Robert Misik
Alles Ware
Glanz und Elend der Kommerzkultur
Mit 20 Abbildungen
ISBN 978-3-8412-0059-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel
»Das Kult-Buch« bei Aufbau
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Umschlaggestaltung und Illustration
© capa, Anke Fesel
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Vorwort
1. Kulturkapitalismus
2. Was ist Shopping?
3. Theorie der Shopping Mall
4. Künstler sollst Du sein!
5. Re-Branding of a Nation
6. Retro-Chic
7. »Gute Geschäfte«
8. Oberchic und Unterchic
9. Die Norm und die Anderen
Schluss: »Was soll ich tun?«
Anmerkungen
Bildnachweis
Konsumkritik – aber richtig!
Unter den bezaubernden Kindergeschichten vom kleinen Nick, die der legendäre französische Autor René Goscinny vor 35 Jahren schrieb, findet sich eine, die regelrecht zeitdiagnostische Kraft besitzt. Sie handelt davon, wie der kleine Nick kurz vor Schulbeginn mit seiner Mama die notwendigen Dinge für die Schultasche einkaufen geht. »Dann hat Mama mir ein Mäppchen gekauft, das aussieht wie das Halfter von einer Pistole, aber an Stelle von einer Pistole ist ein Bleistiftspitzer drin, der aussieht wie ein Flugzeug, und ein Radiergummi, der so aussieht wie eine Maus, und ein Bleistift, der aussieht wie eine Flöte, und eine Menge kleiner Dinge, die aussehen wie irgendwelche anderen Dinge.«
In einem gewissen Sinne sind alle Dinge heute Dinge, die aussehen wie irgendwelche anderen Dinge. Nicht, dass ein Turnschuh nicht aussähe wie ein Turnschuh. Das natürlich keineswegs. Aber doch ist in der »designer capitalist society« kaum ein Ding mehr auf seine nackte Dinghaftigkeit reduziert. Die Dinge repräsentieren gleichzeitig Bedeutung. Der Turnschuh repräsentiert Fitness, die abgewetzte Trainingsjacke repräsentiert Hipness, der iPod Trendyness, die Obstpresse repräsentiert gesunde Ernährung, das zierliche Teeservice repräsentiert Entspannung, das Perrier-Mineralwasser Lebensart, und der Fair-Trade-Kaffee annonciert, dass der Käufer ein guter Mensch ist. Dinge, die besonders gut sind beim Repräsentieren, nennt man im allgemeinen »Kult«: der Adidas-Schuh, die Ray-Ban-Brille, der Latte macchiato, der iMac, das gerade angesagte Kult-Buch, die Toskana-Reise, das hippste Handy der Saison, das Stück von Prada, das Accessoire von Dolce&Gabana – die Liste ist endlos. Alles Dinge, die viele Leute haben wollen, weil sie gerne möchten, dass die Attribute, mit denen die Dinge verbunden sind, auch mit ihnen verbunden werden. Im Lifestyle-Kapitalismus ist der Stil eines Menschen, seine Identität, unmittelbar verbunden mit den Dingen, die er konsumiert.
Der praktische Gebrauchswert der Dinge gerät in den Hintergrund, was nicht heißt, dass er keine Rolle mehr spielt – aber dass die Güter ihren praktischen Nutzen erfüllen, wird ohnehin vorausgesetzt. Dass jeder MP-3-Player Musik wiederzugeben vermag, ist keine Frage, was aber den einen MP-3-Player von anderen unterscheidet, ist das, was man seine Kultur nennen könnte. Deshalb wird die Kultur in der Güterproduktion immer bedeutender. Ich spreche deshalb im Folgenden vom »Kulturkapitalismus« – ein Begriff, der vom amerikanischen Trendforscher Jeremy Rifkin geprägt wurde.
