Karl Heinz Bohrer
Granatsplitter
Erzählung einer Jugend
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24107-7
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2012
Satz: Gaby Michel, Hamburg
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Für Angela
Inhalt
I
Granatsplitter
Die fliegende Festung
Tanztee
Die Litfaßsäule
II
Auf elysischen Feldern
Der sich öffnende Vorhang
Eine Entdeckung des Geistes
In existentialistischen Sandalen
III
54 Drayton Gardens
I
GRANATSPLITTER
War es schon Herbst neununddreißig oder erst Sommer vierzig? Die Jungen hatten plötzlich ein neues Spiel erfunden. Das konnte es vorher nicht gegeben haben. Buchstäblich über Nacht hatte es nämlich diese in allen Farben funkelnden Steine vom Himmel geregnet. Das geschah jedes Mal, wenn die feindlichen Flugzeuge dagewesen waren und der Donner über der großen Stadt lag. Die Jungen, die kleinen Sechs- bis Achtjährigen, hatten zunächst gar keine Vorstellung von dem, was geschah: dass es englische Flugzeuge waren und dass die deutschen Abwehrgeschütze rund um die Stadt den Donner verursachten. Dass Bomben fallen könnten, daran dachte keiner. Man hatte das Wort seit etwa einem Jahr von den Erwachsenen gehört. Eine Bombe würde auf das Haus fallen, und vielleicht würde man sterben. Tod, Krieg – solche Worte. Aber es waren unverständliche Worte geblieben: Bomben, Engländer, die vom Westen übers Meer heranflogen, die Stadt war eine der westlichsten und daher eine der ersten, die die fremden Flieger erreichten. Und überhaupt das Fliegenkönnen. Das lenkte ab von dem Wort feindlich. Es war ein aufregendes Bild: dass jemand durch die Luft flog. Die älteren Jungen wussten Bescheid: Sie kritzelten auf ihre Schiefertafeln in der Schule die Umrisse von Flugzeugen, die Stukas oder Messerschmitt hießen. Die Namen der englischen Flugzeuge kannte man noch nicht. Es sollte noch Jahre dauern, bis die Jungen die Wörter wirklich verstehen würden, wenn Tausende Bomben fielen, der Donner von ihren Explosionen herrührte und Phosphor in die Keller fließen würde.
Davon wussten die Jungen noch nichts, als sie zum erstenmal nach so einer Donnernacht am Morgen auf die Straße gingen, auf dem Weg in die Volksschule, und die bunten funkelnden Steine auf Trottoir und Straße herumliegen sahen. Es gab sie in allen Größen, in allen Farben, keiner war wie der andere. An den Rändern waren sie aufgerissen, gezackt von unterschiedlicher Schärfe. Wenn man sie unvorsichtig anfasste, konnte man sich die Finger aufreißen. In dem Moment merkte man, dass die Steine nicht aus Stein waren, sondern aus Eisen, blitzende Metallstücke. Die größeren Jungen erklärten, um was es sich handelte: Granatsplitter. Das waren aus großer Höhe heruntergefallene Splitter, die von den explodierten Flakgranaten stammten, die nachts den Donner verursacht hatten. Die Sirenen hatten den aufpeitschenden Klang, der eine Katastrophe schon beim erstenmal anzukündigen schien, bestimmt aber eine Warnung ausstieß, hinter der mancher etwas Größeres, Erschreckenderes ahnte. Aber in den Keller gingen die meisten Eltern der Granatsplitterjungen noch nicht.
Das also war der Anlass des neuen Spiels. Denn kaum hatte am Morgen der eine Junge, den Schulranzen auf dem Rücken, eines der blitzenden Dinger in der Hand und der andere ein anderes und ein zweites und drittes – sie stießen bei den heftigen Entdeckungssprüngen zusammen, weil sie im Eifer, das schönste Stück zu bekommen, keine Rücksicht nahmen –, da begann auch schon der Vergleich, wer wohl das schönere Stück erwischt hätte. Und da jeder eine andere Ansicht hatte, begann ein Tauschhandel. Nicht gleich nach der ersten Nacht, aber wohl nach der zweiten oder dritten: Man tauschte Granatsplitter. Auf dem Gang in die Schule blieb dazu nicht viel Zeit, aber an den Nachmittagen konnte man sich treffen und tauschen. Die Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte. Manche waren von dunkel leuchtendem Rot und schwarz an den Rändern, andere hatten eine bläulichweiße Färbung, und wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Es war wie ein Märchen – man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben. Der Junge war regelrecht entzückt von dieser Schönheit. Er hatte das gleiche Gefühl wie damals, als man ihm aus Tausendundeiner Nacht die Geschichte vom Prinzen in dem funkelnden Palast vorgelesen hatte, in dem es viele Gemächer gab, die wiederum funkelten, und in den Gemächern wiederum kleine Kästchen, in denen funkelnde Edelsteine lagen.
Das Leuchtende und die Vielfältigkeit der Granatsplitterfarben waren das eine. Es war aber noch etwas anderes: Das Rissige der scharfen Ränder war ja das Gegenteil von den Schmückstücken, wie seine Mutter sie immer trug. Einige Jungen hatten erklärt, dass das Rissige davon käme, dass die Flakgranaten in der Luft explodierten, wenn sie ihr Ziel, die englischen Flugzeuge, nicht trafen. So ein Stück scharfes Metall in die Hand zu nehmen war genauso, wie wenn man das Wort »Krieg« hörte. Es war das erste Bild des Kriegs für ihn. Er hatte das Wort »Krieg« zum ersten Mal aus seinem liebsten Märchenbuch von früher mit dem Titel Schlierilei gehört. Das war die Geschichte einer kleinen Waldschnecke mit einem Schneckenhaus auf dem Rücken, die mit den Pilzen aneinandergerät und vor deren angsteinflößendes Strafgericht geladen wird. Das farbige Bild davon war so dramatisch, dass er es immer wieder anschauen musste. Ein Krieg aller kleinen Waldtiere gegen die Pilze. Mäuse, Frösche, Bienen, verschiedene Käferarten und selbst Vögel griffen die Pilze an. Das Bild dazu zeigte ein erschreckendes Durcheinander von kopflosen, zerspaltenen, zertrümmerten Pilzen. Krieg war also etwas Grausames.
