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Gewöhnlicher Alltag außergewöhnliche Gnade

Scott Hahn

Gewöhnlicher Alltag
außergewöhnliche Gnade

Mein geistlicher Weg
ins Opus Dei

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Aus dem Amerikanischen von
Petra Lorleberg

Inhalt

Für Joseph Paul Karl Hahn

Kapitel 1

Eine persönliche Vorbemerkung

Wären doch dein Verhalten und deine Worte so,
dass jeder, der dich sieht oder mit dir spricht,
unwillkürlich dächte:
Der da beschäftigt sich mit dem Leben Jesu.
Der Weg, Nr. 2

Bisher war ich noch nicht einmal ein Möchtegern-Katholik – selbst davor hatte ich Angst. Als presbyterianischer Pastor hatte ich mir ein Sabbatjahr genommen, denn ich brauchte Zeit, um mein theologisches Wissen zu vertiefen, zu beten, nachzudenken. Im Laufe mehrerer Jahre – und sehr im Widerspruch zu meiner gründlichen calvinistischen und evangelikalen Ausbildung – hatte ich mich in eine katholische Denkweise hineingelesen. Je intensiver ich die Bibel sowie Theologie und Geschichte studierte und je mehr ich betete, um so unvermeidlicher zog es mich zum Katholizismus hin.

Allerdings kam meine Kenntnis des Katholischen hauptsächlich aus Büchern. Ich hatte meine Jahre seit der Teenager-Zeit im wesentlichen in begeisterten protestantischen Lebenswelten verbracht, zunächst als Student an einem kleinen Privat-College, dann an einem namhaften evangelikalen Seminar und schließlich als Pastor und Lehrer an kleinen Bekenntnisschulen und in Kirchengemeinden. Hier hatte ich freudige Jüngerschaft, inspirierende Leitung und glühende Gottesdienste erlebt.

Hingegen war (von Büchern abgesehen) mein Kontakt zu überzeugten Katholiken zu selten gewesen, um Früchte zu bringen. Die meisten dieser Begegnungen hatten in meinen Jugendjahren stattgefunden, und zwar mit jungen Leuten, die desinteressierte Christen waren wie ich selbst, bevor ich Jesus Christus als meinen Herrn und Retter akzeptierte.

Und nun befand ich mich als Erwachsener vollends in einer Glaubenskrise. Ich war frommer Protestant und ordinierter Pfarrer und doch fand ich die katholischen Argumente mehr als überzeugend, ja, um genau zu sein: ich fand sie einfach zwingend.

Ich hatte die Qual der Wahl und musste mich entscheiden zwischen dem, was mir in meiner protestantischen Vergangenheit lieb und teuer geworden war, und dem, was ich vom katholischen Glauben zu verstehen begann. Unter den evangelikalen Christen hatte ich tiefe Hingabe an Jesus Christus gefunden, Demut und Leichtigkeit im Gebetsleben, eine erstaunliche Arbeitsethik, wahren Eifer, die Kultur zu christianisieren, und ein leidenschaftliches Interesse an der Heiligen Schrift. Gerade diese letzte Eigenschaft war ganz wichtig für mich, den Prediger und jungen Bibeltheologen. Was ich jedoch an der katholischen Lehre schätzte, waren ihre überwältigende Stimmigkeit, Authentizität und Kraft.

Es war die Bibel selbst gewesen, die mich in diese Krise geführt hatte. Anfangs wollte ich die »Bundestheologie« der frühen Reformatoren verstehen. Dabei entdeckte ich, dass die Reformatoren – besonders Johannes Calvin und Martin Luther – in ihrer Lehre weitaus katholischer waren als ihre modernen Nachfahren. Calvin und Luther führten mich zu speziellen Schriftstellen, welche die Sakramente, die kirchliche Hierarchie und Maria behandelten. Doch ebenso wichtig war es, dass mich Calvin und Luther zu den Kirchenvätern führten, jenen ältesten Kommentatoren der Heiligen Schrift. Und sie waren es, die mir zu einem Kirchenverständnis verhalfen, das ich eben nur als katholisch verstehen konnte. Es war liturgisch, hierarchisch, sakramental. Obwohl katholisch, enthielt es doch alles, was ich an der reformatorischen Tradition ebenfalls liebte: tiefe Verehrung für Jesus, spontanes Gebetsleben, großen Eifer, die Kultur nachhaltig zu prägen, sowie eine brennende Liebe zur Bibel.

