Hanser eBook
Im falschen Bett
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24064-3
© Carl Hanser Verlag München 2012
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen
finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf
www.facebook.com/HanserLiteraturverlage
oder folgen Sie uns auf Twitter:
www.twitter.com/hanserliteratur
Der Mond kommt gefahren,
Das Kätzlein weint,
Irrer, steh auf,
Sag Gott ein Gebet!
A. Puschkin, Boris Godunow
War sie eigentlich hübsch? Eben diese Frage, an der doch so vieles hing, hatte er nie beantworten können. Später sagte er gerne: Sie war so hübsch, dass ich mich sofort in dieses Unglücksgeschöpf verliebte. Aber damals, und noch für lange Zeit, muss ihm in höchstem Maße unklar gewesen sein, was an diesem Mädchen so in die Augen stach, dass ihm schon auf den ersten Blick ganz ungemütlich ums Herz wurde. Sie saß da, in der Garderobe des Fernsehstudios, wartend auf ein nahezu bedeutungsloses Casting, unter lauter unzweifelhaft hübschen Mädchen, und fiel ihm auf. Warum? Sie hatte ein stilles Gesicht, blass mit großen blauen Augen, und war vor allem eines nicht: sexy. Sie saß da, in den Händen ein Taschentuch, ernst, unaufgeregt, groß, und hatte keinen Anteil an dem aufgekratzten Gezwitscher um sie herum.
Oder war sie am Ende eine graue Maus? Auch dieser Gedanke oder vielmehr die Furcht, dass ihn irgendjemand äußern könnte, muss ihn sofort gequält haben. Aber aus den papageienbunten Make-ups, den unbekümmerten Dekolletees, kurzen Röckchen und strassbesetzten Gürteln stach ihre Erscheinung doch geradezu schreiend hervor, weil ihr alles Schreiende fehlte. Während die anderen Mädchen mit breitem Pinsel getuscht waren, auf grobem, stark saugendem Papier, mit verschwimmenden Zügen, breiten Lippen, glühenden Wangen, war sie mit spitzer Feder auf hartem Karton gezeichnet. Sie hatte etwas Präzises, Ausformuliertes, man hätte sie beim besten Willen nicht weiter modeln, schminken, herrichten können. Dieses Mädchen gab einem Fernsehproduzenten im Grunde gar keine Chance. »Schwarzweiß«, murmelte er, »im Schwarzweißfilm würde sie besser rüberkommen.« Und indem der Produzent diese Überlegung anstellte, die für ihn der Inbegriff alles Romantischen war, dürfte er sich schon gefährlich in sie vertieft haben, in die Ahnung einer neuen, nie zuvor berührten Substanz.
»Na, jedenfalls ’ne andere Rasse, könnte mal ganz komisch wirken«, sagte er, als er begründete, warum er sie für die Show ausgewählt hatte. Die Entscheidung rief in der Runde keine weiteren Fragen oder Widerstände hervor, aber wie alle, die sich verguckt haben, fürchtete der Produzent, etwas Peinliches getan zu haben. Ich konnte sehen, wie er die Brille abnahm und mit dem Jackenärmel zu putzen suchte. Ich konnte mir sogar denken, was er dachte. Dieses Unglücksgeschöpf, dachte er, Scheiße, man kann sich ja nicht einmal vorstellen, wo man da eine Muschi finden soll.
Das Fernsehen, einmal nicht als Medium, sondern als Summe seiner Büros, Studios und Kantinen betrachtet, ist ein Lebensraum, der im Laufe der Zeit schon von unterschiedlichen Populationen besiedelt worden ist, und jede von ihnen neigte dazu, die vorherige nahezu auszulöschen. Die Siedlungsgeschichte ist nicht in allen Einzelheiten geklärt, aber die alten Sendungen und Anekdoten der Zeitgenossen sprechen doch dafür, dass Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch Reste einer bürgerlichen Fauna existierten, die zu dreiteiligen Anzügen (bei den Herren) und Flanellkostümen (bei den Damen) neigte. Anfang der Siebziger waren sie schon vollständig ausgestorben. An ihre Stelle war eine lückenlose Besiedlung mit sandalentragenden Nomaden getreten, denen von der linken Schulter eine Tasche aus bunter Wolle hing. Die Tasche, die zum Zeichen der Solidarität mit den bedrohten Völkern dieser Welt indianische Muster zeigte, war ungewaschen. Niemals sah man bis Mitte der siebziger Jahre Fernsehleute ohne die Tasche; wahrscheinlich ahnten sie, dass auch sie schon zu den bedrohten Völkern gehörten.