Ungefähr ein Jahr zuvor hatte er das Wort wiedergehört, während eines Gesprächs des Vaters mit dessen Bruder. Sie hatten in einem so nachdrücklichen Ton gesprochen, als ob etwas bisher noch nicht Bekanntes, Gefährliches bevorstehe. Zuerst hatte er sich Krieg so vorgestellt, dass sich zwei feindliche Parteien in einer Halle gegenüberstehen und aufeinander schießen, bis der eine Teil weniger an Zahl als der andere hätte. Das Ganze nicht in einer Landschaft, sondern in einer riesigen Halle aus Blech. Jetzt war von vielen Bomben die Rede, die auf die Stadt fallen würden. Es gab auch Nächte, in denen es auf der Straße plötzlich dunkel wurde, weil man die Laternen und die öffentlichen Beleuchtungen abgestellt hatte und in der ganzen Stadt die Fenster der Wohnungen verhangen wurden. Jetzt durfte kein Lichtschein mehr nach draußen dringen. Eines Morgens, als er zum ersten oder zum zweiten Mal in die Schule ging, erblickte er Leute mit von Masken verdeckten Gesichtern, die wie Schweinerüssel aussahen. Er hörte das Wort »Gas«. Was es wirklich damit auf sich hatte, wurde auch nicht ganz klar, als er mit Schulkameraden darüber sprach. Man könnte ersticken, wenn man diese Maske nicht trüge und die englischen Flieger Gasbomben abwürfen. Das alles bedeutete das Wort »Krieg«. Es war also Krieg.
Er hatte dieses Wort dann noch einmal gehört, als er mit der Mutter und deren Freundin in den letzten Augusttagen die Ferien auf einer Nordseeinsel verbrachte. Das Wort hatte sofort wieder einen ganz besonderen Klang, weil es mit einem anderen Wort, dem Wort »England« verknüpft war. Das prägte sich ihm deshalb so ein, weil im Nachbarstrandkorb eine sehr freundliche Familie mit einem Jungen saß, der ungefähr so alt war wie er selbst. Die Sprache, die sie sprachen, war unverständlich. Manchmal aber doch so, dass er sie auch verstehen konnte. Die Mutter sagte ihm, es seien Engländer. Der Satz, dass sie Engländer seien, klang so, als wenn sie etwas ganz anderes wären als er selbst und die Mutter. Das Wort hatte ja keinen besonderen Sinn, es klang zuerst nur so. Es war der Klang des Wortes, der sich ihm einprägte: Engländer – England. Außerdem hatte der fremde Junge eine kleine Fahne mit einem sehr schönen Muster aus den Farben blau, rot und weiß, die zwei gekreuzte Kreuze trennten. Die Fahne hatte eine aufregende Wirkung auf ihn ausgeübt. Es war schwer zu sagen, warum: etwas Unruhiges und gleichzeitig sehr Ruhiges. Jedenfalls stießen ihm die eindrücklich wirkende Farbe und die Kreuzformen wie ein Zeichen von etwas in die Augen. Die ganze Zeit danach, vor allem seitdem die englischen Flieger nachts über der Stadt flogen, dachte er an die schöne Fahne und das Wort »England«.
Die englische Familie war plötzlich nicht mehr in ihren Strandkorb gekommen, und er ging ohne den englischen Jungen allein auf Muschelsuche. Dass sie nicht richtig miteinander reden konnten, hatte sein Gefühl, etwas ganz Besonderes zu erleben, nur noch mehr angeregt. Er hatte den Namen des neuen Spielkameraden richtig auszusprechen gelernt: »Harry«. Manchmal hatten sie sich weit entfernt von den Eltern und der Mutter, vorbei an vielen Sandburgen, die mit Mustern aus Muscheln bedeckt waren, so weit, bis sie es merkten und sich das Gefühl, sie seien auf einer Entdeckungsreise, noch mehr verstärkte. Denn dazu musste man ja nur bei Ebbe den unbekannten riesigen Strand entlang bis zur Wasserlinie hin laufen, die aus der Entfernung wie ein Horizont zu anderen blauen Räumen aussah. Sie kamen an den gallertartigen, blauweißen Quallen vorbei, die sie mit Schaufeln in einen kleinen Eimer zu heben versuchten, ein umständliches Unternehmen, das sie zugunsten des Sammelns von ungewöhnlich aussehenden Muscheln aufgaben. Wenn jeder einen Haufen von Muscheln gesammelt hatte, tauschten sie. Sie wurden Freunde. Einmal, am Ende des Ebbestrands, blickte Harry auf die See hinaus und zeigte mit der Hand in die Richtung nach Westen und sagte: »There is England.« Das war für ihn sofort zu verstehen, und umso mehr merkte er sich die ganz andere Aussprache des Wortes »England« in englischer Sprache als in deutscher. Es klang so wie die Fahne aussah, eindrücklich.
Als die englische Familie plötzlich weggeblieben war, ohne sich verabschiedet zu haben, und er die Tage am Strand wieder mit der Mutter und ihrer Freundin verbrachte und sich langweilte, hörte er aus ihren Gesprächen, warum die Engländer nicht mehr kamen: Der Krieg stünde bevor. Der Vater, der nicht mitgereist war, hatte telegrafiert, er habe den Stellungsbefehl bekommen, und sie würden von Westen nach Osten verlegt. Er hatte nicht viel Zeit, Harry zu vermissen. Denn plötzlich war es soweit. Der Krieg, von dem er seit einem Jahr hatte reden hören, war da. Als er mit der Mutter in die Stadt zurückkam, hatte sich vieles schon verändert. Es gab sogar eines Nachts zum ersten Mal das Aufheulen der Sirenen, ein Ton, der etwas Schlimmes ankündigte, das dann aber gar nicht kam. Doch war das der Zeitpunkt, als die Jungen Granatsplitter in der Straße entdeckten. Der Fliegeralarm hatte also Flieger gemeldet, die Flakgeschütze der Stadt mussten geschossen haben, sonst hätten sie keine Splitter gefunden. Einige Monate später war dann ab und an das Dröhnen der Motoren und das Aufbrüllen der Geschütze länger zu hören, sodass die Bewohner der Häuser sich allmählich daran gewöhnten, in den Keller zu gehen. Einmal, als er einen Granatsplitter in die Hand eines anderen Jungen legte, damit der ihn anfassen und von allen Seiten betrachten konnte, musste er an Harry denken. Wie sie die Muscheln umgewendet und in ihre Öffnung hineingesehen hatten. Eine Muschel war natürlich kein Granatsplitter, aber das Tauschen machte die gleiche Freude. Man bekam von dem Gleichen etwas Ähnliches, sodass man das Eigene nicht verlor, aber etwas Anderes hinzugewann. Beim Granatsplitter war das Wichtigste, dass es sich um das Stück einer Waffe handelte. Das hatte etwas. Die Älteren sprachen jetzt häufig über Abschussziffern, darüber, wie viele englische Flugzeuge abgeschossen worden seien. Es gab immer jemanden, der das genau wusste.
