Boris Akunin ist das Pseudonym des Moskauer Philologen, Kritikers, Essayisten und Übersetzers aus dem Japanischen Grigori Tschchartischwili (geb. 1956). 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane, die ihn in kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Heute genießt er in seiner Heimat geradezu legendäre Popularität. 2001 wurde er dort zum Schriftsteller des Jahres gekürt, seine Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt.
Bei Aufbau erschienen bisher Fandorin (2001), Türkisches Gambit (2001), Mord auf der Leviathan (2002), Der Tod des Achilles (2002), Russisches Poker (2003), Die Schönheit der toten Mädchen (2003), Der Tote im Salonwagen (2004), Die Entführung des Großfürsten (2004), Der Magier von Moskau (2005), Die Liebhaber des Todes (2005), Die Diamantene Kutsche (2006), Das Geheimnis der Jadekette (2008), Das Halsband des Leoparden (2009) und Die Moskauer Diva (2011).
»Ich spiele leidenschaftlich gern. Früher habe ich Karten gespielt, dann strategische Computerspiele. Schließlich stellte sich heraus, dass Krimis schreiben noch viel spannender ist als Computerspiele. Meine ersten drei Krimis habe ich zur Entspannung geschrieben …« Akunin in einem Interview mit der Zeitschrift Ogonjok
»Ein absolut kultverdächtiger Historienheld.« Brigitte
Russland 1876: Erast Fandorin ist ein junger Mann von unwiderstehlichem Charme. Er bezaubert nicht nur die Moskauer und St. Petersburger Damenwelt, er überzeugt auch höchste russische Kreise von seinem Können – durch erstaunliche Kombinationsgabe und geschicktes Vorgehen gegen die internationale Verbrecherwelt. Kein Gauner ist ihm gewachsen – eine große Karriere ist ihm sicher.
»Prall gefüllt mit Liebe und Eifersucht, Mord und Totschlag, Doppelspielen und Weltverschwörungen.« FAZ
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Fandorin
Roman
Aus dem Russischenvon Andreas Tretner
Inhaltsübersicht
Über Boris Akunin
Informationen zum Buch
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Erstes Kapitel
in welchem von einer zynischen Eskapade die Rede ist
Zweites Kapitel
in welchem viel und ausschließlich geredet wird
Drittes Kapitel
in welchem ein »grummer« Student auftaucht
Viertes Kapitel
welches von der unheilvollen Macht der Schönheit kündet
Fünftes Kapitel
in welchem unseren Helden ernstliche Unannehmlichkeiten erwarten
Sechstes Kapitel
in welchem ein Mann der Zukunft auftritt
Siebtes Kapitel
in welchem die Pädagogik zur wichtigsten aller Wissenschaften erklärt wird
Achtes Kapitel
in welchem im unpassenden Moment ein Pique Bube auftaucht
Neuntes Kapitel
in welchem sich für Fandorin gute Karriereaussichten auftun
Zehntes Kapitel
in welchem es um ein blaues Portefeuille geht
Elftes Kapitel
in welchem eine sehr lange Nacht geschildert wird
Zwölftes Kapitel
in welchem unser Held erfährt, daß er einen Glorienschein um den Kopf hat
Dreizehntes Kapitel
in welchem die Ereignisse des 25. Juni beschrieben sind
Vierzehntes Kapitel
in welchem die Geschichte eine gänzlich andere Wendung nimmt
Fünfzehntes Kapitel
in welchem die Nützlichkeit richtigen Atmens auf das Eindringlichste bewiesen wird
Sechzehntes Kapitel
in welchem der Elektrizität eine große Zukunft prophezeit wird
Letztes Kapitel
in welchem unser Held von seiner Jugend Abschied nimmt
Impressum
Am Montag, dem 13. Mai 1876, in der dritten Nachmittagsstunde eines sommerlich warmen Frühlingstages, kam es im Alexandergarten unter den Augen zahlreicher Zeugen zu einem unerhörten, gegen alle Regeln verstoßenden Vorfall.
Viel vornehmes Publikum erging sich um diese Zeit auf den Parkwegen, unter blühendem Flieder, zwischen Beeten mit leuchtend roten Tulpen: Damen mit Sonnenschirmchen aus Spitze (vorbeugend gegen Sommersprossen), Gouvernanten mit Knaben in Matrosenanzügen und gelangweilt dreinblickendes junges Volk in modischen Cheviotröcken oder Sakkos englischer Fasson. Nichts, was bevorstehende Unannehmlichkeiten hätte ahnen lassen, im Gegenteil: Faule Zufriedenheit und froher Müßiggang lagen in der von prallen Frühlingsdüften geschwängerten Luft. Die Sonne brannte ordentlich, alle im Schatten befindlichen Bänke waren belegt.
Auf einer von ihnen, unweit der künstlichen Grotte gelegen und jenem Außenzaun zugewandt, hinter dem die Neglinnaja-Straße begann und die gelbe Mauer der Manege sich abhob, hatten zwei Damen Platz genommen. Die eine, sehr jung noch (wohl besser Fräulein als Dame zu nennen), las in einem Buch mit saffianledernem Einband und schaute nur hin und wieder gedankenverloren in die Runde. Die zweite, weitaus älter, in gediegenem dunkelblauem Baumwollkleid und praktischen halbhohen Schnürschuhen, strickte konzentriert, die Nadeln gemessen handhabend, an einem giftrosa Etwas – nicht ohne den Kopf beständig nach rechts und nach links zu drehen, so daß ihren flinken Augen wohl nichts entging, was nur irgendwie Beachtung verdiente.
Kein Wunder also, daß ihr der junge Mann in den engen, karierten Hosen, dem lässig über der weißen Weste aufgeknöpften Rock und dem breitkrempigen Schweizer Hut gleich ins Auge gesprungen war. Allzu auffällig die Art, wie er den Parkweg entlangging: immer aufs neue stehenbleibend und wie nach jemandem Ausschau haltend, dann wieder anfallartig ein paar Schritte vorwärtspreschend, um erneut in Reglosigkeit zu verharren. Unversehens nun richtete dieses derangierte Subjekt den Blick auf unsere Damen – und als wäre im selben Moment ein Entschluß gefallen, kam es mit ausholenden Schritten auf sie zu. Vor der Bank blieb das Subjekt stehen und rief, dem Fräulein zugewandt, in närrischem Falsett: »Verehrteste! Hat Ihnen schon jemand gesagt, daß Ihre Schönheit unerträglich ist?«
Das Fräulein, in der Tat ein bezaubernd schönes Wesen, starrte den Frechling an, der schmale, erdbeerrote Mund stand ihr vor Schreck ein wenig offen. Selbst ihre reifere Begleiterin war verdutzt ob dieser unerhörten Taktlosigkeit.
