Um acht Uhr abends kehrte er heim und betrat sein Haus wie ein Dieb, der fürchtet, jemanden zu wecken. Dabei gab es dort niemanden, den er hätte wecken können. Die Katze war tot, und die Kanarienvögel schliefen draußen im Hof unterm Feigenbaum. Als er die Tür hinter sich schloss, durchströmte ihn eine Welle der Erleichterung, und er blieb eine Weile stehen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Einen winzigen Moment lang gab es die Tragödie nicht, doch dann war alles wieder da. Amalias starre Augen. Und das goldglänzende Blut. Nie hätte er gedacht, dass Blut so glänzen kann. Er schloss die Lider und verharrte einige Sekunden reglos, auf das Flattern seines Herzens lauschend. Was hätte er dafür gegeben, morgens krank aufgewacht und im Bett geblieben zu sein. Aber so war es nicht gewesen. Er war an diesem Tag im Morgengrauen aufgestanden, war um halb acht zum Golfclub gefahren und hatte die unscharfe Linie zwischen der Welt derer, die töten, und der Welt der anderen überschritten.

Wie ein Roboter hängte er seinen Mantel in den Schrank. Dann ging er ins Bad und wusch sich die Hände. Als er in den Spiegel schaute, warf ihm der Silberbelag ein müdes Gesicht zurück. Müdigkeit sah er und sonst nichts. Er ging ins Schlafzimmer und legte sich auf das alte Messingbett. Eine Weile starrte er an die Decke. Er wollte schlafen, den Journalisten und alles, was geschehen war, vergessen, aber sein von Bildern überquellender Geist gab ihm keine Ruhe. Wie oft hatte er mit Amalia in diesem Bett gelegen, ein Buch gelesen oder der Stille des Nachmittags gelauscht, oder sie hatten über die Abenteuer ihres Onkels Floro und dessen Leidenschaft für griechische Mythologie geredet. In der Brokatdecke hingen noch Spuren ihres Parfums.

So durchlebte er in den folgenden beiden Stunden noch einmal die morgendlichen Ereignisse, von dem Moment, als er um sechs Uhr früh aufgestanden war, bis zu jenem im Gericht, als der Journalist sein Büro betreten hatte.

Es war ein klarer Morgen. Hinter den grünen Hügeln erhob sich das Felsmassiv der Kordillere wie eine steinerne Taube, und unten tauchte Santiago auf, gehüllt in ein vom Regen reingewaschenes Licht, strahlend und in friedlicher Stille. Um kurz vor acht parkte er in der Calle Luz, lief einige Meter zurück und kroch durch ein Loch im Zaun, das er und Amalia zu einer Zeit entdeckt hatten, die er lieber vergessen wollte. Der Golfplatz war noch feucht vom morgendlichen Tau. Der Ort wirkte düster, noch immer dunkel, noch hatte sich die Nacht nicht ganz aus den Zweigen gelöst. Es roch nach Gras und feuchter Erde. Amalia musste in der Nähe von Loch achtzehn sein. Sie würde staunen, wenn er plötzlich vor ihr stand, denn sie hatten sich den ganzen Monat nicht gesehen. Zwar hatten sie fast täglich telefoniert, aber Amalia hatte sich geweigert, ihn zu treffen.

»Bitte, Amalia, fünf Minuten«, hatte er sie angefleht, »nur fünf Minuten, sagen Sie nicht, Sie haben keine fünf Minuten Zeit für mich.«

Und sie:

»Es hat keinen Sinn, dass wir uns sehen, Juan Manuel, nicht jetzt, es würde alles nur noch schlimmer machen.« Sie hatte mit ihm geredet, als sei sich zu verabschieden eine bloße Belanglosigkeit, eine fieberlose Erkältung, ein Mückenstich am Bein. »Nimm es nicht so schwer. Das Letzte, was ich will, ist, dir wehzutun, versuch bitte, das zu verstehen … so etwas kommt eben vor.«

Natürlich kam so etwas vor! Es kamen noch ganz andere Dinge vor. Er hatte diese Stimme gehasst, diese abgedroschenen Phrasen. »Es geht um uns beide, Amalia!«, hatte er sie bei jenem letzten Mal im Restaurant angeschrien. »Ich bin doch nicht irgendjemand, mit dem Sie sich irgendwann mal auf einen Kaffee getroffen haben. Schauen Sie mich an!«, hatte er befohlen, und sie hatte ihn verunsichert und ängstlich angesehen. Damals hatte er eines Nachts geträumt, er würde sie duzen – in den sechs Jahren, die sie zusammen gewesen waren, hatte er nie Du zu ihr gesagt. »Ich bitte dich! Tu mir das nicht an!« Und sie war gegangen, ohne ein einziges Wort.

