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Foto privat

Gerhard Jörder, geboren 1943 in Pamplona/Spanien, ist Theaterkritiker und lebt als freier Journalist, Autor der ZEIT, Moderator und Dozent in Berlin und Freiburg. Er unterrichtet an verschiedenen Hochschulen und Akademien im Fach Theaterkritik und Kulturjournalismus, unter anderem an der Berliner Universität der Künste im Studiengang Szenisches Schreiben. Von 1973 bis 1998 leitete er das Kultur- und Medienressort der Badischen Zeitung in Freiburg, danach war er bis 2001 Theaterredakteur und Stellvertretender Ressortchef im Feuilleton der ZEIT in Hamburg. Zwischen 1980 und 2004 war er insgesamt zwölf Jahre Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. Seit 1993 ist er Juror beim Else-Lasker-Schüler-Dramatikerwettbewerb des Landes Rheinland-Pfalz, seit 2000 beim Ulrich-Wildgruber-Preis für Nachwuchsschauspieler. 2008 war er Alleinjuror bei den Autorentheatertagen des Hamburger Thalia Theaters. Die Publikums- und Autorengespräche beim Uraufführungsfestival Mülheimer Theatertage moderierte er von 2003 bis 2013.

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oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

backstage

Ostermeier

Gerhard Jörder

OSTERMEIER

backstage

Mit einem Vorwort von Gert Voss

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Inhalt

Vorwort

Inhalt

Inszenierungsverzeichnis

Vorwort

von Gert Voss

Zum ersten Mal hörte ich von Thomas Ostermeier, als ich bei den Festwochen in Wien seine Inszenierung Shoppen & Ficken sah. Ich war begeistert, ging zu ihm und seiner Truppe schnaufend in den fünften Stock, und da saß er, schüchtern und stumm, ich konnte meine Lobpreisung gar nicht richtig an den Mann bringen. Das hole ich nun nach.

Diese Inszenierung war von ungeheurer Realität und Theatralität im besten Sinn. Da gab es keinen platten Naturalismus, keine simple Umsetzung von Wirklichkeit auf die Bühne. Ostermeier hat genial Bilder erfunden und Verkörperungen, die aus der Theaterfantasie kommen und die eigentlich unspielbare Brutalität in diesem Stück real und zugleich unsichtbar darstellten. Gerade der Weg der Übersetzung in eine Theatersprache regte meine Fantasie und Empathie tausendfach mehr an.

Ich schätze seine Humanität, wie er mit den Menschen in den Stücken umgeht, wie er mit mir als Zuschauer umgeht, wie er mit seinen Schauspielern umgeht. Sie „erblühen“ bei ihm, haben Authentizität, weil sie ihre Selbstständigkeit entwickeln dürfen und die eigene Fantasie. Er selbst ist ein vorzüglicher Zuhörer und Zuschauer, respektiert Einwände, sagt bei Proben erst dann etwas, wenn man ihn fragt, er lässt den Spielern Zeit, zu entwickeln, und er gibt sich nicht schnell zufrieden. Er fördert im besten Sinn.

Nachdem ich mit ihm Baumeister Solness von Ibsen und Maß für Maß von Shakespeare gemacht habe, beide Stücke hat er außerordentlich klug und verantwortungsbewusst interpretiert und umgearbeitet, ist er für mich ein ganz wichtiger Regisseur geworden, von dem ich sehr viel gelernt habe durch seine Art zu arbeiten. Ähnlich wie Peter Zadek besitzt Ostermeier die Fähigkeit, mit ungewöhnlichen und sehr eindringlichen Mitteln Wahrheit auf der Bühne darzustellen. Seine Arbeitsweise war für mich sehr beglückend, weil er keinen Druck ausübt, sich langsam und geduldig vortastet, genau beobachtet. Durch diese Freiheit und Leichtfüßigkeit entstand eine große Wahrhaftigkeit und Authentizität, aber gleichzeitig auch eine Art von Geheimnis über den Menschen, das er nicht versucht aufzuklären oder zu vereinfachen.

Mit Thomas zu proben ist wirklich wie eine große Abenteuerreise. Seine Neugier und seine Genauigkeit beim Zuschauen und Zuhören bewirken, dass an jedem Tag völlig Neues entdeckt werden kann. Er hat eine große Behutsamkeit im Umgang mit allen „Bühnenarbeitern“, und so entsteht eine große Unternehmungslust bei allen.

