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Mit 59 farbigen Fotos und einer Karte

Für Svenja

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1.Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96672-6

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Redaktion: Fabian Bergmann, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-

buchgestaltung.de

Covermotiv: Svenja Kleinschmidt

Fotos im Bildteil: Fredy Gareis außer Der Barbier von Nablus (Svenja Kleinschmidt), Auf Hisbollah-Terrain im Libanon und Schatila-Flüchtlingslager in Beirut (Johannes Honsell), Durch das bosnische Hochland auf der Suche nach einer asphaltierten Straße, Branko zeigt seine in Haut gestochene Geschichte. Zeltbau im Garten... und ...ein bosnisches Kaffeegedeck (Björn Harvig)

Karte: Denise Sterr

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

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Twenty years from now

you will be more disappointed

by the things you didn’t do

than by the ones you did do.

MARK TWAIN

PROLOG

Die Sonne bringt die Luft zum Flirren, sie strahlt auf die judäischen Wüstenberge, sie brezelt auf meinen glatt rasierten Kopf, bringt mich zum Schwitzen: In Strömen läuft es an mir herunter, so viel Wasser sieht das Westjordanland nicht alle Tage.

Ich muss kämpfen auf dieser steilen Straße zwischen Bethlehem und Ma’ale Adumim, zwischen palästinensischem Westjordanland und israelischem Siedlungsgebiet. Ich keuche, trete rhythmisch, bin aber so langsam, dass ich auch schieben könnte.

Der Verkehr röhrt an mir vorbei. Ich versuche, nicht auf die grauen Befestigungen des israelischen Checkpoints am Ende der Straße zu schauen, hefte meinen Blick auf den Asphalt, bewege mich auf meinem Rad von der einen zur anderen Seite, schwankend wie ein Wüstenkamel.

Ich konzentriere mich auf meine Atmung, auf die Muskeln in meinen Beinen, auf die Körnung des Asphalts.

Ein Auto schiebt sich von links in mein Blickfeld, eine schwarze Skoda-Limousine, sie schneidet mir den Weg ab und kommt direkt vor mir zum Stehen. Zwei Männer steigen aus. Zwei bleiben im Fond und werfen mir durch das Rückfenster Blicke zu, die scharf sind wie gewetzte Messer.

»POLICE!«, schreit einer der Ausgestiegenen, ein breitschultriger Mann mit Schnauzer und schwarzem, dreckigem T-Shirt. Sein Unterarm ist voller Tätowierungen, primitiven Stechereien, ohne Maschine in die Haut geritzt.

Police my ass.

Sein Kollege geht um mich herum, schneidet mir den Fluchtweg ab. Er legt die Hand an die Hüfte, als wäre er bereit, ein Messer, eine Knarre zu ziehen. Er ist schmal und hat einen krummen Rücken, schulterlange, fettige Haare. Hinterhältig sieht er aus, fies wie ein Schurke aus »Tausendundeiner Nacht«.

Schnauzer tritt dicht an mich ran. Er rüttelt an meiner Lenkertasche.

»Can I see ID?«, frage ich und weiß doch, dass ich keine sehen werde.

Schnauzer rüttelt weiter an der Lenkertasche, er will sie aufreißen, scheitert am Ortlieb-System. Er schreit mich wieder an: »MONEY! TELEPHONE!« Ich rieche seinen fauligen Atem.

Meine Scheiße, wie bin ich bloß auf diese verrückte Idee gekommen, hier durchzufahren?

Ah ja, ich wollte ein Abenteuer. Nach zwei Jahren als Korrespondent im Nahen Osten war ich konfliktmüde, nach sieben Jahren als freier Journalist medienmüde. Fühlte mich wie ein Parasit, der nur von den Geschichten der anderen lebt. Aber wo war meine eigene dabei geblieben? Wann hatte ich zum letzten Mal meiner Stimme zuhören können? Immer übertönt vom Grundrauschen des Arbeitsalltags.

Vor Jahren hatte ich über ein paar sehr mutige Frauen geschrieben. Eine von ihnen war Roz Savage (wie großartig ist denn dieser Nachname?), eine Bankerin in der Londoner Hochfinanz, sie hatte Haus, Auto, Mann und noch eine Menge mehr, aber eines Tages, in Sichtweite ihres 40. Geburtstages, setzte sie sich hin und seufzte. Sollte das alles sein? Sie schrieb auf ihrem teuren, persönlichen Papier ihren Nachruf. Sie las die kurzen Zeilen, sie zerknüllte das Blatt, sie machte einen neuen Versuch. Diesmal flossen die Zeilen nur so aufs Papier. Roz schrieb auf, wie man sich an sie erinnern sollte.

Sie kündigte ihren Job. Ruderte die Themse runter. Dann überquerte sie den Atlantik. Dann den Pazifik. Alles alleine.