»Ich bitte Sie«, sagte er später am Telefon zu ihr und spürte, wie die Verzweiflung sich in seiner Kehle staute. »Ich muss Sie sehen, in Ihrer Nähe sein, ich kann nicht am Telefon darüber sprechen, ich hole Sie ab, und wir trinken einen Kaffee. Nur fünf Minuten, ich bitte Sie!«

»Nein!«, fiel Amalia ihm ins Wort. »Bitte gib endlich Ruhe.«

Was ihm am meisten wehtat, war das Gefühl, dass jetzt Hass wohnte, wo früher Liebe gewesen war. In der Liebe muss auch Platz sein für Hass, hatte er irgendwo gelesen, aber was tun, wenn der Hass nach und nach von allem Besitz ergriff? Natürlich kam so etwas vor, und nicht nur bei anderen, diesmal erwischte es ihn. Und es war grauenhaft, die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen. Die bloße Vorstellung, jeden Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag in der Gewissheit zu verbringen, dass sie mit einem anderen zusammen war, in einer Kneipe im Stadtzentrum oder am Lago Ranco, dass sie mit ihm über dieselben Dinge plauderte, ihm von ihren Kindheitsspielen mit Onkel Floro und von ihrer Freundin Teresa erzählte, während der andere ihr fasziniert lauschte, sie mit den Augen verschlang, genauso wie er selbst es vor ihm getan hatte … Schon die Vorstellung, dazu verdammt zu sein, sich Tag und Nacht auszumalen, wie sie die Stunden mit einem anderen genoss, war unerträglich. Er musste begreifen, wie es so weit gekommen war, wer dieser andere war, sechs Jahre waren doch nicht einfach vorbei wie ein abgelaufener Vertrag.

»Amalia, bitte lassen Sie uns reden«, flehte er sie immer wieder an, doch es war zwecklos.

Aber jetzt würde sie ihn sehen.

Er ging auf eines der letzten Löcher des Golfplatzes zu, überzeugt, sie dort anzutreffen, und da stand sie, vornübergebeugt, das braune Haar über der Stirn, und maß mit der Hand die Zentimeter zwischen dem Loch und dem kleinen Ball ab. Er kam von hinten auf sie zu. Amalia drehte sich um, Verwunderung huschte über ihr Gesicht. Sie zog die Augenbrauen hoch. Sie bewegte die Lippen. Hatte sie etwas gesagt? Sie konnte nichts gesagt haben, dazu hatte sie keine Zeit. Er hob die Hand und schoss. Es ging schnell und leicht, entsetzlich leicht. Eine Sekunde lang trübte ein Schauder des Entsetzens seine Erinnerung, dann sah er sie wieder wie in einem flüchtigen Traum. Wie zerbrechlich war doch die Existenz, wie nichtig. Ein Schlag auf den Kopf, eine in den Körper eindringende Kugel, ein winziger Sekundenbruchteil, und das Leben erlischt wie ein ausgehendes Licht. Amalia sackte zu Boden, langsam, bis sie mit offenen Augen im Gras lag. Er sah das Blut hervorschießen und spürte, wie er in eine unbekannte Welt vorstieß, die er nie mehr verlassen würde. Er hatte auf sie geschossen, ohne zu zaudern, als wäre sein Leben ein einziger, langer Weg bis zu diesem Augenblick gewesen, in dem Amalia zu Boden fiel wie ein abgeschossener Vogel. Was folgte, waren mechanische Gesten: Er ging den Weg zurück, den er gekommen war, kroch wieder unter dem Zaun hindurch, sprang mit einem Satz auf die Füße und blickte zu beiden Seiten die Straße entlang. Nirgends eine Menschenseele, niemand hatte ihn gesehen, fast alle Fenster, auch die in dem einzigen Hochhaus dieses Häuserblocks, waren dunkel geblieben. Er stieg ins Auto und zündete sich die letzte Zigarette an, die er noch hatte. Verzweifelt sog er den Rauch ein und fuhr in Richtung Uferstraße. Hinter der ersten Brücke bog er nach Pedro de Valdivia Norte ab und parkte an einer Tankstelle. Er ging zur Brücke zurück und warf die Pistole und die leere Zigarettenschachtel in den Fluss. Die Schachtel schwamm davon wie ein Papierschiffchen, während die Waffe im schmutzigen Wasser versank.