Er hat ein absolut musikalisches Ohr und ein absolutes Gehör für theaternde Töne und Theaterverlogenheit, das bewahrt seine Inszenierungen vor Konventionalität. Das Schöne an seiner Arbeit und der Arbeit mit seinen Schauspielern ist, dass er immer um eine Sache streitet, nicht um Formalismus.

Insgesamt möchte ich sagen, dass Thomas für mich einer meiner wichtigsten Regisseure geworden ist. An ihm persönlich mag ich, dass er immer uneitel geblieben ist und unbestechlich, sich nicht von karrieresüchtigen Gedanken treiben lässt und, last but not least, dass er sich die Welt anschaut.

Gert Voss ist wenige Tage vor Drucklegung dieses Buches nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Alle Passagen, die sich in den Gesprächen auf ihn beziehen, sind unverändert beibehalten worden.

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Herr Ostermeier, woher kommen Sie gerade?

Aus Venedig, dort haben wir mit Ibsens Volksfeind gastiert.

Und wohin gehen die nächsten Reisen?

Nach Zagreb, mit Tod in Venedig. Später im Jahr nach Südamerika, wieder mit Volksfeind, São Paulo und Buenos Aires. Mit dem gleichen Stück gastieren wir in New York, eine Woche lang. Dazwischen liegt noch Rom, Hedda Gabler. Fast hätte ich vergessen: St. Petersburg steht auch auf dem Plan.

Und in den Monaten zuvor waren Sie unter anderem in Lausanne und Lyon, in Montreal und Quebec … Es ist wirklich ein Wahnsinnsprogramm, das Sie und Ihr Haus, quer durch Länder und Kontinente, absolvieren: In jeder Saison ist die Schaubühne mit mehr als hundert Gastspielen unterwegs. Ich hab große Lust, mich mit Ihnen gleich zu Beginn unserer Gespräche darüber zu unterhalten – über diese erstaunlichen internationalen Aktivitäten der Schaubühne, die mir selbst erst bei den Vorbereitungen für dieses Buch im vollen Ausmaß bewusst wurden. Ich glaube, anderen ergeht es ganz genauso. Schließlich bietet die Schaubühne im Heimathafen Berlin ja trotz der unzähligen Gastspiele tagtäglich volles Programm, oft mehrere Aufführungen parallel. Gibt es überhaupt ein anderes deutsches Theater, das sich auch nur annähernd ein solches Auslandspensum aufgebürdet hat?

Da fallen mir nur Tanz-Compagnien ein: Pina Bausch, Forsythe.

Einige Ihrer großen Ibsen-Inszenierungen, Hedda Gabler und Ein Volksfeind, aber auch Hamlet mit Lars Eidinger touren durch die ganze Welt. Auch Sie selbst sind, wenn es nur geht, bei Gastspielreisen immer vor Ort. Bei so viel Präsenz und Repräsentanz der Schaubühne kann es nicht verwundern, dass die ZEIT Sie schon vor Jahren als „das Gesicht des modernen deutschen Theaters in der Welt“ bezeichnet hat. Erfüllt Sie das mit Stolz?

Nein, mit so einem Label hab ich eher Schwierigkeiten! Ich kann mich ganz gut selber einschätzen. Ich weiß, dass ich bisher noch nicht großartig Theatergeschichte geschrieben habe – wie etwa Marthaler, Castorf oder Schlingensief, die wichtige ästhetische Spuren hinterlassen haben. Die einzige ästhetische Spur, die meine bisherige Arbeit möglicherweise hinterlassen hat, ist, der neuen Bürgerlichkeit mit Aufführungen wie zum Beispiel Nora, Hedda und Volksfeind ein Gesicht zu geben. Die glänzenden und designverliebten Oberflächen der Neuen Mitte werden, glaube ich, mit meinen Theaterarbeiten in Verbindung gebracht. Aber auch der durchgeknallte Hamlet mit der umgedrehten Krone auf dem Kopf. Dass ich im Ausland so erfolgreich bin, hat vor allem mit meiner Erzählweise zu tun. Sehr vieles von dem, was bei uns als absolut angesagte Avantgarde gilt, ist dem Ausland als maßgebliche Theaterästhetik doch gar nicht zu vermitteln. In Amerika und Großbritannien nennt man das gern Euro-Trash. Ich bin, wenn man so will, der kleine Bruder der Dekonstruktivisten: Wenn die großen Brüder alles eingerissen haben, muss einer ja die Scherben wieder aufsammeln und zusammensetzen – das mache ich. Aber in der Hoffnung, dass man die Nahtstellen der Scherben sichtbar macht. In der japanischen Kultur gibt es einen Ausdruck dafür: Kintsugi. Ein Stück Keramik erreicht erst dann seine größte Schönheit, nachdem es zerschlagen und wieder zusammengesetzt wurde. Das Sichtbarmachen der Bruchlinien ist das Ziel dieser Ästhetik. Ich dekonstruiere nicht, ich rekonstruiere. Und ich erzähle wieder Geschichten. Die an Narration orientierten Kulturen, die angelsächsischen zumal, überspringen eben einfach die Generation meiner großen Brüder, sie laden sie erst gar nicht ein – und knüpfen direkt bei mir an. Und so wird man (lacht) auf einmal zum Gesicht des deutschen Theaters.

