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Edgar Wallace

Der Zinker

Edgar Wallace

Der Zinker

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Ravi Ravendro
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-01-5

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ka­pi­tel 1

Ka­pi­tel 2

Ka­pi­tel 3

Ka­pi­tel 4

Ka­pi­tel 5

Ka­pi­tel 6

Ka­pi­tel 7

Ka­pi­tel 8

Ka­pi­tel 9

Ka­pi­tel 10

Ka­pi­tel 11

Ka­pi­tel 12

Ka­pi­tel 13

Ka­pi­tel 14

Ka­pi­tel 15

Ka­pi­tel 16

Ka­pi­tel 17

Ka­pi­tel 18

Ka­pi­tel 19

Ka­pi­tel 20

Ka­pi­tel 21

Ka­pi­tel 22

Ka­pi­tel 23

Ka­pi­tel 24

Ka­pi­tel 25

Ka­pi­tel 26

Ka­pi­tel 27

Ka­pi­tel 28

Ka­pi­tel 29

Ka­pi­tel 30

Ka­pi­tel 30

Ka­pi­tel 31

Ka­pi­tel 32

Ka­pi­tel 33

Ka­pi­tel 34

Ka­pi­tel 35

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Kapitel 1

Es war eine stür­mi­sche Nacht. Der Wind peitsch­te Re­gen und Schnee durch die Stra­ßen. Kein ver­nünf­ti­ger Mensch trieb sich bei die­sem Wet­ter auf Put­ney Com­mon her­um. Der ei­si­ge Wind drang durch Man­tel, Klei­der, Hand­schu­he. Die paar Stra­ßen­la­ter­nen ga­ben in die­ser stock­dunklen Nacht so we­nig Licht, daß Lar­ry Grae­me sei­ne Ta­schen­lam­pe zu Hil­fe neh­men muß­te, wenn er eine Stra­ße über­que­ren und nicht über den Rinn­stein stol­pern woll­te.

Er schau­te auf das Leucht­zif­fer­blatt sei­ner Arm­band­uhr. Es fehl­ten nur noch ei­ni­ge Mi­nu­ten bis halb, und der ›Gro­ße Un­be­kann­te‹ war pünkt­lich auf die Mi­nu­te – nie­der­träch­tig, ge­mein war er, aber pünkt­lich! Lar­ry hat­te schon frü­her Ge­schäf­te mit ihm ge­macht, sich al­ler­dings je­des­mal ge­schwo­ren, es nie wie­der zu tun. Der Kerl drück­te die Prei­se, aber er hat­te stets Geld, und wenn man an ihn ver­kauf­te, war das Ri­si­ko gleich Null. Lar­ry hat­te sich vor­ge­nom­men, sich dies­mal nicht klein­krie­gen zu las­sen. Die van-Ris­sik-Dia­man­ten hat­ten ih­ren be­kann­ten Wert.

Alle Zei­tun­gen wa­ren voll von dem küh­nen Raub ge­we­sen, die Ver­si­che­rung hat­te den ge­nau­en Wert der ein­zel­nen Schmuck­stücke be­kannt­ge­ge­ben, und es be­stand nicht der ge­rings­te Zwei­fel dar­über, wie­viel die Stei­ne auf dem frei­en Markt ein­brin­gen wür­den.

Lar­ry hat­te die üb­li­che ver­schlüs­sel­te Zei­tungs­an­non­ce auf­ge­ge­ben:

»In der Ge­gend von Put­ney Com­mon (in Rich­tung Wim­ble­don) wur­de am Don­ners­tag, abends um 10:30, eine klei­ne, gel­be Hand­ta­sche ver­lo­ren. In­halt fünf Brie­fe, die nur für den Ei­gen­tü­mer von Wert sin­d…«

Die ›gel­be Hand­ta­sche‹ kün­dig­te dem ›Gro­ßen Un­be­kann­ten‹ an, daß ihm Ju­we­len an­ge­bo­ten wur­den, eine ›brau­ne Hand­ta­sche‹ wür­de Pelz­wa­ren, eine ›wei­ße‹ Bank­no­ten be­deu­tet ha­ben. Die ›fünf Brie­fe‹ zeig­ten an, daß sich der Wert der Ware in ei­ner fünf­stel­li­gen Zahl be­weg­te.

Und jetzt war Don­ners­tag­abend halb elf. Lar­ry war­te­te in der Rich­mond Street. Der Wind trug die Schlä­ge der Kirch­turm­uhr her­über.

»Pünkt­lich auf die Mi­nu­te«, mur­mel­te Lar­ry.

Er sah weit vorn in der Stra­ße zwei schwa­che Lich­ter auf­tau­chen, die hel­ler und hel­ler wur­den. Plötz­lich blen­de­ten die Schein­wer­fer auf, und Lar­ry stand im grel­len Licht­ke­gel.

Das Auto fuhr lang­sa­mer und hielt di­rekt ne­ben ihm. Der Re­gen pras­sel­te auf das Wa­gen­dach.

Aus dem In­nern er­klang eine raue Stim­me:

»Nun?«

»Gu­ten Abend.«

Lar­ry streng­te sich an, et­was von dem Ge­sicht im Dun­keln zu er­ken­nen. Aber er war sich im kla­ren dar­über, daß ihm selbst sei­ne Ta­schen­lam­pe we­nig nüt­zen wür­de, da der ›Gro­ße Un­be­kann­te‹ be­stimmt eine Mas­ke trug.

Doch dann fiel sein Blick auf die Hand, die auf dem her­un­ter­ge­las­se­nen Fens­ter des Wa­gen­schlags lag. Er be­merk­te, daß der Na­gel des Mit­tel­fin­gers ge­spal­ten war und quer über das ers­te Ge­lenk eine dop­pel­te wei­ße Nar­be lief. Die Hand wur­de schnell zu­rück­ge­zo­gen.