Doch weiterhin existierte die Kirche für mich nur zwischen den Seiten der staubigen Bücher, die ich las. Wo, so wollte ich wissen, wo waren die normalen katholischen Gläubigen, die auf diese Weise lebten?

Es zeigte sich, dass sie in Milwaukee auf mich warteten!

Immer zur Hand

Mit hochgespannten Hoffnungen und dennoch mit nicht allzu großen Erwartungen kam ich an die Marquette University für ein Aufbaustudium. Doch bald widerfuhr mir Gnade um Gnade. Ich traf einen freundlichen und brillanten Priester, der gewillt war, bis in den frühen Morgen mit mir über Theologie zu reden. Er erzählte mir von seiner Kindheit in einem polnisch-katholischen Elternhaus, in dem sich die Familienmitglieder mit Worten aus der Bibel zu begrüßen pflegten. Doch ein normaler Katholik, so sagte ich mir, war er wohl nicht. Er hatte an einer römischen Universität promoviert, eine Zeit lang als Offizial im Vatikan gearbeitet, und man munkelte (zu Recht, wie sich herausstellte), dass er im Begriff war, Bischof zu werden.

Dann begann ich, andere Katholiken kennen zu lernen – einer von ihnen war ein politischer Philosoph, ein anderer Zahnarzt –, die beide gleiche Eigenschaften zeigten. Am meisten beeindruckte mich, dass sie beide eine kleine Bibelausgabe bei sich trugen. Zu ungewöhnlichen Tageszeiten konnte ich diese Männer dabei ertappen, wie sie in der Kirche saßen und in der Heiligen Schrift lasen. Wenn ich sie bat, mir zu helfen, einen bestimmten Punkt der katholischen Lehre zu verstehen, dann zogen sie ihre Taschenbibel zur Unterstützung heraus. Ich dachte bei mir: Hier sind Männer, die das Leben Jesu Christi lesen – und das allen Ernstes.

Ich erwähnte meinem priesterlichen Freund gegenüber, ich hätte ein paar Leute getroffen, die das Neue Testament bei sich trügen und es anscheinend auch wirklich kennten.

Er antwortete: »Oh, sie müssen vom Opus Dei sein.«

Opus Dei: Ich konnte genug Latein, um die Bedeutung zu verstehen: »das Werk von Gott« oder »Gottes Werk«. Fast im selben Augenblick, als ich die Worte des Priesters hörte, wurde das Opus Dei für mich zum Orientierungszeichen – einem Leuchtturm, der das Ende meiner langen Reise in Aussicht stellte, zu einem ersten flüchtigen Blick in ein Land, das ich bisher nur aus Büchern kannte. Es war keineswegs so, dass es ein zu kleines Land war, um wahrgenommen zu werden. Und andererseits war das Opus Dei natürlich nicht das gesamte Land, denn die katholische Kirche ist viel größer als alles, worauf mich meine eigene konfessionelle Herkunft vorbereitet hatte, und es gab damals wie jetzt so viele andere große Institutionen und Bewegungen in der Kirche. Doch aus vielen Gründen war das Opus Dei ein Ort, an dem ich anfangen konnte, mich zu Hause zu fühlen.

Was waren meine Gründe dafür?

Zuallererst: die spürbare Bibelfrömmigkeit der Mitglieder.

Zweitens: der warmherzige ökumenische Geist. Das Opus Dei war die erste katholische Institution, die Nichtkatholiken zur Mitarbeit in ihren apostolischen Aufgaben willkommen hieß.

Drittens: das aufrechte Leben der Mitglieder.

Viertens: das normale Leben seiner Mitglieder. Sie waren keine Theologen, sondern Zahnärzte, Ingenieure, Journalisten – aber die Theologie, über die sie redeten und die sie lebten, fand ich attraktiv.

