gewöhnung Zuneigung werden lassen oder sie mindestens fördern? Wie die Behandlung des Stadtgesichts nach seiner Reinigung und Befreiung aussehen? Farben, Pflanzen und Wasser. Wo die angewendet werden, mit Mut zum Anarchischen, entsteht Überraschendes. Manchmal wird es gar nicht bewußt – so keimt auf der ereignislosen Strecke des Marbachwegs eine kleine gute Laune auf, hinter deren Grund man erst nach einigem Nachdenken kommt. Es sind die vielen Rosenbüsche, eine tapfere und fleißige Sorte, plötzlich ist da ein bißchen Schönheit. Die Allee am Senckenbergmuseum. Der wilde Wein, der sich immer wieder an den amerikanischen Wohnblocks hochkämpft und einen vor allem im Herbst über ihren Anblick tröstet.

Und Farben? Ich habe mir schon früher die Verachtung der Fachleute eingehandelt, als ich dafür plädierte, sich bei Fassadenfarben nicht an der üblichen Grabsteinpalette zu orientieren (Ocker in allen Varianten, Grau, Schwarz, und jene namenlose Farbe, die man von Honeckers Jacke kennt ) – sondern an den Fassadenfarben der Insel Burano. Damals erntete ich eine Empörung, als hätte ich verlangt, alle Einwohner sollten in Baströckchen herumlaufen. Merkwürdig: Bei der Stadtgestaltung ist Fröhlichkeit eine Art Schimpfwort, ein Greuel nicht nur für jene Puristen, die das Volk gern in ungestört grauen Kuben aufgehoben sähen und für die jeder Buchsbaumtopf schon Gartenzwergisierung bedeutet. Computer machen es möglich – man könnte doch zum Beispiel die Rohrbachstraße oder irgendeine andere virtuell einfärben, apfelgrün, melonenrot, hortensienblau, kürbisgelb, eben buranisch: und dann einfach mal gucken, was passiert und wie das aussieht. Einzelaktionen – was Knall-Lilanes in einer ansonsten schlechtwetterfarbenen Zeile − sind eher kontraproduktiv. Solche Häuser tun mir ähnlich leid wie Damen, die sich fürs Klassentreffen ins lange Ballkleid geworfen haben. Auch wenn jetzt wieder vorsorglich der Untergang der Zivilisation beschworen wird – ich bin unerziehbar. Hätten wir viele wirklich gestaltete Fassaden, wäre die Farbe nicht so wichtig. Haben wir aber nicht, und die Grauen Herren haben in den sechziger Jahren das Übriggebliebene noch weggehauen. Wegen der Ästhetik. Stuck verdirbt nämlich die Moral. So haben wir wenig Form, da würde Farbe Wunder wirken. So wie früher.

Sie wohnen Langgasse zehn? Kenn ich nicht. Ach, in dem roten Haus? Ja klar. Weiß ich, wo das ist.

In diesem Zusammenhang auch gleich noch ein klagendes Wörtchen zum Briefkasten-Klingelbrett- und Haustürenkartell. Das muß es geben. Es sitzt irgendwo und sorgt dafür, daß überall mächtige weiße Tresore auf Beinen die Vorgärten verhunzen, keine schöne und identifizierbare Tür einen mehr empfängt, sondern die fünf verschiedenen Eloxalgreuel, zu denen sich Hausverwalter und -besitzer offenbar gern überreden lassen. Horror. Abscheulich. Dabei kriegt man dieses Gerümpel auch nicht umsonst. Noch heute sehe ich in Containern wunderschöne ermordete Türen mit herrlichen Klinken liegen, die man hätte retten müssen vor dieser gleichmacherischen Mafia.

Natürlich hat die Stadt, unsere arme Stadt, kein Geld. Was ich vorschlage, ist auch keine Frage des Geldes, sondern der Individualität und des Mutes. Ich bin fast etwas zu abergläubisch, um es hinzuschreiben – aber seit die Blocks in einer großen und schandbar zugerichteten Straße mehrere Farbtöpfe gesehen haben und einen pfiffigen Gestalter, sind keine Schmierakel mehr aufgetaucht. Ich will sie nicht animieren, die Kerle, deswegen sage ich den Straßennamen nicht. Und hänge lieber noch ein bißchen der Illusion an, ein bißchen Schminke helfe gegen Depressionen. Manchmal.