All das ist irgendwie bekannt, aber in seiner Dimension noch gar nicht richtig begriffen. Gewiss, die Postmoderne hat ihren Frieden mit der Populärkultur gemacht und instinktiv die Unterscheidung zwischen »wichtig« und »unwichtig« verworfen. Die Analyse des unbedeutendsten Gutes galt ihr als ebenso relevant wie die Auseinandersetzung mit den alten, großen Fragen. Ja, mehr noch: Die alten großen Themen – »Geschichtsphilosophie«, »Arbeiterklasse«, »Fortschritt« – schleppten einen prallvollen Rucksack an Bedeutung mit, schienen aber zunehmend irrelevant zu werden, während die unbedeutendsten Dinge an Relevanz zu gewinnen schienen. Man kann das auch als paradoxe Volte der Verdinglichung beschreiben: Die Bedeutung wandert in die Dinge ein. Man kann es freilich auch mit Hinweis auf die Psychoanalyse beschreiben, die uns schließlich gelehrt hat, dass die nebensächlichsten Handlungen einer Person Symptom grundlegender psychischer Störungen sein, also auf sehr Bedeutendes verweisen können. So ähnlich ist auch mit der Konsumkultur: Die Analyse der Dinge, die wir kaufen, die Analyse der Gründe, warum wir sie kaufen, hat fundamentale Bedeutung für das Verständnis unserer Gesellschaften.
Die klassische Kapitalismuskritik und die klassische Ökonomie haben dies noch längst nicht wirklich begriffen. Die linke Konsumismuskritik unterstellt, die Werbung manipuliere den Verbraucher, der nicht weiß, was er tut – wohingegen die Konsumenten durchaus selbstbewusst aus dem Fundus der Stil-Angebote auswählen und gerade die Lifestyle-Attribute der Waren nachfragen. Es ist die Bedeutung der Güter, die die Kunden konsumieren – man muss sie da nicht manipulieren, im Gegenteil, sie wissen das sehr gut.
Die klassische Ökonomie kann mit den Realitäten der kulturalisierten Märkte womöglich noch viel weniger anfangen. In ihren Modellen geht sie vom Homo oeconomicus aus, der stets streng seinem Eigennutz folgt – und deshalb, beispielsweise, auf Kostenminimierung Wert legt. Doch längst wird eine Ökonomie, die allen Ton auf die materielle Rationalität legt, dem realen Geschehen auf den Konsummärkten nicht mehr gerecht. Der Kulturtheoretiker Nico Stehr hat jüngst in seinem Buch »Die Moralisierung der Märkte« ausführlich beschrieben, welch entscheidende Rolle »nicht-ökonomische Werte«, »kulturelle Werte« in der »angeblich kulturfreien Welt … der modernen Wirtschaftssysteme spielen«.1 Die moralischen Erwägungen der Konsumenten müssten darum »auf der gleichen Nützlichkeitsebene« lokalisiert werden wie rein materielle Erwägungen.2
Soll heißen: Wenn ich zu einem Gut immer »etwas dazu« bekomme, dann ist das nicht bloß eine nebensächliche Zugabe, sondern für meine Kaufentscheidung durchaus bedeutsam. In einer Welt, in der in weiten Segmenten die lebensnotwendige Basisausstattung mit den Dingen des täglichen Bedarfs vorhanden ist (und in der selbstverständlich auch diese Basisgüter durch Bedeutung unterscheidbar gehalten werden), bekommt der Konsument zu den Dingen immer auch etwas mitgeliefert: ein gutes Gefühl, gelegentlich auch ein gutes Gewissen. In gewissem Sinn ist das Gut das Accessoire des symbolischen Mehrwerts.
Leicht einzusehen ist das beim Konsum ökologisch nachhaltiger oder fair gehandelter Güter. Wer ein Auto mit niedrigem Schadstoffausstoß und geringem Treibstoffverbrauch erwirbt, der freut sich über den schicken Schlitten und zudem auch noch darüber, dass er der Natur etwas Gutes getan hat. Wer eine Ware mit Fair-Trade-Zertifikat erwirbt, der darf sich als guter Kerl fühlen. Und da es natürlich viel angenehmer ist, ein gutes Gewissen zu haben als ein schlechtes, können wir es logischerweise auch als »nützlich« für den Konsumenten bezeichnen. Hin und wieder hat man den Eindruck, die politischen Aktivisten seien nicht mehr wiederzuerkennen: Statt auf die Demo gehen sie einkaufen – nur dass sie eben die korrekten Güter kaufen. Buycott statt Boykott.