Ein neuer Tauschhandel kam unter den größeren Jungen auf: das Tauschen von polnischen, französischen und englischen Helmen und Uniformstücken, die von gefangenen Soldaten stammten. Die Kleineren wussten nicht genau, was es damit auf sich hatte. Diese bläulichen oder gelblich-braunen Helme und Uniformjacken mit roten oder blauen Litzen und Stickereien wirkten irgendwie böse, sie sahen so ganz anders aus als die vertrauten grauen Helme und graugrünen Uniformen, die die deutschen Soldaten trugen, wenn sie in ihren Lederstiefeln vorbeimarschierten, dass es auf dem Pflaster knallte, den Helmrand dicht über den Augen, die so vertrauenerweckend geradeaus starrten, auch wenn sie ihre rauhen Lieder sangen mit dumpfen Stimmen und abgehacktem Rhythmus. Er hatte diese graugrünen Soldaten, seit er sie zum erstenmal so starr dahinziehen sah, in gleichem Schritt und Tritt, den einen Arm am Gewehr, den anderen im Rhythmus des Dahinschreitens, immer mit einer unbestimmten Neugier betrachtet, die noch nicht wusste, was sie tun würden. Sie würden in den Krieg ziehen, sie würden die anderen Soldaten mit ihren Gewehren erschießen. Das bedeutete das Wort Krieg. Jetzt stellte er sich nicht mehr eine große Halle vor, in der die grauen oder blauen oder braunen Soldaten gegeneinander schritten. Er wusste nun, es war ein riesiges, unübersehbares Gegeneinander von Menschen und Maschinen.
An einem Wochenende wurde ein merkwürdiges Kriegsspiel auf dem Schulhof gegeben. Alle waren eingeladen. Es gab Suppe und Wurst aus der Gulaschkanone und dann das Spiel. Es hieß »Heckenschützenjagd«. Er wusste nicht, was das heißen sollte. Er fragte und bekam die Antwort: Heckenschützen seien Polacken ohne Uniform. Sie liegen hinter Hecken und erschießen deutsche Soldaten. Am schlimmsten seien die Flintenweiber. Das Kriegsspiel bestand nun darin, dass deutsche Soldaten als polnische Heckenschützen verkleidet aus kleinen Holzhäusern, die im Schulhof aufgestellt waren, mit Platzpatronen schossen, während deutsche Soldaten in ihren regelrechten Uniformen diese Häuser umzingelten und am Ende die Heckenschützen mit erhobenen Händen aus den Häusern herauskamen. Sie wurden zusammengetrieben und dann an einem Galgen, den man im Hof aufgestellt hatte, aufgehängt. Mit einem Strick um den Hals wurden die Polacken am Balken hochgezogen, und die Zuschauer klatschten und lachten. Hochgezogen wurden natürlich nicht die als Polen verkleideten deutschen Soldaten, sondern große Puppen aus Stoff und Stroh, die ihrerseits wieder zivile Kleidungsstücke und Kappen trugen.
Die seltsamen Anzüge sahen besonders minderwertig aus. Hier die bekannten, irgendwie anheimelnden deutschen Uniformen, und da die zerlumpten Kleiderpuppen. Waren das Verbrecher? Man musste sie gewiss gefangen nehmen, aber dieses langsame Aufhängen, eine Puppe nach der anderen? Er fand das Ganze unheimlich, er verstand nicht, warum die Leute lachten. Er hätte seinen Vater gefragt, warum dieses Kriegsspiel auf dem Schulhof gespielt worden war, das mit den Platzpatronengewehren so wirklich erschien, aber der Vater war ja seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause, und die Mutter verstand von so etwas nichts, sie war zu jung und zu desinteressiert an seinen Fragen. Mit den Granatsplittern hatte das nichts mehr zu tun. Sie waren wie farbige Sterne vom Himmel gefallen, und ihre leuchtende Schönheit gehörte zu den ersten blendenden Erscheinungen, aus denen für ihn das Leben bestand. Erscheinungen, deren tieferen Sinn er erst allmählich verstand. Es gab Vorkommnisse, Geräusche, die entweder auffielen oder auch nicht. Das einprägsamste Geräusch war gewiss die nächtliche Sirene.
Einmal, als er von ihrem Aufheulen geweckt wurde und die Mutter nicht ins Zimmer kam, stand er auf und sah, dass die Wohnung leer war. Das Schlafzimmer der Eltern war unberührt, die schimmernde Seide der Steppdecke auf dem Bett war nicht aufgeschlagen, nur die Platte auf dem Grammophon neben dem Bett zeigte an, dass die Mutter kürzlich noch hier gewesen war. Als der Donner wieder einsetzte, dachte er an die Granatsplitter am nächsten Morgen, aber dann, als die Mutter nicht zurückkam, wusste er, dass er für eine Zeit allein sein würde, und er setzte sich auf die Steppdecke, die Sammlung der Granatsplitter neben sich, ausgelegt gegen seine Angst. Die Granatsplitter waren ein Mittel gegen alle Unbill des täglichen Lebens geworden. Sie hatten den Schein des Fremdartigen nicht aufgegeben. Sie strömten eine Atmosphäre des Wunderbaren aus, aus der man Stärke beziehen konnte: ein Geheimzeichen, das die Jungen erfanden, um ihrer Welt einen eigenen Namen zu geben.
Sehr viel später wusste er, dass die Mutter bei einem jungen Mann gewesen war, bei einem Offizier in schöner graugrüner Uniform. Es gab damals einen Schlager, den alle Jungen in der Schule kannten und über den die Älteren lachten: »Titeriti, Titeriti, meine Mutter kriegt ein Titti, von einem Flaksoldaten, das darf ich nicht verraten.«
Als die Mutter spät in der Nacht in ihr Schlafzimmer kam, war sie ihm absolut fremd. Sie hatte sich eben noch im Spiegel des fremden Mannes betrachtet: eine wirkliche Schönheit, die Dauerwelle, der blutrote Lippenstift und der Nerz um den fünfundzwanzigjährigen feinen Hals, das Jackenkleid. Nicht viele deutsche Mütter – die meisten liebten den schweren Knoten, waren ungeschminkt und irgendwie kräftig – sahen so aus. Der Vater war auch kein Vater wie die anderen Väter. Er war oft und lange im Ausland gewesen. Schon als Primaner, während seine Eltern auf Ferienreise an der Mosel oder an der Nordsee waren, hatte er sich vom Dienstmädchen das Wochengeld geben lassen, um damit nach Paris zu fahren und die berühmte Tänzerin Josephine Baker zu sehen. Diese Auslandsaufenthalte hatten sich während des Studiums des Vaters in den zwanziger Jahren gehäuft. Er sprach die Sprachen dieser Länder allmählich fließend, und einige der besten Freunde kamen von dorther. Auch das Studienfach Nationalökonomie verstärkte das Interesse, über die Grenzen zu sehen.
Eines Nachts war einer dieser Freunde gekommen und hatte sich im Elternhaus des Vaters versteckt, bis dieser ihn mit dem Auto über die nahe Grenze im Westen brachte, dort, wo man durch dichte Wälder unbemerkt in das andere Land hinübergehen konnte. Der Vater war damals zu einer Person geworden, von der eine wunderbare Festigkeit ausging, im Gegensatz zu seiner eleganten Mutter. Zwar zeigte auch der Vater weltläufige Züge – er tanzte gerne Tango und ging in moderner Kluft in die Seebäder –, aber er verkörperte für den Jungen eine Sicherheit, die er nicht genauer benennen konnte, die ihn aber ein absolutes Vertrauen in die Welt entwickeln ließ, ein Vertrauen, das von der Mutter nicht ausging.
