Klaus Möckel
Drei Flaschen Tokaier
Kriminalroman
ISBN 978-3-86394-723-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1976 in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) bei: Verlag Das Neue Berlin.
Die kriminellen Sprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
Tel.: 03860-505 788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de
Meiner Mutter, die sich in Krimis auskennt
Jörg Paulsen (achtzehnjährig), der wegen drei Flaschen Wein und einem Mädchen um Mitternacht in ein fremdes Haus einsteigt, dort einen Toten findet und im Verlauf der Handlung nicht nur in bitteres Grübeln kommt, sondern auch in eine mehr als beklemmende Situation;
Leutnant Kielstein (etwas weniger jung), der nicht das prägnante Gesicht eines Starkriminalisten hat, in diesem Buch zunächst in die Irre geht, aber genügend Witz und Erfahrung besitzt, um letztlich doch die richtige Spur zu finden;
Hauptmann Bothe (Kielsteins Chef), der Grünpflanzen liebt, eine gute Ehe führt und zur Lösung des Falles die von ihm zu erwartenden wichtigen Ideen beisteuert;
Paulsens Freunde (nur wenig älter oder jünger als er), die auf Namen wie Karo, Klette, Intelligenzler, Müller, Nina und Anne hören, ihre Wochenenden vor allem in Kneipen verbringen, es mit der Moral nicht ganz so genau nehmen und sich den Anschein geben, mit dem Mordfall absolut nichts zu tun zu haben;
Leo Braun (Kellner), der ein Verhältnis mit einer flotten schwarzhaarigen Serviererin hat, aber nicht immer die geradesten Touren geht, und
Ludwig Zierau (besagter Toter), der im Leben etwas darstellte, ein Haus, einiges an Wertgegenständen und sehr fest gefügte Ansichten besaß, nach Paulsens Meinung aber ein ziemlich krummer Hund war.
Es ist entsetzlich, es ist Wahnsinn!
Ich bin verrückt, ich bin betrunken, nein, ich war betrunken oder nicht mal das, wenigstens anfangs nicht, nur angeheitert, beduselt meinetwegen, aber nicht blau, selbst zum Schluss nicht. Müde war ich, als ich einschlief, und meinetwegen auch benebelt, das will ich zugeben; jetzt jedenfalls bin ich völlig nüchtern.
Ich muss weg von hier, auf der Stelle. Bevor jemand kommt, bevor mich jemand entdeckt; nur wenn ich unbemerkt wegkomme, hab ich noch 'ne Chance. Denn dem da ist nicht mehr zu helfen: Wie der mich anstarrt, der Blick, die offnen Augen, das Blut, das ist kein Unfall, kein Unglück, nein, dem hat jemand eins verpasst, wie verkrampft der daliegt, wie verspannt; ich hab ihn nie leiden können, den da, alles war falsch an ihm oder fast alles, schon immer, aber trotzdem, so ein Ende... Die Polizei müsste man rufen, hallo, im Haus 27 in der Erlenstraße liegt ein Toter, ja, ich kenn den Alten, besser gesagt, ich kannte ihn, ganz gut sogar — aber dann war man selber dran, dann hätten sie einen sofort beim Wickel: Bist du nicht bei dem ein- und aus gegangen, hattest du nicht damals Krach mit ihm, wie kommst du eigentlich um diese Zeit in seine Wohnung?
Ich muss die Spuren verwischen, die Fuß- und Fingerabdrücke beseitigen, in den Keller muss ich noch mal, sonst sind sie mir gleich auf den Fersen, und ich muss mich beeilen, jede Sekunde zählt.
Das Blut ist ganz trocken; ob der schon lange so daliegt, seit dem Abend schon, seit dem Augenblick, als ich... Er muss brutal niedergeschlagen worden sein, sieht aus, als hätt er sich zur Wehr setzen wollen, hat den Feuerhaken neben sich liegen, vielleicht ein Kampf, aber warum bloß, warum und wer?
Er starrt mich an mit seinen aufgerissenen Augen, so feindselig, als wär ich's selber gewesen.
Ich muss mich zusammennehmen, mir dreht sich alles im Kopf, ich trau der Polizei nicht, ich trau keinem, ich muss die Spuren verwischen, dem da ist doch nicht mehr zu helfen, ich muss weg, noch ist's Zeit.
