Yannik Mahr
Die Praktikantin
Roman
Aufbau-Verlag
ISBN E-Pub 978-3-8412-0198-0
ISBN PDF 978-3-8412-2198-8
ISBN Printausgabe 978-3-7466-2520-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Erstausgabe erschien 2009 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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PROLOG |
EINS |
ZWEI |
DREI |
VIER |
FÜNF |
SECHS |
SIEBEN |
ACHT |
NEUN |
ZEHN |
ELF |
ZWÖLF |
DREIZEHN |
VIERZEHN |
FÜNFZEHN |
SECHZEHN |
SIEBZEHN |
ACHTZEHN |
NEUNZEHN |
ZWANZIG |
EINUNDZWANZIG |
ZWEIUNDZWANZIG |
DREIUNDZWANZIG |
VIERUNDZWANZIG |
FÜNFUNDZWANZIG |
SECHSUNDZWANZIG |
SIEBENUNDZWANZIG |
ACHTUNDZWANZIG |
NEUNUNDZWANZIG |
DREISSIG |
EINUNDDREISSIG |
ZWEIUNDDREISSIG |
DREIUNDDREISSIG |
VIERUNDDREISSIG |
FÜNFUNDDREISSIG |
SECHSUNDDREISSIG |
FINALE |
EPILOG |
ANHANG |
|5|Selbstverständlich sind alle Figuren in diesem Roman fiktiv und haben keine Entsprechung in der (Medien-)Welt.
|7|Für meine Frau
Mein erster Chef war mit einer Reporterin aus dem Vermischten, Spezialgebiete: Königshäuser und deutsche TV-Stars, verheiratet. Mein zweiter Chef hatte ein Verhältnis mit einer Politikredakteurin. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und nutzte die Verbindung nach oben, um drei missliebige Kolleginnen loszuwerden. Mein dritter Chef trennte sich von seiner Frau für eine Volontärin, die ihm durch einen Fehler in einer Reportage über den damaligen Bundesaußenminister aufgefallen war. Sie begann mit folgenden Worten: »Joschka Fischer kann es nicht lassen. Der SPD-Politiker hat schon wieder eine neue Geliebte an seiner Seite.« Aus dem Vorwurf, sie sei »für diesen Job im wahrsten Sinne des Wortes zu grün hinter den Ohren«, wurde nicht einmal ein Jahr später ein Heiratsantrag. Inzwischen sind auch die beiden wieder geschieden.
Du sollst als Chef kein Verhältnis mit einer Untergebenen haben. Auch wenn nichts leichter ist als das: Never fuck the company oder wenigstens Never fuck the same Kostenstelle. Ist eine goldene Regel. Nur hält sich kaum jemand dran. Weder der stellvertretende Leiter der Wissenschaftsredaktion, der mit der blonden Einzelhandelsexpertin aus der Wirtschaft zusammen ist, noch der Literaturkritiker, der schon die zweite Ehefrau aus seinem Ressort hat. Und den Polizeireporter haben sie neulich beim wilden Fummeln mit einer freien Mitarbeiterin erwischt. In der Kaffeeküche.
Das darf dir als Chef nun wirklich nicht passieren. Und das musst du lernen, solange du noch nicht Chef bist. Sonst ist es zu spät.
Ich war gut zwei Jahre stellvertretender Chefredakteur, als Professor Michelsen mich zum ersten Mal in seinem rundum mit Mahagoni vertäfelten Büro empfing. Ein Butler in schwarzer Weste stellte ungefragt zwei Gläser frisch gepressten Orangensaft vor uns auf den Tisch. Jeder bei Michelsen Media wusste, dass dies das Einzige war, was der Professor im Büro zu sich nahm, und jeder wusste auch warum. WellFit, das von Michelsen an seinem siebzigsten Geburtstag gegründete Gesundheitsmagazin, hatte herausgefunden, dass Orangensaft einen Stoff enthält, der Lust auf Sex macht. »Warum O-Saft so geil ist«, stand über dem zwei Seiten langen Text. Der Alte hatte ihn offenbar gelesen. Er trank sein Glas in einem Zug aus, dann sah er mich zum ersten Mal an: »Nun, Herr Walder«, sagte er, »Sie sind lange genug die Nummer zwei gewesen, und es ist Zeit, dass Sie endlich ein eigenes Kommando bekommen. Ein Schiff, das Sie allein steuern. Waren Sie …« Sein Handy klingelte. »Entschuldigung.«
Ich nickte ihm verständnisvoll zu. Ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet, da kam es auf ein paar Minuten nicht mehr an. Gleich würde er sie sagen, die Sätze, die mein Leben verändern würden. »Ich habe Sie schon lange im Blick«, wäre einer davon, »die Metro-News brauchen endlich neuen Schwung«, ein anderer, und natürlich mussten die Worte »Chefredakteur« und »Dienstwagen« fallen. Ich trank einen Schluck Orangensaft und hoffte, nicht direkt eine Erektion zu bekommen. Der Butler schenkte sofort nach.