Wasser hilft auch gegen Depressionen. Brunnen sind etwas Wunderbares. Ihr Geräusch, ihr Talent, einen schönen Treffpunkt für Menschen zu bilden, nicht nur für Liebespaare, läßt einen brunnenreiche Städte mehr lieben als andere. Für diese Segnung urbanen Lebens haben wir hier leider kein glückliches Händchen. Das fing mit der feindseligen Installation am Eschenheimer Turm schon früh an. Ich weiß, der steht unter Denkmalschutz. Da kann man nichts machen. Ich muß bei seinem Anblick nicht an die Sanftheit des Wassers, sondern an Folterinstrumente denken, das ging mir schon als Kind so. Andere, sehr teure Brunnen in der Stadt haben kein Wasser. Alle wollten Kunst sein, aber wo dieser Wille, war in dem Fall kein Weg. Es ist so schade! Ihre klassischen Brunnen machen der Stadt doch vor, wie es geht!

Träumen wird man dürfen, zum Beispiel, daß der hübsche bunte Drache an der Dornbuschpost einst Wasser spuckt, womit er endlich eine Funktion hätte. Wenn wir mal wieder ganz reich sind, könnte man die Stadtbäche wieder aufmachen! Und an viele öde Plätze Brunnen stellen, ein alter Steintrog wäre oft schon genug. Oder Hausbrunnen wie die, aus denen man in Rom trinkt und sich die Wasserflaschen füllt. Das ist nicht unsere Tradition? Erstens stimmt das nicht, und zweitens kann nichts Tradition werden, was nicht irgendwann mal anfängt, und sei es die Liebe zu der kleinen Stadt.

Zur Eröffnung des Gesellschaftshauses und zur Stiftung Botanischer Garten

 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

willkommen im Prunkpalast der Bourgeoisie! Ja, der soll hier sein. Ich finde das einen Anlaß zur Freude, warum, will ich später erklären. Die Freude gilt noch einem anderen, nahen Ort, dem Botanischen Garten, der jetzt mit einem unsichtbaren, aber hoffentlich haltbaren Schutzzaun umgeben worden ist, in Gestalt der Stiftung.

Beides ist räumlich, und wie wir sehen werden, auch inhaltlich miteinander verbunden. Das Gesellschaftshaus ist in allem Glanz wieder da, und der Botanische Garten ist noch da, beides im Herzen Frankfurts. Und beides muß den Frankfurtern ans Herz gelegt werden, damit in Haus und Garten Leben ist, und zwar richtiges Leben. Das wird sich grade in einer so vielfältigen Gesellschaft, wie Frankfurt sie hat, entwickeln und nicht nur Wirtschaftsforen, sondern auch allen Arten von Feiern einen unvergeßlichen Platz bieten.

Für lange Zeit war das Juwel, das Gesellschaftshaus des Palmengartens, so gut wie unsichtbar, ein häßliches Entlein. Das ist nicht nur den Zeitstürmen und Katastrophen geschuldet, die es überstanden hat, auch bestimmten Verdikten, die, wie wir gesehen haben, bis heute in manchen Köpfen ziemlich festgenagelt sind. Auf einen kurzen Nenner gebracht lautet das: Prächtigkeit ist verdächtig und böse, Kargheit ist gut. Erlauben Sie mir, zu diesem Anlaß und an diesem Ort ein wenig nach den Gründen dafür zu graben und sie genauer anzuschauen.

PRACHT FÜR ALLE war der Arbeitstitel für meine Gedanken zur Doppelfeier, die wir heute begehen. Natürlich klingt Ihnen allen Hilmar Hoffmanns KULTUR FÜR ALLE noch in den Ohren. Hütten und Paläste auf immer versöhnt, einander anverwandelt.

Eine schöne Befehlsform, eine Art ideeller Lokalrunde: Kultur für alle, Pracht für alle! Und zahlen tut der, der bestellt hat. Ach, wenn das so einfach ginge, dann könnte man leicht und aus ehrlichem Herzen sagen, Schönheit für alle, Klugheit für alle und Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens für alle. Wir wissen, so leicht ist das nicht. Das Haus, über dessen Geschichte Sie einiges gehört haben und das wir heute in seinem alten Glanz beleben wollen, ist ein gutes Beispiel dafür, daß das Glück der Pracht eines ist, zu dem nicht wenige erst verführt werden müssen.

Architektur und Kunst der Vergangenheit, jene, von der Menschen angezogen werden und die sie bestaunen, ist fast immer unter abscheulichen Bedingungen entstanden, das gilt für Pyramiden und Amphitheater bis hin zu den Domen und Schlössern. Weltkulturerbe! Einen ziemlich großen Teil von dem, was wir so nennen, könnten wir als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen. Dennoch entzücken und beeindrucken uns die Bauwerke, um deren Entstehung wir wissen. Sie waren gleichermaßen Geldfresser wie Menschenfresser. So ist es vielleicht verständlich, wenn Prächtigkeit ins Gerede kam, einen schlechten Leumund kriegte und die Schmucklosigkeit gepriesen wurde. Sonderbarerweise spielte die Frage, wie man sich auf humane Weise Schönheit verschaffen könnte, keine Rolle.

