Boris Akunin
Der Magier von Moskau
Fandorin ermittelt
Roman
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke
Die Originalausgabe unter dem Titel
Любовница смерти
erschien 2001 bei Sacharow-AST, Moskau.
Nachdichtungen von Katja Lebedewa
ISBN 978-3-8412-0162-1
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2005 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© B. Akunin 2001
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung Dagmar &Torsten Lemme, Berlin
unter Verwendung der Gemälde »Der Student«, 1881,
von Nikolai Alexandrowitsch Jaroschenko und
»Moskauer Hof«, 1878, von Wassili Polenow
E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH,
www.le-tex.de
www.aufbau-verlag.de
ERSTES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
ZWEITES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
DRITTES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
VIERTES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
FÜNFTES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
SECHSTES KAPITEL
1. Aus Zeitungen
2. Aus dem Tagebuch von Colombina
3. Aus dem Ordner »Agentenmeldungen«
DIE AUFOPFERUNG DES VIERBEINIGEN FREUNDES
Gestern gegen drei Uhr nachts wurden die Bewohner eines Mietshauses der Gesellschaft »Goliath« in der Semjonowskaja-Straße vom lauten Aufschlag eines schweren Gegenstands und einem nachfolgenden durchdringenden Geheul aus dem Schlaf gerissen. Es kam von dem Pointer des Photographen S., der das Dachatelier innehatte. Der auf den Lärm herausgeeilte Hausmeister blickte nach oben und sah das erleuchtete Fenster, wo der Hund stand und herzzerreißend jaulte. Im nächsten Moment entdeckte der Hausmeister auf dem Pflaster den reglosen Körper von S., dessen Sturz offenbar den Lärm ausgelöst hatte. Vor den Augen des bestürzten Hausmeisters sprang der Pointer plötzlich herunter und schlug unweit des Leichnams seines Herrn auf.
Es gibt zahlreiche Legenden über die Hundetreue, aber eine Aufopferung, die den Selbsterhaltungstrieb überwindet und den Tod verachtet, kommt bei unseren vierbeinigen Freunden doch höchst selten vor. Und noch seltener Selbstmord.
Die Polizei vermutete zunächst, daß S., bekannt für seine liederliche und nicht immer nüchterne Lebensweise, zufällig aus dem Fenster gefallen wäre, doch eine in der Wohnung gefundene Mitteilung in Gedichtform machte deutlich, daß der Photograph Hand an sich gelegt hatte. Die Beweggründe für diesen Verzweiflungsschritt sind unklar. Nachbarn und Bekannte von S. sagten aus, daß er keinerlei Anlaß gehabt habe, seinem Leben ein Ende zu setzen, im Gegenteil, er sei in den letzten Tagen in bester Stimmung gewesen.
»Moskauer Kurier« vom 4. (17.) August 1900, S. 6
L. S.
DAS GEHEIMNIS DES VERHÄNGNISVOLLEN GELAGES GELÜFTET
Unglaubliche Einzelheiten des tragischen Vorfalls in der Furmanny-Gasse
Wie bereits vor drei Tagen gemeldet, nahm die Geburtstagsfeier, zu der der Gymnasiallehrer Soimonow vier Arbeitskollegen eingeladen hatte, ein höchst betrübliches Ende. Der Hausherr und seine Gäste wurden am gedeckten Tisch leblos aufgefunden. Die Obduktion der Leichen ergab, daß die Todesursache bei allen fünf Personen Portwein der Marke Castello war, der eine ungeheuerliche Dosis Arsen enthielt. Diese Nachricht bewegte die ganze Stadt, und in den Weinhandlungen ging die Nachfrage nach dem genannten Wein, der zuvor bei den Moskowitern beliebt gewesen war, auf Null zurück. Die Polizei leitete eine Ermittlung gegen die Abfüllfirma der Gebrüder Stamm ein, die den Castello an die Weinhandlungen ausgeliefert hatte.