»Ein Blick hat genügt, ich bin wie vom Blitz getroffen!« fistelte der fremde junge Mann, der durchaus nicht unansehnlich war: das Haar an den Seiten modisch gestutzt, blasse, hohe Stirn, braune Augen, blitzend vor Erregung. »Erlauben Sie, daß ich auf Ihr unschuldiges Haupt einen noch unschuldigeren Kuß pflanze, einen Bruderkuß nur!«
»Mein Herr, Sie sind ja völlig betrunken!« protestierte die Dame mit dem Strickzeug, deren deutscher Akzent hiermit zum Vorschein kam.
»Betrunken vor Liebe, nichts sonst!« versicherte der Frechling und fuhr mit derselben unnatürlichen, irgendwie blökenden Stimme das Fräulein zu bedrängen fort: »Nur einen einzigen Kuß – sonst lege ich auf der Stelle Hand an mich!«
Das Fräulein saß da, steif gegen die Banklehne gepreßt, und drehte das Lärvchen der Beschützerin zu, die wiederum, der heiklen Situation zum Trotz, Geistesgegenwart bewies.
»Machen Sie unverzüglich, daß Sie wegkommen! Sie sind übergeschnappt!« schrie sie und reckte ihr Strickzeug, aus dem die Nadeln martialisch hervorragten, gegen den Fremden. »Ich rufe den Parkwächter!«
Und nun geschah etwas gänzlich Unfaßbares.
»Aha! Man weist mich also ab!« heulte der junge Mann mit gespielter Verzweiflung, legte den Arm theatralisch vor die Augen und zog aus der Innentasche seines Rockes blitzschnell einen kleinen, schwarzglänzenden Revolver. »Wie kann es sich da noch zu leben lohnen? Ein Wort von Ihnen, und ich werde leben! Ein Wort von Ihnen, und ich falle tot um!« ging er das Fräulein flehend an, das, selbst mehr tot als lebendig, auf der Bank saß. »Sie schweigen? Dann leben Sie wohl!«
Natürlich erregte der mit der Waffe herumfuchtelnde Herr inzwischen Aufsehen. Mehrere Personen, die gerade in der Nähe waren – eine beleibte Dame mit Fächer in der Hand, ein gravitätischer Herr mit Annenkreuz um den Hals, zwei Pensionatsschülerinnen in gleichen braunen Kleidchen und Pelerinen –, standen wie angewurzelt, und selbst draußen vor dem Zaun, auf dem Trottoir, war ein Student aufmerksam geworden. Mit einem Wort, man durfte erwarten, daß der skandalösen Szene in kürzester Zeit ein Ende bereitet würde.
Das Weitere geschah so schnell, daß niemand einzuschreiten vermochte.
»Nun denn!« brüllte der betrunkene (oder auch übergeschnappte) junge Mann, streckte die Hand mit dem Revolver merkwürdig hoch über den Kopf und ließ die Trommel kreisen, dann setzte er sich die Mündung an die Schläfe.
»Sie Clown! Sie Hanswurst!« zischte die tapfere Deutsche.
Das Gesicht des jungen Mannes, ohnehin blaß, wurde aschfahl bis grünlich, er biß sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Das Fräulein schloß sicherheitshalber die ihren.
Recht getan! Ein grauenhafter Anblick blieb ihr mithin erspart. In dem Moment, da der Schuß fiel, wurde der Kopf des Selbstmörders jäh zur Seite gerissen, und aus dem Einschußloch knapp oberhalb des linken Ohrs spritzte eine dünne weißlich-rote Fontäne.
Was folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Zunächst ließ die Deutsche einen empörten Blick schweifen, als wollte sie sich der Zeugenschaft aller Umstehenden in dieser unsäglichen Szene versichern, und fing sodann durchdringend zu kreischen an, womit sie dem schon einige Sekunden währenden Quietschen der Schülerinnen und der beleibten Dame eine neue Stimmlage hinzufügte. Das Fräulein hing besinnungslos auf der Bank – ehe sie in Ohnmacht gefallen war, hatte sie es immerhin noch fertiggebracht, für einen Augenblick die Augen zu öffnen. Von allen Seiten kamen Leute gerannt, wohingegen der Student hinter dem Zaun, eine empfindsame Natur, sich beeilte, die Straße zu überqueren und in Richtung Mochowaja davonzukommen.
Xaveri Feofilaktowitsch Gruschin, leitender Ermittlungsbeamter des Kriminalamts beim Moskauer Oberpolizeipräsidenten, atmete geräuschvoll auf, als er den Rapport über wichtige Verbrechensfälle vom Vortag nach links auf den Stapel »Inspiziert« ablegte. In keinem der vierundzwanzig Polizeireviere dieser sechshunderttausend Seelen zählenden Stadt war im Laufe des dreizehnten Mai etwas vorgefallen, was die Einschaltung der obersten kriminalpolizeilichen Behörde erfordert hätte. Ein Totschlag infolge Rauferei zwischen betrunkenen Fabrikarbeitern (der betreffende Delinquent war noch am Tatort festgenommen worden), zwei Raubüberfälle auf Fuhrleute (damit sollten die Reviere gefälligst selbst zu Rande kommen) und das Verschwinden von siebentausendachthundertdreiundfünzig Rubeln, siebenundvierzig Kopeken aus der Kasse der Russisch-Asiatischen Bank (eindeutig ein Fall für Anton Semjonowitsch, Abteilung Kommerzialdelikte) – alles nicht der Rede wert. Gottlob verschonte man die Behörde inzwischen weitgehend mit Taschendiebstählen, erhängten Stubenmädchen und ausgesetzten Wickelkindern – dafür gab es neuerdings den »Polizeilichen Sammelrapport über besondere städtische Vorkommnisse«, der allnachmittäglich von den Revieren abgefordert wurde.
Xaveri Gruschin gähnte herzhaft und sah über sein Pincinez hinweg auf seinen Schriftführer, den Beamten im vierzehnten Rang Erast Petrowitsch Fandorin, der den fälligen Wochenbericht an den Herrn Oberpolizeipräsidenten nunmehr zum dritten Mal abschrieb. Macht nichts, dachte Gruschin, soll er sich von der Pike auf an die nötige Akkuratesse gewöhnen, später einmal wird er es uns danken. Fehlte noch, daß der nach der neuesten Mode verfuhr und dem Herrn Vorgesetzten etwas mit der Stahlfeder hinkleckste. Nein, mein Lieber, so viel Zeit muß sein: hübsch ordentlich, bis in die letzten Kringel und Schnörkel hinein, mit der Gänsefeder geschrieben, in alter, ziemlicher Manier. Seine Exzellenz waren noch unter Zar Nikolaus I. groß geworden und hielten etwas von amtlicher Ordnung und Disziplin.