Das leuchtet mir ein: Ihr erzählerischer Realismus ist weltweit verstehbar, während so manche deutsche Regietheater-Spezialität jenseits der Landesgrenzen auf Unverständnis stößt

Die ganze Welt ist angelsächsisch geprägt, die Kinowelt lebt von Hollywood-Geschichten. Der nordamerikanische Roman ist eine wichtige Referenz im Literaturbetrieb. Und auch thematisch ist vieles von dem, woran sich etwa Castorf abarbeitet, Postsozialismus, DDR-Vergangenheit usw., kaum exportierbar. Aber die Rolle der Frau, die Frage nach der Familie, nach den Glücksversprechen unserer bürgerlichen Gesellschaft – das sind Themen, die überall interessieren.

Wann begannen Sie eigentlich mit Ihren Gastspielaktivitäten?

Ganz früh schon, noch in der Ausbildungszeit an der Schauspielschule „Ernst Busch“, 1995. Mit Alexander Bloks Die Unbekannte sind wir damals nach Frankreich gefahren. Wir waren eingeladen nach Dijon zum Festival en mai – dort habe ich meine ersten wichtigen Kontakte nach Frankreich geknüpft.

Zu Frankreich haben Sie ja eine ganz besondere Affinität. Hat das auch familiäre Gründe?

Meine Familie mütterlicherseits kommt aus dem Saarland, an der Grenze zu Lothringen. Meine Großeltern haben sich im Haushalt eines jüdischen Arztes in Metz kennengelernt. Mein Großvater, der dieses saarländische Französisch konnte, war der Chauffeur der Arztfamilie, meine Großmutter die femme de ménage – sie musste die Wäsche immer mit weißen Stoffhandschuhen aufhängen, das war eine legendäre Anekdote bei uns.

Also waren Sie mit der französischen Sprache früh vertraut?

Nein, nein, die hab ich erst viel später gelernt! Ich komme nicht aus Verhältnissen, wo man mit so etwas aufwuchs.

Heute sind Sie in diesem Land fast wie daheim. Sie gastieren und inszenieren regelmäßig in Frankreich. Sie sind Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrats und waren im September 2013 auch mit dabei beim Treffen der Präsidenten Gauck und Hollande in Oradour, dem Ort des SS-Massakers. Man hat Ihnen in Frankreich schon die verschiedensten Ehrungen und Auszeichnungen verliehen, unter anderem den Orden Officier des Arts et des Lettres. Man hat Ihnen die Direktion des Odéon-Theaters in Paris und der Comédie-Française angetragen und die Leitung nicht nur des Festivals von Avignon, wo Sie 2004 als Artiste associé aktiv waren, sondern auch des Festival d’Automne in Paris. Und die französischen Städte und Theater reißen sich um die Schaubühne. In Paris könnten Sie ja fast ein Abonnement auflegen.

Ja, wir haben dort Jahr für Jahr gut und gerne 20 000 Besucher. Und jenseits von Paris ist es nicht anders: Jedes große und kleine Theater, von oben in der Normandie bis runter nach Marseille, sie alle wollen uns mindestens einmal in der Spielzeit haben …

Warum lieben die Franzosen Ihr Theater so?