Das Taschenvolk beherrschte die Fernsehräume meiner Kindheit; wenn ich mich richtig erinnere, hat der sandalentragende Besitzer einer ungewaschenen Wolltasche sogar eine Zeit lang bei meinen Eltern gewohnt. Es war Sohn oder Neffe eines ihrer Freunde, der selbst einmal im Fernsehen gearbeitet hatte, was den Gedanken nahelegt, dass die Taschenleute womöglich keine Neusiedler im strengen Sinne, sondern Nachfahren der Erstsiedler waren; freilich mit dem festen Willen zum Kulturbruch. Mein Vater glaubte das übrigens nicht. »Ach was – Kulturbruch«, pflegte er zu sagen, »da ist höchstens ein Bruch in der Garderobe.«
Aber wie immer es sich damit verhielt, auch das Taschenvolk verschwand Ende des Jahrzehnts wieder. Eine Epoche wirklicher Umbrüche begann mit dem Auftritt des Privatfernsehens, das von den Rändern der zivilisierten Welt herandrängte. Für eine Zeit wurde der Typus des produzierenden Fernsehmachers, der bisher die Häuptlinge gestellt hatte, durch die Schamanen der Kaufleute verdrängt. Von dem Kult der Zahlen, den sie einführten, erlangte eine Kennziffer heiligen Rang; sie maß die Zuschauerbeteiligung. Diese sogenannte Quote wurde zu dem Orakel, das auch alle nachfolgenden Stämme fürchteten und mit rituellen Opfern zu besänftigen trachteten.
»Zu der Quote beten sie jetzt«, sagte der Freund meiner Eltern, der das Fernsehen inzwischen aus dem Exil des Pensionärs verfolgte. »Ach was«, sagte mein Vater. »Doch«, sagte der alte Herr, »sie opfern alles.«
Aber selbstverständlich beteten und opferten sie umsonst. Der schlechte Geschmack des Orakels war unersättlich. Eine Sendung konnte so dumm und billig sein, wie sie wollte, dem Orakel war sie noch nicht dumm und billig genug. Wie viele Fernsehvölker mochten an der Quote verzweifelt sein? Der karge Boden, den sie immer tiefer pflügten, um immer weiter nach unten, an den absoluten Boden der Dummheit zu gelangen, wurde nur immer steiniger. Niemals stießen sie auf die verheißene, ewig quotentragende Schwarzerde der Fernsehunterhaltung. Nicht auszuschließen ist, dass sich manche Siedler freiwillig aus dem verfluchten Land wieder zurückzogen, düpiert und gedemütigt, und den nachrückenden Stämmen kampflos Platz machten. In stummer Resignation müssen viele namentlich vor den österreichischen Pionieren des Privatfernsehens kapituliert haben, die mit nie zuvor gesehenem schweren Gerät anrückten, um den Boden aufzureißen, den sie anschließend knöcheltief fluteten, denn »im Seichten kann man nicht ertrinken«, wie die Devise eines ihrer berüchtigten Führer lautete.
»Ach was«, sagte mein Vater, »kleine Kinder können in der kleinsten Pfütze ertrinken.« Aber der Freund meines Vaters sagte zu mir: »Warum schaust du dir den Sumpf nicht mal an, wenn du gerade nichts Besseres zu tun hast?« Augenscheinlich konnte er sich nicht vorstellen, dass ich als Student Besseres zu tun haben könnte, und so kam ich mit seiner Hilfe zu einem Praktikum bei den Münchener Fernsehstudios, das just in den Wochen zu Ende ging, als der Produzent seine neue Show aufs Gleis setzte.
Ich beobachtete den Sumpf gerne. Alles war sehr entspannt, alles war nur eine Frage der Beleuchtung. Weder von der bürgerlichen Bildung der Dreiteiler noch vom Moralismus des Taschenvolkes fand sich eine Spur. Es schien auch niemand zu ahnen, dass es sie einmal gegeben hatte; und so fand ich etwas anderes heraus: Jedes Fernsehvolk ist unmittelbar zu seinem Götzen, das heißt, es hat von Vergangenheit und Zukunft keinen Begriff. Unter dem sengenden Licht der Scheinwerfer bewegten sich die Menschen langsam und mit professioneller Trägheit wie in den Tropen, die keine Jahreszeiten und keinen Zeitenwechsel kennen. Hektik entstand nur, wenn Politiker sich über irgendeine Sendung beschwerten, und natürlich, wenn die Quote bekannt wurde und ihre Kenntnis langsam von oben nach unten, durch die Senderhierarchie bis zum Fußvolk in den Studios rieselte, wo ich meine Freunde gefunden hatte.
Meist saß ich auf einem Bänkchen am Rande der Dreharbeiten und ließ mich von dem Tratsch der Kabelträger, der Beleuchter und Kaffeebringer berieseln. Es war nicht immer leicht, sie von den Schauspielern, den Regisseuren und Redakteuren zu unterscheiden, und so begriff ich etwas Zweites: Zu einer gegebenen Zeit wird das Fernsehen immer nur von Leuten beherrscht, die bis in Redeweise und Physiognomie hinein ähnliche Merkmale zeigen. Der Produzent, als er die fremdartige Erscheinung von Christina (so hieß das Unglücksmädchen) behauptete, wollte nur einen Scherz machen, aber dieser Scherz zeigte mir doch, dass er einen Begriff von der Gleichförmigkeit seines Milieus hatte. Sie war im Übrigen auch von ihm gewünscht. »Eine Sendung soll Quote machen und nicht originell tun.« Dass er sich mit Christina eine kleine Ausnahme erlaubte, war nichts als die Willkür eines Diktators, der gelegentlich demonstrieren muss, dass er über den Regeln steht, die er für seine Untergebenen verkündet.