Fünftens: Sie vertraten mit heiligem Ehrgeiz eine hingebungsvolle Arbeitsethik.

Sechstens: Sie pflegten wahre Gastfreundschaft und begegneten meinen vielen Fragen großzügig und aufmerksam.

Und siebtens: Sie beteten. Sie nahmen sich jeden Tag Zeit für das persönliche Gebet – Zeit für ein echtes Gespräch mit Gott. Dies gab ihnen eine heitere Gelassenheit, wie ich sie selten gefunden hatte.

Als sich meine Freundschaft mit diesen Gläubigen des Opus Dei vertiefte, begann ich, die reiche biblische Theologie und biblische Spiritualität als die Herzmitte ihrer Berufung zu schätzen. Ich eignete sie mir an, lange bevor mir Gott die gleiche Berufung wie ihnen schenkte – ja, bevor mich Gott zu den Sakramenten der katholischen Kirche führte. Mir wurde sofort klar, sie bargen ein enormes Potential, um mein eigenes Leben zu erneuern, aber auch das Leben der Kirche Christi und das Leben der ganzen Welt. Dieses Buch soll von der biblischen Theologie und biblischen Spiritualität des Opus Dei handeln.

Im Schnelldurchgang

Meine Lieblingsdefinition des Opus Dei habe ich Mitte der achtziger Jahre auf einem Gebetszettel gefunden: Das Opus Dei ist, so heißt es da, »Weg der Heiligung durch die berufliche Arbeit und durch die Erfüllung der täglichen Pflichten als Christ.« Es ist nicht einfach eine Gebetsmethode oder eine kirchliche Organisation oder eine theologische Richtung. Sondern es ist ein »Weg«, und dieser Weg ist breit genug, um jeden aufzunehmen, dessen Tage mit redlicher Arbeit angefüllt sind – zu Hause mit den Kindern, in einer Fabrik oder einem Büro, in einem Bergwerk, auf einem Bauernhof oder in der Armee. Der Weg ist auch breit genug, um sich freien, unterschiedlichen Gebetsmethoden und theologischen Stilen anzupassen. Gott ruft manche Menschen auf diesen geistlichen Lebensweg, indem sie Mitglieder des Opus Dei werden. Darüber hinaus erhalten viele andere Menschen geistliche Orientierung durch das Opus Dei und durch die Schriften seines Gründers.

Wie entstand das Opus Dei? Es wurde 1928 von einem jungen spanischen Priester gegründet, dem heiligen Josemaría Escrivá de Balaguer. Jahre zuvor hatte er im Gebet bereits Vorahnungen und Hinweise empfangen, dass Gott etwas von ihm wollte, doch noch wusste er nicht was. Dann plötzlich an einem Oktobertag, als er in seinen Tagebuch-Notizen las, sah er es. Gott zeigte dem heiligen Josemaría, was er tun sollte.

Der Gründer sprach nur selten über das, was er in jenem Moment »gesehen« hatte, aber er gebrauchte immer das Verb »sehen«, um deutlich zu machen, dass er das Opus Dei als Ganzes gesehen hatte, wie es sich im Laufe der Zeit entwickeln würde. In einem vatikanischen Dokument heißt es: »Es war nicht ein Pastoralprojekt, das allmählich Form gewann, sondern es war wie ein plötzlicher Ruf, der in die Seele des jungen Priesters drang.« Was hatte er gesehen? Vielleicht geben uns seine persönlichen Aufzeichnungen eine Ahnung von seiner Vision: »Normale Christen. Sauerteig. Das Unsere ist das Alltägliche, mit Natürlichkeit. Die Mittel: die berufliche Arbeit. Alle Heilige!« Als zu seinem ersten Bildungskreis lediglich drei junge Männer kamen, gab er ihnen zum Schluss den Segen mit dem Allerheiligsten. Später sagte er: »Ich segnete die drei Teilnehmer … und dabei sah ich dreihundert, dreihunderttausend, dreißig Millionen, drei Milliarden … Weiße, Schwarze, Gelbe, in allen Hautfarben, in allen Schattierungen, die die menschliche Liebe hervorbringen kann.«