Ich glaube, das ist zum einen der große Respekt für die Narration, für diese realistische Erzählweise, zum anderen ihre Vorstellung oder (lacht) Illusion von Modernität. Die Franzosen empfinden unser Theater als sehr physisch, sehr radikal. Mir selbst werden immer Begriffe angehängt wie enfant terrible, provocateur, social engagé … Aber vor allem sind sie fasziniert von unseren Schauspielern.

Die Begeisterung für die Schaubühne – verweist sie umgekehrt auf Defizite im französischen Theater?

Ja, sicher! Das größte und zugleich banalste Defizit: Sie haben viel, viel weniger Geld als wir in Deutschland. Das heißt: Das gesamte Spektrum Bühnenbild, Ästhetik, der ständige Versuch, Formen zu finden und zu untersuchen, wie Räume das Verhalten von Schauspielern determinieren – das alles kann sich dort nicht entfalten, es gibt dafür keine Budgets und keine Werkstätten. Der zweite entscheidende Punkt: Wichtige Theaterentwicklungen, denken Sie an Peter Stein oder Frank Castorf, waren immer an ein Ensemble gebunden und daran, dass dieses Ensemble sich über Jahre entwickelt und eine eigene Sprache ausbildet. Nur wenn du ein festes Ensemble unterhältst, kannst du eine solche Identität aufbauen. Das gibt es nicht in Frankreich.

Überhaupt nicht?

Doch, an der Comédie-Française. Und dann auch bei Ariane Mnouchkine in der Cartoucherie. Dazu will ich gleich sagen: Nach meiner festen Überzeugung ist dies das bedeutendste Ensemble-Theater in Europa. Es gibt kein deutsches Staats- oder Stadttheater, das so perfekt als Ensemble funktioniert wie Mnouchkines Théâtre du Soleil! Es funktioniert als Theaterunternehmen – und nach wie vor auch als Theaterkommune.

Zahlen und Quoten sind bekanntlich kein Kriterium für Kunst – und doch sind die Besucherstatistiken der Schaubühne so beeindruckend, dass ich Sie doch noch einmal fragen will: Wie viele Zuschauer insgesamt erreicht die Schaubühne bei ihren Auslandseinsätzen?

Das sind, über den Daumen gepeilt, an die 80 000 Besucher im Jahr. Wir nehmen diesen Teil unserer Theaterarbeit eben extrem ernst. Sicher sehr viel ernster als jede andere deutschsprachige Bühne. Und etwas kommt hinzu, als Kritiker des Neoliberalismus dürfte ich das eigentlich gar nicht laut sagen: Wir sind ein extrem schlankes Unternehmen. Wir orientieren uns da an internationalen Truppen wie Jan Fabre oder Jan Lauwers & Need-company. Das kommt gut an bei unseren Partnern.

Die Auslandsreisen sind für Ihr Haus, so verstehe ich das, nicht nur eine aparte Abwechslung, sondern konstitutiver Bestandteil der Theaterarbeit. Hat das finanzielle Gründe?

In der Tat. Die Schaubühne hat mittlerweile ihr Einnahmesoll mit Gastspielen bei zwei Millionen fest eingeschrieben. Anders könnten wir unseren Wirtschaftsplan auch gar nicht einhalten: Zwölf Millionen kriegen wir von der Stadt, bis zu zwei Millionen haben wir Einnahmen zuhause, dazu dann diese zwei Millionen Auslandseinnahmen. Wir haben also 16 Millionen insgesamt, und 25 Prozent davon sind Eigeneinnahmen – so viel hat sonst kein anderes öffentlich finanziertes Theater in Deutschland.

Aber die Finanzen sind doch nicht der einzige Grund?

Nein, natürlich nicht. Internationalität ist für mich eine absolute Selbstverständlichkeit, ich kann gar nicht anders denken. Das war schon klar, als ich hier antrat. Eine globalisierte Welt – das ist doch eigentlich ein schöner Gedanke! Er erinnert mich an den Traum von der internationalen Solidarität. Doch diese Idee ist beschmutzt von den Chicago Boys! Man darf die Globalisierung nicht allein der Ökonomie und den Ökonomen überlassen.

Haben Sie überhaupt keine Sorge, dass als Folge der kulturellen Globalisierung so etwas wie ein internationaler, weltkompatibler Kulturmix entstehen könnte? Es gibt ja heute schon Gruppen, die in jeder Hinsicht keinen Standort mehr haben und nur noch den Weltmarkt bedienen.