Das war alles.

Eine Weile blieb er dort stehen, den Blick in der Strömung verloren, dann machte er kehrt und lief mit großen Schritten zur Tankstelle zurück. Alles geschah wie im Traum, im verschwommenen Licht der Träume. Er stieg in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr los, Richtung Zentrum. Hinter der Pedro-de-Valdivia-Brücke wurde ihm langsam das Makabere am soeben Erlebten bewusst, die hängenden Zweige, die Tautropfen, seine Fußspuren im frisch gemähten Rasen, Amalias Haar über der Stirn, der trockene, harte Knall und das Aufleuchten ihrer erschrockenen Augen. Eine rote Ampel zwang ihn zu bremsen. Es wurde grün, doch in dem dichten Verkehr kam sein Wagen nur mühsam voran. Der Termin mit dem Journalisten war um neun. Er musste ruhiger werden, unbedingt, in diesem Zustand konnte er kein Interview geben, seine Beine zitterten, und die kribbelnden Hände brannten. Einen Häuserblock weiter hielt ihn erneut eine rote Ampel auf. Neugierig beobachtete ihn ein älterer Herr aus einem Wagenfenster. Hatte er ihn womöglich erkannt? Erstaunlich wäre es nicht, denn seitdem die Affäre um den Bauminister in aller Munde war, tauchte sein Gesicht fast täglich in den Fernsehnachrichten auf. An der juristischen Fakultät musste er ein letztes Mal bei Rot halten und fühlte sich erneut von jemandem beobachtet. Ihm war, als verdüsterten sich die Züge des Fremden. Von jetzt an würde es immer so sein. Die Leute würden hinter seinem Rücken tuscheln: Da ist er, guck mal, er ist es, wer hätte das gedacht. Panik schnürte ihm die Kehle zu. Aber es gab keinen Weg zurück. Er hatte die Welt derer verlassen, die sorglos erwachten und mit zufriedenem Gesicht die Küstenstraße entlangfuhren, Radio Cooperativa hörten und die erste Zigarette des Tages rauchten.

Ein paar Minuten vor neun kam er im Gericht an und fuhr in dem ächzenden Käfig, den er die letzten zwanzig Jahre benutzt hatte, zu seinem Büro hinauf. Unerträglich langsam zogen die Stockwerke an ihm vorbei … vier … fünf … sechs.

Der alte Ernesto las Zeitung, seine Tasse Tee in Reichweite. Er erinnerte sich nicht, seinen Sekretär in den zwanzig Jahren ihrer Zusammenarbeit auch nur ein einziges Mal ohne seine Tasse Tee gesehen zu haben. Als Ernesto ihn hereinkommen sah, zog er seine Krawatte zurecht, reckte den Hals und legte beide Hände nebeneinander auf den Schreibtisch wie ein artiger Schüler, der auf die erste Frage des Lehrers wartet. Seine Hände waren von Arthritis verformt, sie erinnerten ihn an die seines Großvaters, doch war das die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden, denn niemand glich seinem Großvater weniger als dieser liebenswürdige alte Mann.

»Guten Morgen, Ernesto. Ist Samuel Cooper schon da?«

»Noch nicht, Don Juan Manuel, es ist fünf vor neun, er muss gleich kommen«, antwortete der kleine Mann mit einem Blick auf die goldene Uhr, die er mit einer reflexartigen Geste aus der Tasche gezogen hatte.

Juan Manuel überflog die Schlagzeilen und verspürte dabei eine vage Beklemmung. Nie wieder würde er sie lesen können, ohne zusammenzuzucken. Im dunklen Vorraum hängte er seinen Mantel an den Kleiderständer, betrat sein Büro und schloss die Tür. Er setzte sich in den englischen Sessel, den Amalia ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, und wartete.

Zehn Minuten später meldete Ernesto die Ankunft des Journalisten, und fast gleichzeitig ging die Tür auf.