Michelsen telefonierte leise. Offiziell hatte er sich vor fünf Jahren aus dem operativen Geschäft an die Spitze des Aufsichtsrats von Michelsen Media zurückgezogen. Vorstandsvorsitzender war |12|seitdem sein Stiefbruder Carl Michelsen-Albrecht. Doch alle wichtigen personellen Entscheidungen traf nach wie vor der Professor, hier oben, im zwölften Stock des MM-Towers. Er legte auf und wandte sich wieder mir zu. Ich hatte schweißnasse Hände.
»Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: Ich wollte von Ihnen wissen, ob Sie schon einmal in Wützen waren.«
Er wollte was?
»Und?«, fragte Michelsen. »Waren Sie schon einmal in Wützen?«
»Nein«, sagte ich.
Eine Lüge. Zwei Wochen zuvor war ich auf einer Bahnfahrt nach Amsterdam gezwungenermaßen dort umgestiegen. Fünf Minuten Wartezeit und eine bange Frage: Wie furchtbar muss es sein, hier zu leben?
»Dann sollten Sie das schnell nachholen. Sie werden nämlich Chefredakteur der Wützener Zeitung.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir in Wützen eine Zeitung haben.«
Ich wusste aber, dass ich dort nicht arbeiten wollte.
»Sie sind der richtige Mann dafür, glauben Sie mir. Brauchen ja nicht gleich dort hinzuziehen.«
Es musste noch schlimmer sein, als ich dachte. Das Gespräch ging in eine völlig falsche Richtung.
»Und wie lange?«
»Wie, wie lange?« Michelsen guckte mich an, als hätte ich gerade um eine halbe Million Euro Gehaltserhöhung gebeten.
»Wann komme ich zurück, meine ich?«
Zurück in die Zentrale von MM, zurück zu meinen geliebten Metro-News, der großen, wichtigen Tageszeitung in München, die mitten in der Nacht ein Interview mit Edmund Stoiber bekommen würde und die Uli Hoeneß auch privat abonniert hatte. Hier wollte ich Chefredakteur werden, nach all den Jahren als Stellvertreter, Ressortleiter und stellvertretender Ressortleiter, hier hatte ich gerade erst eine Eigentumswohnung gekauft und |13|Marie am Tag der Schlüsselübergabe einen Heiratsantrag gemacht. Aber es schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, darüber mit dem Professor zu sprechen. Er reagierte nicht einmal auf meine Frage.
»Sie machen das schon. Das ist Ihre große Chance.«
Die Tür ging auf. Seine Sekretärin. Ich wusste, was jetzt kommen würde. »Professor Michelsen, Sie denken an ihren nächsten Termin? Herr Sieverling wartet bereits.«
Ich stand auf. »Kann ich es mir bis nächste Woche überlegen?«
»Natürlich«, sagte Michelsen und trank sein zweites Glas Orangensaft aus. »Aber ich sag es Ihnen ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen so ein Angebot in den nächsten zehn Jahren noch einmal machen kann. Rufen Sie mich Montag an!«
Er streckte mir die rechte Hand entgegen. Ich überlegte kurz, sie zu ignorieren, wie es die Bayern-Stars manchmal taten, wenn Jürgen Klinsmann sie in der 74. Minute auswechselte, oder wie der Bayern-Coach selbst gegen die Papiertonne neben dem Schreibtisch des Professors zu treten. Dann ging ich einen Schritt auf ihn zu, drückte kräftig seine Hand und verbeugte mich leicht. Als hätte ich irgendeinen Grund, dankbar zu sein.
»Und, Herr Walder …«
Ich war schon fast an der Glastür angekommen, wo Michelsens Sekretärin hektisch auf ihre Uhr zeigte.
»Ja?«
»Grüßen Sie Ihre Verlobte von mir.«
Meine Verlobte. Das war Marie erst seit jenem Tag, an dem ich den Anruf aus Michelsens Büro bekommen hatte. Es war der 25. März, ein Dienstag. Ich bin an einem Dienstag geboren und deswegen davon überzeugt, dass dieser Tag mein Glückstag ist. Marie und ich waren zu einem Baumarkt vor den Toren Münchens gefahren, um so viel Laminat zu kaufen, wie eben in eine 112 Quadratmeter große Wohnung in Schwabing plus Verschnitt hineinpasst, als mein Blackberry klingelte. Es war Frau |14|Volkmann, Michelsens Sekretärin: »Herr Walder, Professor Michelsen möchte Sie sehen. Am 2. April, 11 Uhr 15. Bis dann.« Das Gespräch dauerte nicht länger, als Marie ihre Lippen zu einem lautlosen »wer ist denn dran?« formen konnte.
»Das war das Büro von Michelsen. Der Professor will mich sprechen«, sagte ich.
Marie ließ den ausgeklappten Zollstock auf die Füße des verschwitzten Baumarktmitarbeiters fallen, der gerade dabei gewesen war, uns unzählige Paletten eines dunkelbraunen und selbstverständlich unbehandelten Bodenbelags in den Einkaufswagen zu wuchten. Sie zehenspitzte sich auf die Höhe meines Gesichts, um mit beiden Händen meinen Kopf mit sich herunterzuziehen. Ich bekam einen der in der Öffentlichkeit so seltenen Küsse.