Aber heute steht fest, daß dem geschätzten Getränk nichts vorzuwerfen ist. In der Tasche von Soimonows Gehrock fand sich ein Zettel folgenden Inhalts:
Abschiedsgedicht
Ohne Liebe ist kein Leben!
Wachsam ständig acht zu geben,
Zwanghaft lächelnd sich zu plagen,
Muß ich nun nicht mehr ertragen.
Schluß, ihr Spötter könnt nun gehen,
Hattet Spaß, es ist geschehen.
Helft dem jungen Bräutigam,
Seine Trauung naht heran.
Stehe an dem offnen Grabe
Ruf sie, die mit dunkler Gabe
Zeigte mir der Liebe Sinn:
»Wie die Blume nimm mich hin!«
Der Sinn dieses Abschiedsgedichts ist dunkel, doch wird deutlich, daß Soimonow vorsätzlich aus dem Leben ging und das Gift selbst in die Flasche schüttete. Das Motiv für die Wahnsinnstat ist unverständlich. Der Selbstmörder war ein verschlossener und verschrobener Mensch, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen eines seelischen Leidens. Wie Ihrem gehorsamen Diener zu ermitteln gelang, war der Verewigte im Gymnasium nicht beliebt: Bei den Schülern galt er als strenger und langweiliger Lehrer, die Kollegen warfen ihm Hochmut und Galligkeit vor, und manche bespöttelten auch sein sonderbares Benehmen und seinen krankhaften Geiz. Aber all das reicht nicht aus als Beweggrund für eine so aberwitzige Handlungsweise.
Soimonow besaß weder Familie noch Dienerschaft. Nach der Aussage seiner Vermieterin, Frau G., ging er abends häufig aus und kehrte erst lange nach Mitternacht zurück. Unter seinen Papieren fanden sich zahlreiche Rohentwürfe für Gedichte düstersten Inhalts. Keiner seiner Arbeitskollegen hatte gewußt, daß er Gedichte schrieb, und als sie über die poetischen Versuche dieses »Menschen im Futteral«1 unterrichtet wurden, weigerten sie sich gar, das zu glauben.
Die Einladung zum Geburtstag, der so entsetzlich endete, kam für die Gymnasiallehrer gänzlich überraschend. Nie zuvor hatte Soimonow Gäste zu sich gebeten, und auf einmal hatte er ausgerechnet die vier Kollegen eingeladen, die er am wenigsten leiden konnte und die ihn, wie viele bezeugten, am meisten verspottet hatten. Die Unglücklichen hatten eingewilligt, da sie annahmen, daß Soimonow sich endlich mit ihnen aussöhnen wollte, und überdies (wie der Gymnasialinspektor Serdobolin sich ausdrückte) »aus schierer Neugier«, denn noch keiner hatte den Misanthropen je in seiner Wohnung aufgesucht. Wohin diese Neugier führte, ist bekannt.
Es liegt auf der Hand, daß der Giftmischer dem Teufel nicht nur sein zuwider gewordenes Leben hat darbringen wollen, sondern auch das seiner »Spötter«. Aber was bedeuten die Worte über diejenige, die »zeigte mir der Liebe Sinn«? Steckt hinter der makabren Geschichte womöglich eine Frau?
»Moskauer Kurier« vom 11. (14.) August 1900, S. 2
L. Shemailo
SELBSTMÖRDERKLUB IN MOSKAU?
Unser Korrespondent ermittelt auf eigene Faust und äußert eine furchtbare Vermutung!
Geklärt sind nunmehr die Umstände des Doppelselbstmords, der ganz Moskau erschütterte. Romeo und Julia unserer Tage – das sind der 22-jährige Student Sergej Schutow und die 19-jährige Kursistin Jewdokia Lamm (s. insbesondere unseren Artikel »Eine traurigere Geschichte gibt es nicht« vom 16. August). Die Zeitungen meldeten, daß die Verliebten gleichzeitig, wohl auf ein Signal, mit Pistolen aufeinander geschossen hatten. Dabei wurde die junge Lamm tödlich getroffen, Schutow hingegen erlitt in Herznähe eine schwere Verwundung und wurde ins Marienspital gebracht. Er war bei vollem Bewußtsein, beantwortete jedoch keine Fragen und sagte nur immer wieder: »Warum? Warum? Warum?« Unmittelbar vor seinem Tod lächelte er plötzlich und sagte leise: »Ich gehe, also liebt sie mich.« Die sentimentalen Reporter sahen in der blutigen Geschichte ein romantisches Liebesdrama, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß es hier überhaupt nicht um Liebe geht. Jedenfalls nicht um Liebe zwischen den Beteiligten der Tragödie.