Ich beobachtete auch den Produzenten gerne. Er war ein gefürchteter Mann, und solche Leute kannte ich bisher nicht. Streng genommen lernte ich den Produzenten ebenso wenig kennen, aber zum Zeitvertreib übte ich die Einfühlung in einen Mann, vor dem alle zitterten. Ich beobachtete die Kreise, die er zog, und wie er bewundert wurde, weil man ihn fürchtete, und wie man ihn verabscheute, weil er bewundert wurde. Er war ein Schwergewicht, wie man so sagt, in jeder Hinsicht; und sein Umfang wuchs noch durch die Geschichten, die ihn umgaben, von Willkür und Macht, vor allem aber von den Frauen, die man ihm andichtete oder tatsächlich in seinem Rachen verschwinden gesehen hatte.
Das soll nicht heißen, dass der Fernsehproduzent ein Schürzenjäger war. Er war überhaupt kein Jäger. Er war ein Reptil, das den Sumpf träge durchpflügte und fraß, was ihm vor die Kiefer kam. Das Glitzern des Wassers lockte die Mädchen an; wie Rehe, die es zur Tränke zieht. Der Produzent gewann sie nicht mit Versprechungen; insofern konnte er ein gutes Gewissen haben. Die Mädchen selbst versprachen sich allerdings viel von ihm, und er tat nichts, diese Hoffnungen zu zerstreuen; insofern war das gute Gewissen unberechtigt. Wenn er ein Casting veranstaltete wie dieses, wenn es eine Premiere zu feiern gab oder eine Party, bei der das Fußvolk mit Freundinnen erschien, immer blieben ein paar Mädels in seiner Nähe stehen und taten dies noch, wenn schon die Gläser abgeräumt wurden. Der Fernsehproduzent war gut versorgt, das konnte jeder sehen, und das Gesetz der Konkurrenz sorgte dafür, dass dieses für jedermann sichtbare Gutversorgtsein weitere Mädchen anlockte. Manche sagten zwar, es könne auch gefährlich werden, zu lange zu bleiben; andere aber meinten, die eigentliche Party ginge dann erst los, und da die meisten Mädchen kein zweites Mal auftauchten, blieb alles ein Gerücht, das die Neugierde weiter beflügelte.
In Casanovas Memoiren findet sich die Beobachtung, dass es leichter sei, zwei Frauen auf einmal zu erobern als eine allein, und noch leichter, wenn der Mann schon einen Ruf als homme à femme habe, aber sich nicht als solcher verhalte. Die Mädchen, die am Rande der Studiopartys auf ihre Chance warteten, kannten den Mechanismus auch, sie waren ja nicht blöd. »Es war so eine Art Wettbewerb«, sagte Bea, »aus rein sportlichem Ehrgeiz habe ich mich dann auch noch an den Bonzen rangewanzt.«
Bea erschien gelegentlich im Studio, um den Produzenten abzuholen; meistens musste sie einige Stunden auf ihn warten, die sie damit verbrachte, am Rande der Kulissen herumzuflirten, den schwarzlockigen Kameramann Herbert bei der Arbeit zu stören oder mir beim Zeittotschlagen auf dem Bänkchen zu helfen. Sie sprach mit bemerkenswerter Selbstironie von ihrer Beziehung zu dem Bonzen (nie nannte sie den Produzenten anders) – und mit bemerkenswerter Besessenheit von ihrer Mutter. »Mama hasst den Bonzen«, pflegte sie zu sagen, »ist doch schlimm oder was?«
»Hm«, sagte ich.
»Dabei sind Mamas Freunde noch schlimmer.«
»Hm«, sagte ich.
»Also, was Mama so anschleppt – und dann schläft sie vor dem Fernseher ein, ist doch schlimm oder was?«
»Du hast’s nicht leicht«, sagte ich.
»Was soll denn das heißen? Ich muss schließlich zusehen, wie ich die Scheißkerle wieder aus der Wohnung kriege.«
Denn Bea, obwohl sie ihr Studentenleben vornehmlich zwischen Bars und Diskos führte, lebte noch zu Hause bei ihrer Mutter, von der sie alleine aufgezogen worden war. Mutter und Tochter hatten sich untrennbar ineinander verkrallt, die Mutter missbilligte den Lebenswandel der Tochter, die Tochter missbilligte den Lebenswandel der Mutter, sie kritisierten gegenseitig ihre Liebhaber und konnten beide mit Geld nicht umgehen. »Wenn du weiter so telefonierst, bezahl ich deine Handy-Rechnung nicht mehr«, sagte die Mutter. »Wenn du weiter den Kühlschrank leer frisst, ohne einzukaufen, kaufe ich auch nichts mehr«, erwiderte die Tochter. »Wenn du dich weiter von dem Fernsehtypen aushalten lässt, weiß ich nicht, warum du noch zu Hause essen willst«, sagte die Mutter. »Wenn du es so siehst, weiß ich nicht, was du gegen den Bonzen hast«, erwiderte die Tochter – »vielleicht wollte ich ja wirklich nur mal zum Essen eingeladen werden.«
Es war ein Ritual. »Sei nicht so kokett«, pflegte Beas Mutter zu antworten, »du hast dieses verboten kurze Röckchen angezogen, und dann hat sich dieser Lustmolch an dich herangemacht, und du hast es geschehen lassen, mit deiner grauenvollen Unterwürfigkeit, ich kenne dich doch.«
Aber so war es nicht. Man hätte nicht nur Bea, man hätte alle Mädels befragen können, und wenn sie genauso ehrlich gewesen wären, hätten sie zugeben müssen, dass der Fernsehproduzent niemals irgendwelche Initiative ergriff. Es war tatsächlich die eine große, folgenreiche und fatale Ausnahme, dass er im Anschluss an das Casting für die Unglücksshow das bei weitem unglücklichste Geschöpf ansprach und, obwohl es den Personalbogen schon ausgefüllt hatte, noch einmal um die Telefonnummer bat. Alle konnten es hören, alle konnten sehen, dass der rundum gut versorgte Mann doch noch einen kleinen Hunger hatte, der ihn unversehens angefallen hatte.