»Also?«

»Ich möch­te et­was ver­kau­fen – gute Ge­le­gen­heit. Ha­ben Sie die Zei­tun­gen ge­le­sen?«

»Han­delt es sich um die van-Ris­sik-Sa­che?«

»Wie Sie sa­gen. Wert zwei­und­drei­ßig­tau­send Pfund – macht hun­dertzwei­und­drei­ßig­tau­send Dol­lar, al­les leicht zu ver­kau­fen. Ma­da­me Ris­sik hat ihr Geld in Stei­nen an­ge­legt – kei­ne fran­zö­si­sche Ware, die blen­dend aus­sieht, aber kei­nen Wert hat! Ich will min­des­tens fünf­tau­sen­d…«

»Zwölf­hun­dert«, er­klär­te die Stim­me im Wa­gen. »Da­bei be­zah­le ich Ih­nen schon zwei­hun­dert mehr, als ich ur­sprüng­lich be­ab­sich­tig­te.«

Lar­ry at­me­te schwer.

»Mein An­ge­bot ist ein­ma­lig…«

»Ha­ben Sie die Sa­chen hier?«

»Nein, ich habe sie nicht hier«, stieß Lar­ry has­tig her­vor, und der an­de­re wuß­te, daß er log. »Ich wer­de sie erst brin­gen, wenn Sie ver­nünf­tig mit sich re­den las­sen. Ein Ju­we­lier in Mai­da Vale hat mir schon drei­tau­send ge­bo­ten und wird wahr­schein­lich noch hö­her ge­hen. Aber ich wür­de die Sa­chen lie­ber Ih­nen ver­kau­fen – das Ri­si­ko ist klei­ner. Sie ver­ste­hen, was ich mei­ne?«

»Ich gebe Ih­nen fünf­zehn­hun­dert. Das ist mein letz­tes Wort. Ich habe das Geld hier. Sie wür­den also gut dar­an tun, an­zu­neh­men.«

Lar­ry schüt­tel­te den Kopf.

»Ich hal­te Sie nur auf«, sag­te er höf­lich.

»Sie wol­len also nicht ver­kau­fen?«

»Wir ver­geu­den bei­de nur un­se­re Zeit –«, be­gann Lar­ry von neu­em, aber be­vor er wei­ter­spre­chen konn­te, schoß der Wa­gen da­von und das rote Schluß­licht ver­schwand in der stür­mi­schen Nacht. Das Num­mern­schild hat­te er nicht se­hen kön­nen.

Er ging zu sei­nem klei­nen Auto, das er in ei­ner ge­schütz­ten Ecke des Plat­zes ab­ge­stellt hat­te, und zün­de­te sich eine Zi­ga­ret­te an.

»Shy­lock dreht sich heu­te nacht im Gra­be um!« mur­mel­te er vor sich hin.

Kapitel 2

Kaum eine Wo­che spä­ter trat Lar­ry Grae­me aus dem Fie­so­le-Re­stau­rant in der Ox­ford Street. Nie­mand hät­te ihn für et­was an­de­res als einen smar­ten Ge­schäfts­mann in mitt­le­ren Jah­ren ge­hal­ten, der gern gut aß und die An­nehm­lich­kei­ten des Le­bens lieb­te. Die Nel­ke im Knopf­loch wipp­te, und er war in bes­ter Stim­mung. Er hat­te auch al­len Grund, zu­frie­den zu sein – die Ju­we­len der Mrs. van Ris­sik wa­ren gut ver­kauft, und nie­mand im wei­ten Um­kreis Lon­d­ons wuß­te et­was von sei­ner Tat, denn er ar­bei­te­te al­lein.

Als er auf dem Trot­toir stand und auf ein Auto war­te­te, trat ein großer, stäm­mi­ger Mann hin­ter ihn und nahm ihn lie­bens­wür­dig am Arm.

»Hal­lo, Lar­ry!«

Die lan­ge, graue Asche an Lar­rys Zi­gar­re fiel zu Bo­den – dies war aber auch das ein­zi­ge Zei­chen sei­ner plötz­li­chen Ver­wir­rung.

»Hal­lo, In­spek­tor!« rief er mit dem ge­win­nends­ten Lä­cheln. »Freue mich, daß ich Sie wie­der mal tref­fe!«

Es klang ganz na­tür­lich und über­zeu­gend. Lar­ry hat­te, kaum den Kopf be­we­gend, blitz­schnell nach bei­den Sei­ten ge­blickt und in nächs­ter Nähe drei an­de­re Her­ren er­kannt, die den glei­chen Be­ruf wie Po­li­zei­in­spek­tor El­ford aus­üb­ten. Er nahm des­halb sein Schick­sal mit stoi­scher Ruhe hin und stieg mit den De­tek­ti­ven ins Auto. Un­ter­wegs rauch­te und plau­der­te er ge­las­sen, bis der Wa­gen die enge Ein­fahrt von Scot­land Yard pas­sier­te und vor der Can­non Row Po­li­zei­sta­ti­on hielt.

Die Ver­hand­lun­gen und Fest­stel­lun­gen dau­er­ten nicht lan­ge. Auf Lar­ry Grae­mes Ge­sicht lag ein me­lan­cho­li­sches Lä­cheln. Schwei­gend hör­te er zu, als ihm die An­kla­ge vor­ge­le­sen wur­de.

»Ich woh­ne in Clay­bu­ry Man­si­ons Num­mer 98«, sag­te er dann. »Es wäre sehr lie­bens­wür­dig, wenn Sie mir von dort einen an­dern An­zug be­sor­gen könn­ten – ich möch­te nicht gern wie ein Ober­kell­ner vor dem Un­ter­su­chungs­rich­ter er­schei­nen. Und, In­spek­tor El­ford, wäre es mög­lich, daß ich mal Bar­ra­bal spre­chen kann? Habe viel von ihm ge­hört, er soll sehr scharf sein, und da ist je­mand, dem ich es be­sor­gen möch­te!«

El­ford be­zwei­fel­te, ob Bar­ra­bal sich dazu be­reit fin­den wür­de, ver­sprach je­doch, den Wunsch wei­ter­zu­lei­ten. Als sich die Zel­len­tür hin­ter Lar­ry ge­schlos­sen hat­te, ging er hin­über ins Zen­tral­ge­bäu­de und such­te Che­f­in­spek­tor Bar­ra­bal auf, der, eine Pfei­fe im Mund, vor sei­nem Schreib­tisch saß. Er be­schäf­tig­te sich ge­ra­de mit ei­ni­gen Schrift­stücken, die er von der Ge­heim­re­gis­tra­tur an­ge­for­dert hat­te.

