Cover
Cover

Etwas Schreckliches ist geschehen. Und der Navajo-Indianer Hosteen Tso benötigt die Hilfe von Listening Woman, einer weisen Frau, die die Stimmen der Götter und Geister hören und verstehen kann. Doch sie kommt mit ihrer Hilfe zu spät. Der Mörder ist schneller...

Tony Hillerman wurde für seine Ethno-Krimis mit den Navajo-Cops Joe Leaphorn und Jim Chee von der Navajo Tribal Police mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet! 

1

Der Südwestwind ließ sich von den San Francisco Peaks ein paar heftige Böen und Wirbel mitgeben, er heulte über die Leere des Moenkopi-Plateaus und verursachte tausend seltsame Geräusche in den Fenstern der alten Hopi-Dörfer in Shongopovi und auf der Second Mesa. Zweihundert unbewohnte Meilen weiter im Nordosten bearbeitete er die Steinskulpturen des Monument Valleys im Naturpark der Navajo-Indianer wie ein Sandgebläse und pfiff weiter im Osten über das Gewirr von Canyons an der Grenze zwischen Utah und Arizona. Über der trockenen Weite der Nokaito Bench erfüllte er den klaren blauen Himmel mit zischendem Rauschen. Beim Hogan von Hosteen Tso, um 15.17 Uhr, frischte er auf, bildete starke Wirbel und schließlich einen Staubteufel, der die Wagenspur überquerte, mit dröhnendem Brausen über den alten Dodge-Lieferwagen von Margaret Cigaret hinwegfegte und dicht an der Buschlaube von Tso vorbeiraste. Die drei Menschen in der Laube duckten sich, um sich so vor dem hochgewirbelten Staub zu schützen. Tso bedeckte die Augen mit beiden Händen und beugte sich in seinem Schaukelstuhl nach vorn, wobei ihn der Sand auf den nackten Schultern stach. Anna Atcitty drehte dem Sturm den Rücken zu und legte die Hände auf ihr Haar, denn wenn das hier vorbei war und sie Margaret Cigaret wieder nach Hause gebracht hatte, würde sie sich mit dem neuen, jungen Gehilfen von der Handelsstation Short Mountain treffen. Und Mrs. Margaret Cigaret, die auch Blind Eyes und Listening Woman hieß, warf ihren Schal über die magischen Utensilien, die auf dem Tisch in der Laube lagen. Dabei drückte sie die Enden des Schals gegen die Tischkante, damit nichts davonfliegen konnte.

«Verdammter, dreckiger Wind», sagte sie. «Verdammter Hurenwind.»

«Das sind die Blue Flint-Boys; die haben ihn geärgert», erklärte Hosteen Tso mit seiner zittrigen Altmännerstimme. Er wischte sich die Augen mit den Handrücken und schaute dem Staubwirbel nach.

«Das hat mir mein Vater gesagt. Die Blue Flint-Boys ärgern den Wind, wenn sie ihre Spielchen treiben.»

Listening Woman legte sich den Schal wieder um die Schultern, tastete behutsam nach der Sammlung von Fläschchen, Bürsten und Fetischen auf dem Tisch, fand ein durchsichtiges Plastikfläschchen aus der Apotheke und schraubte es auf.

«Denkt nicht daran, was die Blue Flint-Boys tun», sagte sie. «Denkt lieber an das, was wir tun. Denk daran, wie du dieses Leiden in deinen Körper bekommen hast.» Sie schüttete eine Prise gelber Maispollen aus dem Fläschchen und richtete ihre blinden Augen auf die Stelle, wo das Mädchen stand. «Paß jetzt auf, Tochter meiner Schwester. Wir werden diesen Mann mit den Pollen segnen. Weißt du noch, wie wir das machen?»

«Du singst das Lied des Talking God», sagte Anna Atcitty. «Das Lied über den aus dem Wasser Geborenen und den Töter des Ungeheuers.» Sie war ein hübsches Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt. Auf ihr T-Shirt waren die Wörter GANADO HIGH SCHOOL und TIGER PEP gedruckt.

Listening Woman streute die Pollen behutsam über die Schultern von Hosteen Tso und sang dazu leise in der melodischen Navajosprache. Die linke Gesichtshälfte des alten Mannes war vom Unterkiefer bis zum Haaransatz blauschwarz bemalt. Ein blauschwarzer Fleck bedeckte den mageren Brustkorb über dem Herzen, und weiter oben wölbte sich die bunte Figur des Regenbogenmannes über Tsos Brust, von der einen Brustwarze zur anderen, gemalt von Anna Atcitty in den Ritualfarben Blau, Gelb, Grün und Grau. Er hatte seinen mageren Körper gerade aufgerichtet, wie er in dem Schaukelstuhl saß; sein Gesicht war gezeichnet von Krankheit, Geduld und unterdrückten Schmerzen. Der Gesang von Listening Woman wurde plötzlich lauter. «In Schönheit sei es vollendet», sang sie. «In Schönheit sei es vollendet.»

«Okay», sagte sie nach einer Weile. «Jetzt gehe ich und lausche nach der Erde, damit sie mir sagt, was dich krank macht». Sie tastete wieder auf dem Tisch herum, sammelte die Fetische und Amulette ein, die zu ihrer Berufsausübung gehörten, und suchte dann ihren Spazierstock. Margaret Cigaret mußte früher einmal schön gewesen sein: eine große Frau, bekleidet mit dem traditionellen, weiten Rock und der blauen Seidenbluse ihres Volkes. Sie steckte die letzten Fläschchen in ihre schwarze Plastikhandtasche, ließ sie zuschnappen und richtete dann ihre blicklosen Augen auf Tso. «Überleg jetzt noch einmal gut, bevor ich gehe. Wenn du träumst, dann träumst du von deinem Sohn, der tot ist, und von dem Ort, den du die bemalte Höhle nennst – ist das richtig? Gibt es keine Hexer in deinem Traum?» Sie hielt inne, um Tso für seine Antwort Zeit zu lassen.

«Nein», sagte er. «Keine Hexen oder Skinwalker.»

«Keine Hunde? Keine Wölfe? Nichts von den Navajo-Wölfen?»

«Nichts von Hexen», sagte Tso. «Ich träume von der Höhle.»

«Warst du vielleicht bei den Huren drüben in Flagstaff? Oder hast du es mit einer von deinem Volk getrieben?»