»Diese Unglücksshow!«, sagte Bea. »Passend zu dieser Unglücksshow hat er sich noch ein Unglücksmädchen zugelegt. Dem Bonzen ist wirklich nicht zu helfen. Dass er sich nicht noch verschluckt!«
Und was sagte Beas Mutter dazu?
»Sei froh, wenn du ihn loswirst«, sagte Beas Mutter, »ich weiß sowieso nicht, was du noch bei ihm willst.«
»Ich werde ihn nicht loswerden. Er wird mich brauchen, um sich auszuweinen.«
»Und dafür willst du dann auch noch zur Verfügung stehen – oder wie?«
»Das verstehst du nicht. Der Bonze hat sonst niemanden.«
»Meines Wissens hat er eine Ehefrau.«
»Die kannste vergessen, die säuft wie ein Loch.«
»Nun ja«, sagte Beas Mutter, »dass die Ehefrau vergessen wurde, vor allem von dir, ist offensichtlich«, und leitete damit die Eskalation ein, in die alle Gespräche zwischen Mutter und Tochter mündeten.
»Meines Wissens«, sagte Bea, »gibt es noch andere Frauen, die zu viel trinken und vor dem Fernseher eingeschlafen sind, wenn man nach Hause kommt.«
»Von mir aus brauchst du gar nicht mehr nach Hause zu kommen«, sagte die Mutter und nahm sich einen Weißwein aus dem Kühlschrank.
»Schlimm oder was?«, sagte Bea zu mir und zog versuchsweise, aber ohne Erfolg das kurze Röckchen glatt. »Sieht echt verboten aus«, erklärte sie stolz, »wir Unglücksmädchen dürfen uns über unser Unglück nicht beschweren.«
»Hm«, sagte ich.
»Es braucht keine Unglücksshow, das zu begreifen«, sagte sie.
Was aber sollte ein Unglücksmädchen – nämlich nicht das universale Unglücksmädchen, das Bea im Blick hatte, sondern das spezielle, das für diese spezielle Unglücksshow ausgesucht worden war – in der Sendung machen? Streng genommen sollte es gar nichts machen. Es sollte nur vorgeführt werden, als lebender Beweis für die elenden Berufsaussichten auch der besser qualifizierten Jugendlichen unserer Tage. Mit Christina verhielt es sich nämlich so, dass sie Betriebswirtschaft studiert hatte, aber als Näherin arbeitete. Sie nähte in Heimarbeit für eine Schneiderin, die ihren hochmögenden Kundinnen das Geld nur so aus der Tasche zog, und zwar weniger für die lausigen Fummel, die sie entwarf, als dafür, dass die Trägerinnen dieser Fummel sagen konnten: Habe ich bei Corinna Morsbach machen lassen. Es war, mit anderen Worten, eine typisch münchnerische Situation.
In München wird viel Geld ausgegeben, aber nicht für reelle Werte, sondern für Namen, Adressen, Imaginationen. Wer diese herzustellen oder anzubieten weiß, kann für eine Saison, manchmal sogar für eine Generation viel Geld verdienen, ja sogar berühmt und mächtig werden. Nur in München war es denkbar, dass ein Feinkosthändler, der sich aufs Catering verstand, selbst zu einem geschätzten Gast auf den von ihm ausgestatteten Festen wurde. Nirgendwo sonst würde man einen Lieferanten an die Tafel bitten. Aber die Feinkost-Brummer und Delikatessen-Mayer gehörten ebenso wie Corinna Morsbach zu den VIPs, den gefeierten Prominenten der Stadt.