»Wir ha­ben Grae­me fest­ge­nom­men, Mr. Bar­ra­bal«, sag­te El­ford. »Er möch­te Sie gern spre­chen – ich sag­te ihm schon, daß we­nig Aus­sicht be­ste­he. Aber Sie wis­sen ja, wie die­se Leu­te sind!«

Der Che­f­in­spek­tor lehn­te sich auf dem Stuhl zu­rück und run­zel­te die Stirn.

»Wie, er hat nach mir ge­fragt? Scha­de –« mein­te er halb vor­wurfs­voll, »wie kommt er dar­auf?«

Bar­ra­bal, durch den schon man­cher Mis­se­tä­ter un­er­war­tet vor Ge­richt ge­stellt wor­den war, er­schi­en selbst nie auf der Zeu­gen­bank und blieb des­halb ziem­lich un­be­kannt. Selbst Zei­tungs­re­por­tern be­deu­te­te er nicht mehr als ein Name. Seit acht Jah­ren saß er in sei­nem Büro im drit­ten Stock zwi­schen Stö­ßen von Ak­ten. Er prüf­te und ver­glich die ver­schie­den­ar­tigs­ten Be­weis­stücke, be­schäf­tig­te sich mit kleins­ten De­tails und ent­le­gens­ten Hin­wei­sen. Auf die­se Wei­se hat­te er schon vie­le ge­ris­se­ne Tä­ter über­führt.

»Was soll ich ihm sa­gen?« er­kun­dig­te sich El­ford.

»Ich kom­me gleich mit.«

Bar­ra­bal folg­te dem In­spek­tor, um den miß­mu­ti­gen Lar­ry Grae­me zu be­su­chen, der in sei­nem ele­gan­ten Ge­sell­schafts­an­zug mit der wel­ken Nel­ke im Knopf­loch eine et­was son­der­ba­re Fi­gur mach­te.

Lar­ry, der schon vie­le Po­li­zei­be­am­te in Eng­land und in Ame­ri­ka ken­nen­ge­lernt hat­te, be­grüß­te ihn mit ge­zwun­ge­nem Lä­cheln.

»Ich freue mich, Ihre Be­kannt­schaft zu ma­chen, Herr Che­f­in­spek­tor. Sie ha­ben mich ge­schnappt. Mein Fall wird Ih­nen kei­ne große Mühe be­rei­ten. In mei­nem Kof­fer im Shel­ton-Ho­tel fin­den Sie ge­nug, um mich ein paar­mal zu über­füh­ren. Zu große Ver­trau­ens­se­lig­keit ist im­mer mei­ne Schwä­che ge­we­sen.«

Bar­ra­bal er­wi­der­te nichts, son­dern war­te­te auf die Fra­ge, die un­wei­ger­lich kom­men muß­te.

»Wer hat mich an­ge­zeigt, Che­f­in­spek­tor? Ich möch­te nur dies eine er­fah­ren, be­vor ich im Ge­fäng­nis ver­schwin­de. Ich muß wis­sen, wer der ›Zin­ker‹ ist, der mich ver­pfif­fen hat!«

Bar­ra­bal sag­te noch im­mer nichts.

»Es gibt nur drei Leu­te, die es ge­we­sen sein könn­ten.« Lar­ry zähl­te sie an den Fin­gern auf. »Ich möch­te kei­ne Na­men nen­nen, aber da ist ers­tens der Mann, der die Sa­chen ge­kauft hat – der hält dicht. Num­mer zwei ist zwar schlecht auf mich zu spre­chen, treibt sich aber jetzt ir­gend­wo in Frank­reich her­um und kommt gleich­falls nicht in Fra­ge. Bleibt also als drit­ter nur der Kerl mit dem ge­spal­te­nen Na­gel, der mir fünf­zehn­hun­dert für die Sa­che ge­bo­ten hat, die doch min­des­tens zwölf­tau­send wert ist – frei­lich habe ich nicht da­mit ge­rech­net, daß der mich kennt!«

»Nun gut, wenn Sie schon so be­han­delt wor­den sind, dann ver­zin­ken Sie doch selbst! Wer ist der Kerl mit dem ge­spal­te­nen Na­gel?«

Lar­ry grins­te.

»Sol­len sol­che Krea­tu­ren ver­zin­ken, wenn es ih­nen Spaß macht – ich je­den­falls bin mir zu gut dazu. Was ich fra­gen woll­te, Che­f­in­spek­tor – es hat wohl noch nie einen Po­li­zei­be­am­ten ge­ge­ben, der einen Zin­ker preis­ge­ge­ben hät­te?«

Bar­ra­bal nick­te kaum merk­lich.

»Sie glau­ben also, daß ei­ner der drei Heh­ler Sie an­ge­zeigt hat? Sa­gen Sie mir die drei Na­men, ich gebe Ih­nen mein Wort, daß ich Ih­nen den rich­ti­gen be­stä­ti­ge, wenn Sie ihn nen­nen.«

Lar­ry sah ihn spöt­tisch an.

»Ich kann ja nicht drei ver­ra­ten, wenn es nur um einen geht. Nie­mand weiß das bes­ser als Sie! Au­ßer­dem sag­te ich Ih­nen be­reits, daß nur der drit­te in Fra­ge käme.«

Der Che­f­in­spek­tor strich über sei­nen klei­nen schwar­zen Schnurr­bart.

»Ich habe Ih­nen eine Chan­ce ge­ge­ben. Vi­el­leicht be­su­che ich Sie mor­gen noch mal, be­vor Sie ins Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis ge­bracht wer­den. Sie wür­den nur gut dar­an tun, wenn Sie mir im Ver­trau­en die Na­men an­ge­ben wür­den.«

»Ich will erst die Nacht dar­über schla­fen«, ant­wor­te­te Lar­ry.