Ich kann mich gut erinnern, daß beim Bezug des alten – damals in seiner Funktion neuen – Literaturhauses an der Bockenheimer Landstraße der erste Leiter jammerte, was er denn mit dieser großbürgerlichen Villa solle – eine Fabrikhalle sei ihm viel lieber. Tja. Mir ist schon damals unbegreiflich gewesen, daß Linkssein – und das wollte ich ja sein – bedeutete, häßlich und grau für alle und nicht prachtvoll und bunt für alle.

Denn es gab sie, Formensprache, optische Einzigartigkeit, handwerkliche Könnerschaft, all das war anschaubar und verfügbar. Wir konnten doch nicht einerseits als Touristen die Erbschaften des Feudalismus mit offenem Mund begaffen und bewundern und uns andererseits zum Wohnen, Lernen, Essen und Feiern in Schuhkartons stecken lassen und das für politisch korrekt und gut halten. Das dachte ich jedenfalls. Das war aber verkehrt. Man durfte und darf den Haß derer, die sich fortschrittlich und der Menschheit verpflichtet fühlten, auf Ornament und Bauschmuck, auf Anmut, Verspieltheit und Phantasie nicht unterschätzen. Auch unterscheiden sollte man sich nicht mehr, Häuser hatten keine Physiognomien mehr zu haben, sondern Funktionalität. Und wenn man genötigt wurde, die äußere Hülle feudaler Hinterlassenschaft aus Denkmalschutzgründen stehenzulassen, sorgte man wenigstens im Inneren für die Raumklarheit einer Sparkassenfiliale. Die Erledigung der Alten Oper hatte nicht geklappt, aber die vom Krieg verschonten Stukkaturen und Fassadenfiguren an den übriggebliebenen Häusern in der Stadt – und das waren mehr, als wir heute wissen – mußten fast zur Gänze dran glauben.

Und nun hier, Pracht, bürgerlich selbstbewußt übernommene Formen und dekorative Elemente. Es hatte geschlafen, das Ganze, und es war keineswegs so, daß die zur Schmucklosigkeit erzogene Stadt nun mit einer Stimme Aufwecken! Aufwecken! gerufen hätte. Die Sturheit der drei Herrschaften Margareta, Johnny und Robert mit dem Nachnamen Tiger und die Fähigkeit, Klippen unter der politischen Wasserfläche rechtzeitig zu erkennen, hat offenbar dazu geführt, daß bei dem Vorhaben alle Parteien im Boot blieben. Bestimmt gabs auch eine Menge Fastzusammenstöße, drohendes Kentern und Meutereien, sie sind gewiß in den vielen Jahren auch auf Klippen draufgefahren, aber ich weiß nichts darüber, und es muß uns heute, im Hafen angekommen, nicht kümmern. Um Karl Valentin zu variieren: Demokratie ist schön, macht aber viel Arbeit. Um so beeindruckender, daß es jetzt hier steht und bereit ist, seine Rolle zu spielen, das schöne Haus.

Und ja, es war teuer. Und ja, man hätte sicher anderes dringender gebraucht, je nachdem, welchem Meinungsträger man grade zuhört. Und ja, ein solches Haus ist ein Luxus. Und ja, man wird sich den Besuch vielleicht selten leisten können. Obwohl Michael Quast bei seiner geplanten Produktion des Rendezvous im Palmengarten von Stoltze hier – hier in diesem Bühnenbild! – Wert auf bürgerliche Preise, wie er sagt, legt.

Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Wort zur Pracht für alle sagen: Das meint wie die Kultur für alle keinen goldenen Regen, den man einfach auf sich niedergehen läßt, keine Wohltat mit Garantie, vielmehr etwas, das erarbeitet sein will, auf das man spart, sich freut, es ist eine Besonderheit, nicht Alltag. Sonst macht es keinen Spaß. Gut, das ist ein bißchen unzeitgemäß, wo doch immer alles und überall und sofort verfügbar sein soll, und zwar billig: Essen, Trinken, Musik, Feiern, kein Meter ohne Nuckelfläschchen, Stöpsel in den Ohren und kein Tag ohne Straßenfest. Man muß nie was vorbereiten, denn alles ist immerzu da. Das wird hier, denke ich, anders sein.

Auf die Frage, was das Ziel der Politik sein solle, hat der kürzlich verstorbene Hans Werner Henze etwas Verblüffendes gesagt: Die Schönheit, sagte er. Erst wollte ich über ihn lachen, über den weltfremden Komponisten. Es blieb mir im Halse stecken. Er hat ja recht. Wobei die Erschaffung oder vielmehr die Ermöglichung von Schönem − denn das könnten sie tun, Politiker, ermöglichen − sich mit der zeitlichen Maßeinheit von Legislaturperioden nicht wirklich gut verträgt. Es braucht Geschmack, Mut, und notfalls sogar die Einsicht, daß es Beifall für das Ermöglichte erst nach dem eigenen Ableben geben werde. In einer Demokratie, ich gebe es zu, sind das wilde Wünsche. Horst Seehofer würde im Traum nicht auf die Idee kommen, es Ludwig II. in irgendeiner Form nachzumachen. Er ist nur froh, daß es ihn gab. Der royale Geldverschleuderer hat sich post mortem als einer der erfolgreichsten bayrischen Investoren erwiesen.