Ich schiebe die Hintertür mit dem Ellbogen zu, diesmal nehm ich den Kiesweg, da können sie lange nach Fußabdrücken suchen. Es ist alles still, so still wie gestern Abend, als ich über den Zaun stieg, auch der Wind hat sich gelegt. Keine Menschenseele und zu meinem Glück Nebel. Geregnet hat es, und sogar ganz schön, auf den Beeten stehn Pfützen. Plötzlich friert mich, und mir ist hundeelend zumute. Ein Traum, ein verfluchter Traum, und ich mittendrin. Auch wenn ich jetzt den Garten hinter mir lasse und das Haus, wenn ich mich abseits von der Straße hastig fortschleiche, unter den Büschen, zwischen den Roggenfeldern — es bleibt ein Traum mit einem wirklichen Toten. Den ich mit eignen Augen gesehen hab. Weshalb, zum Teufel, bin ich gestern bloß auf diesen lächerlich blöden Einfall gekommen! Weshalb musste ich mich auf diese hirnverbrannte Wette einlassen. Drei Flaschen Tokaier um Mitternacht aus diesem Keller. Eine einfache Sache, ein Mordsgaudi, keinerlei Risiko. Ein Weg, den ich kannte, ein Ort, der mir vertraut war, der Alte würde gar nichts merken. Das dämliche Grinsen des Intelligenzlers, der mir das nicht zutraute, Klettes stille Bewunderung, Annekathrins gespielte Gleichgültigkeit. Karo hatte dagegengehalten, Karo hielt immer dagegen, wenn jemand was auf die Beine stellen wollte: "'nen Kasten, wenn du's schaffst, aber du schaffst's nicht, du reißt bloß die Klappe auf."
Bis dahin war alles nur Spaß gewesen, Spiel, reine Aufschneiderei. Freitagabend, die HO-Gaststätte machte Feierabend; die Schwarze an der Theke wartete nur darauf, dass man die Scheine auf den Tisch blätterte, damit sie abrechnen konnte, selbst die vier Mann am Stammtisch kriegten kein Bier mehr, der dicke Mehlhauer, dieser fanatische Skatbruder, Balzer, der in einer Tischlerei arbeitet, Passak vom Sportverein und der blonde Ingenieur, dessen Name mir entfallen ist. Der Ober, ein Pinkel mit Schnauzbart, hatte es so eilig, die Schotten dicht zu machen, dass man annehmen konnte, er würde fürs Schließen bezahlt.
Wir mussten die gastliche Stätte verlassen, aber wir wollten nicht nach Hause, bis auf Klette vielleicht, das Muttersöhnchen — wir rissen noch unsre Witze darüber, den ganzen Abend hatten wir über seine Verklemmtheit gelacht —, und bis auf Nina, Karos Freundin, die sich aber nur zierte. Deshalb beschlossen wir, zu Müller zu gehn, dem die Frau weggelaufen ist und der die Wohnung nun für sich hat. Eine Zweizimmerwohnung. Er war auch einverstanden, bloß für die Prozente sollten wir sorgen. Und da der Intelligenzler nie Geld hat und Karo den ganzen Abend schon blechen musste, war eben ich dran. War dran und hätte besser zwanzig Mark springen lassen sollen und fünf liebe Worte für die Schwarze hinter der Theke, damit sie mir 'ne Pulle Steinhäger rüberreicht oder so. Aber nein, mir musste die hirnverbrannte Idee mit dem Alten kommen, mit seinem Keller, den schönen Flaschen, die sich da ausruhn, kein Selbstgebauter Marke Gärtnerglück, Stachelbeermansche und Apfelsaurer. Nein, nein, der Alte weiß, was schmeckt — wusste es, verdammt noch mal, mir wird ganz schlecht, wenn ich dran denke. Trotzdem, die guten Sorten waren schon immer sein Hobby, beim Wein und bei den Münzen, der legte sich Sachen hin, die ihren Wert behielten, die nicht verderben konnten, die mit den Jahren bloß besser wurden. Gerissen war der und egoistisch, aber nach außen hin das Vorbild, der gute Staatsbürger, der untadelige Abteilungsleiter, und jetzt tot auf 'ne Art, dass sich mir der Magen umdreht, und ich drin, mittendrin in der Scheiße.