«Zu alt», erwiderte Tso und lächelte ein wenig.

«Hast du Holz verbrannt, das von einem Blitz getroffen worden ist?»

«Nein.»

Listening Woman stand mit ernstem Gesicht da und starrte mit ihren blinden Augen an ihm vorbei. «Hör zu, alter Mann», sagte sie, «du solltest mir mehr davon erzählen, wie diese Sandbilder entweiht worden sind. Wenn du nicht willst, daß die Leute es erfahren, kann Anna hinter den Hogan gehen. Dann weiß es niemand außer dir und mir. Und ich verrate keine Geheimnisse.»

Hosteen Tso lächelte wieder, ein Hauch eines Lächelns. «Aber jetzt weiß es niemand außer mir», sagte er, «und ich verrate erst recht keine Geheimnisse.»

«Vielleicht kann ich dir dann sagen, warum du krank bist», gab ihm Listening Woman zu bedenken. «Mir kommt es wie Hexerei vor. Sandbilder werden entweiht, hast du gesagt. Wenn es bei einer einzigen Zeremonie mehr als ein Sandbild gibt, hieße das, daß jemand die Zeremonie falsch gemacht hat. Eine falsch ausgeführte Zeremonie würde den Segen ins Gegenteil verkehren. Das wäre dann Hexerei. Wenn du dich mit Navajo-Wölfen herumgetrieben hast, brauchst du eine andere Kur.»

Tsos Gesicht war nun wieder steinern und verschlossen. «Du sollst eines begreifen, Weib: Ich habe vor langer Zeit ein Versprechen gegeben. Es gibt Dinge, über die ich nicht reden darf.»

Das Schweigen dehnte sich, wobei Listening Woman eine Vision betrachten mochte, wie sie die Blinden in ihren Köpfen haben, während Hosteen Tso hinausstarrte über das Hochplateau und Anna Atcitty mit ausdruckslosem Gesicht auf das Ergebnis dieser Geduldsprobe wartete.

«Ich habe vergessen, dir etwas zu sagen», begann Tso zuletzt.

«An dem Tag, als die Sandbilder entweiht wurden, habe ich einen Frosch getötet.»

Listening Woman schaute ihn erschreckt an. «Wie?» fragte sie. Nach der komplizierten Metaphysik der Navajos war der philosophische Begriff, der sich in den Fröschen ausdrückte, ein Begriff des Heiligen Volkes. Wenn man die Tiere oder Insekten tötete, die solche heiligen Begriffe repräsentierten, verstieß man gegen ein elementares Tabu, und die Folge davon waren angeblich Krankheiten, die den Menschen zum Krüppel machten.

«Ich bin zwischen den Felsen geklettert», sagte Tso. «Ein größerer Felsbrocken ist nach unten gefallen und hat den Frosch zerschmettert.»

«Bevor die Sandbilder entweiht wurden oder danach?»

«Danach», sagte Tso. Er hielt inne. «Ich werde nicht mehr über die Sandbilder sprechen. Ich habe alles gesagt, was ich sagen kann. Ich habe dieses Versprechen meinem Vater gegeben und dem Vater meines Vaters. Wenn ich eine Geisterkrankheit habe, kommt sie vom Geist meines Urgroßvaters, weil ich dort war, wo sein Geist sein könnte. Mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.»

Der Ausdruck, den Listening Woman zeigte, war grimmig. «Warum willst du dein Geld verschwenden, alter Mann?» fragte sie. «Du läßt mich den ganzen weiten Weg hierherkommen, damit ich herausfinde, was für eine Kur du brauchst. Und jetzt willst du mir nicht sagen, was ich wissen muß.»

Tso saß bewegungslos da und schaute geradeaus vor sich hin.

Listening Woman wartete und zog die Stirn in Falten.

«Verdammt noch mal!» sagte sie schließlich. «Ich muß einfach etwas darüber wissen. Du glaubst, du bist bei ein paar Hexern gewesen. Allein das Beisammensein mit ihnen kann schon krank machen. Ich muß etwas darüber wissen.»

Tso sagte nichts.

«Wie viele Hexer waren es?»

«Es war dunkel», sagte Tso. «Vielleicht zwei.»

«Haben sie dir etwas getan? Haben sie etwas auf dich geblasen? Haben sie Leichenpulver auf dich gestreut? Irgendwas in der Art?»

«Nein», sagte Tso.

«Und warum nicht?» fragte Mrs. Cigaret. «Bist du vielleicht selbst ein Navajo-Wolf? Bist du einer von den Hexern?»

Tso lachte. Es war ein nervöses Lachen. Er warf einen Blick auf Anna Atcitty – einen hilfesuchenden Blick.

«Ich bin kein Skinwalker», sagte er.

«Es war dunkel», wiederholte sie spöttisch. «Aber vorhin hast du gesagt, daß es am Tag war. Bist du vielleicht in der Behausung der Hexer gewesen?»

Tsos Verlegenheit verwandelte sich in Zorn.

«Weib», fuhr er sie an, «ich sagte dir bereits, ich kann nicht verraten, wo es war. Ich habe ein Versprechen gegeben. Wir wollen nicht mehr darüber reden.»

«Großes Geheimnis», sagte Mrs. Cigaret. Ihr Ton war sarkastisch.

«Jawohl», bekräftigte Tso. «Es ist ein großes Geheimnis.»

Sie machte eine ungeduldige Geste. «Ach, zum Teufel», sagte sie. «Es ist dein Geld, das da vergeudet wird, aber ich habe keine Lust, meine Zeit zu vergeuden. Wenn ich nichts höre oder wenn ich mich täusche, liegt es daran, daß du mir nicht alles oder nicht genug gesagt hat. Anna wird mich jetzt dahin bringen, wo ich die Stimme der Erde hören kann. Laß das Bild auf deiner Brust so, wie es ist. Wenn ich zurückkomme, werden wir ja sehen, ob ich dir sagen kann, was für einen Gesang du brauchst.»

«Warte.» Tso zögerte. «Eines noch. Weißt du, wie man einen Brief an jemanden schickt, der auf der Jesus-Straße geht?»

Listening Woman runzelte wieder die Stirn. «Du meinst, der aus dem Großen Reservat weggegangen ist? Frag den alten Mann McGinnis. Er wird ihn für dich abschicken.»