»Johann«, sagte Marie, »du hast es geschafft. Endlich wirst du Chefredakteur der Metro-News. Endlich bist du nicht mehr der zweite Mann. Ich bin so stolz auf dich.«
Weil ich für den Termin bei Michelsen auch keine andere Erklärung hatte, weil wir am Abend offiziell die Wohnung übernehmen würden und weil ja nun mal Dienstag war, dachte ich fälschlicherweise, ein passender, größerer Moment würde in meinem Leben nicht mehr kommen. Ich blickte kurz in den Badezimmerspiegel, der schräg gegenüber hing und um dreißig Prozent reduziert war, und zog das Etui von Wempe, das ich sicherheitshalber seit knapp einem Monat immer dabeihatte, aus der Innentasche meines Sakkos. Ich klappte es auf, kniete auf einem Stück ausgerollter Teppichware nieder, streckte Marie den Halbkaräter entgegen und fragte, ob sie meine Frau werden wolle.
»Die Frau des Chefredakteurs der Metro-News?«, fragte sie.
»Die Frau des Chefredakteurs der Metro-News«, sagte ich.
»Natürlich.«
Von diesem Moment an nannten wir den 25. März den perfekten Tag. Bis heute.
|15|Ich konnte Marie nicht erreichen. Seit ich Michelsens Büro verlassen hatte, war bei ihr besetzt. Sie hatte sowieso viel telefoniert in den vergangenen Tagen. Mit ihrer Mutter, ihrer Schwester in Berlin, ihrer Schwester in Genf, ihren Freundinnen, ihrem Vater, ihrer ehemaligen Schulkollegin, den Mitgliedern ihrer Tennismannschaft, ihren Ex-Freunden. Allein das Gespräch mit ihrer Mutter am Tag nach dem perfekten Tag hatte über dreieinhalb Stunden gedauert, wobei es nur einen Bruchteil der Zeit darum gegangen war, dass wir heiraten würden. Vor allem sprachen die beiden über meinen beruflichen Aufstieg.
»Ja, Mama, ich habe recht gehabt. Ich habe dem Johann ja immer gesagt, dass er Karriere macht.«
Das hatte sie tatsächlich, gleich nach unserer ersten, leider sehr kurzen gemeinsamen Nacht: »Weißt du eigentlich«, hatte sie mir ins Ohr geflüstert, während sie mit der Bettdecke die flüchtigen Zeugen der vergangenen fünf Minuten von der Innenseite ihres Oberschenkels gewischt hatte, »dass du mal ganz groß rauskommen wirst bei den Metro-News und in München?«
»Warum?«, hatte ich gefragt.
»Weil ich nur mit Männern ins Bett gehe, die was werden«, hatte sie gesagt und das Licht ausgemacht.
Zum Beispiel Chefredakteur der Wützener Zeitung? Es war immer noch besetzt. Ich ging kurz in das Büro, das bald nicht mehr meins sein würde, zog den teuren langen braunen Mantel an, den wir, sozusagen im Vorgriff auf mein erstes Chefredakteursgehalt, gekauft hatten, und brach ins Tantris auf. Marie hatte gemeint, dass das Zweisternerestaurant der einzige Ort sei, an dem wir meinen Sprung an die Spitze der Metro-News würdig feiern könnten. Ich hatte gehofft, dass es dort einen Kamin geben würde, in dem wir nach dem Dessert David Nicholls’ Roman »Ewig Zweiter« rituell verbrennen konnten. Den hatte mir Marie zum 35. Geburtstag geschenkt. »Für meinen Schatz, als kleine Motivation, sich nicht mit der Rolle als ewig Zweiter zufriedenzugeben«, hatte sie als Widmung auf die dritte Seite geschrieben. |16|Als ich ins Restaurant kam, war sie schon da. Aber Marie wartete nicht an einem Zweier-, sondern an einem Achtertisch. Nur ein Platz, der in der Mitte, war frei. Davor stand ein Namensschild: »Johann Walder, Metro-News, Chefredakteur«. Daneben erhoben sich – jeder ein Glas Champagner in der Hand – Maries Mutter, Maries Schwester aus Berlin, Maries Schwester aus Genf, ihre beste Freundin, ihre zweitbeste Freundin und ihre Doppelpartnerin aus der Tennismannschaft.
»Überraschung«, sagte Marie und strahlte mich an, als sei ich gerade zum Präsidenten der amerikanischen Notenbank ernannt worden und könnte mit einem Stirnrunzeln die Börsen der Welt zusammenbrechen lassen.
»Die habe ich auch«, sagte ich.