Als er mit seinen Granatsplittern auf dem Bett wartete – inzwischen hatten die Entwarnungssirenen ihren langen gleichmäßigen Ton hören lassen –, hoffte er, dass der Vater kommen würde. Aber er kam nicht in dieser Nacht. Als die Mutter den Jungen sah, der sie so fremd anschaute, wurde sie unruhig: Sie sei sofort, als die Sirenen anschlugen, aufgebrochen, aber der Wagen der Freundin sei nicht sofort angesprungen. Im übrigen solle er die Granatsplitter nicht so einfach auf der Steppdecke herumstreuen, die scharfen Ränder würden sie aufreißen. »Hier, siehst du das nicht?« Nein, die Mutter gehörte nicht dazu. Nicht mehr. Sie hatte keine Ahnung von Granatsplittern, was sie waren, wie sie entstanden. Sie sah nicht ihre Schönheit. »Sie sind schön.« – »Was ist schon schön daran?« – »Die Farben sind so schön.« – »Schön?« – »Ja. Schön.« Er hatte keine genauen Worte dafür, was das besonders Schöne daran war: vielleicht, dass sie vom Himmel gefallen waren. Aber wenn er das gesagt hätte, hätte das die Mutter noch weniger verstanden. Am liebsten hätte sie gesagt, er solle die Splitter in den Müll schmeißen; jedenfalls aus der Wohnung entfernen. Er spürte, dass sie das wollte, aber in diesem Moment nicht sagte, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie fragte ihn, warum er die Dinger sammle, woher er sie habe, und dann kam es doch zu einem heftigen Streit. Sie meinte, die Splitter könnten giftig sein oder etwas Explosives enthalten. Nun war es tatsächlich so, dass die älteren Jungen, die nicht Granatsplitter sammelten, in ihren Verstecken, wo es die blauen Stahlhelme gab und fremde Uniformstücke, auch scharfe Munition hatten, die ebenfalls schön aussah. Es gab Jungen, die hatten ganze Maschinengewehrgurte: eine goldene Patrone mit spitzem Kopf neben der anderen. Weiß der Teufel, wie sie daran gekommen waren, wo doch die Kasernen streng bewacht wurden. Die Größeren sprachen, wenn sie die Munition zeigten, in einer Weise daher, als wenn sie selbst schon Soldaten wären. Sie gaben sich hart. Es waren diejenigen, die die Formen der Stukas und Messerschmitts auf die Tafel kritzelten und dabei deren Technik erklärten. Besonders die heulenden Angriffssirenen der kopfüber niedergehenden Stukas wurden in den Klassenräumen jeden Tag nachgeahmt, ein Triumphgeschrei, das dem Jungen zu laut war.
Die Granatsplitter hatten damit nichts zu tun. Sie waren das, was übriggeblieben war von einer Waffe, nachdem diese selbst zerstört war. Er musste der Mutter erklären, wieso die Flakgranaten explodierten und in Splitter zerfielen: Wenn die Flakgranaten kein Flugzeug treffen würden, dürften sie nicht einfach wieder herunterfallen. Deshalb brächte ein Zünder diejenigen, die ihr Ziel verfehlten – und das waren die meisten –, zur Explosion. Aber wieso würde die Bevölkerung denn nicht gewarnt vor den herunterfallenden Splittern? Dem Jungen waren all diese Fragen nicht wichtig. Sie hatten nichts mit ihm und den Granatsplittern zu tun. Schließlich durfte er sie behalten und hütete sie als einen Schatz, von dem geheime Kräfte ausgingen.
Der Grund, warum der Vater in jener Nacht und auch die Tage danach nicht kam, war nicht bloß eine Verwundung an der Front, sondern dass er sich von der Mutter hatte scheiden lassen. Eines Morgens sagte sie zum Briefträger, der ein offizielles Schreiben brachte: »Der Brief ist nicht für mich. Ich bin geschieden.« Das war Monate nach der allein verbrachten Nacht auf der Steppdecke mit den Granatsplittern, und der Junge verstand, dass der Vater nicht mehr zurückkommen würde. Warum hatten sich seine Eltern getrennt? Bevor die Leere der Wohnung zuviel für ihn wurde, hatte ihn die Mutter zu den Großeltern in die westliche Vorstadt gebracht. Die Großmutter war das Gegenteil ihrer Tochter, einfach und fromm. Sie hatte Nonne werden wollen und setzte sich in die Badewanne mit einem Überkleid aus grauem Stoff, weil es sündig war, den eigenen Körper zu betrachten. Der Großvater war ebenfalls ein guter Katholik, aber ansonsten ein sehr weltlicher Mann, gutaussehend und eitel wie ein Pfau, der die Hälfte des Morgens eine Ledermaske trug, um seinen täglich neu arrangierten Bart zu festigen. Wenn er ausging, trug er manchmal einen schwarzen Hut mit einer roten Feder. Die Großeltern liebten den Jungen sehr, und er fühlte sich in dem kleinen Haus geborgen, anders als in der großen Wohnung der Mutter mit den eleganten Melodien aus dem Grammophon.
Das lag auch daran, dass das Haus der Großeltern ihn an ein anderes Märchenbuch erinnerte, das Das alte Haus hieß. Es erzählte von seltsamen Vorgängen und wunderbaren Gestalten, die alle in diesem alten Haus vom Speicher bis zum Keller wohnten. Es erzählte vom Uhrenmännchen in der alten Uhr, vom Nussknacker und dem Zwerg im Kohlenkasten. Und vom guten Kartoffelkönig aus der großen Kiste Kartoffeln im Keller. Das Buch vom alten Haus hatte die Großmutter ihm und dem Vetter schon vor dem Kriege vorgelesen. Und dabei hatte er das wunderbare Empfinden, dass alles, was da vorkam, sich jetzt im alten Haus der Großeltern wiederhole. Seitdem war das Haus der Großeltern noch schöner, noch herzlicher, noch willkommener geworden. Es war das älteste Haus aller alten Häuser, und im Garten standen Kirsch- und Birnbäume. Es konnte ihm kein größeres Glück geschehen als fortan bei den Großeltern im altem Haus zu wohnen, auch wenn er nun nicht mehr dachte, im Uhrenkasten wohne das Uhrenmännchen.
Inzwischen kam der Donner in den Nächten nicht mehr bloß von den Geschützen, sondern von explodierenden Bomben im Stadtzentrum. Man blieb nicht mehr im Bett, sondern ging mit vorher zurechtgelegten Kleidern in den Keller, die Großmutter, die Tante und deren kleine Kinder und eine Nachbarin, die sich in diesem Keller sicherer fühlte. Der Großvater blieb oben: Die Engländer seien zu allem Ernsten und Wichtigen unfähig, und deshalb auch unfähig, dieses Haus zu treffen. Er hasste sie, denn er war irischer Herkunft. Die Großmutter hatte er auf einer Kirmes in den Niederlanden getroffen, sich in sie verliebt und war – ihr folgend – vor über dreißig Jahren hier hängengeblieben. Der Großvater war nicht bloß eitel, er war auch jähzornig. Es gab das Gerücht, er habe als junger Mann, als er im Glockengerüst des Doms zu arbeiten hatte, einen sozialistischen Arbeiter mit dem Hammer bedroht, er solle zur Heiligen Jungfrau beten, und sei deshalb zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden.