Bar­ra­bal ging in sein Büro zu­rück, schloß den Stahl­schrank auf und nahm eine Kas­set­te her­aus, die zahl­rei­che ma­schi­nen­ge­schrie­be­ne Pa­pier­strei­fen ent­hielt. Ganz of­fen­sicht­lich wa­ren alle mit der glei­chen Ma­schi­ne ge­schrie­ben wor­den. Manch­mal stan­den nur ein paar Zei­len dar­auf, zu­wei­len auch lan­ge Be­rich­te. Je­der die­ser Zet­tel war eine an­ony­me An­zei­ge. Ir­gend­wo in Lon­don gab es einen Mann, der die Heh­le­rei in ganz großem Maß­stab be­trieb und in je­dem Distrikt der Stadt Agen­ten ha­ben muß­te. Bei je­der schmut­zi­gen Sa­che hat­te er die Hand im Spiel, und die­se vie­len klei­nen Zet­tel wa­ren die Ra­che da­für, daß die Die­be ihre Beu­te nicht ihm, son­dern an­de­ren ver­kauft hat­ten.

Er nahm das obers­te Pa­pier auf.

»Lar­ry Grae­me hat die Ju­we­len der Mrs. van Ris­sik ge­raubt. Als Aus­hilfs­die­ner ver­schaff­te er sich bei ei­nem großen Empfang Ein­tritt in ihr Haus. Die Stei­ne ver­kauf­te er an Mo­ro­po­los, einen grie­chi­schen Ju­we­lier in Brüs­sel. Nur die eine Dia­man­ten-Stern­bro­sche, die in Grae­mes Kof­fer im Shel­ton Ho­tel liegt, woll­te Mo­ro­po­los nicht kau­fen, weil sie aus röt­li­chen Dia­man­ten be­steht; er fürch­te­te, daß sie zu leicht er­kannt wer­den könn­te.

P.S. Die Stern­bro­sche be­fin­det sich im Ge­heim­fach des Kof­fers.«

Kei­ne Un­ter­schrift. Das glei­che Pa­pier wie bei al­len an­dern an­ony­men An­zei­gen, die man bis­her in Scot­land Yard er­hal­ten hat­te.

Der Che­f­in­spek­tor schau­te mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen auf das Blatt und strich da­bei wie­der me­cha­nisch über sei­nen Schnurr­bart.

»Zin­ker, ich wer­de dich noch er­wi­schen!« sag­te er halb­laut zu sich selbst.

Kapitel 3

Zwei Jah­re und sechs Mo­na­te wa­ren ver­gan­gen, seit Lar­ry Grae­me, er­staunt dar­über, nicht mehr als drei Jah­re Zucht­haus er­hal­ten zu ha­ben, sich fast dank­bar vor dem Rich­ter ver­neigt hat­te.

Die Blät­ter im Park färb­ten sich herbst­lich.

Zwei Men­schen spa­zier­ten auf dem ge­pfleg­ten Weg, der die brei­te Stra­ße zwi­schen Mar­ble Arch und Hyde Park Cor­ner säumt. Die Son­ne strahl­te, doch von Os­ten blies ein schar­fer Wind, und eine Käl­te lag in der Luft, die den kom­men­den Win­ter an­kün­dig­te.

Cap­tain Les­lie war et­was über vier­zig und von kräf­ti­ger Ge­stalt. Auf den ers­ten Blick wirk­te sein ju­gend­lich fri­sches Ge­sicht be­deu­tend jün­ger, und erst bei ge­nau­e­rem Hin­se­hen wur­de die­ser Ein­druck durch das Grau, das sich in sein schwar­zes Haar misch­te, wie­der kor­ri­giert.

»Man muß se­hen, wie man durch­kommt«, sag­te er ge­ra­de. »Gute Stel­len sind nicht mehr so leicht zu ha­ben wie vor dem Krieg, und au­ßer­dem ist es ja wirk­lich kein schlech­ter Pos­ten.«

»Trotz­dem, es ist nicht das Rich­ti­ge für Sie, Cap­tain Les­lie«, wi­der­sprach Be­ryl Sted­man zö­gernd. »Aber noch et­was an­de­res kann ich nicht ver­ste­hen. Ich möch­te Sie na­tür­lich nicht be­lei­di­gen, wenn ich es Ih­nen sage –.«

»Ich bin nicht so leicht be­lei­digt. Nur los!«

»Frank er­zählt, daß Sie im Ge­schäft we­nig be­liebt sind, und das kann ich nicht ver­ste­hen – aber bit­te, sa­gen Sie ihm nicht, daß ich mit Ih­nen dar­über ge­spro­chen habe.«

»Ja, es stimmt schon, ich bin we­nig be­liebt – ver­flucht we­nig. In ge­wis­ser Be­zie­hung bin ich das ge­naue Ge­gen­stück zu Ihrem Ver­lob­ten, Miss Sted­man. Frank Sut­ton hat es her­aus, sich die Ver­eh­rung sei­nes Per­so­nals zu si­chern. Es macht mir im­mer Spaß, zu se­hen, wie ihn sei­ne Leu­te be­grü­ßen. Man könn­te sa­gen, daß sie vor ihm auf den Kni­en lie­gen, wenn er mor­gens ins Ge­schäft komm­t…«

»Das ist nicht nett von Ih­nen!« rief sie ta­delnd.

»Ich habe nicht die Ab­sicht, un­lie­bens­wür­dig zu sein. Es ist nur amüsant – nein, lehr­reich ist ein bes­se­rer Aus­druck. Wenn Frank Sut­ton sei­ne Leu­te bit­ten wür­de, für ihn eine gan­ze Wo­che lang die Näch­te durch­zu­ar­bei­ten, glau­be ich be­stimmt, daß sie es noch als große Gna­de an­se­hen wür­den! Be­hal­te ich sie aber fünf Mi­nu­ten über Ge­schäfts­schluß da, gibt es Aufruhr und Re­vo­lu­ti­on!« Er lach­te lei­se. »Nur ei­ner von den An­ge­stell­ten scheint mich ei­ni­ger­ma­ßen zu mö­gen – ein ge­wis­ser Till­man. Al­ler­dings ist er auch erst seit vier­zehn Ta­gen im Büro, und ich bin auch nicht si­cher, ob das In­ter­es­se, das er an mir nimmt, so ganz ohne Hin­ter­ge­dan­ken ist. Sonst ist da nur noch…« Er schwieg.

»Nun, wer be­wun­dert Sie denn sonst noch?« frag­te sie iro­nisch.