Ich hatte Marie vor etwas mehr als vier Jahren auf Sylt kennengelernt. Professor Michelsen flog zwei- bis dreimal im Jahr mit einem festen Stamm von Führungskräften und wenigen ausgelosten Mitarbeitern auf die Insel, weil »der Nordseewind uns die Köpfe freimacht«. Ich war damals gerade neu zu den Metro-News gekommen, als stellvertretender Leiter der Politikredaktion, und erhielt die Einladung für die Reise mit meinem Hausausweis: »Professor Michelsen bittet Sie zu einem Workshop mit führenden und auserwählten Mitarbeitern am kommenden Wochenende auf die Insel Sylt.« Später erfuhr ich, dass die Zahl der Auserwählten sich allein danach richtete, wie viele Topmanager verhindert waren. Der Professor wollte die reservierten Flüge und Hotelzimmer nicht umsonst bezahlt haben.
Wir wohnten im Söl’ring Hof und trafen uns zu Meetings über Themen wie »Leadership«, »Senden und Empfangen« und »Aktienoptionen contra Tantieme«. Am Nachmittag des ersten Tages mussten wir unter Aufsicht eines Motivationstrainers, den Jürgen Klinsmann dem Professor am Rande eines Champions-League-Spiels in der Allianz-Arena empfohlen hatte, einen Spaziergang des Schweigens machen. Wie der Name schon sagt, war allen außer dem Professor das Reden verboten. Zurück kamen wir auf Tandemrädern. »Damit Sie am eigenen Leib spüren, dass Sie allein nichts sind«, hatte der Professor gesagt und war mit seinem Bruder in einem Höllentempo vorausgefahren. Alle fünf Kilometer gab es eine Verpflegungsstelle mit frisch gepresstem Orangensaft. Wir fuhren so viele Umwege, dass wir erst nach zwanzig Kilometern wieder im Hotel ankamen. Jetzt fehlte uns zum Sprechen die Luft.
Danach hatten wir genau dreißig Minuten Zeit, die dunklen |18|Anzüge und die Krawatten in der Farbe des Verlagslogos, Lila, anzuziehen, bevor wir von vier konzerneigenen Fahrern zur Sansibar gebracht wurden. Hier sah ich Marie zum ersten Mal. Sie stand wie etwa achtzig andere Gäste, von denen ich mindestens die Hälfte schon einmal in den Metro-News oder einem Klatschblatt gesehen hatte, am Strand vor dem Promirestaurant. Die Gesellschaft, zu der uns Michelsen angemeldet hatte, wartete darauf, in drei kleinen Motorbooten über die viel zu wellige Nordsee zur MS Europa gebracht zu werden. »Zum Kreuzfahrerdinner«, wie der Professor sagte. »Ein Erlebnis, das Sie nie vergessen werden.«
Das wurde es, weil sich auf der Hinfahrt allein in meinem Boot drei Reisende, darunter einer der bekanntesten TV-Moderatoren Deutschlands, übergeben mussten. Ich sah es kommen und konnte im letzten Moment die junge Frau im hellblauen Abendkleid zur Seite schieben, bevor sich der Quizshowkönig direkt neben ihr erbrach.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Alles in Ordnung«, sagte sie. Vom ersten Moment an hatten Marie und ich die eigenartige Anwandlung gehabt, auf eine Frage mit der Frage zu antworten.
Sie war mit ihrem Vater, dem Vorstand eines großen Versicherungskonzerns, zum Kreuzfahrerdinner gekommen. Wir saßen beim Essen Rücken an Rücken und tanzten nach dem Dessert gemeinsam, als Überraschungsgast Udo Jürgens am Klavier ein Potpourri darbot, das mit »Griechischer Wein« anfing. Wir tranken uns vor der Rückfahrt auf der noch stürmischeren Nordsee Mut an. Diesmal kotzte ich. Was Marie nicht davon abhielt, sich wenig später in den Dünen neben mich zu legen.
»Die Stadt Wützen liegt am unteren Niederrhein im Nordwesten des Ruhrgebiets und gehört zum Kreis Mesel im Regierungsbezirk Düsseldorf. Sie ist knapp fünfzig Kilometer von der holländischen Grenze entfernt. Nächste größere Städte sind Duisburg, Bottrop und Rheinberg. Das Stadtgebiet ist in die fünf Stadtteile Innenstadt, Flohhügel, Anderbruch, Miesacker und Depinghof unterteilt. Ausgangspunkt der historischen Entwicklung Wützens wird eine Motte gewesen sein, ein Wohnhügel mit Graben und Schutzwall, an der Stelle …«
»Ist ja gut, Eva.«
Maries Schwester hatte Wützen in ihrem Blackberry gegoogelt und war dabei, mitten im Tantris laut aus Wikipedia vorzulesen. Jetzt war sie offensichtlich auf www.wuetzen.de gelandet.
»Hört mal, was hier steht: Wützen ist eine überschaubare, beschauliche Stadt mit 62458 überwiegend netten Menschen. Wo bei uns …«
Ich nahm Eva das Gerät aus der Hand.