Während der Großvater die Engländer, die ihn nicht treffen würden, verachtete, saßen die Frauen im Keller und beteten den Rosenkranz. Ab und zu kam der Großvater herunter und berichtete mit wichtiger Miene über den Stand der Dinge: Die Stadt brenne im Zentrum, aber auch der Süden habe viel abgekriegt. Und weil die Engländer nicht treffen könnten, schmissen sie einfach ziellos alles über der Stadt ab.
Man konnte nichts weiter tun, darüber war man sich einig. Der Großvater, das war immerhin beruhigend, hatte keine Angst. Der Junge war inzwischen neun und hatte vom Tode noch immer keine Vorstellung. Er hatte inzwischen eine Jungenbande gegründet, die sich in halbgefährlichen Spielen hervortat: Man stahl Obst in den zahlreichen Gärten des Viertels oder Briketts aus den Eisenbahnwagen auf den Dämmen am Rande der Stadt, wo es zur Westgrenze ging. Manchmal schlug man sich mit Zigeunerjungen, die am Bahndamm hausten. Einige Jungen trugen Stahlhelme, deutsche, belgische, englische, auch polnische und französische – und fühlten sich wichtig.
Um sich aber auch irgendwie nützlich zu machen, sammelten die Jungen in bestimmten Vorgärten Säcke voll Grünfutter, besonders Klee, denn seit einiger Zeit hielten die Großeltern Kaninchen. Dass die auch irgendwann geschlachtet wurden, dass ihr einziger Daseinszweck darin bestand, die Einschränkungen der Kriegsernährung auszugleichen, das war eigentlich keinem der Bandenmitglieder bewusst. Sie waren einzig und allein darauf konzentriert, von den Besitzern der Vorgärten nicht erwischt zu werden, auch wenn es sich nur um einen älteren Hausmeister handelte. Gerade die konnten ziemlich rabiat werden. Es war ein Abenteuer, die Gräser in einer vom Haus der Großeltern entfernteren Gegend zu finden, in dem Viertel, wo die Stadt nach Westen hin aufhörte und das freie Land mit den Eisenbahngleisen begann. Dort waren sie auch auf die Zigeunerjungen gestoßen. Weil diese Messer hatten, war es schon eine Sache des Mutes, sich auf sie einzulassen. Es blieb aber gar nichts anderes übrig. Hätte er gekniffen, hätte er seine Stellung als Anführer verloren.
An diesem Tag waren sie mit einigen älteren Jungen aus der Nachbarschaft zu den Bahngleisen gegangen. Ohne diese Dreizehn- bis Vierzehnjährigen wäre es wahrscheinlich gar nicht zur Schlägerei gekommen. Aber die Älteren auf beiden Seiten fingen an, sich gegenseitig beleidigende Schimpfworte an den Kopf zu werfen, so als ob man längst auf eine Gelegenheit zum Kampf gewartet hätte. Eigentlich hatten sie nichts Besonderes gegeneinander. Die Zigeunerjungen waren eben nur in dieser Gegend und hatten etwas zum Fürchten an sich, ihre braunen Gesichter und ihre bunten Kittel. Sie waren ihnen völlig fremd und sprachen auch irgendwie unverständlich. Wieso taten sie so, als ob sie hier das Sagen hätten? Jedenfalls begann mit einem Male einer der älteren Zigeunerjungen ihren Anführer direkt anzugehen, und die allgemeine Prügelei begann. Er geriet direkt an einen von gleicher Größe, der zwar kein Messer, dafür aber einen Knüppel bei sich hatte. Bevor der diesen ausschwingen konnte, hatte er ihn niedergerungen und auf den Boden drücken können. Als ihm selbst die Kraft auszugehen drohte, ihn in dieser Stellung zu halten, kam eine Radfahrerkolonne von Polizisten mit Tschakos vorbeigeradelt und fuhr zwischen den Tumult von sich prügelnden Jungen, sie sofort trennend, wobei die Zigeunerjungen es schafften, unbemerkt zu verduften, ohne verfolgt zu werden. Ein paar der Kaninchengrassucher bluteten, aber es war nichts Schlimmes passiert. Kein Messer war gezogen worden. Die Messer der Zigeuner waren nicht so gefährlich wie ihre Hunde, die sie dieses Mal aber nicht dabeihatten. Die Schupos schrieben sich einige Namen auf, auch seinen, und erklärten, es würde höchste Zeit, dass sie sich im Jungvolk benehmen lernten, und sie fragten auch, wer im Jungvolk sei. Aber da die meisten das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, blieb es bei einer mageren Verwarnung ohne Folgen.
Er hatte diese Gegend an den Bahngleisen gerne, denn es gab dort viele Schrebergärten, wohin ihn der irische Großvater mehrfach mitgenommen hatte. Einer gehörte dessen bestem Freund. Der hieß Hannes, wurde manchmal aber auch Schinderhannes genannt, nämlich von der Tante, die den Mann greulich fand. Auch die Großmutter konnte ihn nicht leiden und wollte nicht, dass der Großvater und der Junge mit dem Fahrrad dort hinaus fuhren. Aber der Großvater setzte seinen schwarzen Hut mit der roten Feder auf und zog seine schönen alten Zimmermannsgesellenhosen an, die nach unten immer breiter wurden und kleine silberne Glöckchen hatten. Und der Junge kam auf die Stange des Fahrrads. Hannes oder Schinderhannes lebte alleine in einer Bretterhütte in seinem Schrebergarten, die so düster wie ein Loch war und merkwürdig roch. Der Grund waren die vielen Katzen, die herumschlichen und böse fauchten, wenn Besucher kamen. Die Bretterhütte war vollgestellt mit Tierköpfen, Geweihen, ausgestopften Vögeln und alten Zeitungen. Der Junge wusste, warum die Tante den Mann Schinderhannes nannte. Das war vor hundert Jahren ein Räuber am Rhein gewesen, zwischen Hunsrück und Westerwald, der schließlich gefangen und geköpft worden war. Und der Freund des Großvaters sah so finster aus, dass man Angst vor ihm bekommen konnte. Dabei holte er immer einen großen Rodonkuchen mit Rosinen aus dem Schrank und machte schwarzen Kaffee mit Zucker, von dem der Junge auch etwas trinken musste. Dazu gab es kleine Gläser mit Schnaps, aber nur für die Alten. Das war eine Art reiner Alkohol, den der finstere Freund selbst herstellte. Großvater und Hannes saßen dann an einem Tisch, auf dem zwei Laternen mit Kerzen standen, sodass der größere Teil des Raumes weiter im Dunkeln blieb, aus dem nur die Augen der Katzen starrten.