«Ich habe ihn gefragt. McGinnis weiß nicht, wie man es macht», erklärte Tso. «Er sagt, man muß den Ort daraufschreiben, an den der Brief geschickt werden soll.»

Listening Woman lachte. «Na klar», sagte sie. «Die Adresse. Wie Gallup, oder Flagstaff, oder wo sie leben, und auch noch den Namen der Straße, in der sie wohnen, solche Dinge. Wem willst du denn schreiben?»

«Meinem Enkel», sagte Tso. «Ich möchte, daß er herkommt. Aber ich weiß nur, daß er mit den Jesus-Leuten gegangen ist.»

«Ich habe keine Ahnung, wie du ihm ohne Adresse einen Brief schicken kannst», erwiderte Listening Woman. Sie hatte ihren Spazierstock gefunden. «Mach dir deshalb keine Sorgen. Jemand anders kann dir einen Sänger besorgen, und auch alles andere.»

«Aber ich muß ihm etwas sagen», erklärte Hosteen Tso. «Ich muß ihm etwas sagen, bevor ich sterbe. Unbedingt.

«Ich weiß nicht ...» Listening Woman wandte sich ab und tastete mit ihrem Stock nach dem Stützpfeiler in der Mitte der Laube, um sich die Richtung einzuprägen. «Komm jetzt, Anna. Bring mich an den Ort, wo ich lauschen kann.»

Listening Woman fühlte die Kühle der Felsklippe, bevor der Schatten ihr Gesicht berührte. Sie hatte sich von Anna zu einer Stelle führen lassen, wo die Erosion eine nach oben offene, sandbedeckte Ausbuchtung im Gestein gebildet hatte. Dann schickte sie das Mädchen weg; es sollte zurückkommen, wenn sie nach ihm rief. Anna war in mancherlei Beziehung gelehrig, eine gute Schülerin, in anderen eine schlechte. Aber wenn sie erst einmal nicht mehr so verrückt nach den jungen Burschen war, würde sie eine gute «Lauscherin» werden können. Die Nichte von Listening Woman hatte wie ihre Tante die seltene Gabe, die Stimmen im Wind zu hören und die Visionen zu empfangen, die aus der Erde kamen. Es war ein Talent, das in der Familie lag – eine Gabe, mit der es einem gelang, die Ursachen der Krankheiten weiszusagen. Der Onkel ihrer Mutter war ein «Hand-Zitterer» gewesen, und er war in den ganzen Short Mountains für die Diagnose der Blitzkrankheit berühmt. Und Listening Woman selbst war, wie sie sehr wohl wußte, in diesem Teil des Großen Reservats weit und breit bekannt. Eines Tages würde auch Anna so bekannt sein.

Jetzt ließ sich Listening Woman auf den Sand nieder, drapierte dann ihren Rock rings um den Körper und lehnte die Stirn gegen den Stein. Er war kühl und rauh. Erst stellte sie fest, daß sie an das dachte, was ihr der alte Mann Tso gesagt hatte, und versuchte, daraus seine Krankheit zu diagnostizieren. Es war etwas an diesem Tso, das sie beunruhigte, mehr noch, das sie sehr traurig machte. Dann reinigte sie ihre Gedanken von alledem und dachte nur an den frühen Abendhimmel und an das Licht eines einzelnen Sterns. Sie ließ den Stern in ihren Gedanken größer werden und erinnerte sich daran, wie er ausgesehen hatte, bevor die Blindheit über sie gekommen war.

Eine Windbö pfiff durch die verkrüppelten Pinien an der Mündung dieser Ausbuchtung in der Felswand. Sie bewegte den Rock von Listening Woman, so daß einer ihrer blauen Tennisschuhe zu sehen war. Listening Woman atmete jetzt tief und regelmäßig. Der Schatten der Klippe bewegte sich Zentimeter für Zentimeter über den sandigen Fleck. Listening Woman stöhnte, stöhnte noch einmal, murmelte etwas Unverständliches und verfiel dann in tiefes Schweigen.

Irgendwo weiter unten krächzte ein halbes Dutzend Raben und erhob sich erschreckt in die Luft. Der Wind frischte kurz auf, dann starb er fast ganz ab. Eine Eidechse kam aus einer kleinen Höhle im Felsen, richtete ihre kalten, unbewegten Augen starr auf die Frau und lief dann schnell zu ihrem Nachmittags-Jagdplatz unter einem Haufen Büschelgras. Gleich danach erreichte ein Geräusch, das teils vom Wind, teils von der Entfernung gedämpft wurde, den sandbedeckten, geschützten Platz. Eine Frau, die schrie. Ein Schrei, der sich erst erhob, dann senkte – ein Schluchzen. Anschließend war es wieder still. Die Eidechse fing eine Bremse. Listening Woman atmete weiter.

Der Schatten der Klippe hatte sich fünfzig Meter bergab bewegt, als sich Listening Woman steif aus dem Sand hochstemmte und auf die Beine kam. Sie blieb einen Moment lang stehen, den Kopf gesenkt, beide Hände gegen das Gesicht gepreßt und noch halb versunken in die Entrücktheit der Trance. Es war, als wäre sie hineingegangen in den Felsen und durch ihn in die Schwarze Welt ganz am Beginn der Zeiten, als es nur das Heilige Volk gab und als das, was später einmal die Navajos werden sollten, noch nichts als Nebel war. Schließlich hatte sie die Stimme gehört und sich in der Vierten Welt wiedergefunden. Sie hatte hinuntergeschaut in das Loch des Felsens und Hosteen Tso gesehen in dem, was vermutlich Tsos bemalte Höhle war. Ein alter Mann hatte in einem Schaukelstuhl gesessen und geschaukelt, und dabei hatte er das Haar mit Bändern geflochten. Erst war es Tso gewesen, aber als der Mann dann zu ihr hochschaute, hatte sie gesehen, daß das Gesicht des Mannes tot war. Rings um den Schaukelstuhl erhob sich die Schwärze ...

Listening Woman rieb sich die Augen mit den Knöcheln, schüttelte den Kopf und rief nach Anna. Sie wußte, was die Diagnose sein würde. Hosteen Tso brauchte ein Lied des Wegs der Berge und ein Schwarzer-Regen-Lied. In der bemalten Höhle war ein Hexer gewesen, zusammen mit Tso, und der alte Mann war mit irgendeiner Geisterkrankheit infiziert worden. Das bedeutete, daß er sich einen Sänger suchen mußte, der den Weg der Berge und den Schwarzen Regen singen konnte. Sie wußte es – aber zugleich war ihr klar, daß es zu spät sein würde. Wieder schüttelte sie den Kopf.