TERESA

Groß und schlaksig sah sie aus, als sie so auf mich zugelaufen kam. Mit ihren langen Beinen glich sie einem Flamingo. Bei mir angekommen, musterte sie mich von oben bis unten, als wolle sie mit Blicken die Richtigkeit (oder den Irrtum) ihrer Wahl ermessen. Wie Don Quijote und Sancho Pansa müssen wir ausgesehen haben, die eine hoch aufgeschossen, die andere klein und pummelig.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Teresa. Und du?«

»Amalia Griffin«, sagte sie. »Mein Großvater war Ire. Er ist in einer Grafschaft geboren, die Kerry heißt. Und wo ist deiner geboren?«

»Keine Ahnung«, sagte ich, »ich nehme an, hier in Santiago.«

Wir waren zehn Jahre alt und standen auf dem Schulhof. Es war der erste Schultag. Man hatte uns in dieselbe Klasse eingeteilt. »Die Mädchen in der rechten Schlange gehen in Raum 5 S. T.«, hatte Schwester Cecilia gesagt.

»S. T. heißt Santa Teresa, einer Nonne zu Ehren, die vor zwanzig Jahren an Krebs gestorben ist«, flüsterte meine neue Freundin mir ins Ohr. »Mein Onkel Floro sagt, Nonnen kriegen Krebs, weil sie keinen Mann haben. Findest du das nicht furchtbar?«

»Doch, ganz furchtbar«, sagte ich und sah mir ihr Gesicht zum ersten Mal genauer an. Es war von Sommersprossen übersät, und in ihren dunkelgrünen Augen schimmerten reizvolle kleine, helle Flecken. Volles, braunes Haar fiel ihr in dichten Wellen bis knapp über die Taille. Sie hatte einen großen, breiten Mund mit aufgeworfenen Lippen. Ihre griechische Nase verlieh dem Gesicht Charakter. Sie war so schön, dass man kaum den Blick von ihr wenden mochte.

»Der Klassenraum heißt wie du«, sagte sie. Dann fragte sie lachend: »Bist du sehr heilig?«

»Kein bisschen. Und du?«

»Oh, garantiert noch viel weniger!«, lächelte sie. »Ich kann dir ja mal meine Zeichnungen zeigen, dann siehst du, wie wenig heilig ich bin.«

Später zeigte sie mir ein Blatt Papier voll sonderbarer, monströser Gestalten.

»Gefällt dir das Bild?«

»Nicht besonders«, sagte ich.

»Ich habe es mit meinem Onkel Floro gemalt. Das hier ist der Satyr Marsyas im Wettstreit mit Apollon. Das ist die Flöte des Satyrs, und das da ist Apollon, der auf seiner Leier spielt. Weißt du, was sie gerade machen? Sie tragen einen musikalischen Wettstreit aus. Siehst du? Und das hier ist das Publikum, es besteht aus Satyrn und Nymphen, und das da sind die Musen.«

»Hast du noch mehr solche Zeichnungen?«, fragte ich sie.

»Wir haben Tausende. Mein Onkel Floro zeichnet sehr gut und hat unheimlich Ahnung von griechischen Göttern. Mein Onkel malt sich die Lippen rot an«, fügte sie hinzu.

»Und er ist ein Mann?«

»Klar! Wieso sollte er eine Frau sein? Er heißt doch Floro. Er ist ein Mann, aber er malt sich trotzdem die Lippen an. Er sagt, er tut das, weil es ihm gefällt, aber meine Tante Herminia sagt, Tunten malen sich nun mal die Lippen an. Tante Herminia geht ihm ziemlich auf die Nerven, sie ist nicht nett zu ihm, deswegen mögen wir sie nicht.«

Ein paar Tage später lernte ich Onkel Floro kennen. Er war ein sanfter, gütiger Mensch. Und vollkommen vernarrt in die griechische Mythologie. Die Hälfte seiner Zeit verbrachte er damit, Bücher über die verschiedenen Götter zu lesen und von den wunderbaren Abenteuern der Graien und Gorgonen und anderer Fabelwesen zu erzählen. Mit Puppen spielte er fast noch lieber als wir. Er zog sie an, flocht ihnen Zöpfe und löste sie wieder, zog sie wieder um, bis er in den Patio ging und es sich mit einem Buch im Schaukelstuhl bequem machte, eine Puppe zu jeder Seite. Mit Puppen zu spielen kam für ihn dem Muttersein am nächsten, und uns wollte er dauernd eine Freude machen, bezirzte uns mit kleinen Aufmerksamkeiten, mit einer Rose aus dem Garten hinterm Haus, mit einem selbst ausgedachten Wiegenlied für die Puppen oder einer ausgefallenen Göttersage. Amalia und ich lauschten ihm entzückt. Von dieser unvergesslichen Persönlichkeit, dieser Mischung aus Zauberkünstler und verrückter Nudel, wurde Amalias Geist geformt, als sie ein Kind war.