Der Junge kam sich vor wie im Märchen. Das alte Haus des Großvaters war ja auch voller Wunder, aber nicht unheimlich. Hier war alles unheimlich, vor allem der Mann selbst. Er verstand eigentlich nie, worüber der Großvater mit Hannes redete. Es kamen fremde, völlig unbekannte Namen und Orte vor. War Hannes überhaupt aus Deutschland? Woher und seit wann kannten sie sich? Er fragte den Großvater nie danach. Es passte nicht, so etwas zu fragen. Der Mann blieb für ihn immer derselbe: der, der in der düsteren Hütte wohnte am Bahndamm. Hannes durfte niemals ins Haus des Großvaters zu Besuch kommen. Das hatte die Großmutter verboten. Wahrscheinlich kam er niemals in die Stadt. Was er brauchte, wuchs im Garten, und seine Sachen wusch er selbst in einem riesigen Kessel, der auf dem mit Briketts geheizten Herd stand. Die Briketts besorgte er sich von den vorbeifahrenden Güterzügen, die oft in seiner Gegend stehenblieben. Sein Klo war draußen im Garten, über einer großen Dunggrube. Hannes lebte hier wohl wie im Frieden, denn die Engländer hatten noch nicht begonnen, die Gleise zu bombardieren. Es fiel ihm auch auf, dass Hannes kein Kreuz, keine Mutter Gottes und kein Jesusbild hatte, wie der Junge es vom Haus der Großeltern gewohnt war. Der Mann glaubte wohl nicht an den lieben Gott. Er würde in die Hölle kommen. Ja, sie waren hier in einem Vorort der dunkelroten Hölle. Das war gruselig, aber so ungeheuer aufregend, dass er sich immer wieder auf die düstere Hütte am Bahndamm freute.
Die Prügelei war nicht heftiger gewesen als das, was er manchmal in der Schule erlebte. Nun machte er sich wieder auf den Weg nach Hause zum Haus der Großeltern. Er ging an einer langen Friedhofsmauer entlang, an die direkt ein Zuckerrübenfeld anschloss. Dieser westlichste Vorort gehörte erst seit kurzem offiziell zum Stadtgebiet. Hierher verlief sich kaum einer. Am Beginn einer langen Chaussee mit Kopfsteinpflaster und Kastanienbäumen auf jeder Seite lauerten ihm einige Jungen der nächsthöheren Klasse auf, mit deren Anführer er schon auf dem Schulhof aneinandergeraten war. Sie hatten alle, wie er selbst, diesen schleppenden Akzent im rheinischen Singsang, der sich besonders dafür eignete, eine Frechheit auf die andere zu türmen. Einem dieser Älteren hatte er auf dem Schulhof gesagt, was für ein Blödmann er sei, jetzt folgte die Rache. Zwei von ihnen hielten ihn fest und drückten ihm mit Wut und Gelächter eine Ladung Pferdekot ins Gesicht. Davon gab es genug auf der Chaussee, wo täglich die schweren Brauereigäule mit ihren von Bierfässern beladenen Wagen entlangfuhren. Zu seinem Glück hatte das warme Wetter des Sommers 1941 die Pferdeäpfel so getrocknet, dass nur eine geringe Menge des weichen Inneren an seinem Gesicht hängenblieb.
Das genügte allerdings, den Großvater sehr ärgerlich werden zu lassen – nicht gegen seine Feinde, sondern gegen ihn. Es kam zu einer der letzten Bestrafungen mit der Folge, dass er seine Freunde auf der Straße einige Tage nicht sehen durfte. Kurz darauf aber geschah etwas, das ihn dem Großvater für immer, was er auch anstellte, besonders gewogen machte. Der Junge ging zur Zeit des Hochamts besonders gerne in die Pfarrkirche, die den Namen der Heiligen Drei Könige trug. Dort gab es funkelnde, geheimnisvolle Farben in allen Schattierungen: der Tabernakel in seinem gleißenden Gold, die roten Teppiche zu den Altarstufen, der gelblich-weiße Talg der großen und kleinen Kerzen, das gedunkelte Metall der Weihrauchkessel. Und die Gewänder des Priesters und der Messdiener! Ihre Farben waren offensichtlich von besonderer Bedeutung. Am stärksten kam ihm dies am letzten Karfreitag seines Aufenthalts im großelterlichen Haus zu Bewusstsein: als in der Kirche das düstere Violett und Schwarz der Kartage zum strahlenden Weiß und Rot des Ostermorgens wechselte. Wie beneidete er die Messdiener! Dann, wenn sie in ihren feinen seidenen weißen Hemden über dem Scharlachrot des Leibrocks die Ärmel über die Hände fallen ließen und sie dann mit einer energischen Geste hochwarfen, um die Schelle zur heiligen Wandlung zu läuten oder das Weihrauchfass zu schwenken. Und wie gerne wäre er einer von ihnen, wenn sie den Hochaltarbereich verließen, um die Kollekte zu machen. Wie Engel sahen sie aus, wenn sie auf der Seite der Frauen und Mädchen Reih um Reih stehenblieben und den Geldkorb umgehen ließen: Lange dachte er darüber nach, wie er an dieser Verwandlung teilnehmen könnte.
Dem Pfarrer war er während der Kinderandacht nach der Hochmesse aufgefallen. Die Kinder sollten eigene Antworten auf manchen seltsamen Vorgang des Neuen Testaments geben. Zum Beispiel, was das Jesuskind bei diesem oder jenem Ereignis gedacht habe. Das war eine gewiss einschüchternde Frage, bei der fast alle Kinder schwiegen. Nur seine Hand flog dann immer hoch, und einer staunenden Zuhörerschaft erzählte er in allen Einzelheiten, was das Jesuskind gedacht hatte. Des Herrn Pastors Miene strahlte wohlgefällig über der jungen Gemeinde. Eines Tages erschien er bei den Großeltern mit der frohen Botschaft, es sei die Zeit gekommen, dass der Enkel Messdiener würde, zumal er ja auch bald die Heilige Erstkommunion empfangen sollte. Dabei machte der Pastor die Andeutung, aus dem Jungen könnte einmal ein Priester werden und, wer weiß, vielleicht noch etwas sehr viel Höheres. Seit diesem Tag war der Junge endgültig des Großvaters Favorit unter den Enkeln.