Die Magie solcher Adressen war derart, dass selbst eine studierte Betriebswirtin sich einzubilden vermochte, durch eine Tätigkeit dort, und sei sie noch so untergeordnet, Karriere machen zu können. Es ist schwer zu sagen, wie sich Christina den Weg im einzelnen vorstellte; aber wahrscheinlich dachte sie nicht anders als jene, die weit unter ihrem Ausbildungsniveau und für schlechtes Geld als Hostessen auf den Messen der Stadt arbeiteten in der Hoffnung, entdeckt zu werden: durch bloßes Herumstehen am Rand ihrer Träume. Es ist eine Chance, sagten sich die Mädchen. Es ist eine Chance, logen die Agenturen, die solche Jobs vermittelten. München war eine Stadt voller Chancen. Nur Christinas Mutter glaubte nicht an Chancen. »Du sagst, du arbeitest bei Corinna Morsbach. Ich würde sagen: Du bist arbeitslos und hältst dich mit Heimarbeit über Wasser.« Und so kam es, dass Christinas Mutter ihrer Tochter geradezu befahl, sich für die Fernsehshow zu bewerben, in der das Elend prekär beschäftigter Berufsanfänger vorgeführt werden sollte. »Dann kommt der ganze Jammer mal an die Öffentlichkeit.«
»Soll das heißen, deine Mama hat dich in die Show gequatscht?«, fragte Bea und versuchte, ihren Rock wenigstens ansatzweise über die Beine zu ziehen: »Na, dann willkommen im Club!«
Christina, die aus reiner Verlegenheit und weil sie nicht wusste, wohin beim Warten im Studio, mit uns ins Gespräch gekommen war, fragte sich wahrscheinlich, ob der Club, in dem sie willkommen geheißen wurde, in dem Arme-Sünder-Bänkchen bestand, auf dem wir saßen und Bea mit ihrem Minirock kämpfte. »Keine Angst«, sagte Bea, »der Club hat viele Mitglieder. Die Mitglieder werden alle von ihrer Mama tyrannisiert.«
»Mami tyrannisiert mich nicht«, sagte Christina.
»Nein«, sagte Bea, »natürlich nicht. Sie will nur dein Bestes.«
»Will sie wirklich«, sagte Christina.
»Und dabei hat sie natürlich den vollen Durchblick«, sagte Bea.
Tatsächlich täuschte sich jedoch Christinas Mutter über den Charakter der Show genauso, wie sich ihre Tochter über den Charakter ihrer Schneidertätigkeit täuschte. »Die Unglücksshow«, wie sich der Produzent ausdrückte, »ist eine Unterhaltungsshow. Was heißt das? Keine Politik! Wir wollen hier nicht vornehm tun. Die Zuschauer sollen nicht die SPD wählen gehen, die Zuschauer sollen sich gruseln. Was so alles im Leben passieren kann! Schlimme Zeiten, viele Tränen, hübsche arme Mädels. Ich will Zuschauerpost mit Heiratsanträgen!«
Die Mädels, die mit Heiratsanträgen überflutet werden sollten (eines davon hatte der Produzent gerade nach der Telefonnummer gefragt), wurden zunächst einmal probeweise vor die Kamera gebeten und mussten ihr Unglück zum Besten geben. Es stellte sich heraus, dass sie Friseuse gelernt hatten, aber Zeitungen austrugen, Zahnarztgehilfin waren, aber Fußpflege betrieben, im Zoo als Tierpflegerin ausgebildet, dann aber an die Kasse gesetzt worden waren. Nur Christina hatte studiert.
Der Kameramann hatte Mühe, sie ins rechte Licht zu setzen. Ihr Absturz in die Heimarbeit war dramatisch, aber das klare Hochdeutsch, das sie sprach, weckte keine Rührung. Der Kameramann verrückte Scheinwerfer um Scheinwerfer. Der Produzent setzte seine Brille auf und ab. Es dauerte lange, bis Christina errötete. »Herbert«, raunzte der Produzent schließlich, »verflucht noch mal, was ist mit dem Mädel?«
Herbert, der ungeachtet seines Dreitagebartes und seiner schulterlangen, schwarzglänzenden Locken stocknüchtern und vollständig unromantisch war – Bea, die mit ihm bestimmt auch einmal geschlafen hatte, meinte: »Der is’ so trocken, den kannste sogar grillen, ohne dass es spritzt« –, der Kameramann Herbert also, die Gefühlslage seines Chefs auch ohne jede weitere Information richtig einschätzend, ging ein paar Schritte auf ihn zu und sagte: »Wie willst du die ins Bett kriegen? Ich kann’s mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
Vor dieses Problem wurde die Vorstellungskraft bei Bea nicht gestellt. Bea war die Dauergeliebte im Leben des Fernsehproduzenten; er hätte sie wahrscheinlich auch im Hauseingang oder auf einer Parkbank haben können, wenn seine Leibesfülle es zugelassen hätte. Das hieß allerdings nicht notwendig, dass sie darauf versessen gewesen wäre, mit ihm zu schlafen. Vielmehr sprach manches dafür, dass sie den Beischlaf nur nutzte, um das anschließende Gespräch mit ihm zu führen, das sie sonst nicht hätte führen können, weil es auch in diesem Gespräch immer nur um das ermüdende Eine ging. »Der arme Bonze, er kann mein ewiges Mamatheater schon nicht mehr hören – ist doch schlimm, oder was?«
Ich kannte das Mamatheater bereits länger. Bea gehörte zum Umfeld meiner Studenten-WG, vor Jahren hatte sie unserem schönen Alex den Kopf verdreht, aber schon damals eher aus Sammelleidenschaft, wie mir schien, und jedenfalls mit einem Mangel an Ernst, der es mir nicht weiter verwunderlich machte, sie nun als Gespielin des Fernsehbonzen wiederzutreffen. Ich sah sie mit größter Selbstverständlichkeit im Studio ein und aus gehen und neben mir auf dem Bänkchen Platz nehmen, als sei unser Wiedersehen an diesem Ort nichts Besonderes, höchstens ein amüsanter Zufall. »Lustig, nicht wahr«, sagte sie und hauchte mir ein Küsschen aufs Ohr.