Wir wollen jetzt im Geist das warme, prachtvolle Haus verlassen und hinaus in die Dunkelheit des Palmengartens gehen, hinüber zum Botanischen Garten, der unter dem Schnee schläft. Der Schnee bedeutet Sicherheit und Schutz für das, was sich im Boden tut. Die Stiftung ist auch so was, ein Schutz, vielleicht sogar ein Rettungsschirm. Palmengarten und Botanischer Garten sind einander jetzt unter Matthias Jennys Aufsicht beigesellt, das ist gut so, aber sie werden voneinander unterschieden bleiben, und auch das ist gut so.

Botanische Gärten sind eine stille Sache, ich weiß nicht, wie viele Menschen sie besuchen, aber die, die es tun, kommen immer wieder. Es dauert, bis man einen Botanischen Garten lesen gelernt hat, bis man weiß, wonach man suchen kann, bis man seine Lieblingsjahreszeiten weiß und seine Lieblingsecke kennt. Bis man seinem stummen Unterricht zuhört. Es ist so, daß gerade eine unspektakuläre Sache wie ein Botanischer Garten Mittel braucht. Vielleicht leuchtet es manchem hier im Saal ein, wenn ich behaupte: In Ruhe gelassen zu werden ist kostbar. Ein Stück Boden mitten in einer zugriffslustigen Stadt wie Frankfurt, ein bearbeitetes, gewachsenes Stück Boden, ein lebendiges kleines Museum nachhaltig in Ruhe zu lassen braucht Liebe, Interesse, Bürgereinsicht und Geld.

Als Gottfried Benn einmal gefragt wurde, was er mit seinen Gedichten wolle, hat er gesagt: Ich will hinterlassungsfähige Gebilde. Hinterlassungsfähige Gebilde: Ist das nicht schön?

Um solche geht es heute abend, um nicht mehr und nicht weniger. Das Haus in seiner Prächtigkeit wird sich durchsetzen und in ein paar Jahren so selbstverständlich zum Frankfurter Glanz gehören wie alles, was vor den vielfältigen Bilderstürmen gerettet und den Funktionalisten entrissen wurde. Ich sage nur: Alte Oper, dieser Prunkpalast der Bourgeoisie!!

Der Botanische Garten taugt dazu nicht. Der braucht eine verläßliche Garde von Kennern und Liebhabern und jene Geduldigen, die wissen: Ohne diese Art Arche Noah, ohne eine solche Zukunftsinvestition, die keinem merkantilen Zweck dient, die Natur bewahrt, ohne sie dem Eventzwang der heutigen Zeit zu unterwerfen, ist eine Stadt arm. Vielleicht weiß sie es nicht, aber sie ist es.

Ich werde nie vergessen, wie bezaubert ich war, als ich nach der Wende den Botanischen Garten von Leipzig zum ersten Mal sah. Es war, als hätte er sich für bessere Zeiten aufgehoben mit seinen Schätzen.

Es kann nicht darum gehen, dem Botanischen Garten Besucherschlangen und Da-mußt-du-hin-Geschrei zu verschaffen, ums Himmels willen!

Es sollen nur Stifter dasein, die dem Stück Boden wohlgesinnt sind und genau die Art Ertrag schätzen, die er abwirft.

Der ist in den üblichen Frankfurter Maßeinheiten vielleicht nicht so gut zu messen, aber es war und ist das Spannende an dieser Stadt, daß sie – nicht ohne Ächzen und Stöhnen, nicht ohne Kassandrarufe und politische Verdächtigungen – ich kenne in keiner Stadt so viele Kassandras wie in Frankfurt, nicht einmal in Wien, und die sind doch drauf abonniert! – manchmal einfach etwas Schönes und keinem in den Türmen ausgedachten Zweck Dienendes zuläßt. Sollte allerdings jemand aus den Höhen der Türme etwas vom Botanischen Garten unten auf der Erde adoptieren wollen, Bodenhaftung auf diese Weise gewinnen wollend – niemand wird ihm den Gartenweg versperren!

Grund zu feiern also haben wir hier gleich zweifach, damit es – man darf ihn ja nicht ganz unerwähnt lassen – »eins und doppelt ist«.

Goethes Mutter übrigens war eine wunderbare Festefeierin, und sie konnte sich ansteckend darüber freuen, wenn andere sich freuten.

Und das sollten wir alle tun.