Der heilige Josemaría sah, dass jeder nach Jesu Willen heilig werden kann, jeder ohne Ausnahme. Unser Herr wandte sich an eine große Menge, nicht nur an seinen inneren Kreis, als er sagte: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist« (Mt 5, 48). Dies ist das unverkürzte Evangelium, die gute Nachricht, welche die Apostel predigten. Wie der heilige Paulus verkündet, hat Gott uns in Jesus »erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott« (Eph 1, 4). Überdies hat Gott uns seinen »Plan« kundgetan, »das Geheimnis Seines Willens«. In der Fülle der Zeit – jetzt also, heute – sollen wir »in Christus alles … vereinen« (Eph 1, 9-10).

Der Gründer des Opus Dei lehrte, dass jede menschliche Tätigkeit – ob politisches Leben, Familienleben, soziales Leben, Arbeit und Freizeit – vereint mit Christus Gott als ein wohlgefälliges Opfer dargebracht werden soll, verbunden mit dem Kreuzesopfer, verbunden mit dem Messopfer. Er sehnte den Tag herbei, da »es an jedem Ort in der Welt Christen in persönlicher und freier Selbsthingabe geben wird – Christen, die ein anderer Christus sein werden«.

Der heilige Josemaría verstand die Schöpfung als eine große kosmische Liturgie, die dem Vater von denen dargebracht wird, die in Einheit mit Christus, dem Hohenpriester, »ein anderer Christus« sind.

Die Welt anders gesehen

Wir können dieses Opfer vollziehen, denn wir sind »eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm« (1 Petr 2, 9). Wir haben Anteil am Priestertum und Königtum Christi, denn durch die Taufe haben wir Anteil an seiner Natur (vgl. 2 Petr 1, 4). Der heilige Josemaría forderte die Christen dazu auf, eine »echt priesterliche Seele und wahre Laienmentalität« zu haben. Dies ist kein Widerspruch. Denn sowohl als »Priester« wie auch als »König« haben wir eine Berufung, die zugleich sakral und säkular ist. Wir haben Anteil am Königtum Christi und wir haben Anteil an seinem Priestertum. So heiligen wir die zeitliche Ordnung und bringen sie Gott dar, wir stellen sie »in Christus« wieder her, denn wir leben in Christus. Wir stellen sie wieder her, jedes Mal ein wenig mehr, beginnend mit dem Zentimeter, Meter oder Kilometer, das unserer Verantwortung anvertraut worden ist. Wir sind gerufen, in unserem Arbeitsbereich und Lebensraum unsere Herrschaft und unser Priestertum auszuüben. Unser Desktop, unsere Werkbank, der Acker, den wir pflügen, der Graben, den wir ausheben, die Windel, die wir wechseln, der Topf, in dem wir rühren, das Bett, das wir mit unserem Ehepartner teilen werden zu unserem Altar, geheiligt durch unsere darbringenden Hände, die Christi Hände sind.

Diese Lehre wird im Opus Dei besonders betont, doch gehört sie der gesamten Kirche: Königtum und Priestertum, Rechte und Pflichten kommen nicht nur einigen wenigen Privilegierten zu, nicht nur dem geweihten Klerus, sondern allen getauften Gläubigen. Es macht unsere besondere Würde aus, dass wir in der Taufe »Kinder Gottes« (1 Joh 3, 2) geworden sind – wir sind zur »Gemeinschaft der Erstgeborenen« (Hebr 12, 23) hinzugetreten. Wenn wir aber die Erstgeborenen sind, so sind wir die Erben (vgl. Gal 4, 7), Erben von Christi Königtum und Priestertum – Erben des Weltlichen (das wir heiligen) und des Sakralen. »Alles gehört euch …«, sagt der heilige Paulus, »ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott« (1 Kor 3, 22-23).