»Ich weiß nicht – Sut­tons Se­kre­tä­rin ist ganz nett zu mir. Das heißt, sie kommt mir we­nigs­tens freund­lich ent­ge­gen. Vi­el­leicht ist sie auch schon so lan­ge in Frank Sut­tons Diens­ten, daß ihr sei­ne ewi­ge Güte und Freund­lich­keit lang­wei­lig ge­wor­den sind!«

»Jetzt wer­den Sie aber wirk­lich schreck­lich!«

»Ich weiß.«

Als John Les­lie Be­ryl Sted­man zum ers­ten­mal sah, emp­fand er das glück­li­che Ge­fühl der Er­leich­te­rung und Er­lö­sung, end­lich ge­fun­den zu ha­ben, wo­nach er sich schon im­mer ge­sehnt hat­te. Sie war sehr hübsch. Als Les­lie er­fuhr, daß sie die Braut sei­nes Chefs war und bald hei­ra­ten wür­de, war sei­ne Be­stür­zung groß.

Frank Sut­ton, ein statt­li­cher Mann in den bes­ten Jah­ren, be­saß eine un­beug­sa­me Ener­gie und stand im Rufe, ein un­er­müd­li­cher Ar­bei­ter zu sein. Trotz sei­ner vie­len Er­fol­ge blieb er per­sön­lich im­mer lie­bens­wür­dig. In sei­nen Bü­ros in Cal­ford Cham­bers wur­de flei­ßig ge­ar­bei­tet. Er lei­te­te eine Ex­port­fir­ma und ver­schmäh­te kei­nen Auf­trag, wenn er auch noch so klein war.

Er­folg­rei­che Leu­te mit un­beug­sa­mer Ener­gie sind sel­ten bei ih­ren An­ge­stell­ten be­liebt. Frank Sut­ton da­ge­gen wur­de von sei­nen Leu­ten ver­göt­tert. Sein wohl­wol­len­des Lä­cheln, mit dem er sie bei Er­fol­gen auf­mun­ter­te und bei Mi­ßer­fol­gen trös­te­te, ge­wann ihm alle Her­zen. Wenn er durch die Räu­me ging, über­trug sich et­was von sei­ner Tat­kraft auf das Per­so­nal, und wenn er je­man­dem die Hand gab, war es für den Be­tref­fen­den ein zu­sätz­li­cher Ansporn.

»Ich wünsch­te, er wäre nicht ganz so voll­kom­men.« Be­ryl Sted­man seufz­te. »Ken­nen Sie üb­ri­gens einen Mann na­mens Bar­ra­bal, einen hö­he­ren Po­li­zei­of­fi­zier von Scot­land Yard?« frag­te sie un­ver­mit­telt.

»Nicht per­sön­lich, nie­mand kennt ihn ge­nau, aber ich habe viel von ihm ge­hört. Neu­lich wur­de sein Name in der Zei­tung er­wähnt. Wa­rum fra­gen Sie?«

»Frank sprach ges­tern abend von ihm. Er frag­te Mr. Fried­man, ob er ihn ken­ne. Frank ist näm­lich der Mei­nung…« Sie zö­ger­te. Wie­der schi­en sie zu be­fürch­ten, einen Ver­trau­ens­bruch zu be­ge­hen, aber dann sprach sie rasch wei­ter. »Es sind näm­lich ein oder zwei Pa­ke­te im Ge­schäft ver­schwun­den, aber das wis­sen Sie ja, und Frank be­ab­sich­tig­te, Mr. Bar­ra­bal zu be­nach­rich­ti­gen. Oder ha­ben Sie nichts da­von er­fah­ren?«

»Ich wuß­te es bis jetzt noch nicht«, ant­wor­te­te Les­lie nach­läs­sig. »Aber ich glau­be kaum, daß Bar­ra­bal sich da­mit be­schäf­ti­gen wür­de. Er ge­hört nicht zu der Sor­te von Be­am­ten, die ihre Zeit da­mit ver­geu­den, klei­ne Dieb­stäh­le auf­zu­de­cken. – Se­hen Sie, dort kommt je­mand, der nicht gut auf mich zu spre­chen ist.«

Zwei Her­ren, bei­de ziem­lich groß, ka­men ih­nen ent­ge­gen. Lew Fried­man wirk­te durch sei­ne ge­beug­te Hal­tung et­was klei­ner. Er war ein Mann mit har­ten Ge­sichts­zü­gen, ei­ner Ad­ler­na­se, großem, ge­ra­dem Mund und aus­ge­präg­tem Kinn. Man sah ihm an, daß er sich im Le­ben schwer her­um­ge­schla­gen hat­te. Sein Beglei­ter war jung, hübsch, blond und blau­äu­gig. Beim An­blick von Be­ryl und John Les­lie lä­chel­te er, wo­bei sei­ne ta­del­los wei­ßen Zäh­ne sicht­bar wur­den. Mr. Fried­man da­ge­gen zeig­te sich we­ni­ger lie­bens­wür­dig. Er zog die Stir­ne kraus und schau­te auf die jun­ge Dame.

»Ich dach­te, du wärst bei Mrs. Mor­den zu Tisch ge­la­den, Be­ryl?« er­kun­dig­te er sich schroff.

»Ich traf Cap­tain Les­lie in der Ox­ford Street.«

»Na­tür­lich zu­fäl­lig? Na gut.« Er wand­te sich John Les­lie zu. »Sie ha­ben an­schei­nend nicht über­mä­ßig viel zu tun, Les­lie?«

»Nicht be­son­ders viel«, ant­wor­te­te John kühl.

Frank Sut­ton hat­te die Sze­ne amü­siert ver­folgt.

»In mei­nem Ge­schäft braucht sich auch nie­mand tot­zu­ar­bei­ten. Je­der, der einen klei­nen Spa­zier­gang ma­chen will, hat Zeit dazu – nicht wahr, Les­lie?« Er zwin­ker­te sei­ner Braut zu. »Laß dich vom al­ten Lew bloß nicht ein­schüch­tern, Be­ryl! Er bil­det sich stän­dig ein, daß je­der­mann mit dir durch­bren­nen will!«

Er stieß Lew mit dem Ell­bo­gen an und lach­te. Doch Mr. Fried­man war durch­aus nicht be­lus­tigt. Es ent­stand eine pein­li­che Pau­se, bis Sut­ton Les­lie am Arm nahm.