Er war auf die Idee gekommen, im ausgebauten Speicher des großväterlichen Hauses eine Art Altar zu bauen und Messe zu spielen. Messe spielen hieß vor allem: erstens sich irgendwie Gewänder mit einschlägigen Farben zu beschaffen, in die eintauchend man alles Alltägliche abstreifte, und natürlich brauchte es einen Kelch mit Hostien. Zweitens: Andere Kinder der Umgebung sonntags zur Predigt einzuladen. Predigen und die Verteilung der Hostien behielt er sich selbst vor, ein Vetter sollte den Messdiener spielen und mit der Schelle klingeln. Aber wie das anstellen? Die fromme Großmutter durfte von all diesen Planungen nichts wissen, wohl aber ein Verwandter des Onkels. Dieser Verwandte gehörte zu einem sektenartigen Privatorden innerhalb der Kirche, zu jener Sorte fanatisch strenger Katholiken, die dem Papst ermahnende Briefe schrieben. Er war ein Mann, der morgens auf die Straße trat und vor vorbeikommenden Nonnen aufdringlich-unaufdringlich den Hut zog: ein »Beginengrüßer«. So nannten die Leute der Stadt jemanden, der eigentlich kein richtiger Mann war, sondern ein Frömmler. Sie sagten: »Dat is ne Bejigenjrößer.« Er war verheiratet, und deshalb schied die Möglichkeit aus, die einzig seiner frommen Begierde Erfüllung hätte bringen können, nämlich Priester zu werden. Dafür kam er eines Karfreitags ins großväterliche Haus und wusch den Kindern nach dem Vorbild Jesu die Füße. Dieser Halbonkel hörte mit Wohlwollen von dem Vorhaben des Jungen, sonntags die Messe nachzuspielen, und half, über seine kirchlichen Beziehungen, bei der Beschaffung täuschend echter Gewänder in der richtigen Größe. Er hatte auch immer am 6. Dezember den Nikolaus gespielt, nicht als Weihnachtsmann mit Kapuze und Sack, sondern in der Maske eines richtigen Bischofs!
Schließlich war es soweit: Der Altar war fertig, die Gewänder lagen bereit, und zehn Kinder kamen am auserwählten Sonntag in den Speicher. Man würde ein besonderes Spiel spielen, wurde der Großmutter gesagt, die Nachbarskinder in Haus, Keller und Garten gewohnt war. Als alle Kinder auf dem Boden saßen, dann aber auf sein Geheiß – er trug ein mit einem leuchtenden goldenen Kreuz bedecktes weißes Gewand – knien mussten, vollzog sich das Schauspiel eines neunjährigen Priesters, der mit ausgebreiteten Händen vor einem echten Messkrug unverständliche Worte murmelte, während der kleinere Vetter im Weißrot des Messdieners das Messbuch von Zeit zu Zeit auf die jeweils andere Seite trug. Er kannte nicht den liturgisch vorgeschriebenen Ablauf, sondern imitierte alles, was ihm spontan einfiel. Den Höhepunkt bildete natürlich der Augenblick der Eucharistie, der Heiligen Wandlung, denn hier konnte der kleine Vetter zeigen, wie er gelernt hatte, rhythmisch mit der Klingel umzugehen – kniend, während er selbst im leuchtenden Priestergewand stehend die Hostie demonstrierte und alle Kinder das Kreuzzeichen schlugen. Dann kam es zur Einnahme von Brot und Wein. Alle Kinder hatten auf Geheiß einzeln nach vorne zu kommen und die Zunge herauszustrecken, auf die er dann die echte Oblate legte, die ihm der frömmelnde Halbonkel beschafft hatte. Statt Wein gab es Wasser.
Das war die Aktion. Sie war aber nicht das Wichtigste, so sehr sie ihn packte. Das Wichtigste war die Predigt. Sie erfolgte zu dem Zeitpunkt, an dem sie auch beim richtigen Hochamt stattfand: vor der Wandlung. Als Kanzel dienten zwei zusammengestellte hohe Stühle, deren lederne Rückseite geschlossen war, sodass der junge Prediger wirklich nur von der Brust an sichtbar war. Der Inhalt der Predigt schwankte zwischen den Jesusgeschichten aus der Kinderandacht und willkürlichen Einfällen darüber, wie Gott die Welt erschaffen hatte. Diese Erzählung aus dem Alten Testament hatte es ihm nicht nur wegen der ozeanischen Größenordnung angetan, sondern wegen der bewegenden Redeweise Gottes, der einfach nur sprechen musste, auf dass etwas geschah. Irgendwie wusste er das nachzuahmen und mit entsprechenden Handbewegungen zu unterstreichen, wobei dann die gestickte Borte des priesterlichen Gewandes dem jungen Prediger über die Hände fiel. Er kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob die Kinder zu seinen Füßen dem folgten, was er sagte. Dafür war er viel zu sehr mit seinen großartigen Gedanken beschäftigt. Er hatte erreicht, was er wollte: in dieser schönen Atmosphäre mit besonderen Worten und Bewegungen aufzugehen! Natürlich war es schade, dass keine Kerzen angezündet wurden, das hatte der Halbonkel verboten. Dadurch fehlte es der Kindermesse an dem Glanz, der in der Kirche auf einen Schlag, wenn man in ihr Halbdunkel trat, alles bis dahin auf der Straße Gesehene vergessen ließ. Aber dieser Nachteil wurde dadurch aufgewogen, dass hier ein heimliches Spiel gespielt wurde, von dem die Erwachsenen keine Ahnung hatten.
Sehr oft konnte dieses Spiel nicht wiederholt werden, denn eines Sonntags kam die Großmutter dahinter. Zwar sangen die Kinder keine Kirchenlieder, aber gerade die relative Ruhe, unterbrochen von einem unverständlichen Gemurmel, das Latein sein sollte, ließ die Großmutter die Treppe zur obersten Etage hinaufgehen und entdecken, dass hier etwas ganz Unmögliches geschah. Eine Blasphemie, die in ihrem Lieblingsenkel Gestalt gewonnen hatte, der gerade, als sie eintrat, eine weiße Oblate aus dem goldenen Kelch in die Höhe hob und den Kindern den Segen gab. Von diesem Tag an war es mit der Messe zu Ende, und der Speicher war wieder leer wie zuvor.
Für den Jungen war es ein schwerer Schlag. Aber Rettung war nahe: die Vorbereitung auf die Erstkommunion. Inzwischen hatten die wundersamen biblischen Erzählungen von Jesu Leben und Sterben eine klarere Bedeutung für ihn gewonnen. Jesus war sein Held geworden. Das passte durchaus zu den kriegerischen Spielen der Jungen auf der Straße, unter denen er einer der Anführer blieb. Es passte nicht zu den Reden, die aus dem Rundfunk kamen, von denen die Großeltern sagten, sie seien unchristlich. Aber es gab sogar an diesem Pfingstsonntag noch immer die wunderbaren Blumenaltäre vor vielen Häusern des Viertels. Jesus als Held passte zum Christkönigsfest, das nicht dem leidenden, sondern dem siegreichen Heiland gewidmet war. Für den Jungen, der zur Erstkommunion ging, leuchteten der Kelch, die Hostie, das Weihrauchfass, leuchteten die Kirchenfenster, der Brokat auf den Priestergewändern, leuchtete alles. Es blitzte nicht so wie die Granatsplitter damals, aber es war doch eine Erscheinung von etwas Außergewöhnlichem.