Ich kenne diesen Vorwurf und nehme ihn ernst. Aber wir machen keine globale Soße! Wir spielen in New York oder in Paris, das erstaunt ja viele, eine ganze Woche auf Deutsch! Mit uns kaufen sich die internationalen Festivals Berliner Identität. Der Volksfeind ist das beste Beispiel. Diese Hipster-Kultur, die sich vegan, engagiert, aufgeklärt und kritisch gibt und sich dann doch, wenn es hart auf hart geht, ins Private zurückzieht – diese Hipster-Kultur fokussiert sich exemplarisch in Berlin. Das Thema wird weltweit verstanden, weil sich die Lebenswelten angleichen.

Sie haben vom Geld und vom Programm gesprochen. Ich bin sicher, dass ein Drittes hinzukommt: Diese Reiseaktivität muss extrem wichtig sein für den emotionalen Haushalt der Schaubühne, des ganzen Ensembles, der einzelnen Schauspieler – und auch für Ihre eigene Motivation. Denn es ist doch offenkundig, dass Sie im Ausland weit mehr Erfolg haben als daheim, in Deutschland und in Berlin.

Ja, das stimmt. Als ich in der französischen Botschaft diesen Orden, von dem Sie sprachen, verliehen bekam, habe ich in der Dankesrede gesagt, und das gilt auch heute noch: Wenn der Erfolg im Ausland nicht gewesen wäre, hätte ich mit der Schaubühne aufgehört! Ich hätte diese Anfeindungen, vor allem in den Anfangsjahren, nicht ausgehalten. So viele Leute, die mir ans Bein pissen wollten, so viel Neid bei Kollegen und bei der Kritik.

Aber heute sind diese Neidstürme doch ausgestanden! Längst haben Sie auch in Berlin beim Publikum großen Erfolg, das Haus brummt, die Vorstellungen sind ausverkauft.

Und doch gibt es immer noch viele, die es wurmt, dass das Haus finanziell und mit seiner Auslastung so gut dasteht. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Frustriert bin ich hier keineswegs. Wenn wir von unseren Auslandserfolgen zurückkommen, dann ist da keine Spur von: Ach Gott, jetzt in Berlin ist wieder alles lau und flau, wo ist der Enthusiasmus von Paris oder Sydney oder New York? Nein, wir haben hier wirklich ein tolles, junges Publikum!

Aber Erfolg bemisst sich nun mal nicht nur an Auslastungszahlen, sondern auch am öffentlichen Echo. Es kann Sie doch nicht kalt lassen, wenn Ihr Hamlet, der überall auf der Welt vom Publikum wie von der Kritik gefeiert wird und Preise einheimst, von der Jury des Berliner Theatertreffens links liegen und von der Berliner Theaterkritik großenteils benörgelt wird.

Ach, wissen Sie, darauf haben wir uns in den vielen Jahren eingestellt: Nach der Premiere kommt die kalte Dusche, das weiß man schon vorher, das weiß auch das Ensemble, und so ducken wir uns eben zwei Tage lang weg. Dann ist das irgendwie überstanden, wir hoffen, dass uns das emotional nicht zu sehr angefasst hat – und freuen uns wieder auf unser Publikum.

Wie erklären Sie sich denn selbst die eklatante Differenz zwischen dem öffentlichen Echo drinnen und draußen? In Taormina hat man Ihnen den Europäischen Theaterpreis, in Venedig sogar den Goldenen Löwen für Ihr Lebenswerk verliehen – das könnte Ihnen hier so schnell nicht passieren. Ich will nicht glauben, dass man Ihnen schlicht den Erfolg neidet, so blöd ist die Kritik doch nicht. Hat die Tatsache, dass Sie als Regisseur im Ausland deutlich mehr Anerkennung finden als im eigenen Land, nicht vor allem mit den sehr spezifischen ästhetischen Diskursen des deutschsprachigen Theaters zu tun? Ich sag’s mal im Klartext: Ihre Art und Weise, politisch engagiertes realistisches Theater zu machen, stößt bei großen Teilen der postdramatisch orientierten deutschen Kritik auf starke Vorbehalte.