Amalia war viel größer als die anderen Mädchen, und obwohl sie deswegen Komplexe hatte, war sie sich ihrer Schönheit vollauf bewusst. Ich erinnere mich noch, wie sie mir einmal während des Spanischunterrichts ein Zettelchen zuschob, auf dem stand: »Es ist nicht kalt, es ist nicht warm, es ist Amalia.« Ich verstand kein Wort. Aber ich war ihre Spleens gewöhnt und nahm sie nicht sehr ernst. Als wir zusammen in die Pause gingen, fragte sie mich, ob ich ihre Botschaft verstanden hätte. »Nicht die Spur«, antwortete ich. »Das sagt Onkel Floro immer zu mir, wenn ich zu ihm in die Bibliothek komme«, sagte sie. »Und was soll es heißen?«, fragte ich. »Also, das erkläre ich dir. Immer wenn Federico García Lorca damals in Spanien, in der Zeit vor dem Bürgerkrieg, ein Lokal betrat oder einen Salon, in dem sich ein literarischer Zirkel versammelt hatte, wandelte sich die Atmosphäre schlagartig, der Raum füllte sich mit kleinen bezaubernden Teilchen, und alles Strenge und Spröde verschwand, und die Leute sagten, es ist nicht kalt, es ist nicht warm, es ist Federico. Findest du das nicht toll?« Was ich toll fand, war, dass sie an diesem Vergleich mit dem Dichter nichts Unbescheidenes zu finden schien.

Zwischen jenem ersten Schultag, an dem ich sie kennenlernte, und dem Dienstag ihres Todes, dreißig Jahre später, verging nicht eine Woche, in der wir uns nicht sahen oder miteinander telefonierten. Nun war sie tot, und daran war nichts mehr zu ändern.

Eines Nachmittags auf dem Heimweg vom Stadtzentrum, wo ich etwas hatte erledigen müssen, schaute ich bei Rafa im Büro vorbei. Er war einen Kaffee trinken gegangen. Also wartete ich auf ihn, in seinem Schweinestall, wie er sein Büro ohne die geringste Scham nannte. Er war wahnsinnig unordentlich. Ständig lagen in seinem Büro solche Unmengen von scheinbar nutzlosen Unterlagen herum, überall, auf den Zeichentischen, auf dem Fußboden, dass ich nie verstand, wie jemand es schaffte, dieses Chaos am Ende zu einem Gebäude zu ordnen, das nicht in sich zusammenstürzte. Diesmal fiel mir allerdings auf, wie sauber und ordentlich alles aussah. Nirgendwo flogen Unterlagen herum. Dafür lagen auf seinem Arbeitstisch, fein säuberlich angeordnet, lauter Zeitungsausschnitte über Amalias Tod. Sie schienen sich zu einer Art Puzzle zusammenzufügen, in dem nicht ein Teilchen fehlte. Der Anblick verblüffte mich.

»Wie ich sehe, bin ich nicht die Einzige, die ihr Tod nicht loslässt«, sagte ich zu ihm, als er zurückkam.

»Na ja, ihr Tod hat auch mich getroffen. Ich verstehe es einfach nicht, ich kann es nicht begreifen. Weißt du, dass ich Tage damit verbracht habe, diese Zeitungsausschnitte zu lesen, um zu sehen, ob mir irgendetwas auffällt, und dass ich einfach nichts finde? Es ist, als wäre Amalia an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Ja, natürlich, an einem Herzinfarkt, ausgelöst durch eine Kugel, die ihr das Herz zerfetzt hat.« Ich muss wütend geklungen haben und war es auch, wütend und vollkommen verzweifelt, weil sich alles so sonderbar gewendet hatte.