«Mädchen», rief sie, «ich bin jetzt soweit.»

Was würde sie Tso sagen? Mit der verstärkten Hörfähigkeit der Blinden lauschte sie auf Anna Atcittys Schritte und hörte nichts als den sanften Wind.

«Mädchen!» brüllte sie. «Mädchen!» Als sie immer noch nichts hörte, tastete sie sich am Felsen entlang und fand ihren Stock. Sollte sie Tso von der Dunkelheit berichten, die sie um ihn gesehen hatte, als die Stimme zu ihr sprach? Sollte sie von den Schreien der Geister berichten, die sie im Inneren des Felsen gehört hatte? Sollte sie ihm sagen, daß er bald sterben würde?

Die Füße von Listening Woman fanden den Pfad. Sie rief wieder nach Anna, dann brüllte sie nach dem alten Mann Tso, er solle herkommen und sie führen. Wartete wieder und hörte nichts als die Bewegung der Luft. Jetzt tastete sie sich vorsichtig den Schafspfad entlang und brummte wütend vor sich hin. Ihre Stockspitze warnte sie vor einem Kaktus, half ihr, einer Senke auszuweichen und gleich danach einem Felsvorsprung. Sie tippte damit gegen einen Haufen toten Büschelgrases und berührte den kleinen Finger der ausgestreckten, linken Hand von Anna Atcitty. Die Handfläche war nach oben gerichtet, der Wind hatte etwas Sand hineingeweht, und selbst für die gefühlvolle Berührung von Listening Woman war der Finger nur ein Zweig oder ein Stückchen Holz. Und so tastete sie sich weiter, rief immer wieder und brummte zwischendurch unwillig vor sich hin, bis sie hinunterkam zu der Stelle, wo der Leichnam von Hosteen Tso ausgestreckt neben dem umgekippten Schaukelstuhl lag. Noch immer hatte er die Zeichnung des Regenbogenmannes auf der Brust.

2

Der Lautsprecher des Funkgeräts knackte und grollte und sagte dann: «Tuba City.»

«Einheit neun», antwortete Joe Leaphorn. «Habt ihr was für mich?»

«Einen Moment, Joe.» Die Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, klang angenehm feminin.

Der junge Mann, der auf der Beifahrerseite des Geländewagens der Navajo-Polizei saß, schaute durch das Fenster hinaus auf den Sonnenuntergang. Die letzten Strahlen ließen die rauhen Umrisse der San Francisco Peaks am Horizont deutlich hervortreten, färbten das feine Gespinst hoher Wolken leuchtend rosa, wurden auf die darunterliegende Wüstenlandschaft reflektiert und auf das Gesicht des Mannes. Ein flaches, mongoloides Gesicht mit feinen Linien um die Augen, die ihm einen etwas spöttisch-boshaften Ausdruck verliehen. Er hatte einen schwarzen Stetson aus Filz auf dem Kopf und trug dazu eine Jeansjacke und ein Cowboyhemd im Rodeostil. An seinem linken Armgelenk war eine Timex für 12.95 $ mit schwerem Metallarmband, und dieses linke Armgelenk war mit der Standardausführung von Polizeihandschellen an das rechte gefesselt. Er schaute Leaphorn kurz an, begegnete dessen Blick und nickte in Richtung auf den Sonnenuntergang.

«Ja», sagte Leaphorn. «Hab ich schon gesehen.»

Das Funkgerät fing wieder zu knacken an. «Also dann, es geht los, Joe», sagte die Frauenstimme. «Der Captain hat gefragt, ob Sie den Begay-Jungen haben. Er meinte, Sie sollten ihn nicht wieder entwischen lassen.»

«Jawohl, Ma’am», sagte jetzt der junge Mann. «Sie können dem Captain sagen, daß der Begay-Junge festgenommen ist.»

«Ich hab ihn hier», bestätigte Leaphorn.

«Und sagen Sie ihr, daß ich diesmal die Zelle mit dem Fenster haben möchte», fügte der Junge hinzu.

«Begay sagt, er möchte die Zelle mit dem Fenster», gab Leaphorn durch.

«Und mit dem Wasserbett», sagte Begay.

«Und der Captain möchte mit Ihnen sprechen, wenn Sie hier sind», kam es aus dem Lautsprecher.

«Worüber?»

«Das hat er nicht gesagt.»

«Aber ich wette, Sie wissen es.»

Der Lautsprecher schepperte vor Lachen. «Na ja», sagte die Stimme. «Window Rock hat angerufen und den Captain gefragt, warum Sie nicht drüben sind und bei den Pfadfindern aushelfen. Wann können Sie hier in Tuba City sein?»

«Wir sind auf der Navajo-Route 1 westlich von Tsegi», sagte Leaphorn. «In etwa einer Stunde dürften wir es schaffen.» Er schaltete den Sendeknopf am Gerät aus.

«Was ist das für eine Sache mit den Pfadfindern?» fragte Begay.

Leaphorn stöhnte. «In Window Rock hatte man die grandiose Idee, die Boy Scouts of America zu einer Art überregionalem Feldlager im Canyon de Chelly einzuladen. Die Jungs fallen ein wie ein Schwarm Heuschrecken, aus dem ganzen Westen. Und natürlich soll sich der Hüter des Gesetzes darum kümmern, daß sich niemand verläuft oder von einer Klippe fällt.»

«Na ja», sagte Begay. «Dafür werdet ihr ja auch bezahlt.»

Weit links, an die zehn Meilen das dunkle Klethla Valley hinauf, glitt eine Nadelspitze von Licht über die Route 1 auf sie zu. Begay hielt in der Bewunderung des Sonnenuntergangs inne und beobachtete das Licht. Dann pfiff er durch die Zähne. «Da kommt ein schneller Indianer.»

«Ja», sagte Leaphorn. Er ließ den Geländewagen den Hügel hinunterrollen, auf den Highway zu, und schaltete dann die Scheinwerfer ab.

«Das ist hinterlistig», sagte Begay.

«Aber es schont die Batterie», erwiderte Leaphorn.