Xaveri Gruschin wünschte seinem neubestallten jungen Schriftführer gewiß nichts Böses, im Gegenteil, er empfand ein väterliches Mitgefühl. Denn das mußte man sagen: Das Schicksal war bislang recht hart mit ihm umgesprungen. Mit neunzehn war er Vollwaise geworden – die Mutter kannte er ohnehin nicht, und kürzlich hatte nun der Vater, ein Brausekopf, das Zeitliche gesegnet, nachdem sein Vermögen in windigen Projekten aufgegangen war: Im Eisenbahnfieber war er zu schnellem Reichtum gekommen, im Bankenfieber wurde er ihn wieder los. Nicht wenige ehrbare Leute waren vor Jahresfrist, als eine kommerzielle Bank nach der anderen pleite ging und die sichersten Anlagen über Nacht Makulatur wurden, an den Bettelstab geraten. So hatte auch Oberleutnant a. D. Fandorin, als ihn ein Herzschlag dahinraffte, seinem Sohn nichts außer ungedeckten Wechseln hinterlassen. Der Junge hätte das Gymnasium beenden und an die Universität gehen sollen, statt dessen war er nun aus der Obhut des Vaterhauses auf die Straße geschleudert worden, wo er sich sein kärgliches Brot selbst verdienen mußte. Xaveri Gruschin grunzte mitfühlend. Die Prüfung zum Kollegienregistrator hatte der wohlerzogene Junge aus gutem Hause mit Bravour abgelegt – aber warum zum Teufel war er nicht wenigstens beim Statistischen Amt untergekrochen oder beim Gericht? Was hatte er bei der Polizei zu suchen? Romantische Hirngespinste spukten ihm im Kopf herum: Er hoffte hier wohl irgendwelche mysteriösen Ca… Cadoudals zu jagen. Nein, mein Lieber (Gruschin schüttelte mißbilligend den Kopf), Cadoudals pflegen bei uns nicht vorzukommen, hier wetzt man sich den Hosenboden ab und nimmt zu Protokoll, wie Bürger Schmerbauch im Suff mit der Axt auf seine Angetraute und die drei kleinen Kinder losgegangen ist.
Die dritte Woche erst tat der junge Herr Fandorin bei der Kriminalpolizei Dienst, doch Xaveri Gruschin, selbst langjähriger Ermittler und mit allen Wassern gewaschen, war sich bereits sicher, daß der Junge zu nicht viel nütze sein würde. Allzu dünnhäutig, allzu gute Kinderstube. Einmal, gleich in der ersten Woche, hatte Gruschin ihn zum Tatort mitgenommen (der Frau des Kaufmanns Krupnow war die Kehle durchgeschnitten worden); kaum war Fandorin der Leiche ansichtig geworden, als er, grün im Gesicht, immer schön an der Wand entlang ins Freie flüchtete. Es war zugegebenermaßen kein appetitlicher Anblick gewesen: der Hals aufgeschlitzt von Ohr zu Ohr, die Zunge heraushängend, die Augen aus den Höhlen gequollen, und natürlich Blut, ein Meer von Blut. Jedenfalls hatte Gruschin das Verhör vornehmen und auch noch das Protokoll aufsetzen müssen. Der Fall war im übrigen nicht kompliziert gewesen. Der Hausmeister Kusykin hatte einen so fahrigen Blick gehabt, daß Gruschin ihn gleich beim Schlafittchen packen und in Arrest nehmen ließ. Da saß dieser Kusykin nun schon zwei Wochen, bestritt alles, aber das half ihm nichts, er würde schon noch gestehen, ein anderer kam nicht in Frage, dafür hatte der Ermittlungsbeamte Gruschin in dreißig Jahren Dienst einen sicheren Riecher entwickelt. Und was Fandorin anging, so zeigte der sich immerhin für den Bürodienst tauglich: Er war anstellig und gescheit, schrieb fehlerlos, konnte fremde Sprachen und verfügte nicht zuletzt über gute Umgangsformen – anders als Trofimow, diese Schnapsnase, der vergangenen Monat als Sekretär entlassen und für niedere Hilfsdienste an das Revier im Stadtteil Chitrowka versetzt worden war. Sollte er sich dort weiter um den Verstand saufen und seinen Vorgesetzten frech kommen.
Ungehalten trommelte Gruschin auf den mit langweiligem fiskalischem Leintuch bezogenen Tisch, holte die Taschenuhr aus der Westentasche (oh, noch so lange bis zur Mittagspause!) und nahm sich entschlossen die jüngste Ausgabe der »Moskauer Neuesten Nachrichten« vor.
»Mal sehen, womit sie uns heute wieder verblüffen«, murmelte er – und der junge Schriftführer legte bereitwillig die verhaßte Gänsefeder beiseite, da er wußte, daß sein Chef ihm nun gleich die Überschriften der Artikel und noch so dies und jenes vortragen würde, mit Kommentaren versehen, wie es seine Gewohnheit war.
»Nun schauen Sie sich das an, Erast, auf der ersten Seite, an prominentester Stelle!
Neues aus Amerika: Das Korsett
LORD BYRON
aus festem Fischbein –
für Männer, die schlank sein wollen.
Schmale Taille, breite Schultern!
… und Hauptsache, große Buchstaben. Dagegen hier unten, ganz klein gedruckt:
Der Zar reist nach Bad Ems
Natürlich – wen geht dieser Zar was an, im Unterschied zum Lord-Byron-Korsett!«
Das Brummeln des guten Xaveri Gruschin rief beim Schriftführer eine verblüffende Reaktion hervor. Er schien bestürzt, eine flammende Röte stieg ihm in die Wangen, die langen Mädchenwimpern zuckten schuldbewußt. Da von den Wimpern einmal die Rede ist, wäre dies der geeignete Moment, Erast Fandorins Äußeres etwas eingehender zu beschreiben – zumal ihm in den erstaunlichen und erschröcklichen Ereignissen, die nicht lange auf sich warten lassen werden, eine maßgebliche Rolle zu spielen beschieden ist. Es handelte sich um einen liebreizenden jungen Mann mit schwarzem Haar (auf das er insgeheim stolz war) und blauen Augen (ach, wären sie doch auch schwarz gewesen!), recht hochgewachsen, mit blassem Teint und einer ebenso ungeliebten wie leider unausrottbaren Neigung zur Rotbäckigkeit. Der Grund aber, weshalb der Kollegienregistrator sich so höchlich verlegen zeigte, sei hier gleich mit verraten: Erst vorgestern hatte er ein Drittel seines ersten Monatssalärs für das besagte, in den höchsten Tönen gepriesene orthopädische Hilfsmittel verausgabt; den zweiten Tag lief er im Lord-Byron-Korsett umher, litt der Schönheit zuliebe ordentliche Qualen und verdächtigte nun seinen Vorgesetzten Xaveri Gruschin (allerdings vollkommen zu Unrecht), er könnte, scharfsinnig, wie er war, bereits erkannt haben, woher Fandorins reckenhafte Haltung kam, und beliebte sich darüber lustig zu machen.