Ich traf sie auf Hawaii. Roz hatte ihre sandblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und packte Lebensmittel in ihr Boot für die letzte Etappe nach Australien. Zu Hause sagten Freunde, wie geil, dass dich jemand dafür bezahlt, ein Interview auf Hawaii, Mensch, Journalisten haben vielleicht ein Leben. Dabei wäre ich am liebsten mit in das Boot gehüpft und hätte mich in den nächsten Monaten von Erdnussbutter und Sardinen aus der Dose ernährt und dem Schlagrhythmus der Ruder hingegeben.

Der Redakteur kam mit diesem Wechsel von der Hochfinanz auf einen niedrigen Rudersitz überhaupt nicht klar. »Warum«, fragte er immer wieder, »warum macht die das? Ist die verrückt?« Manche verstehen einfach nicht, dass es um mehr geht, als das Leben nur der Länge nach abzuleben. Auch die Breite will genutzt werden.

Die Gedanken waren mir nicht neu. Aber dann frisst der Alltag dich auf. Die Wochen und Monate vergehen – und kommen nie wieder zurück. Es ist so, wie der römische Philosoph Seneca einst geschrieben hat: »Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, den wir leben. Die gesamte übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit.« True, true.

Etwas für den Körper wäre gut, sagte ich mir. Den Kopf defragmentieren. Sich des ganzen digitalen Mülls entledigen, der sinnlosen Nachrichten, Posts, Tweets. Zu viel Oberfläche, zu wenig Tiefe. Mir zumindest frittiert die Datenflut das Gehirn. Ich muss raus, muss auf Infodiät.

Nur, was tun? Rudern wie Roz oder wandern wie Wolfgang Büscher? Ich dachte an meine Reise nach Russland, schon ein paar Jahre her, und an Björn, meinen dänischen Freund – zwei Meter groß, Bart, Typ Wikinger –, den ich in Odessa getroffen hatte. Ich war auf dem Rückweg von Sibirien, wo ich meiner Familiengeschichte bis ins ehemalige Straflager meiner Oma gefolgt war, an den Himbeersee und den Ort gleichen Namens, in der Nähe der kasachischen Grenze. Dorthin war meine Oma mit ihrer Familie deportiert worden, hatte zehn Jahre für Stalin im Winter gefrorenes Soda aus den kleinen, wirklich himbeerfarbenen Seen in der Umgebung brechen müssen. Russlanddeutsche, die zwangsrepatriiert worden waren.

Björn war damals gerade unterwegs in den Iran. Mit dem Rad. Sein Bart war so buschig, dass er ein Vogelnest darin hätte verstecken können.

Abends in der Nähe der Potemkinschen Treppe saßen wir in einer Bar, vor uns eine Karaffe Wodka, eine Karaffe Wasser, getrockneter Fisch, und Björn erzählte mir von dem Dorf in der Ukraine, wo ihn die Lokalzeitung auf die Titelseite gezerrt hatte, mit einem Zwei-Kilo-Stück Speck, Geschenk der Gemeinde, abgelichtet hatte. Er erzählte von der Familie in der Nähe von Tschernobyl, die ihn für ein paar Tage aufgenommen hatte. Der Vater redete von den Kindern, die die Eltern hatten wegschicken müssen, damit sie nicht in der Strahlung aufwuchsen. Die Familie teilte mit Björn Essen und Tränen. Im Kaukasus war er Menschen begegnet, die mit Kalaschnikows in den Bäumen saßen und ihn schon von Weitem mit seinem Rad kommen sahen.

»Es gibt keine bessere Art zu reisen«, sagte Björn.

»Warum?«

»Entweder denken die Leute, du bist harmlos, und das noch in der gefährlichsten Gegend. Oder sie haben einfach so viel Mitleid mit dem armen Tropf, der sich keinen anderen Transport leisten kann, dass sie dir Tür und Tor öffnen.«

»MONEY!! TELEPHONE!!« Der Schnauzer schreit immer noch, Krummrücken hält die Umgebung im Blick. Die beiden sind nicht im Geringsten nervös. Die haben schon viel Schlimmeres gemacht, denke ich mir. Ich verhalte mich ruhig, kann sowieso weder vor noch zurück. So viel zu Mitleid mit dem armen Tropf.

Der Verkehr fließt weiter an mir, an uns vorbei. Wie sieht diese Szene wohl aus den Autofenstern aus? Mein Herz schlägt schnell, ich kann es hören in meiner Brust, laut und deutlich. Obwohl die Typen mich eingekeilt haben, denke ich an Flucht. Soll ich es wagen? Die Straße in entgegengesetzter Richtung runterrasen? Was dann?

Ich bin nicht naiv. Ich habe damit gerechnet, überfallen zu werden. Aber doch nicht hier. Nicht in meinem Revier.

Über mir der azurblaue Himmel. Neben mir die sandbraunen Wüstenberge. Unter mir die graue Straße. Vor mir der Schnauzer. »MONEY!!! TELEPHONE!!!«, schreit er zum wiederholten Mal, und ich fühle seinen Speichel auf meinem Gesicht. Er reißt an der Lenkertasche, endlich hat er sie offen, von hinten tritt Krummrücken näher ran, ich schaue zu den grauen Befestigungstürmen des israelischen Checkpoints. Sie sind verdammt weit weg. Super Urlaub.