In einer Welt, in der wesentlich Bedeutung und gute Gefühle konsumiert werden, gerät vieles in Bewegung. Die Wellness-Industrie hat ganze Produktpaletten von Gütern und Dienstleistungen im Angebot, deren einziger Zweck die Gefühlsökonomie zweiten Grades ist – dass der Verbraucher das Gefühl hat, sich gut zu fühlen. Mineralwässer etwa, die »Balance«, »Emotion« oder »Sensibility« versprechen; Wohlfühl-Hotels, die den Mahagonifurnier-Charme von Kur- und Rehakliniken längst abgelegt haben. Oft wird nicht einmal mehr der Inhalt eines Produkts beworben, »sondern die Stimmung, in die der Kunde beim Konsum versetzt wird«3. Traditionelle Medizin wird angeboten, sogar der Coca-Cola-Konzern brachte unlängst einen Wellness-Drink auf den Markt. »Gesundheit und Wellness sind die hauptsächlichen Wachstumsgeneratoren der Soft-Drink-Industrie«, postuliert der Economist.4 Diesem Veränderungsdruck unterliegt natürlich auch die Pharmaindustrie. Die Entwicklung teurer Medikamente, die möglicherweise gegen echte, aber seltene Krankheiten helfen würden, ist längst weniger profitabel als Investment in den boomenden Wellness-Markt.
Wenn wir den zeitgenössischen Kapitalismus und die heutige Warenproduktion verstehen wollen, reicht es nicht mehr (wenn es überhaupt jemals gereicht hat), die Prozesse von der Produktionsseite her zu analysieren. Wir müssen uns der Konsumtionsseite zuwenden und uns ansehen, was diese »produziert« – wie sie auf unsere Lebenswelten einwirkt und wie sie auf die Produktionsseite zurückwirkt. Monetär bewertete Güter sind offen für individuelle Gebrauchsweisen und können somit sogar einer ambivalenten De-Kommodifizierung unterworfen werden. Sammler können Güter in Gaben und in Schätze verwandeln. Jedes Gebrauchsgut kann zum Kultgegenstand werden. Deswegen habe ich dieses Buch »Das Kult-Buch« genannt – natürlich nicht ohne Augenzwinkern und Ironie angesichts des doppelten Sinns dieses Titels.
Der Untertitel »Glanz und Elend der Kommerzkultur« mag manche schon mehr verstören. »Warum Glanz?«, fragt womöglich der gewohnheitsmäßige Kapitalismuskritiker. »Warum Elend?«, mag wiederum der glückliche Shopper grübeln. Nun, es ist ein hartnäckiges kulturkritisches Vorurteil, dass der Massenkonsum die Welt eintöniger und notwendigerweise schlechter macht. Schon frühere Kritikergenerationen beklagten das Verschwinden der Individualität als Folge der Massengesellschaft. Für den Kulturkapitalismus lässt sich das freilich nur schwer behaupten. Im Wettbewerb um Marktanteile werden immer mehr Zielgruppen erfunden und immer mehr Güter angeboten, die die Angehörigen unzähliger Zielgruppen unbedingt haben müssen, um sich von den Angehörigen anderer Zielgruppen zu unterscheiden. Der zeitgenössische Kapitalismus befördert keineswegs Konformismus, im Gegenteil: Jede Form der Individualität ist ihm willkommen, gerne auch Patchwork-Identitäten, denn für fast jeden denkbaren Lifestyle hat er die zugehörigen Gadgets schon im Angebot – und wenn nicht, schickt er seine Trendscouts los, um entsprechende Waren zu entwickeln. Das macht die Welt auch bunter. So viel zum Thema Glanz.