»Ich kann nicht verstehen, wieso es offenbar ganz leicht ist, einen Menschen zu töten und dann einfach zu verschwinden, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen«, fuhr Rafa fort. »Mir kommt es fast vor, als wäre der Täter einem fernen Traum entstiegen, um sie zu töten, und gleich nach dem Mord wieder darin untergetaucht. Das perfekte Verbrechen gibt es nicht, das wissen wir alle, aber in diesem Fall …«

»Das hier ist kein perfektes Verbrechen, Rafa! Nie und nimmer! Es ist ein Verbrechen wie jedes andere. Ich habe nur das Gefühl, alle suchen an der falschen Stelle. Es ist absurd, dass keiner sich mit der Tatsache befasst, dass Amalia einen Liebhaber hatte. Wenn ich Kommissar wäre, würde ich als Allererstes versuchen, Amalias Liebhaber ausfindig zu machen.«

»Und warum gehst du nicht zur Polizei und sagst ihnen, was du über ihren Liebhaber weißt, statt dich über andere zu ärgern, weil sie ihre Arbeit nicht richtig machen?«

»Aber ich weiß doch nicht mal, wer er ist!« Ich sah ihn mit einem jener Blicke an, von denen ich wusste, dass sie ihn rasend machten, und ging.

DER JOURNALIST

Am Morgen des Verbrechens erwachte ich unruhig. Ich hatte geträumt, an unserer Straßenecke hätte sich ein Verkehrsunfall ereignet. Im Traum schaute ich vom Balkon auf die Straße hinunter und sah Francisco neben einem schwer beschädigten Auto am Boden liegen. Ich war zutiefst erleichtert, als ich ihn neben mir schlafen sah, als hätte er noch die ganze Nacht vor sich. Glücklicher Francisco, sorglos wie ein Neugeborenes. Ich liebte es, wie er schlief, ohne zu schnarchen, ohne sich von seiner Bettseite wegzubewegen, gleichmäßig und lautlos atmend. Wie konnte er nur so hingegossen, so entspannt und zufrieden schlafen? Ich strich ihm über sein blondes Haar und küsste ihn sanft auf die Wange.

»Wir sehen uns dann nächsten Montag«, flüsterte ich und sprang aus dem Bett.

Der Traum hatte mich beunruhigt. Auf der Kommode lag das Fernglas, das ich Francisco zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich nahm es und ging auf den Balkon, und als ich es auf die Straßenecke richtete, gleichsam um mich zu vergewissern, dass auch wirklich kein Unfall passiert war, sah ich gegenüber auf dem Bürgersteig etwas, was mich stutzig machte. Ein Mann kroch mühevoll durch ein Loch im Zaun des Golfclubs. An sich wäre das nichts Besonderes gewesen, hätte nicht die Bekleidung des Mannes ganz und gar nicht zu dem gepasst, was er tat. Er trug eine dunkelblaue Hose und einen cremefarbenen Kamelhaarmantel. Ein höchst sonderbarer Anblick. Wer kroch denn in einem solchen Aufzug über den Boden? War ihm vielleicht etwas hinuntergefallen? Ich drehte an dem Rädchen des Fernglases, um es schärfer zu stellen. In dem Augenblick stand er auf, klopfte sich die Hose ab, schaute sich zu beiden Seiten um und ging eiligen Schrittes nach Süden, in Richtung Calle Luz. Da erkannte ich ihn, und der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Es war Rementería, der Richter. Ich spürte, wie mir ein Schauer über die Arme lief. Wie sonderbar, was für ein merkwürdiger Zufall! Ausgerechnet mit ihm war ich in einer Stunde verabredet. »Um neun in meinem Büro im Gericht«, hatte er zu mir gesagt. Was tat er hier, wieso kroch er um diese morgendliche Stunde auf allen vieren unter dem Drahtzaun des Clubs hindurch wie ein Hühnerdieb?

Ich kehrte wieder ins Zimmer zurück und setzte mich auf die Bettkante. Es tat mir zwar leid, Francisco zu wecken, aber ich wollte nicht gehen, ohne ihm davon zu erzählen.