»Es reicht.«
»Lassen Sie sie doch, Johann«, sagte Maries Mutter. »Ich würde zu gern wissen, in welcher Umgebung meine Enkelkinder aufwachsen müssen, nur weil ihr Vater …«
»Jetzt fangen Sie nicht auch noch an.« Maries Mutter hatte mir trotz Verlobung bisher nicht das Du angeboten. »Schatz, willst du nicht auch mal was sagen?«
Es war das erste Mal, seit ich das böse Wort Wützen ausgesprochen hatte, dass Marie von ihrem leeren Champagnerglas aufsah. Sie schaute mich an, als hätte ich ihr gerade eine Affäre mit sämtlichen Mitgliedern ihrer Tennismannschaft gebeichtet, |20|drehte sich langsam auf ihrem Stuhl herum und erwischte gerade noch den Kellner, der am Tisch vorbeischleichen wollte.
»Können wir zahlen, bitte?«
Die Feier, die keine war, kostete mich 170 Euro. Ich gab kein Trinkgeld.
»Was hast du gemacht? Was hast du dem Alten gesagt? Wie kann man nur so dumm sein, und …«
»Marie, ich kann doch nichts dafür, dass …«
»Da bist du kurz davor, Chefredakteur der Metro-News zu werden, nach all den Jahren in der zweiten, dritten und was weiß ich wievielten Reihe, und was machst du? Du versaust es. Hast du eine Affäre mit Michelsens Frau gehabt oder mit seiner Sekretärin oder warum schickt er dich in die Verbannung? Wützen, das kann echt nicht dein Ernst sein, Johann.«
Sie hatte kurz nach unserer Ankunft in der Wohnung eine Flasche Gin aufgemacht und begonnen, direkt daraus zu trinken. Ich versuchte zu antworten, aber sie wollte mich nicht hören.
»Hast du ihm nicht gesagt, dass wir gerade erst eine Wohnung in München gekauft haben? Dass wir in der Marienkirche heiraten wollen? Und dass du bei den Metro-News sowieso seit Monaten die ganze Arbeit machst, nie weniger als sechzig Stunden in der Woche, und Wenninger nicht mal mehr zum Interview mit dem Ministerpräsidenten mitgekommen ist, diese faule Sau.«
Wenninger war der Chefredakteur der Metro-News. Mein Vorgänger. Hatte ich zumindest bis vor wenigen Stunden gedacht.
»Wie stellst du dir das jetzt vor, Johann? Sollen wir das hier alles wieder verkaufen, das Laminat und die Einbauküche rausreißen, um auf einen idyllischen Bauernhof nach Wützen zu ziehen, in das beschauliche Städtchen mit den überwiegend netten Menschen? Willst du künftig im Wützener Stadttheater viertklassige Musikanten sehen, statt die Stones im Olympiastadion? Und dich abends mit dem Landfrauenverband treffen statt mit Seehofer, schön im Dorfkrug? Johann, du hast doch Michelsen |21|hoffentlich gesagt, dass das für dich nicht in Frage kommt und du eher kündigst, als dahin zu gehen, oder?«
»Na ja, nicht so direkt. Ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten …«
»Ich fass es nicht. Was gibt es da zu bedenken? Wir gehen natürlich nicht da hin. Wir bleiben in München. Ich bleibe in München, Johann.«
Die Ginflasche war halb leer. Marie hatte sich ihren kurzen, dunkelblauen Rock ausgezogen. Darunter trug sie einen winzigen, durchsichtigen String, den ich noch nie gesehen hatte.
»Ja, guck nur, du Versager. Den habe ich mir extra für heute Abend gekauft. Das wäre eine deiner Belohnungen gewesen, wenn du dich nicht so dämlich angestellt hättest.«
Sie riss sich die auf wundersame Weise miteinander verbundenen Fädchen von der Hüfte und schleuderte sie in meine Richtung. Jetzt sah ich nur nackte Haut.
»Du bleibst heute Nacht hier im Wohnzimmer. Ich schlafe nicht in einem Bett mit einem Verlierer.«
Wir sahen uns erst am nächsten Morgen wieder. Als ich die Augen aufschlug, stand Marie mit der dunkelblauen Longchamp-Tasche, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, vor dem Sofa.
»Ich fahre zu meiner Mutter, Johann. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eine Zeitlang nicht sehen. Du kannst dich ja melden, wenn du die Sache mit Michelsen geregelt hast. Oder wenn du mir sonst etwas erklären willst.«
Ich war noch nicht ganz wach. »Was sollte ich dir sonst erklären wollen, Marie?«
»Vielleicht, was Michelsen davon abhält, dich zum Chefredakteur der Metro-News zu machen? Bist du einer der Volontärinnen an den Rock gegangen? Oder hast du Kameras auf dem Frauenklo versteckt? Ihr Männer könnt so widerlich sein …«
»Marie, was soll das. Bist du …«
»Was soll was?« Ihre Augen waren rot, ihr Lidstrich über beide Wangen verteilt, die Lippen trocken. Sie hatte Mundgeruch. »Was soll was, Johann? Ich habe die ganze Nacht darüber |22|nachgedacht, warum Michelsen dich in dieses Wützen schickt. Es gibt keinen anderen Grund, als dass du dir irgendetwas hast zuschulden kommen lassen und schnell weg musst aus München, und …«
»Glaubst du wirklich, ich könnte …«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Johann. Ich weiß nur, wie dich die jungen Redakteurinnen und Praktikantinnen immer angehimmelt haben, auf euren Weihnachtsfeiern und so. Und ich weiß, dass die alles dafür tun würden, um weiter nach oben zu kommen. Hat ja mehr als ein Mal in der Nacht dein Blackberry geklingelt …«
»Weil ich Chefredakteursbereitschaft hatte …«
»… und eines dieser jungen Dinger war dran. Du kannst mir viel erzählen, Johann. Aber ich will es jetzt nicht hören. Kläre deine Angelegenheiten, und dann sehen wir weiter. Oder eben nicht. Mir auch egal.«
Erst jetzt sah ich, dass Marie den Verlobungsring nicht mehr trug.