Wir sind Gottes Kinder. Die Theologen nennen diese Tatsache »Gotteskindschaft« – sie ist das Fundament des Opus Dei. Sie ist für jeden lebenden und tätigen Christen die Quelle der Freiheit, des Vertrauens, der Bestimmung, der Begeisterung und Freude. Sie ist das »offene Geheimnis«, das Männer und Frauen in der ganzen Welt befähigt, ihre Berufung zu verwirklichen: indem sie ihre Arbeit heiligen, sich selbst durch ihre Arbeit heiligen, und andere durch ihre Arbeit heiligen.

Gewiss, das ist sehr viel auf einmal. Doch wir werden den Rest dieses Buches darauf verwenden, diese Lehre genauer zu betrachten.

Die passende Form

Seit jenem 2. Oktober 1928 predigte der heilige Josemaría das, was Gott ihn hatte sehen lassen. Anfangs gab er der jungen Bewegung nicht einmal einen Namen – sein geistlicher Leiter ließ eher zufällig »Opus Dei« fallen, als er ihn eines Tages fragte: »Wie geht es diesem Werk Gottes?«

Allmählich sah der heilige Josemaría deutlicher die organisatorischen Details, obwohl das Kirchenrecht für das, was Gott ihm gezeigt hatte, keinen geeigneten kirchenrechtlichen Rahmen bereit hielt. Der Gründer leitete behutsam die Entwicklung des Werkes und vermied eine unpassende kirchenrechtliche Form, auch wenn er vorübergehend in provisorische Regelungen einwilligte. Im Jahre 1965 ermöglichte das Zweite Vatikanische Konzil einen neuen juristischen Status, die »Personalprälatur« – eine kirchenrechtliche Form, der sowohl Laien wie Kleriker angehören können mit dem Ziel, spezifische apostolische Aufgaben wahrzunehmen. »Personal« bedeutet, dass der Leiter einer solchen Einrichtung, der Prälat, keine territoriale, d.h. gebietsmäßig festgelegte Jurisdiktionsgewalt wie ein Diözesanbischof ausübt, sondern eine personale, also über eine Gruppe von Personen, wo immer diese auch (weltweit) leben mögen. Im Fall des Opus Dei sind es die »Gläubigen« der Prälatur, jene also, die berufen sind, eine bleibende persönliche Hingabe auf dem »Weg der Heiligung« gemäß dem Geist des Opus Dei zu leben. Ob verheiratet oder zölibatär, sie vollziehen ihre Hingabe mit der sogenannten »Oblation« (lateinisch für »Übergabe«) in Form eines Vertrags, den sie jährlich erneuern. Mit der »Fidelitas« (lateinisch für »Treueversprechen«) – frühestens nach sechseinhalb Jahren – wird der wechselseitige Vertrag für das ganze Leben geschlossen.

Der heilige Josemaría sah in der Personalprälatur die adäquate kirchenrechtliche Form für das Opus Dei. Er selbst allerdings erlebte nicht mehr die Gewährung dieser definitiven juristischen Gestalt, da er 1975 starb. Papst Johannes Paul II. errichtete 1982 das Opus Dei als die erste Personalprälatur der Kirche. Während ich diese Zeilen schreibe, hat die Personalprälatur Opus Dei rund 85.000 Mitglieder (»Gläubige« ist der von der Kirche bevorzugte Ausdruck). Die große Mehrheit sind gewöhnliche Laien, eine kleine Anzahl sind Priester.

Entschieden normal

Die Gründungsgeschichte des Opus Dei könnte einen falschen Eindruck hinterlassen, und vielleicht deshalb hat der heilige Josemaría so selten darüber gesprochen. Denn sie war begleitet von außergewöhnlichen Ereignissen und übernatürlichen, wunderbaren Geschehnissen. Trotzdem liegt die Betonung des Opus Dei entschieden auf dem normalen Leben, der normalen Arbeit und der normalen religiösen Erfahrung.