»Was ist los?« Francisco dehnte sich und streckte die Arme in die Luft wie jemand, der sich von einem Baum herunterlässt. »Bist du verrückt? Weißt du, wie spät es ist! Du nervst! Und ich habe gerade von dir geträumt.«

»Tut mir leid, du Langschläfer, ich konnte nicht gehen, ohne dir zu erzählen, was ich eben gesehen habe.«

»Um acht Uhr morgens?«, brummte Francisco. »Aber du bist doch noch im Pyjama, du hast noch nicht mal geduscht. Weck mich noch mal, wenn du aus der Dusche kommst.«

»Nein! Ich meine es ernst. Ich habe gerade etwas Unglaubliches erlebt. Ich stehe auf dem Balkon und schaue durchs Fernglas, und da sehe ich zufällig, wie mein heutiger Interviewpartner Rementería auf der anderen Straßenseite durch ein Loch im Zaun des Golfclubs kriecht.«

»Und was ist daran so sonderbar?«

»Findest du es etwa normal, dass ein Richter vom Obersten Gerichtshof um acht Uhr morgens einen Golfclub verlässt, indem er auf allen vieren unter dem Zaun hindurchkriecht?«

»Na ja … die Richter vom Obersten Gerichtshof waren noch nie normale Menschen«, lachte er.

»Lass den Quatsch, ich meine es ernst. Warum hat er den Platz auf dieser Seite verlassen, durch ein Loch im Zaun, warum nicht durch den Haupteingang? Und dann noch um acht Uhr morgens! Ist dir nicht klar, wie sonderbar das ist? Als er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, ist er zu seinem Auto gegangen und verschwunden. Mit einem Gesicht! Du hättest ihn sehen sollen.«

»Meinst du den Richter, der in letzter Zeit immer in den Nachrichten ist?«

»Ich habe ihn sofort wiedererkannt … Sieh mich doch nicht so an, er war es wirklich! Ich habe ihn tausendmal in der Zeitung gesehen, ich habe mir seine Vorträge angehört. Es war Juan Manuel Rementería, todsicher. Findest du das nicht absolut seltsam?«

Als Francisco merkte, dass die Geschichte kein Scherz war, veränderte sich seine Miene.

»Im Ernst? Du hast gesehen, wie dieser Richter, dieser Rementería, auf allen vieren den Golfplatz verlassen hat? Hmmm … Du hast recht, ein bisschen sonderbar ist das schon. Es muss einen guten Grund dafür geben, dass er um diese Zeit auf dem Golfplatz herumläuft. Aber mach dir mal nicht zu viele Gedanken. Es kann alles Mögliche dahinterstecken. Niemand ist verpflichtet, einen Ort durch den Haupteingang zu betreten und ihn auch auf demselben Weg wieder zu verlassen. Die schönsten Dinge im Leben macht man doch, indem man irgendwo durch die Seitentür oder durchs Fenster einsteigt und übers Dach wieder verschwindet«, sagte Francisco und erlöste mich mit seinem Lachen aus meiner Anspannung. Dieses schallende Lachen ohne jede Angst war es, was mich drei Jahre zuvor im Saal des Presseclubs veranlasst hatte, den Kopf nach ihm umzudrehen. Und so war ich seinem Blick begegnet, der vom anderen Ende des großen Raumes aus geradewegs auf meine Augen gerichtet war, so als hätte er einzig und allein für mich gelacht.

»Blödmann«, flüsterte ich und küsste ihn auf die Stirn.

Ich ging unter die Dusche, konnte die innere Unruhe aber nicht abschütteln. Wer kommt schon auf die Idee, so elegant gekleidet über einen Golfplatz zu spazieren und unter einem Maschendrahtzaun hindurchzukriechen. Am naheliegendsten erschien mir die Vermutung, dass er vor irgendetwas geflüchtet war, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, vor etwas Schrecklichem. Er hatte dreingeschaut wie jemand, der gerade einen Erhängten gesehen hat.

»Frag ihn doch. Und dann ruf mich an und erzähl mir, was passiert ist. Jetzt hast du mich auch neugierig gemacht!«, rief Francisco vom Schlafzimmer aus, als ich schon an der Tür stand.

Mein geliebter Francisco … Frag ihn doch, und dann ruf an und erzähl mir … Er glaubte doch wohl nicht im Ernst, ich würde den Richter fragen, warum er um acht Uhr morgens auf allen vieren vom Golfplatz geflüchtet war! Für wie naiv hielt er mich? Gar nichts zu sagen erschien mir das Vernünftigste. Schließlich wollte ich dem Richter nicht unbedingt einen Anlass geben, mich zu fragen, was ich um diese Zeit im zehnten Stock dieses Hauses verloren hatte. Hatte ich ihm nicht gesagt, mein Flugzeug würde um acht Uhr morgens in Santiago landen? Es wäre also sehr unvorsichtig, ihn nach diesem kuriosen Vorfall zu fragen.