»Sie brau­chen mich nicht mehr, Lew, und ich bin si­cher, daß auch Les­lie hier nicht mehr be­nö­tigt wird!«

John ver­such­te noch einen Blick Be­ryls zu er­ha­schen, aber aus ir­gend­ei­nem Grund hat­te sie sich ver­wir­ren las­sen, und so ging er ne­ben sei­nem Chef den Weg zu­rück, den er ge­kom­men war. Sut­ton zeig­te sich ge­sprä­chig und äu­ßerst lie­bens­wür­dig. Er ließ sich weit­schwei­fig dar­über aus, welch eng­her­zi­ge Vor­ur­tei­le alte Leu­te im all­ge­mei­nen doch hät­ten.

»Das Merk­wür­di­ge da­bei ist, daß Lew Fried­man Sie ganz gern hat – das heißt, wenn er Sie al­lein trifft, denn er nimmt an, daß Sie eine Art Don Juan sind. Fried­man ist nun mal arg­wöh­nisch, und es ist ganz sinn­los, da­ge­gen an­zu­kämp­fen.«

Les­lie nahm eine Zi­ga­ret­te aus sei­nem Etui und drück­te sie zu­recht. Ein schwa­ches Lä­cheln spiel­te um sei­nen Mund.

»Und Sie selbst – ha­ben Sie denn nichts da­ge­gen, wenn ich Miss Sted­man ge­le­gent­lich tref­fe?«

Selt­sa­mer­wei­se mach­te er kei­ner­lei Ver­such, sich zu ent­schul­di­gen oder we­nigs­tens die Harm­lo­sig­keit sei­ner Zu­sam­men­künf­te mit Be­ryl zu be­teu­ern.

Frank Sut­ton zuck­te die Ach­seln.

»Gro­ßer Gott, nein, ich habe nichts da­ge­gen! Ich sehe die Sa­che so – in den letz­ten zehn Jah­ren ha­ben Sie in­fol­ge un­glück­li­cher Um­stän­de kei­ne Ge­le­gen­heit ge­habt, hüb­sche Frau­en zu se­hen, und ich glau­be, daß Ih­nen der An­blick ei­nes schö­nen Mäd­chens ganz gut­tut. Sie ha­ben doch nichts da­ge­gen, wenn ich so of­fen mit Ih­nen spre­che? Sie sind für mich eben ein Ex­pe­ri­ment – ich ma­che stets Ex­pe­ri­men­te. Die meis­ten sind un­güns­tig für mich aus­ge­gan­gen. Ich möch­te Sie – ich will nicht sa­gen, bes­sern, das klingt zu pe­dan­tisch, viel­leicht hei­len. Aber hal­be Maß­nah­men lie­gen mir nicht, ich muß eine Sa­che ganz durch­füh­ren.« Er sprach eif­rig, ganz na­tür­lich, in sei­nem Ton lag kei­ne Spur von Be­vor­mun­dung. »Be­ryl ist schön. Es ist ganz klar, daß auch an­de­re das so emp­fin­den müs­sen. Doch ich bin kein Pa­scha, der glaubt, daß Frau­en in Ge­gen­wart an­de­rer Män­ner sich nur ver­schlei­ert zei­gen dür­fen. Mei­ner Mei­nung nach kann ein Mäd­chen nicht ge­nug Män­ner ken­nen­ler­nen. Das habe ich auch dem al­ten Lew ge­sagt, aber er ist eben ein alt­mo­di­scher Men­sch…«

Er äu­ßer­te sich wei­ter in die­ser Wei­se, bis sie zur Ox­ford Street ka­men. Dort war­te­te sein Wa­gen. Auch auf der Fahrt zum Büro ver­brei­te­te er sich noch über die­ses The­ma.

Die Bü­ro­räu­me der Fir­ma Frank Sut­ton & Co. nah­men drei Stock­wer­ke in ei­nem Eck­haus in der Nähe des Midd­le­sex-Ho­spi­tals ein. Es war eine Ge­schäfts­s­tra­ße, die mit der Ox­ford Street par­al­lel lief. Mr. Sut­ton hat­te vor sechs Jah­ren ganz klein an­ge­fan­gen und be­saß nun ein gut­ge­hen­des Ex­port­ge­schäft und Nie­der­las­sun­gen in al­ler Welt. Ein großer Wa­ren­spei­cher in der Nähe der East In­dia Docks ge­hör­te ihm. Im Ge­gen­satz zu den meis­ten Ex­por­teu­ren, die sich auf ein Spe­zi­al­ge­biet be­schränk­ten, be­faß­te sich Frank Sut­ton mit den ver­schie­den­ar­tigs­ten Wa­ren und Ge­schäf­ten.

Er sprach ge­ra­de über die ra­pi­de Aus­deh­nung sei­ner Fir­ma, als sie den Kor­ri­dor ent­lang­gin­gen, an dem ihre Bü­ros la­gen.

»Sie ha­ben hier bei mir eine große Chan­ce, Les­lie, wenn Sie die Sa­che nur mit der nö­ti­gen Ener­gie und Um­sicht an­pa­cken…« Plötz­lich än­der­te er sei­nen Ton und sah ihn scharf an. »Aber Sie müs­sen mir ge­gen­über of­fen sein!«

»Ich ver­ste­he Sie nicht ganz«, er­wi­der­te John Les­lie und sah ihm di­rekt in die Au­gen.

»Und ich ver­ste­he Sie nicht! Ich möch­te gern mehr von Ih­nen wis­sen, als ich jetzt weiß. Wo brin­gen Sie Ihre Näch­te zu? Was trei­ben Sie au­ßer­halb mei­nes Ge­schäf­tes? Ich habe ein großes Ri­si­ko auf mich ge­nom­men, als ich Sie en­ga­gier­te. Lew Fried­man weiß das noch gar nicht. Sie ver­ste­cken ir­gend et­was vor mir, und ich möch­te wis­sen, was.«

Les­lie ant­wor­te­te nicht gleich, sah eine Wei­le zu Bo­den und lach­te dann.