«Genauso hinterlistig, wie Sie mich geschnappt haben», fügte Begay hinzu. In seinen Worten lag kein Groll. «Parkt auf der anderen Seite des Hügels und kommt dann einfach auf den Hogan zu, so daß kein Mensch ihn für einen Polizisten hält.»

«Ja», sagte Leaphorn.

«Wieso haben Sie überhaupt gewußt, daß ich bei dem Fest zu finden bin? Haben Sie herausbekommen, daß die Endischees mein Clan sind?»

«Genau», sagte Leaphorn.

«Und außerdem sind Sie dahintergekommen, daß es ein Kinaalda für dieses Endischee-Mädchen geben würde?»

«Ja», bestätigte ihm Leaphorn. «Und ich habe damit gerechnet, daß du hinkommst.»

Begay lachte. «Selbst wenn nicht, wäre das immerhin viel besser gewesen als weit und breit herumzurennen und nach mir zu suchen.» Er warf einen Blick auf Leaphorn. «Lernt man so was auf dem College?»

«Ja», sagte Leaphorn. «Wir haben einen Extrakurs absolvieren müssen: Wie fängt man Begays.»

Der Geländewagen holperte über eine Viehweide und den steilen Hang hinunter zum Straßengraben, dann hinauf zur Straße, wo Leaphorn den Wagen auf dem Randstreifen in Gegenrichtung parkte und auch die Zündung abschaltete. Es war inzwischen fast dunkel geworden; nur am westlichen Horizont war noch der Abglanz der untergegangenen Sonne zu erkennen, und die Venus stand hell im unteren Himmelsviertel. Die Hitze war zusammen mit dem Licht verschwunden; jetzt verbreitete sich die Kühle der Nacht in der dünnen Luft dieses Hochlands. Eine Brise wehte durch die offenen Fenster des Wagens herein und trug das schwache Geräusch von Insekten mit sich und den Ruf eines Ziegenmelkers, der seine nächtliche Jagd begonnen hatte. Die Brise legte sich, und als sie erneut auffrischte, kam mit ihr das hohe Heulen eines Motors und das Dröhnen von Reifen – noch ein paar Meilen entfernt.

«Der Schweinehund kommt ganz schön voran», sagte Begay. «Hören Sie sich das an.»

Leaphorn lauschte.

«Hundert Stundenmeilen. Begay kicherte. «Wahrscheinlich sagt er Ihnen, daß sein Tacho kaputt ist.

Das Licht der Scheinwerfer erreichte den Hügel, kippte dann nach unten und raste die kleine Anhöhe hinauf, die noch zwischen ihnen lag. Leaphorn schaltete den Motor und die Scheinwerfer ein, gleich danach auch die rote Warnblinkleuchte auf dem Dach. Einen Augenblick lang änderte sich nichts an dem sich nähernden Dröhnen. Dann senkte sich die Tonhöhe des Motors abrupt, man hörte das quietschende Geräusch von Gummi auf der Teerdecke der Straße und das Getöse eines herunterschaltenden Wagens. Er fuhr auf den Seitenstreifen und hielt etwa fünfzehn Meter vor dem Wagen der Polizei. Leaphorn nahm sein Notizbrett von der vorderen Ablage und stieg aus.

Zuerst konnte er gar nichts sehen im blendenden Licht der Scheinwerfer. Dann erkannte er den Mercedesstern auf der Motorhaube und dahinter die Windschutzscheibe. Alle zwei Sekunden warf das Blinklicht seinen roten Schein darauf. Leaphorn ging über den Kies des Seitenstreifens auf den Wagen zu und ärgerte sich über die aufgeblendeten Scheinwerfer. In den roten Blitzen seines Blinklichts sah er das Gesicht des Fahrers, der ihn durch eine runde Brille mit Goldrahmen anstarrte. Und dahinter, auf dem Rücksitz, ein anderes Gesicht, ungewöhnlich groß und seltsam geformt.

Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster. «Officer», brüllte er, «Ihr Wagen rollt zurück.

Dabei zeigte er ein breites, fröhliches Grinsen der Vorfreude, das jetzt deutlich im roten Blinklicht zu erkennen war. Und hinter dem Grinsenden, vom Rücksitz her, schauten andere Augen nach vorn, schwach zu erkennen, aber irgendwie gierig.

Leaphorn drehte sich herum und wandte sich, geblendet vom grellen Licht, seinem Wagen zu. Sein Verstand sagte ihm, daß er natürlich die Handbremse gezogen hatte und daß der geparkte Wagen nicht auf ihn zurollte. Dann hörte er die Stimme Begays, der ihm eine Warnung zubrüllte. Leaphorn hechtete instinktiv auf den Straßengraben zu, hörte, wie der Motor des anfahrenden Mercedes aufheulte und dann das dumpfe, seltsamerweise schmerzlose Geräusch, als der vordere Kotflügel des Mercedes sein Bein traf und den bereits im Flug befindlichen Körper in das Gebüsch am Straßenrand schleuderte.

Eine Sekunde später versuchte er aufzustehen. Der Mercedes war bereits über den Highway verschwunden, wobei er das durch die Entfernung leiser werdende Heulen heftiger Beschleunigung hinter sich herzog, und Begay war neben dem Polizeibeamten und half ihm hoch.

«Vorsicht, mein Bein», sagte Leaphorn. «Laß mich erst sehen, was damit ist.»

Es war taub, aber es trug sein Gewicht. Die Schmerzen, die er fühlte, beschränkten sich weitgehend auf die Hände, die seinen Sturz am Gestrüpp und am trockenen Lehm des Straßengrabens abgebremst hatten – und auf seine Wange, die eine lange, aber nicht allzutiefe Wunde abbekommen hatte – einen Kratzer nur, der allerdings heftig brannte.

«Der Schweinehund hat versucht, Sie zu überfahren», erklärte Begay. «Was sagt man dazu?»

Leaphorn humpelte zu seinem Wagen, setzte sich ans Lenkrad und schaltete mit der einen, blutenden Hand das Funkgerät wieder ein und mit der anderen die Zündung. Bis er eine Straßensperre am Red Lake angeordnet hatte, stand die Nadel des Tachometers bereits auf mehr als neunzig Stundenmeilen.

«Ich hab schon immer mal so schnell fahren wollen», brüllte Begay über das Jaulen der Polizeisirene hinweg. «Hat der Stamm eine Versicherung für Insassen abgeschlossen, falls mir etwas passiert?»