Ihr gehorsamer Diener konnte ermitteln, daß die beiden jungen Menschen, wenn sie denn eheliche Bande angestrebt hätten, durch nichts behindert worden wären. Die Eltern von Fräulein Lamm sind moderne Menschen. Ihr Vater ist Professor an der Moskauer Universität und in Studentenkreisen bekannt für seine fortschrittlichen Ansichten. Nach seinen Worten würde er sich niemals dem Glück seiner vergötterten Tochter widersetzt haben. Schutow wiederum war volljährig und besaß ein wenn auch nicht großes, so doch für ein sorgenfreies Dasein ausreichendes Kapital. Das Paar hätte also ohne weiteres heiraten können! Weshalb schossen sie sich gegenseitig in die Brust?
Diese Überlegung ließ uns Tag und Nacht keine Ruhe und bewog uns zu einigen Nachforschungen. Dabei stellte sich etwas höchst Sonderbares heraus. Gute Bekannte der beiden Selbstmörder versicherten übereinstimmend, daß Lamm und Schutow lediglich befreundet gewesen seien und keinerlei leidenschaftliche Gefühle füreinander gehegt hätten.
Nun ja, dachten wir, Bekannte sind oft blind. Vielleicht hatten die jungen Leute ja Gründe, ihre Leidenschaft geheimzuhalten.
Aber heute fiel uns (fragen Sie nicht, wie, das ist Journalistengeheimnis) ein Gedicht in die Hand, das die Selbstmörder vor ihren tödlichen Schüssen zu Papier brachten. Das poetische Werk ist höchst ungewöhnlich und vielleicht sogar einzigartig. Es ist mit zwei Handschriften geschrieben – offenbar haben Schutow und Lamm abwechselnd je eine Zeile verfaßt. Somit haben wir eine kollektive Schöpfung vor uns. Der Inhalt zwingt uns, sowohl den Tod von Romeo und Julia als auch die Selbstmordserie der letzten Wochen in Moskau völlig neu zu sehen.
Er erschien ganz in Weiß. Er stand dort auf der Schwelle.
Er erschien ganz in Weiß. Durch das Fenster sah er.
»Liebesbote bin ich. Zu dir schickte Sie mich.«
»Seine Braut wirst du sein. Dich zu holen, kam ich.«
Sagte er dann und reichte die Hände mir her.
Sagte er dann. Die Stimme klang rein und so tief!
Seine Augen warn schwarz, und sie schauten so hart.
Seine Augen warn hell, und sie schauten so zart.
Und ich sprach: »Bin bereit. Warte lang schon auf dich.«
Und ich sprach: »Gleich komm ich. Überbring: Gleich komm ich.«
Rätsel über Rätsel. Was bedeutet »ganz in Weiß«? Von wem kam der Bote – von Ihr oder Ihm? Wo stand er – auf der Schwelle oder am Fenster? Und was für Augen hatte der geheimnisvolle Herr denn nun – schwarze und harte oder helle und zarte?
Hier erinnerten wir uns an die kürzlich verübten und scheinbar ebenso grundlosen Selbstmorde des Photographen Swiridow (s. unsere Notiz vom 4. August) und des Lehrers Soimonow (s. unsere Beiträge vom 8. und vom 11. August).
In beiden Fällen war ein Abschiedsgedicht vorhanden, was in unserem prosaischen Rußland, wie Sie mir beipflichten werden, nicht eben häufig vorkommt!
Bedauerlich, daß die Polizei nicht die Abschiedszeilen des Photographen Swiridow aufgehoben hat, doch es gibt auch so reichlich Stoff für Überlegungen und Mutmaßungen.