»Ich dach­te, Sie wüß­ten ge­nug von mir. Aber da Sie so furcht­bar neu­gie­rig sind, muß ich Ih­nen ja wohl mei­ne Lieb­ha­be­rei­en beich­ten. Ich kau­fe näm­lich Din­ge sehr bil­lig ein und ver­kau­fe sie teu­er. Und wenn ich ge­ra­de Zeit habe, be­nüt­ze ich sie dazu, an­de­re Leu­te zu ver­zin­ken.«

Frank Sut­ton sah sei­nen Beglei­ter ver­blüfft an.

»Sie kau­fen Din­ge bil­lig ein und ver­kau­fen sie teu­er?« wie­der­hol­te er lang­sam. »Und Sie be­nüt­zen Ihre freie Zeit dazu, an­de­re zu ver­zin­ken? Ich ver­ste­he Sie nicht.«

»Das glau­be ich. Sie hat­ten eben nicht mei­ne Er­zie­hung!«

Sut­ton wech­sel­te eben­so schnell, wie er ernst ge­wor­den war, die Un­ter­hal­tung wie­der ins ver­gnügt Un­ver­bind­li­che.

»Sie sind mir ein Rät­sel. Ich habe noch nie einen Men­schen wie Sie ge­trof­fen. Ich will nicht ein­mal fra­gen, was das hei­ßen soll, daß Sie an­de­re ver­zin­ken – es klingt so, als ob es et­was sehr Nie­der­träch­ti­ges wäre.«

»Ich bin nie­der­träch­tig«, er­klär­te Les­lie, »und zwar in ei­nem Aus­maß, daß ich Mr. Lew Fried­man voll­kom­men recht ge­ben muß. Wenn ich an Ih­rer Stel­le wäre, Mr. Sut­ton, und Sie wä­ren an mei­ner, wür­de ich Ih­nen ver­bie­ten, mit Miss Be­ryl Sted­man zu­sam­men­zu­kom­men. Wenn ich Frank Sut­ton wäre, wür­de ich wahr­schein­lich John Les­lie sein Ge­halt aus­zah­len und ihm die Tür wei­sen. Sie han­del­ten nicht sehr klug – ver­zei­hen Sie die Of­fen­heit –, als Sie mich en­ga­gier­ten. Sie sind aber auch in Ih­rer Art ganz ein­zig­ar­tig!«

Frank lach­te, als ob er sich des­sen voll­kom­men be­wußt wäre.

»Mög­li­cher­wei­se war es nicht sehr klug von mir«, mein­te er und frag­te un­ver­mit­telt: »Was macht ei­gent­lich die­ser Till­man bei uns?«

Les­lie blieb ei­ni­ge Schrit­te vor sei­ner Bü­ro­tür ste­hen. Frank Sut­ton strich sich über das Kinn.

»Ich weiß nicht – er ist eben­so merk­wür­dig und son­der­bar wie Sie. Ich war ei­gent­lich et­was miß­trau­isch, aber an sei­nen Zeug­nis­sen und Emp­feh­lun­gen gab es nichts aus­zu­set­zen. Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir Ihre Mei­nung über ihn sag­ten.«

»Wenn Sie ihn in ir­gend­ei­nem Ver­dacht ha­ben, wäre es doch das bes­te, ihn wie­der zu ent­las­sen.«

»Gut­mü­tig­keit war im­mer mei­ne Schwä­che. Der arme Kerl such­te eine Stel­le, und so en­ga­gier­te ich ihn. Ich möch­te ihn jetzt nicht gern auf die Stra­ße set­zen, nur weil mir sein Ge­sicht nicht sym­pa­thisch ist.«

Vom Gan­gen­de her rief je­mand Sut­ton et­was zu, und mit ei­ner kur­z­en Hand­be­we­gung eil­te er weg.

Les­lie öff­ne­te lei­se sei­ne Bü­ro­tür.

Das Auf­fallends­te in dem Büro war ein großer, in die Wand ein­ge­las­se­ner Geld­schrank. Au­ßer sei­nem ei­ge­nen um­fang­rei­chen stand noch ein klei­ne­rer Schreib­tisch dar­in, denn der Ge­schäfts­füh­rer teil­te den Raum mit der Pri­vat­se­kre­tä­rin Frank Sut­tons.

Als Les­lie ein­trat, war sie nicht zu­ge­gen – aber je­mand an­ders war da. Ein Mann neig­te sich über den großen Schreib­tisch und durch­such­te an­schei­nend die Pa­pie­re. Les­lie be­ob­ach­te­te ihn einen Mo­ment.

»Ha­ben Sie et­was ver­lo­ren, Till­man?«

Der An­ge­spro­che­ne fuhr schnell her­um. Auf sei­nem ha­ge­ren, ge­bräun­ten Ge­sicht zeig­te sich Be­stür­zung.

»Ja, ich habe eine Rech­nung ver­legt.«

»Wie lan­ge sind Sie ei­gent­lich schon in der Fir­ma?«

Till­man sah mit hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en zur De­cke, als ob er über­le­gen müß­te. Er war etwa in Les­lies Al­ter und hat­te ei­sen­grau­es Haar.

»Ei­nen Mo­nat«, sag­te er.

»Und in die­ser Zeit habe ich Sie nun schon zwei­mal da­bei über­rascht, daß Sie mei­ne Pa­pie­re durch­su­chen. Ich glau­be nicht, daß wir noch lan­ge zu­sam­men­ar­bei­ten wer­den.«

Um Till­mans Lip­pen zuck­te ein Lä­cheln.

»Das wür­de mir leid tun, denn ich hoff­te, daß wir uns bes­ser ken­nen­ler­nen könn­ten.«

Les­lie ging schnell die Pa­pie­re durch, die auf dem Tisch la­gen, aber er fand nichts von Be­deu­tung dar­un­ter. Die Schub­la­den, in de­nen er wich­ti­ge Do­ku­men­te auf­hob, wa­ren fest ver­schlos­sen. Er hielt es für bes­ser, das The­ma zu wech­seln.

»War je­mand hier?«

Till­man sah ihn nicht an. Das war auch eine sei­ner Ei­gen­tüm­lich­kei­ten, wie geis­tes­ab­we­send auf einen Punkt zu star­ren.

»Ja, ein Mr. Grae­me war hier – Mr. Lar­ry Grae­me.«

Till­man sah Les­lie vor­sich­tig von der Sei­te an und be­merk­te, wie sein Ge­sicht sich ver­fins­ter­te.