Man hätte Bea, die auch jetzt noch zwei, drei andere Liebhaber hatte (sie waren eher in ihrem Alter), als Schlampe bezeichnen können, doch das wäre ganz falsch gewesen. Manchmal ging sie in die Kirche und stellte für den Bonzen eine Kerze auf, manchmal setzte sie sich in einen leeren Beichtstuhl, um nachzudenken, aber im allgemeinen dachte sie nicht sehr hoch von sich, und das machte ihren Blick frei auf andere. Das meiste, was ich über die Geschichte von Christina und dem Produzenten erfuhr, die sich gerade eben, bei einem nahezu bedeutungslosen Casting, in Bewegung gesetzt hatte, erfuhr ich von ihr. Es fanden sich noch andere Quellen, aber Bea war und blieb die Referenz.
Es gibt einen späten Roman von Joseph Conrad, in dem eine Handvoll Freunde viele hundert Seiten damit füllen, Mutmaßungen über eine Liebesaffäre anzustellen, die sie nur vom Hörensagen kennen und von der nicht einmal sicher ist, ob sie wirklich bestanden hat. Ganz so luftig entwickelte sich die Faktenlage im Falle von Christina und dem Produzenten nicht; aber es war doch so, dass sich die Geschichte im wesentlichen aus Klatsch und Tratsch zusammensetzte. Ich hatte einen Basso ostinato, der aus Beas fortlaufenden Kolportagen und Mutmaßungen bestand, und ich schnappte hier und da die Fetzen der Melodie auf, die über dem Generalbass schwebte. Manchmal waren es auch nur ein Lachen oder ein dunkler Blick, die sich in das Konzert fügten.
Wenn ich heute nachzuspielen versuche, was mir seinerzeit durch den Kopf zog, muss ich zugeben: Eine regelrechte Partitur gab es nie. Aber meine Phantasie arbeitete fieberhaft, ich war allein und hatte Zeit, ich saß in meinem Zimmer und malte Muster mit dem Fuß in die vertrockneten Tannennadeln, die den Boden noch vom Weihnachtsbaum des Vorvorjahres bedeckten, ich las und rauchte oder starrte durchs Fenster auf die Linde im Hof, über die ein Frühlingsregen unaufhörlich niederging. Wie alle, denen die Liebe fehlt, interessierte ich mich brennend für die Liebe der anderen. Ich ergänzte das karge Notengerüst mit Mittelstimmen, ich nahm das Rauschen der Linde, ich nahm das Zwitschern der Vögel und vernahm bald auch das Murmeln der Quellen, die sich unversehens in meiner Nähe auftaten. Sie wurden täglich lauter. Ich hörte viel, und was an Lücken blieb, die meine Phantasie nicht füllen konnte, hat meine Erinnerung später ausgemalt. Es war alles in allem sehr unseriös, aber vielleicht auch nicht gewagter als Süßmayrs Ergänzungen des Mozart’schen Requiems. Das soll natürlich nicht heißen, mein Material hätte den Rang von Mozarts Skizzen beansprucht. Es enthielt aber schon damals mehr als nur den Stoff, der die Neugierde beflügelt, es enthielt eine fiebrige Erwartung, die nicht nur mich mit einem Schauer wie vor dem Dies Irae erfüllte. Ich stellte gewissermaßen schon zu Beginn einen Scheck auf das böse Ende aus, ohne zu wissen, ob der Scheck auch gedeckt werden würde und wenn, von wem.
Wahrscheinlich – jedenfalls könnte ich es nicht glaubhaft bestreiten – wurde meine Phantasie auch von den Fernsehserien beflügelt, deren Produktion ich von meinem Studiobänkchen aus verfolgte. Ihre Dramaturgie gehorchte einem Muster, das nicht unbedingt der Wirklichkeit entstammt, sich aber mühelos auf die Wirklichkeit anwenden lässt. Im übrigen darf München nicht vergessen werden. Die Stadt leuchtete wie die Auslage eines Juweliers. Gold schimmerte an jedem Hals, golden drängten sich die Bandringe (zwei Brillanten, ein Saphir) an den Händen der Frauen, schwer hing den Geschäftsleuten die Rolex aus der Manschette. Noch die Arme der Bettler, die sich ins Licht der Schaufenster reckten, schienen vom Glanz der Juwelen überhaucht. Wie alle Berliner aus dem Westen jener Stadt, die damals gerade erst aus dem Schatten des Kalten Krieges getreten war, wunderte ich mich in München viel. München zeigte sich gänzlich ungerührt von den welthistorischen Ereignissen, die dem Fall der Mauer gefolgt waren. München kannte keine Hauptnachrichten, München war eine Vorabendserie, einschließlich der Werbepausen. In ihrem trunkenen Konsum bot die Stadt die denkbar größte Entlastung bei unseriösen Vorhaben. Ungedeckte Schecks wurden überall gerne akzeptiert, nur dass sie freilich meist in Hoffnung auf ein gutes Ende ausgefüllt wurden. München kannte keine Enttäuschung. München kannte nur die Zukunft glänzender Geschäfte und die Vergangenheit höchstens als Schreckbild einer Zeit, in der die Geschäftsaussichten der Gegenwart noch gänzlich unentwickelt waren.