Derweil hatte der Kriminalbeamte weiter vorgelesen:
»Grausamkeiten türkischer Baschi-Bosuks in Bulgarien
Na, das ist nun nichts vor dem Mittagessen …
Explosion auf der Ligowka
Wie unser Petersburger Korrespondent berichtet, ereignete sich gestern morgen um 6.30 Uhr auf der Snamenskaja im Mietshaus des Herrn Kommerzienrat Wartanow eine Explosion, infolge derer eine Wohnung im 4. Stock zur Gänze demoliert wurde. Die am Ort eintreffende Polizei fand den bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichnam eines jungen Mannes vor, bei dem es sich mutmaßlich um den Wohnungsmieter, Privatdozent P., handelt. Den ersten Anzeichen nach unterhielt P. in der Wohnung eine Art chemisches Geheimlaboratorium. Der mit der Leitung der Ermittlungen beauftragte Staatsrat Brilling äußerte bereits die Vermutung, daß hier im Auftrag einer terroristisch-nihilistischen Organisation Zeitbomben (sog. Höllenmaschinen) fabriziert wurden. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.
So, so. Dank dem Allmächtigen, daß wir hier nicht in Petersburg sind.«
In diesem Punkt schien der junge Fandorin, dem plötzlichen Glanz in seinen Augen nach zu urteilen, durchaus anderer Meinung zu sein. Sein ganzer Gesichtsausdruck sprach Bände: In der Hauptstadt hatten sie wenigstens ordentlich zu tun – Bombenlegern auf die Spur zu kommen war doch etwas anderes als zehnmal dieselben Dokumente abzuschreiben, in denen noch dazu nichts Wesentliches stand.
»Nun ja«, sagte Xaveri Gruschin und raschelte mit den Zeitungsseiten, »mal sehen, was wir auf der Regionalseite haben!«
Erstes Moskauer Asternat
Die prominente englische Baronin Aster, dank deren Wohltätigkeit bereits in verschiedenen Ländern mustergültige Heime für Waisenjungen, so genannte Asternate, entstanden, erklärte auf Anfrage unseres Korrespondenten, daß nun auch in der Stadt mit den goldenen Kuppeln eine erste derartige Einrichtung im Aufbau begriffen sei. Lady Aster, die seit vorigem Jahr in Rußland initiativ ist und zunächst ein Asternat in Petersburg gründete, wird somit auch die Moskauer Waisen beglücken …
Hm, hm …
… erweisen die Moskauer ihre große Dankbarkeit … wagen wir zu fragen: Wo sind Sie, unsere Owens und Asters? … Na gut, Gott hab' die Waisenkinder selig. Und was gibt es hier?
Zynische Eskapade
Aha. Interessant.
Gestern ereignete sich im Alexandergarten ein bedauerlicher Vorfall, der vom herrschenden Zynismus unter der heutigen Jugend Zeugnis ablegt. Vor den Augen der Spaziergänger erschoß sich der Student der Moskauer Universität N., properer Alleinerbe eines Millionenvermögens, im blühenden Alter von 23 Jahren.
Oho!
Vor Ausführung der sinnlosen Tat soll N., wie Augenzeugen berichten, seinem Hochmut öffentlich freien Lauf gelassen und mit dem Revolver herumgefuchtelt haben. Anfänglich hielt man sein Benehmen für den Unernst eines Betrunkenen, doch N. scherzte nicht, schoß sich in den Kopf und war auf der Stelle tot. In der Tasche des Selbstmörders fand sich eine empörend gotteslästerliche Notiz, aus welcher hervorgeht, daß N.s Tat weder in plötzlicher Aufwallung noch infolge eines Deliriums tremens geschah. So ist man nun also vor der neumodischen Epidemie sinnloser Selbstmorde, wie sie bislang vor allem Petersburg geißelte, auch in den Mauern Moskaus nicht mehr sicher. Was für Zeiten, was für Sitten! möchte man ausrufen. Welch Ausmaß an Unglauben und Nihilismus unter der goldenen Jugend, da sie noch den eigenen Tod zur Buffonade inszeniert! Wie kann man von ihnen, unsere Brutussen, die so wenig vom eigenen Leben halten, erwarten, daß ihnen das Leben anderer, anständiger Leute einen Heller wert ist? Hierauf passen im übrigen die Worte unseres verehrten Fjodor Michailowitsch Dostojewski in der gerade erschienenen Mainummer seines »Tagebuch eines Schriftstellers«, wo es heißt: »Ihr Lieben, Guten, Braven (doch, doch, das seid Ihr!), wohin wollt Ihr, was zieht es Euch in dieses Grab ohne Licht und ohne Luft? Seht, am Himmel strahlt die Frühlingssonne, die Knospen platzen an den Bäumen, Ihr aber seid des Lebens müd, das Ihr noch gar nicht gelebt.«
Xaveri Gruschin schniefte gerührt und warf dann einen prüfenden Blick auf seinen jungen Gehilfen – der hatte die Anwandlung hoffentlich nicht bemerkt! –, um gleich darauf deutlich nüchterner fortzufahren: »Na und so weiter, und so weiter. Mit den Zeiten hat das übrigens gar nichts zu tun. Als ob daran etwas Verwunderliches wäre! Wenn's dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis, sagt man von solchen seit alters her. Ein Millionenerbe! Wer das wohl sein mag? Und die Herren Reviervorsteher, diese Schelme, schreiben jeden Kinkerlitz in ihre Rapporte, nur das hier nicht. Da dürfen wir nun wieder auf die Sammelberichte warten! Obwohl, na ja, eigentlich wird's an dem Fall nichts zu deuteln geben: Selbstmord vor Zeugen … Man wüßte trotzdem gern Genaueres. Alexandergarten, das ist Stadtmitte, zwotes Revier. Wissen Sie was, Erast Petrowitsch, seien Sie doch so nett und laufen Sie schnell mal zu denen rüber in die Mochowaja. Schützen Sie eine allgemeine Inspektion vor oder so etwas. Bringen Sie in Erfahrung, wer dieser N. war. Und vor allem, mein Lieber, kopieren Sie den Abschiedsbrief, damit ich ihn meiner Jewdokija zum Abendbrot zeigen kann, sie mag derlei Herzensergüsse. Und bitte nicht säumen, seien Sie rasch zurück!«
Die letzten Worte waren schon in den Rücken des Kollegienregistrators gesprochen, der es so eilig hatte, seinen trostlosen wachstuchbespannten Schreibtisch zu verlassen, daß er um ein Haar die Dienstmütze vergessen hätte.
Auf besagtem Revier wurde der junge Kriminalbeamte sogleich zum Vorsteher geführt. Der jedoch, als er sah, daß keine Person von Rang erschienen war, sparte sich jegliches Palaver und rief seinen Gehilfen.