«Nur eine Sterbegeldversicherung», antwortete Leaphorn.

«Den erwischen Sie nie», rief Begay. «Haben Sie sich den Wagen angeschaut? Es war der Wagen eines reichen Mannes.»

«Hast du dir vielleicht das Kennzeichen gemerkt? Oder hast du diesen sonderbaren Kerl auf dem Rücksitz gesehen?»

«Das war ein Hund», sagte Begay. «Ein großer, wild aussehender Hund. An das Kennzeichen hab ich nicht gedacht.»

Der Lautsprecher räusperte sich. Tomas Charley berichtete, daß er eine einspurige Sperre an der Kreuzung Red Lake aufgebaut hatte. Charley fragte in deutlichem Navajo, ob der Mann im grauen Mercedes eine Schußwaffe habe, und wie man in diesem Fall vorgehen solle.

«Gehen Sie davon aus, daß er bewaffnet und gefährlich ist», sagte Leaphorn. «Der Schweinehund hat versucht, mich zu überfahren. Schießen Sie, wenn er die Fahrt nicht verlangsamt, erst einmal auf die Reifen. Aber vorsichtig, damit Ihnen nichts passiert.»

Charley versicherte ihm, er werde aufpassen, und schaltete das Funkgerät ab.

«Ja, sicher, vielleicht hat er eine Schußwaffe», sagte Begay. Er hielt Leaphorn die gefesselten Hände hin. «Es ist vielleicht doch besser, wenn Sie mir die Dinger abnehmen, für den Fall, daß Sie Hilfe brauchen.»

Leaphorn schaute ihn kurz an, fischte in seiner Tasche nach dem Schlüsselbund und warf ihn auf den Sitz. «Es ist der kleine, glänzende.»

Begay sperrte sich die Handfesseln auf und legte sie dann in das Handschuhfach.

«Warum kannst du bloß das Schafestehlen nicht lassen?» fragte Leaphorn. Er wollte das Bild des Mercedes, der auf ihn zugebraust war, aus seinen Gedanken verscheuchen.

Begay massierte sich die Handgelenke. «Es sind doch nur die Schafe des weißen Mannes. Der merkt gar nicht, daß sie fehlen.»

«Und dann auch noch aus dem Gefängnis ausbrechen! Wenn du das noch mal tust, bist du dran, ist das klar?»

Begay zuckte mit den Schultern. «Ich hab einfach nicht darüber nachgedacht. Außerdem: Das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man aus dem Gefängnis entwischt, ist, daß sie einen wieder hineinstecken.»

«Aber das ist jetzt schon das drittemal», hielt ihm Leaphorn vor. Der Polizeiwagen schlingerte um eine flache Kurve, kam ins Schleudern und fuhr dann wieder geradeaus. Leaphorn drückte das Gaspedal durch.

«Dieser Vogel wollte vermutlich bloß keinen Strafzettel bekommen», sagte Begay. Er schaute Leaphorn an und grinste. «Oder es macht ihm Spaß, Polizisten zu überfahren. Ich könnte mir vorstellen, daß man es lernen kann, daran Spaß zu haben.»

Sie schafften die letzten zwanzig Meilen bis zur Kreuzung Red Lake in weniger als dreizehn Minuten und hielten so abrupt auf dem Randstreifen neben Charleys Streifenwagen an, daß der Kies spritzte.

«Was ist denn?» brüllte Leaphorn. «Ist er vielleicht vorbeigefahren?»

«Er ist gar nicht hier aufgetaucht», antwortete Charley. Er war ein untersetzter Mann mit den Streifen des Corporals Ärmeln seines Uniformhemds. Jetzt zog er die Augenbrauen hoch. «Er kann aber nirgends abgebogen sein», sagte er. «Die Abzweigung bei Kayenta liegt mindestens fünfzig Meilen zurück –»

«Er war schon daran vorbei, als ich ihn aufgehalten habe», unterbrach ihn Leaphorn. «Also muß er doch irgendwo den Highway verlassen haben.»

Begay lachte. «Dieser Hund auf dem Rücksitz. Vielleicht war das ein Navajo-Wolf.»

Leaphorn sagte nichts. Er wendete bereits den Wagen auf dem Highway und machte sich an die Verfolgung.

«Das sind Zauberer, Skinwalker, und die können fliegen, wissen Sie», sagte Begay. «Ob sie dabei allerdings auch einen so großen Wagen tragen können?»

Es dauerte über eine halbe Stunde, bis sie die Stelle gefunden hatten, wo der Mercedes vom Highway abgebogen war. Es war auf dem nördlichen Randstreifen an einem Hügel: Er hatte die befestigte Straße verlassen und war durch ein dünnes Gestrüpp von Kreosotbüschen gefahren. Leaphorn folgte der Spur, in der einen Hand eine Taschenlampe, in der anderen seinen 38er Revolver. Begay und Charley trotteten hinter ihm her, wobei Begay Leaphorns 30-30er Gewehr bei sich hatte. Etwa fünfzig Meter vom Highway entfernt war der Wagen an einem aus dem Boden ragenden Felsblock aufgekommen. Von da an zeichnete sich sein Weg durch eine breite Ölspur ab; offensichtlich war die Ölwanne aufgerissen worden.

«Wie kann man einen so teuren Wagen so schlecht behandeln», sagte Begay kopfschüttelnd.

Sie fanden ihn dreißig Meter weiter, in einem flachen Trockenbett, das vom Highway aus nicht zu sehen war. Leaphorn betrachtete ihn erst einen Moment lang im Licht seiner Taschenlampe, dann ging er vorsichtig darauf zu. Die Fahrertür stand offen, der Kofferraum ebenso. Die Vordersitze waren leer, ebenso der Rücksitz. Auf dem Boden lagen die Abfälle einer längeren Fahrt: Kaugummipapier, Wachspapierbecher, die Verpackung eines Hamburgers der Kette ‹Lotaburger›. Leaphorn nahm das Papier, roch daran. Es roch nach Zwiebeln und gebratenem Fleisch. Er ließ es fallen. Die nächste ‹Lotaburger›-Filiale war 175 Meilen weiter im Osten, in New Mexico. Die Sicherheitsprüfungsplakette war im District of Columbia ausgegeben worden. Auf ihr standen der Name Frederick Lynch und eine Adresse in Silver Spring in Maryland. Leaphorn schrieb sie in sein Notizbuch. Der Wagen roch, wie er feststellte, nach Hundeurin.