Heute sage ich mir, dass es eigentlich gar nicht unvorsichtig gewesen wäre, denn ich hätte ihm ja nur zu erklären brauchen, die Besprechung in Concepción sei verschoben worden. Aus Angst denkt man immer gleich an das Schlimmste, und meine wöchentlichen Treffen mit Francisco hütete ich wie einen kostbaren Schatz. Ich war noch nicht so weit, Dolores und die Welt mit meinem Drama zu konfrontieren, ich hatte das Gefühl, mit einem solchen Schritt mein Leben über Bord zu werfen. Nicht einmal die aufrichtige, innige Liebe, die Francisco und ich füreinander empfanden, gab mir die Kraft dazu. Mein Gewissen ließ mir keine Ruhe, ich litt permanent darunter, alle Welt belügen zu müssen. Jedenfalls stand ich jeden Dienstag, wenn ich die Wohnungstür zuzog und Francisco im Bett zurückließ, wo er sich noch eine Weile herumräkelte – er musste erst viel später im Sender sein –, vor demselben Dilemma. Wie sollte ich erklären, dass meine Beziehung zu Francisco so schön war wie die schönste Beziehung zwischen zwei Heteros und genau so würdig wie meine eheliche Beziehung zu Dolores? Wie konnte ich sagen, ohne jemanden zu verletzen, dass es bei mir nicht um den klassischen Widerspruch zwischen ehelicher Liebe und außerehelicher Erotik ging, sondern um eine starke, aufrichtige Liebe? Würden die Vertreter konservativer Sexualmoral so etwas verstehen? Ich empfand große Zuneigung zu Dolores, ich vergötterte meine Kinder, aber Francisco liebte ich aus tiefstem Herzen. Die beiden Beziehungen waren grundverschieden, zwei Welten, die sich nicht mit demselben Maß messen ließen. Und ich fühlte mich unfähig, der Gesellschaft mit dem Schild »bekennender Homosexueller« auf der Brust gegenüberzutreten.

Ich stieg in mein Auto, das ich neben Franciscos Bus geparkt hatte, und mit einem Stein im Magen fuhr ich ins Zentrum.

Seit der Skandal um das Bauministerium die Öffentlichkeit beschäftigte, bekniete mich Alicia, die für den Justizbereich zuständige Redakteurin, immer wieder, ihr das Interview mit Rementería zu überlassen. Und jedes Mal verschob ich die Entscheidung mit einer neuen Ausrede: Zurzeit gebe es nichts Interessantes über den Richter zu schreiben, wir hätten doch kürzlich schon die Richterin El Tiempo

Von dem Moment an, als ich ihn den Golfplatz verlassen sah, verfolgte mich eine böse Ahnung, und als ich eine Stunde später sein elegantes, etwas düsteres Büro mit den schweren Samtvorhängen betrat, der Richter sich abrupt von seinem englischen Stuhl erhob und ich in sein blasses, abgezehrtes Gesicht blickte, das aussah, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen, erfasste mich eine unbestimmte Furcht. Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass offenbar alles stimmte, was über seinen Reichtum gesagt wurde. Man brauchte ihn sich nur anzuschauen. Sein Auftreten war das eines Mannes, der eine hervorragende Erziehung genossen und dem es nie an Geld gefehlt hatte. Er besaß die unverwechselbare Eleganz eines Grandseigneur. Sein Anzug war aus feinstem Stoff maßgeschneidert. Er trug eine blaue Krawatte mit hauchzarten roten Streifen. Seinem immer noch jugendlichen Körper, an dem nicht ein Gramm Fett zu viel saß, waren seine gut fünfzig Jahre nicht anzusehen. Er hatte einen makellosen, langen, straffen Hals, und sein kantiges Gesicht mit den wenigen Falten wirkte ungemein anziehend. Aber all das vermochte nicht das Unbehagen zu verbergen, das ihm aus allen Poren drang. Ich hatte noch keine Frage gestellt und wusste doch bereits: Der Richter war verwundbar.