»Wo ist der Ring, Marie?«
Sie nahm die Tasche vom Boden, drehte sich um und rannte zur Wohnungstür. Die Tür knallte zu, bevor ich es auch nur in den Flur geschafft hatte. Ich überlegte kurz, ob ich ihr hinterherlaufen sollte, aber das hätte lächerlich ausgesehen mit nichts als einer grünen Boxershorts am Körper. Ich griff zum Handy, tippte Maries Nummer ein und hörte Martin Luther King »I have a dream« aus dem Schlafzimmer rufen. Marie hatte sich den umjubelten Satz als Klingelton auf ihr Mobiltelefon geladen und das unter der historischen Deutschlandkarte vergessen, ein Geschenk ihrer Mutter zum Einzug. Dort fand ich auch, was ich an meiner Verlobten vermisst hatte. Irgendwo in Nordrhein-Westfalen hing an einer Stecknadel mit rotem Kopf der Verlobungsring.
Ich kann nicht streiten. Wann immer es Ärger gibt, bin ich derjenige, der zugeschlagene Türen öffnet, endlose Entschuldigungen auf Anrufbeantworter oder Mailboxen spricht, Merci-Schokolade verschickt oder gleich Rosen. Die Frage nach der Schuld, für die meisten Menschen das Wichtigste, ist mir dabei egal. Ich nehme sie gern komplett auf mich, solange nur schnell alles wieder gut ist und alle sich, also mich, wieder liebhaben.
Die Festnetznummer von Maries Mutter fand ich im Telefonbuch.
»Guten Tag. Hier ist der Münchner Anschluss 25 44 76. Leider ist im Moment niemand erreichbar. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Pieps. – Pieps.«
»Hallo, Frau Böhmer, hier ist Johann. Ich weiß nicht, ob Marie schon bei Ihnen angekommen ist. Aber sagen Sie ihr doch bitte, dass sie mich dringend zurückrufen möchte und dass mir alles sehr leidtut. Ich werde …« Der nächste Pieps, diesmal länger und lauter. Das Band musste voll sein. Ich rief noch einmal an. Diesmal sprang der AB gar nicht erst an. Hatte die Mutter ein Handy? Wahrscheinlich, aber die Nummer hatte sie mir nie gegeben. Ich wusste ja nicht einmal, wo sie wohnte. Marie-Eva Böhmer hatte es abgelehnt, ihren künftigen Schwiegersohn zu Hause zu empfangen, solange er nur ihr künftiger Schwiegersohn war.
Auf der Suche nach einer Handynummer von Maries Mutter wühlte ich mich durch die Stapel von Papier auf unserem neuen Schreibtisch, in den wir eigentlich genau nach den Vorschriften von Werner Tiki Küstenmachers »Simplify your life« Ordnung hatten bringen wollen, es angesichts der Aufregung der vergangenen Tage aber nicht geschafft hatten. Ich fand verschiedene |24|Kopien der ersten Kapitel von Maries Diplomarbeit – habe ich überhaupt schon erzählt, dass sie Betriebswirtschaftslehre studierte und in diesem Jahr endlich fertig werden wollte, nach vierzehn Semestern? –, vier verschiedene Angebote für Hochzeitsfeiern, den Kaufvertrag für die Wohnung und die noch offene Rechnung über die Maklercourtage, eine achtseitige Übersicht über die erschreckende Entwicklung meines Privatmandatdepots bei der Deutschen Bank, sechs Flyer verschiedener Asia-Imbisse (»Das probieren müssen!«) und den letzten Newsletter von Professor Michelsen. Seit er irgendwo gehört hatte, wie wichtig ein regelmäßiger Meinungsaustausch mit den Führungskräften ist – »Es darf eigentlich keine Woche vergehen, in der Sie Ihre Meinung nicht gegen meine austauschen«, hatte er einmal im kleinen Kreis und, Anführungszeichen unten, im Scherz, Anführungszeichen oben, gesagt –, schickte er jeden Monat die »Post vom Aufsichtsrat« raus. Die neue Ausgabe hatte ich noch nicht gelesen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
heute möchte ich mit Ihnen über die drei wichtigsten Werte sprechen, die es für Führungskräfte aller Couleur in unserem Hause gibt. Erstens: Loyalität. Zweitens: Loyalität. Und drittens, Sie werden es ahnen: Loyalität. Loyalität zu diesem meinem und Ihrem Unternehmen und seinen Zielen, Loyalität gegenüber den direkten Vorgesetzten, aber auch und vor allem gegenüber den Aktionären.