»Bitte Iwan Prokofjewitsch zu folgen!« sagte er liebenswürdig zu dem Besucher (der, obzwar ein Grünschnabel, immerhin von der vorgesetzten Behörde kam). »Er wird Ihnen alles Nötige vorweisen und darlegen. Ist gestern extra noch in der Wohnung des Toten gewesen. Und Xaveri Feofilaktowitsch, bitteschön, meine ergebensten!«
Fandorin wurde an einem hohen Schreibpult plaziert und alsbald mit einem dicken Aktenordner versorgt.
ERMITTLUNGSAKTE
betr. Selbsttötung des Ehrenbürgers von Geburt
Pjotr Alexandrowitsch KOKORIN,
23 Jahre, Student der Juristischen Fakultät der Moskauer
Kaiserlichen Universität.
Eröffnet am 13. Mai 1876. Geschlossen am … … 18…
Fandorin knüpfte mit vor Spannung zitternden Fingern die Schnüre des Ordners auf.
»Alexander Artamonowitsch Kokorins Einziger!« erläuterte Iwan Prokofjewitsch, ein schlaksiger, eifernder Adlatus mit knittrigem Gesicht. »Der Alte war steinreich. Fabrikant. Ist vor drei Jahren verschieden. Und hat alles dem Sohn vermacht. Ein sorgloses Leben hätte das Studentlein führen können. Was fehlt solchen denn noch?«
Fandorin nickte, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, und vertiefte sich in die Lektüre der Zeugenaussagen. Es gab ein gutes Dutzend Protokolle, das umfangreichste enthielt die Aussagen eines Fräulein Elisabeth (17), Tochter des Wirklichen Geheimrats Ewert-Kolokolzew, und ihrer Gouvernante Emma Pfuhl (48), mit denen der Selbstmörder unmittelbar vor dem Schuß einen Wortwechsel hatte. Im übrigen erfuhr Fandorin aus den Protokollen nur, was der Leser schon weiß – sämtliche Zeugen sagten mehr oder weniger dasselbe aus, wobei ihre Intuition augenscheinlich verschieden ausgeprägt war: Die einen behaupteten, der Anblick des jungen Mannes habe in ihnen sofort eine böse Ahnung wachgerufen (»Wie ich in seine wahnsinnigen Augen blickte, da wurde mir das Herz kalt«, äußerte Frau Titularrätin Chochrjakowa, die im weiteren jedoch angab, den jungen Mann nur von hinten gesehen zu haben); andere Zeugen wiederum sprachen von einem Blitz aus heiterem Himmel.
Zuunterst im Ordner lag ein zerknitterter hellblauer Zettel mit Monogramm. Sofort saugten sich Fandorins Augen an den unregelmäßigen (augenscheinlich in großer Erregung niedergeschriebenen) Zeilen fest.
An die Nachwelt!
Wenn Ihr diesen Brief lest, heißt das, ich habe Euch schon verlassen und das Geheimnis des Todes erfahren, welches mit sieben Siegeln vor Euch verschlossen ist. Ich bin frei, während Ihr weiterleben und Euch mit Ängsten plagen müßt. Doch wette ich, daß dort, wo ich nun bin und von wo, wie sich ein dänischer Prinz auszudrücken beliebte, kein Wanderer wiederkehrt, in Wirklichkeit gar nichts ist. Wer anderer Meinung ist, der möge es prüfen und mir nachfolgen. Im übrigen habe ich mit Euch allen nicht das geringste am Hut und schreibe diesen Brief nur, damit Ihr nicht etwa auf den Gedanken verfallt, ich könnte irgendeiner rührseligen Lappalie wegen Hand an mich gelegt haben. Eure Welt kotzt mich an, das ist fürwahr Grund genug. Und daß ich keiner von den miesen Schurken bin, darüber legt eine lederne Mappe Zeugnis ab.
Pjotr Kokorin
Klingt nicht nach großer Erregung!, war Fandorins erster Gedanke.
»Wie meint er das mit der ledernen Mappe?« fragte er.
Iwan Prokofjewitsch zuckte die Schultern.
»Da war keine. Bedenken Sie, der Mann war völlig außer sich. Vielleicht hat er irgendwas vorgehabt und sich später anders überlegt oder einfach vergessen. Sieht so aus, als wär der junge Herr nicht bei Trost gewesen. Bestimmt haben Sie gelesen, daß er noch die Trommel hat rotieren lassen? Es steckte, nebenbei gesagt, nur eine Patrone darin, eine von sechs möglichen. Wenn Sie mich fragen, wollte er sich überhaupt nicht erschießen, sondern nur ein bißchen Nervenkitzel – den Herzschlag des Lebens fühlen, wie man so sagt. Damit das Essen hinterher besser schmeckt und der Wein süßer.«
»Tatsächlich, nur eine Patrone? Da hat der Arme ja wirklich Pech gehabt!« sagte Fandorin voller Mitgefühl mit dem Toten, wobei ihm die Ledermappe keine Ruhe ließ.
»Wo wohnt er denn? Ich meine, wo hat er …«
»Achtzimmerwohnung in einem neuen Haus an der Ostoshenka, hochvornehm.« Bereitwillig gab Iwan Prokofjewitsch seine Eindrücke preis. »Der Vater hat ihm ein Haus im noblen Samoskworetschje-Viertel hinterlassen, ein vollständiges Anwesen samt Gesinde, aber dort, unter Kaufleuten, hat er nicht wohnen wollen.«
»Und in der Wohnung hat sich keine Ledermappe angefunden?«
Der Gehilfe tat erstaunt. »Hätten wir Ihrer Meinung nach eine Haussuchung veranstalten sollen? Ich sage Ihnen, das ist eine Wohnung, wo man die Polizeidiener nicht gern herumspazieren läßt, sie könnten leicht schwach werden. Und wozu soll's gut sein? Jegor Nikiforitsch, der Kriminalkommissar aus der Bezirksprokuratur, hat dem Kammerdiener von dem Toten eine Viertelstunde gegeben, seine Siebensachen zusammenzupacken, und zwar unter Aufsicht des Wachtmeisters, damit er nichts einsteckt, was seinem Herrn gehört hat – danach mußte ich die Tür versiegeln. Bis die Erben verkündet sind.«
»Und wer sind die?« interessierte sich Fandorin.