Vielleicht waren Wunder notwendig, denn Gottes Plan mit dem heiligen Josemaría war von wahrlich radikaler Natur. Es war ein Vorhaben, das scheinbar so gar nicht ins frühe zwanzigste Jahrhundert passte – zu einer Zeit, da die katholische Kirchenleitung die Würde des Klerus derart betonte, dass der normale getaufte Gläubige kaum eine Rolle spielte. In Europa wie in den Vereinigten Staaten war der normale, universale, durch die Taufe ergehende Ruf zur Heiligkeit keine theologisch akzeptierte Position. Der heilige Josemaría sah sich deshalb mit Häresievorwürfen konfrontiert.

Aber Gott bediente sich anfangs solch außergewöhnlicher Gnadengaben (seien es nun Visionen, Wunder oder Privatoffenbarungen gewesen), um den Weg zu bahnen, einen Weg durch das normale Leben. Manchmal sind beim Bau einer Autobahn schwere Sprengungen nötig, doch in der Regel nicht mehr für ihren Erhalt.

So konzentrieren wir uns nun auf das alltägliche Leben. Gott hat seinen Kindern die Herrschaft über die Welt übertragen (vgl. Gen 1, 26) und lädt sie dazu ein, sich an der Güte des Kosmos, den er geschaffen und erlöst hat, zu erfreuen. Darüber hinaus gibt er uns das bemerkenswerte Geschenk, an dieser Schöpfung und Erlösung direkt teilzuhaben.

Ein Beispiel für gelebte Normalität: die Mitglieder des Opus Dei nehmen den Ruf der Kirche zum Apostolat ernst. Aber man wird die Mitglieder des Opus Dei nicht oft an Straßenecken Bibeln verteilen sehen oder erleben, dass sie an fremde Türen klopfen, um Zeugnis von Jesus abzulegen. Der Gründer des Opus Dei lehrte stattdessen das stille Apostolat der »Freundschaft und des Vertrauens« in den Alltagsgegebenheiten, in denen die Mitglieder nach Wegen suchen, anderen zu dienen. Das kann einmal bedeuten, einen Freund eher zum Essen einzuladen als zu einem Gebetstreffen, oder ihn zu einer Tennispartie herauszufordern statt zu einer Diskussion über die Glaubenslehre.

Es ist alles sehr normal. Trotzdem hat genau diese Lehre die Kraft, die Leute zu schockieren. Die moderne Welt – und selbst manche Leute in der Kirche – sind so durcheinander, dass die Betonung des Normalen für sie etwas ganz Außergewöhnliches darstellt!

Und ich selbst?

Inzwischen ist es wohl überflüssig, zu erwähnen, dass dieser Calvinist, der hier schreibt, katholisch wurde, und dass meine ersten Kontakte mit dem Opus Dei wichtige Meilensteine auf meinem Weg in die katholische Kirche waren. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Leser, auch schon erraten, dass ich außerdem eine Berufung zum Opus Dei erhalten habe.

Wenn ich es wage, dieses Buch zu schreiben, so betrachte ich mich dabei nicht als Paradebeispiel oder Inbegriff des Opus Dei. Auch ist dieses Buch in keiner Weise eine offizielle Darstellung des Opus Dei, seiner Ziele und seiner Prinzipien. Noch weniger ist es eine kritische Analyse der Organisationsstruktur des Werkes (wie das Opus Dei gelegentlich auch umgangssprachlich genannt wird) oder seines kirchenrechtlichen Status. All diese Bücher sind bereits geschrieben, und zwar sehr gut geschrieben.

Dieses Buch reflektiert vielmehr meine eigene Berufung, die ich mit so vielen anderen teile, Männern und Frauen, die mich an Weisheit, an Tugenden und in der täglichen Umsetzung des Geistes des Opus Dei übertreffen. Dieses Buch ist außerdem öffentlicher Ausdruck meiner Dankbarkeit Gott gegenüber für eine Gnade, die ich nicht verdient habe – eine Gnade, von der ich hoffe, dass viele Menschen sie mit mir teilen werden, so viele auch immer Gott will.

Da ich von Ausbildung und Beruf Bibeltheologe bin, werde ich deshalb in diesem Buch das Werkzeug meiner eigenen beruflichen Tätigkeit (die ganz und gar geheiligt werden kann) auf die Kernideen des Opus Dei anwenden.