Nur wer sich selbst zurückstellt hinter den Interessen des Verlages, wer bereit ist, unbequeme Aufgaben zu übernehmen und der Firma dort zu dienen, wo sie ihn braucht – nur der wird bei uns wirklich erfolgreich sein und seinen Weg machen können. Fragen Sie nicht, was wir für Sie tun können, sondern fragen Sie, was Sie für das Unternehmen tun können. Tragen Sie diese Kultur in alle Ihre Bereiche hinein. Sie muss in der Zentrale in München genauso |25|gelebt werden wie bei unseren TV-Sendern in Köln und den vielen kleinen Lokalzeitungen, an denen wir die Mehrheit haben oder maßgeblich beteiligt sind.
Wützen Sie Ihre Chance, das Unternehmen nach vorn zu bringen. Denn nur das bringt auch Sie nach vorn. In diesem Sinne:
Bleiben Sie loyal.
Ihr Professor Michelsen
Wützen Sie Ihre Chance? Konnte ich nach den Rückschlägen der vergangenen Tage nicht einmal mehr richtig lesen? Bekam ich angesichts der drohenden Zwangsversetzung in die Kleinstadt Wahrnehmungsstörungen grotesken Ausmaßes? Doch da stand es, als wolle die »Post vom Aufsichtsrat« mir ein Zeichen geben: Wützen Sie Ihre Chance! Hatte der Professor eigens für mich diesen Fehler einbauen lassen, damit ich an höhere Mächte glaubte und sofort alle Verbindungen in München abbrach, um mein Glück in der tiefsten aller Provinzen zu finden? Oder hatte die Volkmann auf ihrer schmalen Tastatur einfach nur zwei Zeilen zu hoch und ein paar Tasten zu weit nach links gegriffen?
Egal, wie: Die Botschaft war angekommen. Michelsen wollte mich testen, mich und meine natürlich nicht enden wollende Loyalität zu ihm und seinem Unternehmen. Wützen war die Generalprobe vor meiner Uraufführung bei den Metro-News. Nur einmal Demut zeigen, tiefe und unverbrüchliche Verbundenheit, ein halbes Jahr, ein Jahr vielleicht. Ohne Murren ans Ende der Welt gehen, die Arbeit machen, die der Professor von mir verlangte. Und dann: Chefredakteur bei den Metro-News, als Vertrauensmann des Verlegers, als einer der wenigen, auf die er sich verlassen kann. Ich habe verstanden, Professor Michelsen, dachte ich, als Martin Luther King schon wieder einen Traum hatte.
Ich nahm Maries Handy vom Tisch, sah auf dem Display ein Foto ihrer Mutter und eine Nummer aufblinken. Ich Idiot! Vorsichtig drückte ich auf die Taste mit dem grünen Hörer, als könnte |26|mich die Mutter dabei sehen, wie ich, der versagende Schwiegersohn, verbotenerweise an das Handy ihrer Tochter ging.
»Hallo«, sagte ich mit leiser und verstellter Stimme.
»Marie, wo bist du?«, fragte ihre Mutter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Der Zug nach Genf fährt in fünfzehn Minuten, ich bin schon am Gleis. Wo bleibst du denn, du wolltest doch längst da sein? Hast du überhaupt ein Ticket? Marie, nun sag doch mal was! Marie …«
Ich war schon längst im Treppenhaus.
»Frau Böhmer, hier ist Johann. Marie hat ihr Handy zu Hause vergessen. Sie darf nicht wegfahren, ich habe für alles eine Erklärung, sagen Sie ihr das. Sie soll auf mich warten, ich bin in zehn Minuten da. Haben Sie verstanden?«
»Johann«, die Stimme klang, als hätte ihr gerade ein Polizeibeamter erklärt, dass ihr Ex-Mann ihre beiden Töchter erst vergewaltigt und dann zerstückelt habe, »Sie … was erlauben Sie sich? Wie kommen Sie an Maries Handy? Was wollen Sie ihr erklären nach dieser Blamage vor ihren besten Freunden und engsten Verwandten? Nichts werde ich ihr ausrichten, gar nichts. Soll ich Ihnen was verraten: Meine Tochter steht nicht auf Verlierer.«
Danach brach die Verbindung ab, was mir ganz recht war, weil ich dem thailändischen Taxifahrer sagen musste, dass er mich so schnell wie möglich zum Hauptbahnhof bringen sollte.
»Ich muss in zehn Minuten da sein.«
»Das schaffen is schwierig«, sagte er.
»Versuchen Sie es. Stellen Sie sich vor, wir wären in Bangkok.« Dort brauchten die Taxifahrer für ähnliche Entfernungen nicht einmal sechs Minuten, zumindest, wenn die Straßen einigermaßen frei waren.