»Das ist der Haken. Der Kammerdiener meint, Kokorin habe keine Geschwister. Nur irgendwelche Großcousins, die er nie über die Schwelle gelassen hat … Fragt sich also, wem solch hübsche Sümmchen zufallen sollen.« Iwan Prokofjewitsch seufzte neidvoll. »Das wagt man sich kaum vorzustellen … Na, soll nicht unsere Sorge sein. Der Advokat oder die Testamentsvollstrecker werden es demnächst verkünden. Der Mann ist ja noch keine vierundzwanzig Stunden tot, und die Leiche liegt bei uns auf Eis. Vielleicht, daß Jegor Nikiforitsch den Fall morgen abschließt, vorher kommt die Sache nicht in Gang.«
»Trotzdem komisch«, bemerkte der junge Schriftführer mit gerunzelter Stirn. »Wenn einer in der Stunde seines Todes ausdrücklich eine bestimmte Mappe erwähnt, dann muß das seinen Sinn haben. Und das mit den ›miesen Schurken‹ ist auch nicht zu begreifen. Wenn in der Mappe nun etwas Wichtiges drinsteckt? Tun Sie, was Ihnen beliebt, doch ich an Ihrer Stelle würde in der Wohnung unbedingt noch mal nachschauen. Mir scheint, der Brief ist nur um der Erwähnung dieser Mappe willen geschrieben worden. Da steckt ein Geheimnis dahinter, das könnte ich schwören.«
Fandorin errötete – ob »Geheimnis« womöglich nach Dummejungenphantasie klang? –, doch Iwan Prokofjewitsch schien nichts Komisches daran zu finden.
»Stimmt, wenigstens im Arbeitszimmer hätte man die Papiere sichten sollen«, gab er zu. »Jegor Nikiforitsch hat es eben immer ein bißchen eilig. Er hat eine achtköpfige Familie zu versorgen, da schaut er drauf, daß er schnell nach Hause kommt. Ein alter Mann, noch ein Jahr bis zur Pension, was will man da verlangen … Aber vielleicht haben Sie ja Lust hinzufahren, Herr Fandorin? Wir könnten gemeinsam nachschauen. Ich hänge hinterher ein neues Siegel an, kein Problem. Jegor Nikiforitsch wird darüber hinwegsehen. Der ist froh, daß man ihn nicht noch mal behelligt. Ich sage ihm, da war noch eine Anfrage vom Kriminalamt, wäre das recht?«
Fandorin vermutete, daß der dürre Reviergehilfe nur darauf aus war, die »hochvornehme« Wohnung ein weiteres Mal in Augenschein zu nehmen, und mit dem »Anhängen« eines neuen Siegels schien es auch nicht getan – doch die Versuchung war groß. Die Sache roch gar zu sehr nach Geheimnis.
Die Wohnungseinrichtung des seligen Pjotr Kokorin (Beletage eines vornehmen Geschäftshauses nahe des Pretschistenskije-Tors) vermochte Fandorin nicht sonderlich zu beeindrucken – zu jenen schnell dahingegangenen Zeiten, da das Säckel seines Herrn Papa gut gefüllt war, hatte er in kaum weniger prunkvollen Gemächern gehaust. Darum hielt sich der Kollegienregistrator nicht lange in dem Marmorfoyer auf, wo allein der venezianische Spiegel gute zwei Meter hoch und der Stuck an der Decke vergoldet war, sondern lief stracks bis ins Wohnzimmer: auch dieses geräumig, sechs Fenster breit, im ultramodernen russischen Stil – bemalte Truhen, Eichenschnitzwerk an den Wänden und ein stattlicher Kachelofen.
»Bonfortionös hat man gewohnt, wie gesagt!« tat Fandorins Begleiter im Flüsterton kund und hauchte ihm einen Seufzer in den Nacken.
Fandorin wiederum glich jetzt einem einjährigen Setter, der, zum ersten Mal in den Wald gelassen, das Wild so heftig in den Wind bekommt, daß er außer Rand und Band gerät. Den Kopf in einem fort hin- und herdrehend, kombinierte er: »Dort die Tür – das ist das Arbeitszimmer?«
»Sehr richtig.«
»Gehen wir nach da!«
Die lederne Mappe zu finden war ein leichtes – sie lag auf dem massiven Schreibtisch, genau zwischen der malachitenen Tintenfaßgarnitur und dem muschelförmigen, perlmuttbesetzten Aschenbecher. Doch bevor Fandorins ungeduldige Hände das knarrende braune Leder berührt hatten, fiel sein Blick auf eine Porträtphotographie, die im silbernen Rahmen an sichtbarster Stelle auf dem Schreibtisch stand. Das Gesicht auf der Photographie war so ausdrucksvoll, daß Fandorin erst einmal die Mappe vergaß. Eine Kleopatra schaute ihn an: halb abgewandt, mit üppigem Haar, großen mattschwarzen Augen, stolz gebogenem Schwanenhals und launischer Mundpartie, die eine Spur Erbarmungslosigkeit hervorzukehren schien. Am meisten aber faszinierte den Kollegienregistrator der Ausdruck herrischer Gelassenheit und Selbstsicherheit auf diesem Mädchengesicht. (Aus irgendeinem Grunde wollte Fandorin unbedingt, daß es ein Mädchen war, keine Dame.)
»Ist die aber hübsch!« meinte Iwan Prokofjewitsch, der schon wieder neben ihm stand, und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wer ist sie denn? Wenn Sie erlauben …«
Ohne das geringste Zögern beging er den Frevel, das zauberhafte Antlitz aus dem Rahmen zu ziehen und auf die Rückseite zu schauen. Mit schräger, schwungvoller Schrift stand dort geschrieben:
Für Pjotr K.
Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Verliebter, leugne Deine Liebe nicht!
A. B.
»Sie sieht in ihm den Apostel Petrus und sich selber anscheinend als Jesus! Was die sich einbildet!« fauchte des Reviervorstehers Gehilfe. »Er wird doch nicht am Ende dieses Luders wegen Hand an sich gelegt haben, was? Ach, da haben wir ja auch das Mäppchen. Hat sich der Weg doch gelohnt.«
Iwan Prokofjewitsch klappte den Lederdeckel auf und zog ein einzelnes Blatt des hellblauen Papiers hervor, das Fandorin bereits kannte – es war am unteren Rand mit einem notariellen Stempel und mehreren Unterschriften versehen.
»Hervorragend!« Der Gehilfe nickte zufrieden. »Das Testament hätten wir also. Ach herrje. Ist ja interessant.«
Das Dokument zu überfliegen, benötigte er kaum eine Minute, die Fandorin jedoch unendlich lang vorkam; dem Polizeidiener über die Schulter zu schauen schien ihm unter seiner Würde.
»Heiliger Bimbam! Mit schönem Gruß an die Cousins und Cousinen!« jauchzte Iwan Prokofjewitsch nun mit überraschender Gehässigkeit. »Da hat der liebe Kokorin ihnen eine Nase gedreht. Das ist die unfeine russische Art! Noch dazu reichlich unpatriotisch. Das mit den Schurken läßt sich nun auch verstehen.«
Vor Ungeduld vergaß Fandorin jeden Anstand und Respekt, er riß dem Dienstälteren das Blatt aus der Hand und las:
Testament
Ich, Endesunterzeichneter Pjotr Alexandrowitsch Kokorin, verfüge bei vollem Verstand und voller Geistesgegenwart sowie im Beisein nachstehender Zeugen bezüglich des mir zu eigenen Vermögens das folgende:
Meinen gesamten Nachlaß, dessen vollständiges Inventar sich in den Händen meines Vertrauten, Herrn Semjon Jefimowitsch Berenson, befindet, vererbe ich an Frau Baronin Margaret Aster, britische Staatsbürgerin, zur ausschließlichen Verwendung in Zwecken der Ausbildung und Erziehung von Waisenkindern. Es ist meine Überzeugung, daß Frau Aster mit dem Geld vernünftiger und ehrbarer umzugehen weiß als unsere wohltätige Generalität.