»Grae­me? Was woll­te denn der?«

»Ich ver­mu­te, daß er Sie spre­chen woll­te. Es schi­en et­was sehr Drin­gen­des zu sein. Er sag­te, daß er um sechs Uhr wie­der­kom­men wol­le. Er be­nahm sich nicht be­son­ders zu­rück­hal­tend, und al­len An­zei­chen nach schloß ich, daß er eben aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wur­de. Ken­nen Sie ihn?«

»Ober­fläch­lich.« Plötz­lich fuhr Les­lie auf: »Was, zum Teu­fel, bil­den Sie sich ein, mich hier aus­zu­fra­gen?« Mit ei­ner Kopf­be­we­gung wies er zur Tür. »Und wenn ich Sie noch­mals da­bei er­wi­sche, daß Sie hier her­um­spio­nie­ren, las­se ich Sie au­gen­blick­lich an die Luft set­zen! Ha­ben Sie mich ver­stan­den?«

Till­mans Ge­sicht ver­zog sich zu ei­nem Grin­sen.

»Das wür­de eine sen­sa­tio­nel­le Er­fah­rung für mich be­deu­ten«, er­wi­der­te er und war im nächs­ten Au­gen­blick schon drau­ßen.

Als er al­lein war, wur­de sich Les­lie der merk­wür­di­gen Si­tua­ti­on be­wußt und lach­te lei­se vor sich hin.

Sut­tons Se­kre­tä­rin war an die­sem Nach­mit­tag nicht im Dienst, und er hat­te das Büro für sich al­lein. Ob­gleich ge­nug Ar­beit auf ihn war­te­te, setz­te er sich doch nicht an den Schreib­tisch. Alle paar Mi­nu­ten ging er zum Fens­ter und be­ob­ach­te­te die Stra­ße. Als es zu dun­keln an­fing und die ers­ten Stra­ßen­la­ter­nen an­ge­zün­det wur­den, ent­deck­te er den Mann, den er er­war­te­te. Er konn­te ihn deut­lich se­hen. Lar­ry Grae­me stand un­ter ei­ner La­ter­ne, Zi­gar­re im Mund, die Hän­de in den Ta­schen. Im­mer wie­der kehr­te Les­lie zum Fens­ter zu­rück, aber Grae­me ver­ließ sei­nen Pos­ten nicht.

Kapitel 4

Lar­ry Grae­me war ein Dieb, der sei­ne Ge­schäf­te al­lein, ohne die Mit­hil­fe an­de­rer be­trieb. Als er an ei­nem rau­en Fe­bruar­mor­gen aus Dart­moor ent­las­sen wur­de, ging er so­fort zu sei­ner Woh­nung in Southwark, die er in bes­ter Ord­nung vor­fand. Sie be­fand sich in ei­nem Häu­ser­block, ei­ni­ge hun­dert Me­ter von der Do­ver Street ent­fernt, in dem teils il­lus­t­re und wohl­ha­ben­de Leu­te wohn­ten. Auch der große Bar­ra­bal wuß­te nichts von die­sem Schlupf­win­kel, sonst hät­te er si­cher ver­mu­tet, daß in die­ser Woh­nung ver­steckt ein re­spek­ta­bles Re­ser­ve­ka­pi­tal den Heim­keh­rer er­war­te­te.

Die Haus­meis­te­rin be­grüß­te ihn gleich­gül­tig; sie war an Mr. Grae­mes häu­fi­ge Ab­we­sen­heit schon ge­wöhnt. Da er sein Geld gut an­zu­le­gen ver­stand und eine Hy­po­thek auf dem Haus be­saß, konn­te ihm die Woh­nung nicht ge­kün­digt wer­den.

Auch dies­mal fand er al­les so, wie er es ver­las­sen hat­te. Nicht ein­mal eine Zi­gar­re war aus der Ze­dern­holz­kis­te auf dem Ka­min­sims ver­schwun­den.

Fürs ers­te in­ter­es­sier­te er sich we­ni­ger für das in ei­ner Kas­set­te auf­be­wahr­te Geld als für sei­ne Brow­ning­pis­to­le und die Schach­tel Pa­tro­nen, denn er war mit ei­nem Plan aus dem Ge­fäng­nis zu­rück­ge­kom­men. Der Auf­ent­halt hat­te ihm dies­mal sehr zu­ge­setzt. Er war zu alt für das Ge­fäng­nis ge­wor­den. Die Wär­ter wa­ren we­nig lie­bens­wür­dig, zwei­mal hat­ten sie ihn ab­ge­faßt, als er sich Ta­bak ver­schaf­fen woll­te. Man be­schäf­tig­te ihn im Wasch­haus des Ge­fäng­nis­ses, und ob­gleich er ein ru­hi­ger und eher phi­lo­so­phi­scher Mensch war, wur­de sein Haß durch den Klatsch, den er dort hör­te, im­mer wie­der aufs neue an­ge­sta­chelt.

Im Wasch­haus be­geg­ne­te er ei­nem Mann, der ge­nau wie er auf Grund ei­ner an­ony­men An­zei­ge des ›Gro­ßen Un­be­kann­ten‹ zu zehn Jah­ren ver­ur­teilt wor­den war. Aber nie­mand au­ßer Lar­ry wuß­te von dem ge­spal­te­nen Na­gel. Die­ses Ge­heim­nis be­hielt er auch für sich. Es tat ihm jetzt leid, daß er Bar­ra­bal da­von er­zählt hat­te.

Er kam nach Lon­don zu­rück, grü­bel­te, über­leg­te, dach­te an den Zin­ker und an die Brow­ning­pis­to­le.

Ei­nen An­halts­punkt hat­te er – den ge­spal­te­nen Na­gel am drit­ten Fin­ger. Dazu kam noch et­was an­de­res. Der Zin­ker kauf­te in großem Stil ge­stoh­le­ne Au­tos und ließ sei­ne Ge­schäf­te durch Zwi­schen­händ­ler in Soho ab­wi­ckeln. Lar­ry streif­te durch Soho und be­ob­ach­te­te. Durch Zu­­­­­­­­­­­­­­­­­­­