»Anschnallen bitte«, sagte er. »Driving is a dangerous game.«
Elf Minuten später waren wir da. Ich warf dem Fahrer einen Zwanzigeuroschein nach vorn, er fragte allen Ernstes, ob ich eine Quittung bräuchte. Auf dem Weg in den Bahnhof stolperte |27|ich über eine rote Leine, an der ein Rauhaardackel hing, und verlor dadurch wertvolle Sekunden. Der Zug nach Genf fuhr auf Gleis sieben in genau einer Minute ab. Ich drückte im Laufen auf die Wahlwiederholungstaste des Handys, genau so, wie ich es während der Fahrt bestimmt zehnmal gemacht hatte. Doch Maries Mutter ging nicht ran. Noch zwanzig Sekunden, noch 200 Meter. »Zurückbleiben, bitte.« Die Deutsche Bahn war pünktlich, das konnte nicht sein. Die Türen schlossen sich, ein dicker Schaffner rief mir zu: »Zu spät, junger Mann, wir fahren los.« Ich lief weiter, vorbei an der zweiten Klasse, wo Marie und ihre Mutter nicht einmal sitzen würden, wenn es dafür die komplette »Sex and the city«-Edition auf DVD als Prämie gäbe, bis zu den zwei Wagen der ersten Klasse. Da waren sie, tatsächlich, hinter dem zweiten Fenster. Ich klopfte an die Scheibe, winkte, zeigte auf die »Post vom Aufsichtsrat«, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, und schrie, so laut ich konnte: »Loyalität, Marie, Loyalität.« Der Zug wurde immer schneller, ich lief nebenher.
»Marie, ich kann dir alles erklären«, ich atmete schwer, hatte aber immerhin das Gefühl, dass sie mich beobachtete.
»Wützen ist nur eine Probe. Der Professor …«, ich konnte sehen, wie sie sich leicht nach vorn beugte, als müsste sie etwas aufschreiben.
»Der Professor will mich nur testen und …« Der ICE wurde immer schneller, der Bahnsteig immer weniger. Noch 20 Meter, noch 15, noch zehn.
»Marie«, brüllte ich. Sie hielt ein Stück Papier ans Fenster, auf dem ich nur »Handy« und »an meine Schwester« lesen konnte. Dann knallte ich mit der rechten Schulter gegen einen Pfeiler, der offensichtlich das Ende des Bahnsteigs markierte. Das Letzte, was ich von Marie sah, war ihr Mobiltelefon, das auf die Gleise fiel und vom Waggon mit der Nummer 21 zermalmt wurde.
In den Tagen danach habe ich alles probiert, um sie irgendwie doch noch zu erreichen. Ich habe bei ihrer Schwester in |28|Genf angerufen, die mir nur sagte, Marie wolle nicht mit mir sprechen und müsste sich voll auf ihre Diplomarbeit konzentrieren. Ich habe ihr fünfundzwanzig E-Mails und drei normale Briefe geschrieben, habe die »Post vom Aufsichtsrat« mitgeschickt und versucht, ihr meine Theorie von der plötzlichen Versetzung zu erklären: »Wenn ich das jetzt klaglos mache, Marie, dann werde ich in ein oder zwei Jahren Chefredakteur der Metro-News. Ganz bestimmt. Und wir müssen ja auch nicht nach Wützen ziehen, wenn du nicht willst, und können die Wohnung in München behalten und am Wochenende pendeln. Melde dich doch bitte, ich vermisse dich so. IL Dein Johann.« (IL steht für In Liebe, aber das nur am Rande.) Sie reagierte nicht, selbst dann nicht, als ich ihr eine Videobotschaft schickte, genau so, wie sie es in ihrer Lieblingsfernsehsendung »Frauentausch« immer machten.
Dafür rief Frau Volkmann an, die Frau, die N und W verwechselt hatte. »Herr Walder, Professor Michelsen möchte Sie noch einmal sprechen.«
Es war im Unternehmen legendär, dass ein Telefonat mit dem Verleger niemals länger als eine Minute dauerte. Ein langjähriger Chefredakteur hatte es einmal auf neunundfünfzig Sekunden gebracht, aber nur, weil der Professor einen Hustenanfall bekommen hatte.
»Michelsen hier, Herr Walder. Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«
Ich wusste, was ich zu sagen hatte.
»Ich freue mich sehr über Ihr Vertrauen, Herr Professor Michelsen. Ich möchte die Herausforderung gern annehmen und meine Chance wützen, ich meine natürlich nützen.«
Er reagierte auf unser geheimes Codewort leider nicht.
»Gut«, sagte Michelsen. »Den Rest regelt Herr Volkerts.«
Das war sein Bürochef.
»Gut«, sagte ich einfach auch. »Und noch einmal vielen Dank für das Vertrauen.«
|29|»Viel Spaß in Wützen, Herr Walder.«
35 Sekunden, nicht schlecht.
Am Abend bekam ich eine SMS von Marie. Offensichtlich hatte sie ein neues Handy. Die Nachricht bestand nur aus vier Worten:
»Bleibt es bei Wützen?«
»Ich liebe Dich«, tippte ich zurück.
»Ich lasse nächste Woche meine Sachen aus der Wohnung holen«, schrieb sie.
Es war die letzte Nachricht, die ich für eine lange Zeit von ihr erhalten sollte.