Natürlich haben die Anhänger des kommerziellen Fortschritts ein gewisses Recht auf historische Gleichgültigkeit. Erst Nostalgie macht die Geschichte – irgendwann später, viel später –wieder verkäuflich. Welchen Gewinn aber hätte damals der Markt, zumal der Münchener Markt der Eitelkeiten, aus der deutschen Nation ziehen sollen, die unversehens wieder im Angebot war, den Blick jedoch nur auf die Verheerungen der Geschichte lenkte? Und manch anderes, was aus der Vergangenheit noch unversehrt hinüberragte, war erst recht nur mehr schwer konsumierbar. »Der Mann liegt mir quer im Magen«, pflegte der Produzent zu sagen, wenn er Besuch vom Oberkirchenrat bekommen hatte. »Der Typ steckt ihm wie eine Gräte im Hals«, pflegte Bea zu sagen, die den Weg dieses Mannes in das Innere des Bonzen offenbar für weniger fortgeschritten hielt. Der Oberkirchenrat gehörte dem Rundfunkrat an, der den Sender kontrollierte, aber nicht als Vorsitzender oder in irgendeiner anderen Position, die ihn dem Bonzen gegenüber weisungsbefugt machte. Der Oberkirchenrat war der inoffizielle Überbringer inoffizieller Botschaften, die den Dienstweg über den Intendanten scheuten. »Sie müssen nichts von dem, was ich Ihnen mitteile, zur Kenntnis nehmen«, pflegte der Oberkirchenrat zu sagen.
»Warum erzählen Sie es mir dann?«
»Ich gebe es zu bedenken.«
Der Oberkirchenrat stand gerne halb zum Fenster gewandt, die Händen in den Taschen seiner sagenhaft abgetragenen, leicht glänzenden Anzüge, die Hosen endeten tatsächlich zwei Finger breit über den Schuhen. »Der Typ sieht echt aus wie bei der Obdachlosenhilfe eingekleidet« (Bea). Fast mehr noch als der Bonze beschäftigte dieser Mann meine Phantasie, den sie im Studio nur den Saurier nannten, »dünner natürlich, aber nicht viel kleiner« (Herbert), und ich stellte mir vor, wie seine gewaltige Nase, die niemand zu erwähnen vergaß, im Licht des Fensters schimmerte: sichelförmig, messerscharf, wächsern, fast durchscheinend. Die sagenhafte Gestalt einer sagenhaften Vorzeit, dachte der Fernsehproduzent wahrscheinlich, wenn er sich beherrschen konnte. Manchmal konnte er sich nur schwer beherrschen.
»Manchmal habe ich die Schnauze voll. Manchmal frage ich mich, was der Rundfunkrat eigentlich noch will. Tut er etwas anderes, als uns Steine in den Weg zu rollen?«
»Steinchen«, verbesserte der Oberkirchenrat, »es sind Steinchen. Körnchen, Sandkörnchen, damit es wenigstens noch etwas kratzt, wenn eine Hand die andere wäscht.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Ich deute überhaupt nichts an. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Ihnen so wenig einleuchtet, was wir tun, könnten Sie’s ja versuchsweise mal so sehen: Wir halten die Preise hoch. Denken Sie doch mal an den Drogenhandel. Wenn es keine Polizei und keine Kontrollen gäbe, was wäre dann? Dann brächen die Preise zusammen, und das ganze Geschäftsmodell wäre futsch. Futschikato!«, wiederholte der Oberkirchenrat mit hörbarem Genuss an dem familiären Ausdruck einer anderen Zeit. »Was wäre ein Dealer, der nicht unter der Gefahr arbeitete, ins Gefängnis zu kommen? Es gäbe ihn gar nicht. Er wäre arbeitslos, und die Welt« – hier lächelte der Oberkirchenrat den Produzenten gütig an – »würde niemals von seinen besonderen Talenten erfahren.«
Es waren solche Sätze, die den Produzenten, wie Bea meinte, manchmal überlegen ließen, ob der Oberkirchenrat nicht am Ende der größte Ganove von allen war und ihn hier, in aller Bonhommie und Tücke, einfach nur erpressen oder doch auf eine Erpressung vorbereiten wollte. Aber jenseits des Organs, das solche Überlegungen anstellte, gab es in dem Körper des Produzenten auch eine Stimme des Blutes, die ihn vor Einfühlung in den Oberkirchenrat, ja schon vor dem Versuch einer solchen Einfühlung warnte. »Der Bonze gruselt sich regelrecht vor dem Typ, ist doch schlimm oder was?« (Bea). Und in der Tat hätte der Produzent nicht einmal gewusst, welche Gefälligkeit bei dem Mann in Frage gekommen wäre, seine Phantasie stieß auf keine Gesten des Appetits, die sie hätte deuten können, sondern immer nur auf das eine unerträgliche, seelsorgerisch bekümmerte Lächeln.