Kapitel 2

Das Geheimnis des Opus Dei

Was für eine gute Sache, Kind zu sein!
Wenn ein Erwachsener um einen Gefallen bittet,
muss er in dem Ersuchen auch seine Verdienste erwähnen.
Wenn aber ein Kind bittet –
Kinder haben keine Verdienste vorzuweisen –,
genügt es, wenn es sagt:
Ich bin der Sohn des Herrn Soundso.
Sage aus tiefster Seele: O Herr, ich bin … ein Sohn Gottes!
Der Weg, Nr. 892

Gelegentlich straucheln junge Prediger über ihre eigene Begeisterung für ein Thema. Sie tauchen so sehr in die Materie ein, dass sie ihnen der Schlüssel zu sein scheint für absolut jede andere Thematik, jede knifflige Frage und jedes Rätsel.

Dies war wohl auch bei einem jungen Priester des Opus Dei der Fall. Er war neugeweiht und lebte in Rom, dem historischen und administrativen Zentrum der katholischen Kirche, und ganz in der Nähe von Monsignore Escrivá, der zu dieser Zeit noch lebte und am täglichen Leben des Opus Dei intensiv Anteil nahm. Welche Freude, als der junge Priester mit einer Meditation im Zentrum des Opus Dei betraut wurde, in dem auch der Gründer lebte und arbeitete. Das zugeteilte Thema hieß »Demut«.

Die Priester des Opus Dei sind wie alle Mitglieder gehalten, beruflich streng professionell zu arbeiten, denn sie opfern ihre Arbeit Gott auf. Also soll ein Prediger seine Predigt mit der gebührenden Sorgfalt vorbereiten, er soll herausfinden, was Heilige und Gelehrte zum jeweiligen Thema gesagt haben. Wie das Mitglied jeder anderen kirchlichen Institution wird er auch die Schriften des Gründers befragen. In unserem Falle kein Problem: denn Monsignore Escrivá hat ausgesprochen viel zum Thema Demut geschrieben.

So können wir ziemlich sicher sein, dass sich unser junger Priester gut darauf vorbereitet hatte. Ja er mag sich angesichts der Größe seines Themas vielleicht sogar überfordert gefühlt haben, so dass sich seine Predigt in der halbdunklen Kapelle zu einem Projekt auswuchs, das größer war als das Leben.

Dann kam er in seiner Meditation an den Punkt, wo er im Brustton der Überzeugung sagte: »Das geistliche Fundament des Opus Dei ist die Demut.« Und um seine Aussage auch gebührend wirken zu lassen, hat er dann vielleicht eine kurze Pause eingelegt.

Doch in diesem Augenblick hörte man plötzlich eine feste und väterliche Stimme aus dem Hintergrund der Kapelle: »Nein, mein Sohn, das ist sie nicht!«

Der heilige Josemaría erhob sich von seinem Sitz, ging auf den jungen Priester zu und nahm dessen Platz ein. Wir müssen behutsam sein, um diese Begebenheit nicht misszuverstehen, denn der Gründer hielt viel von menschlicher Liebenswürdigkeit. Er gehörte nicht zu denen, die dauernd andere unterbrechen, um sie wegen jeder Kleinigkeit zu korrigieren. Aber er hielt es doch nicht für unhöflich, in einem brennenden Haus »Feuer« zu rufen. Den Geist des Werkes zu verdrehen – selbst aus jugendlichem Überschwang – war so ein Augenblick. Hier musste etwas geschehen. So setzte er selbst die Meditation fort und erklärte den Anwesenden – die inzwischen hellwach geworden waren – das wahre geistliche Fundament des Opus Dei.

Es ist, so sagte er, die Gotteskindschaft.

Auf den Punkt gebracht

Gotteskindschaft. Was sollen wir mit diesem etwas merkwürdig klingenden theologischen Fachausdruck anfangen? Wenn es nach dem heiligen Josemaría geht, dann soll die Gotteskindschaft der Mittelpunkt unseres Lebens sein.

zu