Dieses mein Testament ist letztwillig und unwiderruflich, es besitzt volle juristische Gültigkeit und setzt meine frühere Verfügung außer Kraft.
Zu Testamentsvollstreckern ernenne ich Herrn Semjon Jefimowitsch Berenson, Rechtsanwalt, und Herrn Nikolai Stepanowitsch Achtyrzew, Student der Moskauer Universität.
Vorliegendes Testament besteht in zwei Exemplaren, von denen eines in meiner Hand und eines zur Verwahrung in der Kanzlei des Herrn Berenson verbleibt.
Moskau, den 12. Mai 1876.
Pjotr Kokorin
»Alles, was recht ist, Xaveri Feofilaktowitsch, an der Sache ist etwas faul. Da steckt ein Geheimnis dahinter, das sage ich Ihnen!« wiederholte Fandorin hitzig, und in seinem Starrsinn gleich noch einmal: »Ein Geheimnis, jawohl! Urteilen Sie doch selbst: Schon die Art und Weise, wie er sich erschossen hat, ist absurd – zack und peng! – mit einer einzigen Patrone in der Trommel, so als wäre es gar nicht seine Absicht gewesen. Nur ein fatales Mißgeschick! Und der Ton des Abschiedsbriefs, das müssen Sie zugeben, ist mehr als kurios – wie nebenbei, in aller Eile geschrieben, dabei geht es doch darin um das heikelste aller Probleme. Eines, mit dem man nicht spaßt!« Fandorins Stimme bebte vor Mitgefühl. »Aber lassen Sie uns dazu später kommen, erst einmal zum Testament. Höchst verdächtig, oder etwa nicht?«
»Was erscheint Ihnen denn daran so verdächtig, mein Bester?« schnurrte Gruschin, während er gelangweilt im »Polizeilichen Sammelrapport über besondere städtische Vorkommnisse« des Vortages blätterte. Diese durchaus zum Erkenntnisgewinn verfaßte Lektüre traf für gewöhnlich erst in der zweiten Tageshälfte ein, Dinge von Wichtigkeit kamen darin kaum vor – im wesentlichen ging es um Belangloses, kompletten Blödsinn, nur selten war etwas Interessantes darunter. Hier fand sich nun endlich die Mitteilung bezüglich des gestrigen Selbstmords im Alexandergarten, jedoch, wie vom erfahrenen Gruschin vorausgesehen, ohne alle Einzelheiten und natürlich ohne den Text des Abschiedsbriefes.
»Das kann ich Ihnen sagen! Obwohl es den Anschein hat, als wollte Kokorin sich gar nicht im Ernst erschießen, ist das Testament, vom provozierenden Ton einmal abgesehen, in aller Form erstellt – notariell beglaubigt, mit Zeugenunterschriften und Angabe der Testamentsvollstrecker«, zählte Fandorin an den Fingern auf. »Und das Vermögen ist wirklich kein Pappenstiel, ich hab mich erkundigt: zwei Fabriken, drei Manufakturen, Häuser in diversen Städten, Werften in Libau und dazu eine halbe Million an Wertpapieren auf der Staatsbank!«
»Eine halbe Million?« ächzte Xaveri Gruschin und riß den Blick von den Papieren. »Da hat die Lady ja wirklich Glück gehabt!«
»Ja, genau, was diese Lady Aster mit der Sache zu schaffen hat, können Sie mir das erklären? Wieso erbt gerade sie das alles und kein anderer? Welche Verbindung gibt es zwischen ihr und Kokorin? Das müßte man herausfinden!«
»Er hat doch geschrieben, daß er unseren Roßtäuschern nicht traut. Und die Angelsächsin wird schon wochenlang von allen Gazetten in den Himmel gehoben! Nein, mein Lieber, erklären Sie mir besser etwas anderes. Wie kommt es, daß Ihre werte Generation vom Leben gar so wenig hält? Bei jedem bißchen gleich piff-paff, und dabei tun sie alle noch wichtig, mit Pathos und Hohn gegen den Rest der Welt. Mit welchem Recht, frage ich Sie, mit welchem Recht?« Gruschin redete sich in Rage, während er daran denken mußte, wie frech und respektlos ihm gestern abend seine sechzehnjährige Lieblingstochter Saschenka gekommen war. Aber die Frage war wohl eher rhetorisch gemeint, die Meinung seines Schriftführers interessierte den Kriminalbeamten herzlich wenig, weshalb er die Nase gleich wieder in das Protokoll steckte.
Dafür ereiferte sich Fandorin um so mehr.
»Das ist ja gerade das Problem, auf das ich noch zu sprechen kommen wollte. Sie brauchen sich einen wie Kokorin doch nur einmal näher anzuschauen. Das Schicksal meint es gut mit ihm, er hat alles: Reichtum, Freiheit, Bildung, Schönheit …« (Letzteres behauptete Fandorin einfach so, der Vollständigkeit halber, obwohl er überhaupt nicht wußte, wie der Tote ausgesehen hatte.) »Und doch spielt er mit dem Tod und bringt sich am Ende tatsächlich um. Wollen Sie wissen, warum? ›Eure Welt kotzt uns an‹ – Kokorin hat es geschrieben, ohne viel Drumherum. Ihre Ideale – Karriere, Geld, Titel – bedeuten den meisten von uns Jungen gar nichts. Unsere Träume sind heute ganz andere. Glauben Sie, es ist Zufall, daß in den Zeitungen schon von einer Selbstmordepidemie die Rede ist? Die besten von den gebildeten jungen Leuten treten ab, ersticken an zu wenig geistigem Sauerstoff, und ihr, die Väter der Gesellschaft, wollt keine Lehren daraus ziehen!«
Man durfte annehmen, daß sich Fandorins anklagendes Pathos gegen Xaveri Gruschin richtete, andere »Väter der Gesellschaft« waren nicht in der Nähe; der schien jedoch nicht im mindesten gekränkt, im Gegenteil, er nickte vergnügt.