Aber so, wie das Konsumgut meist nicht gratis ist, ist auch die Konsumkultur nicht ohne Preis zu haben. Sie formt sich unsere Städte, sie richtet sich die Subjekte her, sie schreibt sich ein in unser Innerstes. Mit unserer Umwelt interagieren wir, indem wir kaufen. Innenstädte sind von Shopping Malls nur mehr schwer zu unterscheiden. Wer etwas erleben will, wählt aus den Angeboten der Erlebnisindustrie aus. Die Jagd nach dem Neuen ist dem Konsumbürger zur zweiten Natur geworden. Wenn’s mit den Freunden nicht so klappt – weg mit ihnen, man kann sich ja neue suchen (so sind wir es von den Waren gewohnt). Um die nächste Ecke wartet bestimmt ein noch aufregenderer Mensch. Der Homo shoppensis ist doch ein recht eindimensionales Wesen. Der Konsumkapita-
Fassadendeckende Handywerbung in Berlin, Rosenthaler Platz
lismus hat, bei allem Glanz, zweifelsfrei auch etwas Elendes.
Gewiss bin ich nicht der Erste und Einzige, der sich darüber Gedanken macht. Ziel dieses Buches ist es, erstmals umfassend darzulegen, was aus der Ökonomisierung der Kultur, die gleichzeitig eine Kulturalisierung der Ökonomie ist, folgt. Die Kultur selbst ist, wie Franz Schuh mit unverwechselbarer Ironie schreibt, »eine Wachstumsbranche«5. Kreativität ist heute eine der wichtigsten Produktivkräfte.
Der Kreative wird zum Leitmodell des flexiblen Arbeitnehmers. Künstlertugenden, einst Gegenteil der Charaktereigenschaften, die in der Wirtschaftswelt erwartet wurden, werden heute in jedem Büro großgeschrieben. Der Kampf um Aufmerksamkeit tobt. Die Symbol- und Zeichenmächtigen sind gefragt – und hoch bezahlt – im Kulturkapitalismus. Noch die Subkultur wird gewinnbringend vermarktet. Ein kreatives Leben ist heute nichts, was sich eigenwillige Naturen gegen widrige Umstände zu erkämpfen hätten, Kreativität ist etwas, was von allen gefordert wird – bisweilen gar auf etwas herrische Art und Weise.
Wenn heute wieder von der »Unterschicht« die Rede ist, dann liegt schnell aller Ton auf der Kultur der Unterschichten, auf dem Unterschichten-Lifestyle, dem Unterchic – über die materielle Bedrängnis der da unten wird dann deutlich weniger geredet. Schließlich ist ja jeder für seinen Lebensstil selbst verantwortlich. Und auch der »Kampf der Kulturen« hat mehr mit »Kultur« in engem Sinn zu tun, als man beim saloppen Gebrauch der Metapher ahnt – er ist nämlich ohne die universelle Verbreitung eines kulturellen Zeichensystems und die Revolte gegen dasselbe kaum hinreichend erklärbar.
Konsum von Stil und Kultur hat eine ebenso wichtige Bedeutung für die Bearbeitung und Veränderung der äußeren Lebenswelt wie für die Selbstbearbeitung der Innenwelt der Subjekte – womit aber auch Konsumieren eine »Produktionsform« ist. Das, kurzum, ist die zentrale These dieses Buches. Altbackene Konsumkritik, die dem Verbraucher einerseits ein schlechtes Gewissen macht und ihn andererseits entlastet, indem sie unterstellt, er sei nur Marionette böswilliger Konzerne, ist meine Sache nicht – über retrolinke Plumpheiten dieser Art ist die Zeit hinweggegangen. Für eine dürre Apologie des Kulturkapitalismus und der Konsumkultur gibt es freilich noch viel weniger Anlass.
Wenn man die Konsumkultur kritisieren und ihre
schlimmsten Auswirkungen korrigieren will, muss man sie zunächst in all ihren Ambivalenzen verstehen, auch um differenzieren zu können, welche Korrekturen notwendig sind, welche die Welt womöglich ärmer machen würden – und welche überhaupt kurzfristig möglich sind. Darum ist, wenn man so will, das geheime Motto dieses Buches: »Konsumkritik – aber richtig!«