Ja, das stimmt. Es gibt diese stillschweigenden, verfestigten, gar nicht mehr diskutierten Übereinkünfte im deutschen Kultur- und Feuilletonbetrieb. Meine Ästhetik ist einfach nicht angesagt, alles lineare, realistische Erzählen wird schlicht als TV-Realismus etikettiert und abgetan – und damit ist der Fall erledigt. Lieber beschäftigt man sich mit dem Mainstream einer längst epigonal gewordenen Postdramatik, als dass man sich mit meiner Theatersprache überhaupt auseinandersetzt, geschweige denn einmal darüber nachdenkt, warum sie außerhalb Deutschlands, bei der europäischen und internationalen Kritik, so viel mehr Ansehen findet als hier.

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Verleihung des Goldenen Löwen für das Lebenswerk auf der Theaterbiennale in Venedig, 2011

Das Thema wird uns noch begleiten. Auch ich glaube: Die deutsche Theaterkritik neigt dazu, alle realistischen Erzählweisen auf der Bühne undifferenziert in einen Topf zu mengen und pauschal als rückständig zu verwerfen. Allerdings hat die postdramatische Dogmatik inzwischen den Zenit überschritten, auch im Feuilleton. Eine letzte Frage zum Thema Auslandsreisen: Außer dass Ihre Schauspieler dort so viel Jubel abholen können – welche anderen Erfahrungen können sie bei diesen Gastspielen machen?

Große, schöne, wichtige! Wissen Sie, ich komme aus einer sehr konfliktgeprägten Kindheit, und mein Weltbild hat sicher damit zu tun. Und deswegen suche ich Situationen für meine Schauspieler, wo wir gemeinsam begreifen können, dass die Themen, die wir auf der Bühne verhandeln, nicht nur Theaterprobleme sind, sondern reale Konflikte um Verantwortung und Moral. Wenn wir den Volksfeind während der Finanzkrise in Athen oder Nora in der Türkei spielen, wenn wir mit Shakespeares Hamlet in Ramallah auftreten, in einem Land also, in dem achtzig Prozent der männlichen Jugendlichen unter 21 Jahren schon mal im Knast saßen und Hamlets Satz „Ganz Dänemark ist ein Gefängnis“ sich darum so vollkommen anders anhört als am Ku’damm – dann sind das auf einmal ganz konkrete, elementare Lebensfragen, wie wir sie längst verloren haben, hier, in den befriedeten Zonen des Kapitalismus, in der Wohlfühlsuppe der Bundesrepublik. So etwas prägt unwahrscheinlich, da begreifst du plötzlich was, und das relativiert auch alle Kritik, die wir hier in Berlin zu hören bekommen. Das wird dir dann egal, das nimmst du schulterzuckend hin.

Konfliktgeprägte Kindheit – dieses Stichwort will ich jetzt aufgreifen. Sie sind 1968 geboren, Sie stammen, wie man so sagt, aus einfachsten Verhältnissen, Sie hatten eine schwere Jugend. Man kann wirklich nicht behaupten, das Theater sei Ihnen in die Wiege gelegt worden. Wollen Sie mir davon erzählen?

Ich stamme aus einem kleinbürgerlichen Milieu, meine Mutter war Verkäuferin, mein Vater Berufssoldat. Er war extrem autoritär, konnte, vor allem wenn er getrunken hatte, sehr rabiat werden gegen die Familie. Im Grunde war er ein Untertanengeist, eher wilhelminisch geprägt vom Gedankengut. Und katholisch. Mit 16 Jahren habe ich beschlossen, mit meinem Vater kein Wort mehr zu reden, und das habe ich durchgehalten, bis ich 26 war. Meine Mutter hatte es unglaublich schwer in dieser Ehe – dadurch sind bei mir auch ein Beschützerinstinkt und eine starke Mutterbindung gewachsen. Sie war eine ganz tolle Frau, die versucht hat, alles aufzufangen. Die gesunden Anteile meines Geistes (lacht) verdanke ich jedenfalls ihr! Aber mein Vater hatte durchaus auch seine guten Seiten. Er war ein großer Alleinunterhalter und hatte bei sämtlichen Festen im Freundeskreis sein Akkordeon dabei und konnte bis in die frühen Morgenstunden alle Gassenhauer spielen, angefangen von den zwanziger Jahren bis hin zu Volksliedern, und stand die meiste Zeit bei diesen Festen im Mittelpunkt. Er war es auch, mit dem ich die ersten Karl-Valentin-Filmchen angeguckt habe. Er teilte mit mir die Liebe für diesen abgründigen, blutigen bayrischen Humor Valentins.