»Apropos!« sagte er grinsend und sah in seine Papiere, »da wir gerade bei zu wenig geistigem Sauerstoff sind: Tschichatschew-Gasse, Revier Meschtschanskaja, dritter Polizeiabschnitt. Gegen 10 Uhr morgens wurde der Schuster Iwan Jeremejew Buldygin (27) erhängt aufgefunden. Als Grund für den Selbstmord gab der Hausmeister Pjotr Silin Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rauschmitteln an. Die Besten treten ab, so ist es. Nur wir alten Narren, wir bleiben übrig.«
»Lachen Sie nur«, sagte Fandorin mit Bitterkeit in der Stimme. »In Petersburg und auch in Warschau vergeht kein Tag, an dem nicht ein Student, eine Kursistin oder gar ein Gymnasiast sich vergiftet, erschießt oder ertränkt. Sie finden das lustig …«
Und Sie werden es bereuen, Xaveri Feofilaktowitsch, aber dann wird es zu spät sein! dachte er boshaft – obwohl ihm bis zu diesem Moment noch nie der Gedanke an Selbstmord gekommen war, dafür war er von Natur aus viel zu fidel. Stille trat ein, in der sich Fandorin ein bescheidenes kleines Grab ohne Kreuz und außerhalb der Kirchenmauern vorstellte, Gruschin mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr und raschelnd umblätterte.
»Aber irgendwie geht das wirklich nicht mit rechten Dingen zu«, brummelte er. »Sind die denn alle verrückt geworden? Hier sind noch zwei Einträge, einer aus Abschnitt drei, Revier Mjasnitzkaja, Seite acht, der andere aus Abschnitt eins, Revier Rogoshskaja, Seite neun … Um 12.35 Uhr wurde Revierinspektor Fjodoruk von der Gutsfrau Awdotja Filipowna Spizyna (wohnhaft in Kaluga, derzeitiger Aufenthaltsort: Hotel »Bojarskaja«) zum Haus der Moskauer Feuerversicherungssozietät, Podkolokolnyj-Gasse, bestellt. Frau Spizyna gab an, neben dem Eingang zur dortigen Buchhandlung habe ein anständig gekleideter, ca. 25 Jahre alter Mann vor ihren Augen den Versuch unternommen, sich zu erschießen; er habe sich die Pistole an die Schläfe gesetzt, die jedoch offenbar versagte, worauf der verhinderte Selbstmörder verschwunden sei. Frau Spizyna verlangte von der Polizei, den jungen Mann ausfindig zu machen und der Geistlichkeit zu überstellen, damit ihm kirchliche Bußübungen auferlegt werden könnten. In Ermangelung eines realen Tatbestands wurden keinerlei Fahndungsmaßnahmen ergriffen.«
»Da sehen Sie, ich sagte es ja!« triumphierte Fandorin, dessen Rachedurst schon gestillt war.
»Gemach, gemach, junger Mann, das ist noch nicht alles«, unterbrach ihn der Vorgesetzte. »Hören Sie weiter. Seite neun. Es rapportiert Wachtmeister Semjonow. Der sitzt im Revier Rogoshskaja. Um elf Uhr wurde obiger zum Angestellten Nikolai Kukin, Verkäufer in der Kolonialwarenhandlung »Brykin & Söhne« gegenüber der Kleinen Jausa-Brücke, gerufen. Kukin sagte aus, einige Minuten zuvor sei ein Student auf die steinerne Brüstung der Brücke gestiegen und habe sich die Pistole an den Kopf gesetzt, in augenscheinlicher Absicht, sich zu erschießen. Kukin will ein metallisches Klicken gehört haben, jedoch keinen Schuß. Nach besagtem Klicken sei der Student auf das Trottoir hinuntergesprungen und schnell in Richtung Jausa-Straße gelaufen. Weitere Augenzeugen waren nicht zu ermitteln. Kukin befürwortet die Einrichtung eines polizeilichen Brückenpostens, da letztes Jahr an selbiger Stelle ein leichtes Mädchen ins Wasser gegangen sei, was sich ungünstig auf die Handelstätigkeit ausgewirkt habe.«
»Merkwürdig«, sagte Fandorin und zuckte mit den Achseln. »Was ist das für ein Ritual? Es wird doch nicht schon einen Geheimbund der Selbstmörder geben?«
»Von wegen Geheimbund«, versetzte Gruschin gedehnt und fuhr dann, allmählich in Fahrt kommend, fort: »Nein, Verehrtester, das ist alles viel einfacher. Jetzt wird mir übrigens auch die Sache mit der Revolvertrommel klar, die uns so spanisch vorkam! Es ist immer ein und derselbe. Ein Schabernack unseres lieben Studenten Kokorin. Schauen Sie her!« Gruschin war aufgestanden und flink an den Moskauer Stadtplan getreten, der neben der Tür an der Wand hing. »Hier ist die Kleine Brücke über die Jausa. Von da ist er die Jausa-Straße entlang, hat sich noch ein Stündchen irgendwo rumgedrückt und dann wieder in der Podkolokolny sehen lassen, bei der Feuersozietät. Dort hat er der guten Frau Spizyna einen Schreck eingejagt und sich anschließend in Richtung Kreml davongemacht. Gegen drei ist er im Alexandergarten angelangt, wo der Stadtrundgang auf die uns bekannte Art sein Ende nahm.«
»Aber wozu? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Fandorin, während seine Augen noch an dem Plan klebten.
»Was es zu bedeuten hat, darüber habe ich mir keine Gedanken zu machen. Aber wie die Sache gelaufen ist, kann ich mir vorstellen. Unser aristokratisches Studentlein hatte beschlossen, der Welt Adieu zu sagen. Aber vor dem Tod brauchte er noch einen kleinen Nervenkitzel. Irgendwo hab ich gelesen, daß dieses Spielchen amerikanisches Roulette genannt wird. Weil die Amerikaner es sich ausgedacht haben, in ihren Goldgruben. Du lädst die Trommel mit nur einer Patrone, läßt sie rotieren und drückst ab. Wenn du Glück hast, sprengst du die Bank, wenn nicht – pardon und adieu. So hat unser Studentlein einen Rundgang unternommen und dabei sein Schicksal herausgefordert. Gut möglich, daß er öfter als dreimal abgedrückt hat, nicht jeder Augenzeuge ruft gleich die Polizei. Die Gutsfrau mit ihrem Abonnement auf Seelenrettung und dieser Kukin mit seinen privatimen Interessen waren nur wachsamer als andere – wie viele Versuche Kokorin im ganzen unternommen hat, weiß der liebe Gott. Vielleicht hat er auch eine Abmachung mit sich selber getroffen, so und so viele Runden spiele ich mit dem Tod, überlebe ich, dann soll es so sein. Aber das sind schon meine ganz persönlichen Phantasien. Jedenfalls war die Szene im Alexandergarten kein fatales Mißgeschick. Fortuna hat den jungen Mann zur dritten Mittagsstunde einfach mal im Stich gelassen.«
»Xaveri Feofilaktowitsch, Sie sind ein großes analytisches Talent!« Fandorin war aufrichtig begeistert. »Ich sehe geradezu vor mir, wie alles war.«