In dem Abschiedsgedicht Soimonows wird eine geheimnisvolle Person erwähnt, die dem Giftmischer »zeigte der Liebe Sinn« und ihn dann »hinnehmen« sollte »wie die Blume«. Zu Schutow kam ein Liebesbote von Ihr, einer ungenannten Person weiblichen Geschlechts, und zu Lamm ein Bote des Bräutigams.
Liegt es nicht nahe, anzunehmen, daß die liebreiche Person in den Gedichten der drei Selbstmörder der Tod selber ist? Dann wird vieles klar: Die Leidenschaft, welche die Liebenden nicht ins Leben, sondern ins Grab stößt, ist die Liebe zum Tod.
Ihr gehorsamer Diener hat keinen Zweifel mehr daran, daß sich in Moskau nach dem Beispiel etlicher europäischer Städte eine Geheimgesellschaft von Todesanbetern gebildet hat, Wahnsinnigen, die in den Tod verliebt sind. Der Geist von Unglauben und Nihilismus, die Krise von Sittlichkeit und Kunst, noch mehr aber der gefährliche Dämon, dessen Name Ende des Jahrhunderts lautet – das sind die Bazillen, die das tödliche Übel hervorgebracht haben.
Wir haben uns das Ziel gesetzt, soviel wie möglich über die Geschichte rätselhafter Gesellschaften, sogenannter Selbstmörderklubs, herauszufinden. Folgende Informationen konnten wir zusammentragen.
Selbstmörderklubs sind keine rein russische, ja, überhaupt keine russische Erscheinung. Bislang hat es solche ungeheuerlichen Organisationen in den Grenzen unseres Imperiums nicht gegeben. Aber da wir Europa auf dem Weg des »Fortschritts« folgen, kommen wir offenbar auch nicht an dieser verderblichen Mode vorbei.
Die erste historische Erwähnung einer freiwilligen Vereinigung von Todesanbetern geht zurück auf das erste Jahrhundert vor Christus; damals gründete das legendäre Liebespaar Antonius und Kleopatra die »Akademie der im Tode Unzertrennlichen« – für Liebende, die »gemeinsam sterben wollten: still, freudig und zum gewünschten Zeitpunkt«. Dieses romantische Vorhaben endete bekanntlich nicht so idyllisch, da es die große Königin im entscheidenden Moment vorzog, sich von dem besiegten Antonius zu trennen und ihr Leben zu retten. Als sich dann aber zeigte, daß ihre hochgepriesenen Reize auf den kühlen Octavian keine Wirkung hatten, legte Kleopatra doch noch Hand an sich, wobei sie mit Bedacht und Geschmack zu Werke ging, ganz im Stil der Antike: Lange suchte sie nach der besten Methode, sich zu töten, erprobte an Sklaven und Verbrechern alle möglichen Gifte und entschied sich schließlich für den Biß der ägyptischen Kobra, der fast keine unangenehmen Empfindungen zur Folge hat, abgesehen von leichtem Kopfschmerz, der sehr bald abgelöst wird von »unüberwindlicher Todessehnsucht«.
Das ist eine Legende, werden Sie sagen, zumindest aber ein uralter Hut. Für solche »Akademien« ist der moderne Mensch doch viel zu irdisch und materialistisch eingestellt und klammert sich viel zu sehr ans Leben.
Nun denn, betrachten wir das aufgeklärte 19. Jahrhundert. Gerade in ihm florierten Klubs von Selbstmördern, Menschen, die sich in Geheimorganisationen zusammenschlossen zu dem einzigen Zweck, ohne großes Aufsehen aus dem Leben zu scheiden.
Schon 1802 entstand in dem gottlosen Paris nach der Revolution ein Klub mit 12 Mitgliedern, deren Zusammensetzung sich begreiflicherweise ständig erneuerte. Laut Statut wurde die Reihenfolge des Hinscheidens durch das Kartenspiel ermittelt. Zu Beginn jedes neuen Jahres wurde ein Vorsitzender gewählt, der verpflichtet war, sich noch vor Ablauf seiner Vollmachten zu töten.