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Thomas mit seinem Vater, 1970

Sie haben also auch schöne Erinnerungen an die Zeit. Dennoch waren Sie in Ihrer frühen Biografie immer wieder mit viel Unglück konfrontiert. Auch dies: Ihr Großvater ist von einem Auto überfahren worden, Ihre Mutter fand später auf gleiche Weise den Tod.

Vom Großvater haben wir noch gar nicht gesprochen. Er war Bergmann in Bayern, eine Art Tagelöhner, seine Frau eine Näherin, die von Hof zu Hof zog. Ein eigentliches Zuhause hatten sie überhaupt nicht. Er war im Russlandfeldzug dabei und kam als kaputter Mann zurück.

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Thomas (links unten) mit seinen Eltern und den Brüdern Martin und Andreas in Munster, Advent 1970

Sie sind der mittlere von drei Söhnen?

Ja. Und ich bin aufgewachsen in Kasernenumgebung, zunächst in Munsterlager, dieser grauenhaften Garnisonsstadt in der Lüneburger Heide. Auf dem riesigen Truppenübungsplatz gab es ständig Manöver, wurde ständig geballert. Auch später in Landshut wohnten wir direkt an den Kasernen. Gefechtslärm – das war der Sound meiner Kindheit! Gegen all das hab ich früh rebelliert und irgendwann gesagt, ich geh raus, ich geh meinen eigenen Weg. Ich bin immer wieder abgehauen, habe bei Freunden gelebt, und mit 16 und 17 bin ich längere Phasen durch Europa getrampt. Italien, Balkan, Griechenland, Türkei …

Aber aufs Gymnasium sind Sie dennoch gegangen?

Weil man auf der Grundschule empfohlen wurde fürs Gymnasium, und wir alle drei waren sehr gut in der Schule, es fiel uns leicht. Ein paar Jahre können ja nicht schaden, dachten meine Eltern, dann machen sie halt mittlere Reife. Sie glaubten nicht, dass wir bis zum Abitur kommen. Für meine Mutter stand immer fest: Facharbeiter sollen sie werden, die werden immer gebraucht. Also nicht Arbeiter, sondern Facharbeiter.

Das Abitur haben Sie in Landshut gemacht. Wie viel Bayern steckt in Ihnen?

Oh ja, viel. Weil ich durch meine ersten acht Jahre in Norddeutschland ein norddeutsches Idiom hatte, Schlimmeres gibt’s ja gar nicht in Bayern, hatte ich es anfangs sehr schwer in der Schule. Ich war total der Außenseiter. Ich hab mir das Bayerische dann aber schnell selber antrainiert, kann es bis heute gut. Wir lebten auch eine Zeit lang im Heimatdorf meines Vaters in der Nähe von Landshut. Ich weiß nicht, ob Sie Bayern kennen? Diesen wirklich provinziellen, dumpfen, brutalen Katholizismus, vor allem in Niederbayern …

In Stücken wie Fleißers Der starke Stamm und Achternbuschs Susn haben Sie sich später daran abgearbeitet?

Und wie! Meine ganze Kraft kommt aus dem Widerstand gegen Bayern, aus der Wut und aus dem Hass. Ich bin extrem katholisch aufgewachsen, Ministrant. Es gibt ja diesen Satz: Jeder gute Katholik, der einmal Ministrant war, muss spätestens mit Anfang zwanzig Kommunist werden. Das kommunitaristische Prinzip, auch dieses Erlösungs- und Weltrettungsding hat schon viel mit meiner Sozialisation zu tun …

Wann haben sich Vater und Mutter getrennt?

Meine Mutter, aufopferungsvoll, wie sie war, musste durchhalten, bis die Kinder aus dem Haus waren. Dann hat sie sich getrennt. Ich fand es großartig, dass sie dazu noch die Kraft hatte.

Diese Frage muss ich jetzt stellen: Wie kommt einer, der aus so schwierigen familiären und kulturfernen Verhältnissen stammt, ausgerechnet auf die Idee, Theater zu machen?

(lacht)