Manchmal geschah es, dass die Phantasie des Produzenten vor der Wirklichkeit versagte. »Fernsehen«, pflegte er zu sagen, »ist schön. Fernsehen ist einfach.« Aber draußen – er benutzte tatsächlich diesen Ausdruck – nun, was draußen vor sich ging – ja, wie sollte er sich davon ein Bild machen? Der Produzent war Brillenträger und hatte vor der Wirklichkeit das Problem aller Brillenträger. Er musste die Brille aufsetzen, um etwas zu sehen. Aber wenn er sich etwas vorstellen wollte, musste er die Brille wieder absetzen. »Brille auf, Brille ab, der Bonze kann einen wahnsinnig machen mit seinem Brillentheater«, sagte Bea. »Ohne Brille ist er praktisch blind, und mit Brille fehlt ihm der Film.«
Im Studio kannten sie das Brillentheater. »Wenn er die Brille aufsetzt«, sagte der Kameramann Herbert, »macht es Klack, dann hat er den Clip im Kasten. Und wenn er die Brille wieder absetzt, startet er die Bildbearbeitung.« Auch den Schwarzweißfilm, in dem ihm Christina so begehrenswert erschienen war, hatte er wahrscheinlich erst sehen können, nachdem er die Brille abgesetzt hatte. Mit Brille hingegen konnte er sich nicht mehr im entferntesten vorstellen, da hatte Herbert recht, was er mit Christina anfangen sollte. Dass er sie in die Sendung geholt hatte, war nur ein erster automatischer Schritt gewesen – ungefähr so, wie man eine Beute zunächst mal zu sich in den Bau lockt. Aber dann?
Die Ironie der Geschichte wollte es, dass es nur einen Menschen gab, der sich die weiteren Schritte vorstellen konnte, und das war Christina selber. Nicht dass sie die intime Begegnung gewünscht hätte, aber sie hielt sie doch für unausweichlich, falls der protzige Fernsehonkel von der Telefonnummer, die er ihr abgetrotzt hatte, tatsächlich Gebrauch machen würde. Sich von ihm anrufen zu lassen und keine Verabredung zu treffen schien ihr unmöglich. Es war peinlich genug, dass er sie nach der Telefonnummer gefragt hatte, noch peinlicher würde es werden, wenn er umsonst gefragt hätte. Sich aber zu verabreden, womöglich sogar mehrfach, und diese Verabredungen nicht in einem Hotelzimmer enden zu lassen, schien ihr ebenfalls unmöglich. Er würde bis dahin viel Geld ausgegeben haben, sie wusste schon, dass er sie mit Champagner und Kaviar und teuren Hotels und modischem Schnickschnack, kurzum mit allem, was sie nicht beeindruckte, zu beeindrucken versuchen würde, und wie sollte sie das erwidern? Die einzige nicht peinliche Form der Erwiderung war, ihn als Mann attraktiv zu finden. Sie fand ihn nicht attraktiv.
Aber sie konnte sich verhalten, als ob sie ihn attraktiv fände. Dieses Verhalten war der Ausweg, der ihr blieb. Sie sah keinen anderen.
»Du spinnst doch«, sagte ihre Freundin Doro, »du gibst ihm deine Nummer, nachdem du schon den Personalbogen ausgefüllt hast, und alle kriegen das mit, das ist ja schon fast eine Einverständniserklärung!«
»Ja, eben«, sagte Christina kleinlaut.
»Ja, eben? Eben nicht! Du kannst doch nicht auf die eine Blödheit schon jetzt die nächste Blödheit draufsetzen wollen! Ich fasse es nicht! Wie soll das enden?«
»Das weiß ich genau, es wird alles rasend peinlich!«
»Ja«, sagte Doro, »sehr peinlich. Und zwar warum? Weil du, nur um eine kleine Peinlichkeit zu vermeiden, eine viel größere in Kauf nimmst. Das machst du immer! Ich sage dir aber, aus hundert vermiedenen Kleinstpeinlichkeiten entsteht erst die Superpeinlichkeit. Das ist ein Gesetz!«
»Meine Schwester spinnt«, sagte auch Christinas Bruder Philipp. »Seit unsere Mutter sie in diese peinliche Sendung gequatscht hat, telefoniert sie von morgens bis abends mit ihrer Freundin, und da geht’s immer um diesen Typen – mir schwant nichts Gutes.«
»Soll das etwa heißen«, fragte ich entgeistert, »dass du die Telefongespräche deiner Schwester belauschst?«
»Bei meinen Eltern zu Hause ist alles so hellhörig«, sagte Philipp, »man kann’s nicht wirklich vermeiden.«