«Er hat nicht viel zurückgelassen», sagte Charley. «Aber hier ist ein Maulkorb für einen Hund. Einen großen Hund.»

«Wahrscheinlich ist er zu einem Spaziergang aufgebrochen», meinte Leaphorn. «Platz dafür gibt’s hier mehr als genug.»

«Dreißig Meilen bis zur nächsten Wasserstelle», sagte Charley. «Wenn man weiß, wo sie ist.»

«Begay», bat Leaphorn den Viehdieb, «schau mal nach hinten und gib mir die Nummer des Kennzeichens an.»

Während er es sagte, merkte Leaphorn, daß sein verletztes Bein, das jetzt nicht mehr taub war, zu schmerzen begann. Außerdem fiel ihm auf, daß er Begay nicht mehr gesehen hatte, seit sie zu dem Wagen gekommen waren. Leaphorn kletterte etwas mühsam heraus und leuchtete sofort mit seiner starken Taschenlampe die Umgebung ab. Da war Corporal Charley, der noch immer den Rücksitz inspizierte – und Leaphorns 30-30er lehnte am Chassis des Mercedes. Am Kolben des Gewehrs hing Leaphorns Schlüsselbund.

Leaphorn legte beide Hände um den Mund und brüllte in die Dunkelheit: «Begay, du dreckiger Bastard!» Sicher, Begay war irgendwo draußen, aber er lachte wahrscheinlich zu sehr, um antworten zu können.

3

Die Büroangestellte bei der Außenstelle der Navajo-Stammespolizei in Tuba City war ein wenig rundlich und sehr hübsch. Sie legte einen gelben Aktendeckel und drei dicke, braune Faltordner auf den Schreibtisch des Captains, warf Leaphorn ein Lächeln zu und verschwand rockwirbelnd in ihrem eigenen Büro.

«Sie sind mir bereits eine Gefälligkeit schuldig», sagte Captain Largo. Er nahm den gelben Aktendeckel, schlug ihn auf und warf einen Blick auf den Inhalt.

«Dann sind es also insgesamt zwei», erwiderte Leaphorn.

«Vorausgesetzt, daß ich dazu bereit bin», sagte Largo. «Aber vielleicht bin ich nicht so dumm.»

«Sie tun es», meinte Leaphorn.

Largo ging nicht darauf ein. «Hier haben wir eine kleine Sache, die erst heute hereingekommen ist», sagte der Captain und war gleich danach in den Inhalt des Aktendeckels vertieft. «Man soll sich in diskreter Weise nach dem Wohlergehen einer Frau namens Theodora Adams erkundigen, die sich angeblich in der Gegend der Handelsstation Short Mountain herumtreibt. Jemand im Vorsitz des Stammesrates wäre uns sehr verbunden, wenn wir uns ein bißchen umhörten, damit er weitergeben kann, daß alles in Ordnung ist.»

Leaphorn zog die Stirn in Falten. «In Short Mountain? Wer könnte sich dafür –»

Largo unterbrach ihn. «Dort draußen finden anthropologische Untersuchungen statt. Vielleicht hat sie sich mit einem der Anthropologen angefreundet. Wer kann das ahnen? Ich weiß nur so viel, daß ihr Daddy ein Doktor beim Gesundheitsamt ist, und ich glaube, er hat jemanden beim BIA* angerufen, und der hat sich mit jemandem in –»

«Okay», sagte Leaphorn. «Sie ist also da draußen im Indianerland, ihr Daddy macht sich Sorgen, und wir sollen uns nach ihr umsehen – richtig?»

«Aber diskret», betonte Largo. «Wenn Sie sich darum kümmern, spart mir das ein wenig Arbeit. Aber es ist höchstwahrscheinlich keine gute Ausrede für Window Rock, wenn Sie dort darum bitten wollen, daß man Sie von der Überwachung dieser Pfadfinder entbindet.» Largo reichte Leaphorn den Aktendeckel und zog sich dann die beiden Mappen her. «Vielleicht gibt es hier drinnen eine bessere», sagte er. «Sie haben die Wahl.»

«Aber ich hätte gern eine einfache», sagte Leaphorn.

«Hier haben wir schon etwas: Jemand hat Heroin in einem herrenlosen Autowrack versteckt, bei den Keet Seel-Ruinen», sagte Largo, als er einen Blick in eine der Akten geworfen hatte. Dann klappte er den Umschlag zu. «Jemand hat es uns verraten, und er hat das Wrack eine Weile beobachtet, aber niemand ist gekommen, um sich das Zeug abzuholen. Das war im vergangenen Winter.»

«Und keine Festnahmen?»

«Nee.» Largo nahm einen anderen, größeren Umschlag und zog ein Bündel Papier und zwei Tonbandkassetten heraus. «Das ist der Mordfall Tso-Atcitty», sagte er. «Erinnern Sie sich? Es war im letzten Frühjahr.»

«Ja», sagte Leaphorn. «Danach wollte ich Sie schon fragen. Hat man irgend etwas Neues gehört?»

«Nada», antwortete Largo. «Nichts. Nicht einmal halbwegs vernünftig klingende Gerüchte. Aber hier und da ist wohl doch darüber geredet worden. Es sei Hexerei im Spiel gewesen. Genau das, was ein Täter in einem solchen Fall in die Welt setzen würde. Im Grunde haben wir gar nichts, wovon wir ausgehen könnten.»

Sie saßen da und dachten darüber nach.

«Und – haben Sie irgendwelche Vermutungen?» fragte Leaphorn. Largo dachte noch eine Weile nach. «Nein, das hat alles keinen Sinn», erklärte er zuletzt.

Leaphorn sagte nichts dazu. Natürlich mußte es einen Sinn haben. Einen vernünftigen Grund. Es mußte in ein Muster aus Ursache und Wirkung passen. Leaphorns Ordnungssinn beharrte darauf. Und wenn die Ursache nach normalen menschlichen Begriffen verrückt war, mußte sich Leaphorns Intellekt eben um die Harmonie in der kaleidoskopischen Wirklichkeit eines Verrückten bemühen.

«Glauben Sie, daß das FBI da etwas verpaßt hat?» fragte Leaphorn. «Oder – verpatzt?»