Die Erstkommunion hatte vor allem anderen diese Wirkung auf ihn. Er hatte nicht nur einen Tag, sondern Tage in der Vorstellung gelebt, etwas Außergewöhnliches sei mit ihm geschehen. Dass er den dunkelblauen Kommunionsanzug mit dem weißen Flieder im Knopfloch eigentlich nur einmal tragen durfte, war ihm ein Schmerz. Noch mehr aber, dass für die Erwachsenen der Alltag wie gewöhnlich weiterging, selbst für die fromme Großmutter. Die Geschichte über die jungen Christen in Rom, die vom Kaiser verhaftet und hingerichtet wurden, war zu diesem Zeitpunkt das, was er in der katholischen Jugendzeitschrift Das Kommunionsglöckchen am liebsten las. Nach dem Tag der Erstkommunion kam ihm der katholische Alltag plötzlich schal vor, im Vergleich zu dem glühenden Glaubensleben dieser jungen Märtyrer.
Inzwischen durfte er während der Luftangriffe, die sich vom Zentrum der Stadt den Vororten näherten, mit dem irischen Großvater in den dritten Stock steigen, um die Richtung der Einschläge und die Brände zu sehen. Sie standen am Fenster des Speichers, in dem er gepredigt hatte. Wenn sie dann hinunter in den Keller kamen, wo die Frauen mit den kleinen Kindern saßen und beteten, spürte der Junge in sich das Gefühl des Beschützers wachsen. Der Großvater erklärte zwar weiter den Stand der Dinge, aber der Junge durfte etwas Eigenes hinzufügen: wie die Feuer aussahen und wie der schwarze Rauch zu riechen war, wenn man die Fenster öffnete. Dieses neue Gefühl von Verantwortung kam ihm zugute, wenn er mit seinen Jungen auf der Straße unterwegs war. Letztens hatten sie wieder Klee aus fremden Vorgärten als Kaninchenfutter geholt und waren einem aufgebrachten Schrebergärtner gerade noch entkommen.
Der neue Ruhm wurde allerdings gefährdet durch den gelegentlichen Besuch seiner eleganten Mutter. Sie war inzwischen mit einem wegen einer Sportverletzung vom Militärdienst freigestellten Arzt liiert, der im Zentrum der Stadt seine Praxis hatte. Sie erlebte also die Luftangriffe in ihrer ganzen Heftigkeit, was an ihrer modischen Eleganz aber nichts geändert hatte. Wenn die Mutter, meist ohne Vorwarnung, mittags erschien, um ihn für einen Nachmittag zu einem Treff mit der Freundin in eins der besseren Cafés auf dem großen Boulevard mitzunehmen, wartete sie nicht, bis der Großvater am Ende des Mittagessens das kurze Dankgebet gesprochen hatte, sondern stand schon vor dem Spiegel und schminkte sich unter den vorwurfsvollen Blicken der Großmutter die Lippen nach. Wenn er mit der Mutter dann die Straße betrat, wartete schon eine Reihe der Nachbarjungen: Die fremde schöne junge Frau sah irgendwie verboten aus. Das fanden auch die Mütter der Nachbarschaft mit den dicken Haarknoten, die sich über die ungewöhnliche Erscheinung aufregten. Die Großmutter sagte nichts zum Aussehen ihrer Tochter, aber sie mochte nicht, dass sie sich so schminkte, Lippen, Augen, alles.
Bevor der Junge mit der Mutter das Haus verließ, musste er sich waschen und den dunkelblauen Bleyle-Anzug anziehen, den sie mitgebracht hatte. Sie kämmte ihn so heftig, dass es wehtat. Und dann folgte die eigentliche Erniedrigung. Feingemacht musste er neben der geschminkten Mutter an der Reihe der Nachbarjungen vorbei. Er tat so, als ob nichts sei, aber er schämte sich wie noch nie in seinem Leben. Im Café ging es ihm auch nicht besser. Er musste sich neben die Freundin der Mutter setzen und sollte die Vögel zeichnen, die in einem großen Käfig saßen. Ein Klavierspieler klimperte Melodien, an die er sich aus der schrecklichen Zeit, als der Vater nur noch selten da war, erinnerte. Jedes Mal, wenn er die Mutter in die Stadt begleiten musste, begann es mit der Erniedrigung und hörte es auf mit der Langeweile im Café. Ein solcher Besuch drohte ihn um sein ganzes Ansehen als Anführer zu bringen. Wer eine solche Mutter hatte, passte nicht dazu, mochte er sich noch so anführerhaft gebärden.
Eines Tages, es war Mitte zweiundvierzig, erschien im Hause der Großeltern ein fremd aussehender Mann in Knickerbockern und mit einer Baskenmütze. Es war der Vater. Wie lange hatte er ihn nicht gesehen? Der Vater kam aus dem neutralen Ausland, wo er eine schwere Krankheit auskuriert hatte. Jetzt wollte er den Sohn holen. Der Vater wirkte nicht nur fremd, weil er ihn solange nicht gesehen hatte. Er wirkte fremd wegen seines Äußeren und seines legeren Benehmens. Er sagte, es sei die Zeit gekommen, dass er auf einer guten Schule etwas Ordentliches lerne. Aber die Granatsplitter, die Bande, das Messdienen, die Uniformlitzen, die von Kerzen erleuchtete Kirche! Das sei alles sehr schön, aber es gäbe Wichtigeres, zum Beispiel die lateinische Sprache, die er auch als Messdiener ja nur in Bruchstücken gelernt habe: »Ad altare dei« oder »Juventutem meam« und ein grammatisch nie richtig gelerntes »Confiteor«. Die Schule, die der Vater für ihn ausersehen hatte, war ein Internat im äußersten Süden des Landes, in dem die antiken Sprachen neben den Künsten und dem Sport das Wichtigste waren. Zuvor musste er auf die Aufnahmeprüfung in die Sexta vorbereitet werden, was im Privatunterricht des Vaters geschehen sollte. Dann kam der mit Spannung erwartete Tag. Und mit dem großen Tag kam auch das, was ihn die Abwesenheit der Großeltern, der Bande und des Messdienens ertragen ließ. Das, was ihn nun in Bann schlug wie der schönste Granatsplitter, war ein bebildertes dickes Buch mit altgriechischen Sagen, das er sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Schon der Anblick der Bilder hatte etwas, was beunruhigte, weil es so fremd war und gleichzeitig durch seine Schönheit anzog. Er konnte die einzelnen Geschichten nur schwer verstehen. Zwei Namen hatten es ihm aber sofort angetan, »Agamemnon« und »Klytämnestra«. Wie der noch für Troja Gerüstete auf dem Kampfwagen in den Palast einfährt, wie er über den roten Teppich in das Innere des Palasts schreitet, und wie er dann, im Bad, vom Beil Klytämnestras getroffen wird, aufschreit, noch einmal getroffen wird und stirbt. Der Junge las die Geschichte immer wieder. Wichtig waren vor allem diese beiden geheimnisvollen Namen.
Agamemnon