1816 entstand in Berlin ein »Todeszirkel«. Seine sechs Mitglieder machten keinen Hehl aus ihren Absichten, im Gegenteil, sie bemühten sich nach Kräften, weitere Mitglieder zu gewinnen. Als legitim galt nur der Selbstmord mit der Pistole. Schließlich hörte der »Todeszirkel« auf zu bestehen, da sich alle seine Mitglieder erschossen hatten.
Später waren Selbstmörderklubs nicht mehr exotisch, sondern nachgerade ein Attribut europäischer Großstädte. Freilich zwang strafrechtliche Verfolgung diese Vereinigungen zu strenger Konspiration. Nach unseren Informationen gab es (und gibt es vielleicht noch) »Selbstmörderklubs« in London, Wien, Brüssel, in Paris, Berlin und sogar in dem provinziellen Bukarest, wo das »russische Roulette« als modisches Vergnügen reicher junger Offiziere gilt.
Den größten Ruhm genoß der Londoner Klub, der jedoch von der Polizei aufgespürt und zerschlagen wurde, nachdem er zwei Dutzend seiner Mitglieder dazu verholfen hatte, sich ins Jenseits zu befördern. Die Entlarvung der Todesanbeter gelang nur durch Verrat. Einer der Anwärter hatte die Unvorsichtigkeit begangen, sich zu verlieben, was zur Folge hatte, daß er brennende Zuneigung zum Leben und grimmige Abneigung gegen den Tod faßte. Dieser Abtrünnige fand sich bereit auszusagen. Dabei kam heraus, daß der streng geheime Klub lediglich Mitglieder zuließ, die es mit ihrem Entschluß nachweislich ernst meinten. Die Reihenfolge wurde durch das Los entschieden: Man spielte Karten, und der Gewinner erhielt das Recht, als erster zu sterben. Alle gratulierten ihm und veranstalteten zu Ehren des »Glückspilzes« ein Bankett. Der Tod wurde, um unerwünschte Gerüchte zu vermeiden, als Unglücksfall getarnt, an dessen Organisierung sich die übrigen Mitglieder der Bruderschaft beteiligten: Sie ließen einen Ziegel vom Dach fallen, überfuhren den Auserwählten mit der Kutsche und dergleichen.
Etwas Ähnliches trug sich im österreichisch-ungarischen Sarajewo zu. Dort gab es eine Selbstmörderorganisation, die sich »Klub der Wissenden« nannte und mindestens 50 Mitglieder zählte. Sie pflegten sich abends zu versammeln, um das Los zu ziehen – jeweils eine Karte, bis das Todesblatt kam. Wer die verhängnisvolle Karte gezogen hatte, mußte binnen 24 Stunden sterben. Ein junger Ungar verkündete seinen Kameraden, er scheide aus dem Spiel aus, denn er habe sich verliebt und wolle heiraten. Sie willigten nur unter der Bedingung ein, daß er noch einmal an der Verlosung teilnehme. In der ersten Runde zog der junge Mann das Herz-As, das Symbol der Liebe, doch in der zweiten das Todesblatt. Er war ein Mann von Ehre und erschoß sich. Die untröstliche Braut zeigte die »Wissenden« bei der Polizei an, und so gelangte die traurige Geschichte an die Öffentlichkeit.
Wie die Vorgänge der letzten Wochen in Moskau deutlich machen, scheuen unsere Todesanbeter die öffentliche Meinung nicht, jedenfalls treffen sie keine Maßnahmen, um ihr Wirken zu kaschieren.
Ich verspreche den Lesern des »Kuriers«, daß die Untersuchung weitergeht. Wenn sich in unserer Metropole tatsächlich eine geheime Liga von Wahnsinnigen etabliert hat, die mit dem Tode spielen, muß die Öffentlichkeit das erfahren.
Lawr Shemailo
»Moskauer Kurier« vom 22. August (4. September) 1900, S. 1, Forts. S. 4