«Das tun sie doch meistens», antwortete Largo. «So oder so, es ist lange genug her, daß wir uns einmal selbst darum bemühen sollten.» Er schaute Leaphorn scharf an. «Glauben Sie, daß Sie das besser können als Gefangene aufs Revier bringen?»

Leaphorn ignorierte die Anspielung. «Okay», sagte er. «Teilen Sie in Window Rock mit, daß Sie mich im Fall Tso-Atcitty eingesetzt haben, und ich fahre hinüber zum Handelsposten von Short Mountain und höre mich dort nach dieser Miss Adams um. Und, klar, ich weiß, daß ich Ihnen eine Gefälligkeit schuldig bin.»

«Zwei Gefälligkeiten», sagte Largo.

«Wofür ist die zweite?»

Largo hatte sich eine Zweischärfenbrille mit dickem Horngestell aufgesetzt und blätterte mit eulenhaftem Ausdruck den Tso-Atcitty-Bericht durch. «Also, Nummer eins: Ich hab kein großes Theater gemacht, weil Sie diesen Begay wieder haben entwischen lassen.» Er warf einen Blick auf Leaphorn. «Und der zweite – ja, da bin ich nicht einmal so sicher, ob es wirklich ein Gefallen ist, den ich Ihnen erweise. Ich lasse mir Ausreden einfallen, um Sie von Window Rock auszuborgen, damit Sie den Kerl jagen können, der versucht hat, Sie zu überfahren. Das ist aber alles andere als klug – ich meine, daß Sie in eigener Sache tätig werden. Wir sollten diesen Kerl suchen, nicht Sie.»

Leaphorn sagte nichts dazu. Irgendwo auf der Rückseite des Gebäudes war ein metallisches Hämmern zu hören, ein Zelleninsasse, der mit einem Gegenstand gegen die Gitterstäbe schlug. Vor den nach Westen gehenden Fenstern von Largos Büro rollte ein alter, grüner Kleinlieferwagen über die Asphaltstraße hinein nach Tuba City und ließ dabei eine dünne, bläuliche Rauchwolke hinter sich. Largo seufzte und steckte die Tso-Atcitty-Papiere und die Tonbänder wieder in den Umschlag.

«Es ist doch nicht so schlecht, einen Haufen Pfadfinder zu bewachen», meinte Largo dann. «Ein paar Beinbrüche und Schlangenbisse, das ist alles, worum es geht. Vielleicht noch um den einen oder anderen, der sich verlaufen hat.» Er blickte hoch und schaute Leaphorn an; dabei zog er die Stirn in Falten. «Sie haben nicht viel, wovon Sie ausgehen können, wenn Sie diesen Kerl jagen wollen. Sie wissen ja nicht einmal, wie er aussieht. Eine Brille mit Goldrand – du meine Güte! Ich glaube, ich bin der einzige hier, der keine besitzt. Das heißt, eigentlich wissen Sie nur, daß es ein Metallrahmen war. Durch das rote Blinklicht war die Farbe des Metalls vermutlich nicht mit Sicherheit festzustellen.»

«Sie haben recht», sagte Leaphorn.

«Klar habe ich recht, und trotzdem werden Sie weitermachen», erwiderte Largo. «Vorausgesetzt, ich finde eine brauchbare Ausrede für Sie.»

Er tippte mit der Fingerspitze auf die letzte Akte, die im dritten Ordner steckte, und wechselte auf diese Weise das Thema. «Da haben wir eine Sache, die immer noch beliebt ist: Das Geheimnis des verschwundenen Hubschraubers», sagte Largo. «Ein Lieblingskind des FBI. Jeden Monat müssen wir einen Bericht dort abgeben, in dem wir unseren Freunden sagen, daß wir den Hubschrauber zwar noch nicht gefunden, aber auch nicht vergessen haben. Und diesmal gibt es einen neuen Augenzeugenbericht, den wir überprüfen müssen.»

Leaphorn runzelte die Stirn. «Ein neuer? Ist es dafür nicht ein bißchen zu spät?»

Largo grinste. «Ach, ich weiß nicht», sagte er. «Was sind schon ein paar Monate? Mal sehen: Es war Dezember, als wir uns den Arsch abgefroren haben bei der Suche in den Canyons nach dem verdammten Ding. Jetzt ist es August, und jemand kommt nach Short Mountain und erklärt, er habe den Hubschrauber gesehen.» Largo zuckte mit den Schultern. «Neun Monate? Genau die richtige Zeit für einen Navajo von Short Mountain.»

Leaphorn lachte. Die Short Mountain-Navajos waren unter ihren Bruder-Dinees als wenig hilfsbereit, langsam, streitsüchtig, vom Hexenwahn besessen und rückständig bekannt.

«Es gibt drei verschiedene Zeiten.» Largo grinste immer noch. «Die wirkliche Zeit, die Navajozeit und die Short Mountain-Navajozeit.» Das Grinsen verschwand. «Da draußen leben überwiegend die Leute vom Bitterwasserclan, die vom Salzclan und vom Viele-Ziegen-Clan», sagte er.

Es war nicht als Erklärung gedacht, sondern als Freisprechung der übrigen siebenundfünfzig Navajoclans von diesen Vorwürfen, unter ihnen auch der Clan des Langsamsprechenden Dinees. Dieses Langsamsprechende Dinee war der Clan, in den Howard Largo ‹hineingeboren› worden war. Auch Leaphorn gehörte zum Langsamsprechenden Dinee. Daher waren er und Largo beinahe so etwas wie Brüder nach dem Navajoweg, und das erklärte, warum Leaphorn seinen Vorgesetzten um einen Gefallen bitten und warum Largo ihn kaum abschlagen konnte.

«Komisches Volk, das», stimmte Leaphorn zu.

«Es gibt dort auch viele Paiutes», fügte Largo hinzu. «Und es wird immer wieder hin und her geheiratet.» Largos Gesicht hatte seinen üblichen Ausdruck, eine Mischung aus Abneigung und Niedergeschlagenheit, angenommen. «Es gibt sogar Ehen mit den Utes.»

Durch die staubigen Fenster von Largos Büro hatte Leaphorn die Entstehung eines Gewitterturms über der Tuba Mesa beobachtet. Jetzt drang bereits ferner Donner aus der Wolke, als ob selbst die Heiligen Menschen gegen diese Mischung des Blutes ihrer Dinees mit ihren alten Feinden protestierten.