Karo ist schuld mit seiner Überheblichkeit, mit seiner Großspurigkeit, der kann leicht die Scheinchen springen lassen, dem steckt man die Trinkgelder nur so zu, hier 'n Zwanziger und da 'n Fünfziger, Autoschlosser müsste man sein, das Geschäft in der sozialistischen Gesellschaft, Autos, Autos, Autos und jedes Vierteljahr ein paar hundert Unfälle. Da springen die Moneten und zu solchen wie Karo in die Taschen, kein Wunder, dass die Miezen verrückt sind nach dem. Bei der Nina lässt mich das ja kalt, nicht viel wert, die Biene, lange Haare, runde Schenkel, aber nichts im Kopf, bloß dass nun die Anne auch noch... Doch das mit dem Tokajer hat ihr imponiert, für so was ist sie, das weiß ich vom Intelligenzler. Wenn sie auch getan hat, als interessierte sie die Wette nicht. An ihrem Blick hab ich's gesehn, richtig munter ist sie geworden. "Drei Flaschen", sagte ich, und sie hat aufgemerkt, "Szomoroti, ihr wisst schon, wo", und sie hat gegrient und verbessert: "Szamorodni heißt das" und ist unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht. Zum Schein hat sie dann noch gemurmelt: "Ach, es ist schon spät, lasst doch den Quatsch", aber es war klar, dass ich 'nen Punkt bei ihr hatte und dass ich mir noch drei dazuholen konnte mit den Flaschen. Und das wollt ich, und jetzt sitz ich drin, mittendrin.
Dabei ging anfangs alles ganz glatt. Wir hatten bezahlt, das meiste natürlich Karo, und noch vor denen vom Stammtisch die Kneipe verlassen. Die andern wollten erst mit raus zu Zierau, was haben von dem Spaß, dabei sein, wenn ich das Ding drehte, aber ich war dagegen. Sie waren mir zu laut, hatten zuviel getrunken, ich selber war ja schon genug in Schwung, musste mich bremsen und meine Gedanken zusammenhalten. Der letzte Steinhäger war eigentlich zuviel gewesen, ich wollte schließlich bei Nacht und Nebel in ein fremdes Haus einsteigen, in ein fremdes, obwohl ich dort aus- und eingegangen war, obwohl ich's kannte wie meine Hosentasche. Ich wollte einsteigen, heimlich und ohne den Alten zu wecken, der nach elf immer schlief, oben in seinem Kabuff, und wollte genauso unbemerkt wieder raus. Mit den drei oder vier Pullen natürlich.
Deshalb also war ich dagegen, dass die andern mitkamen. Die würden bloß was verderben, die sollten bei Müller auf mich warten, lange würde die Geschichte nicht dauern, 'ne Dreiviertelstunde vielleicht, ich würde mich beeilen. Sie hauten schließlich auch ab, an der Post trennten wir uns, es war frisch, und die Mädchen in ihren dünnen Mänteln klapperten. Der Wind pfiff, so ein Westwind oder Nordwest, was weiß ich, mir war's ganz recht, er brachte mich zu mir. Und das Wasser brachte mich zu mir, am Springbrunnen schwappte ich mir 'ne Handvoll ins Gesicht, und dann los. Wie ausgestorben war die Stadt, irgend 'ne Frau traf ich noch in der Poststraße, danach aber niemanden mehr. Ein paar hundert Meter weiter ist man ja auch schon aus dem Ort raus, da kommt die Brücke, dann gehen die Gärten los, und dahinter sind die Einfamilienhäuser. Wie oft bin ich da früher lang gelaufen, zweimal am Tag, wie 'ne Ewigkeit kam mir der Weg damals vor, obwohl's gar nicht weit war bis zu Zierau, aber jetzt ging's auf einmal mächtig schnell.
Plötzlich stand ich am Zaun, und zwar nicht vorn am Tor, sondern rechts bei den Erlenbüschen, von wo aus man das Fenster des Alten sehn kann, aber natürlich war alles dunkel und still. Der schlief sicherlich wie'n Murmeltier, von wegen, alte Leute haben einen leichten Schlaf, der konnte einmalig ratzen, das wusst ich, zumal, wenn er zwei Glas Wein hinter hatte, Rosenthaler Kadarka oder Pinot Noir oder eben auch, bei festlichen Gelegenheiten, Tokaier, wie ich ihn jetzt für die andern holen wollte, der Wette wegen und wegen Annekathrin. Ich stand da, bei den Erlenbüschen, der Wind pfiff, und ein wenig fing's zu nieseln an, aber das passte mir ins Konzept. Ich wartete noch einen Augenblick, um zu sehen, ob alles weiterhin ruhig blieb, ein letztes Zögern, dann kletterte ich mit einiger Mühe über den Zaun; das Bier, der Schnaps, den Karo spendiert hatte, machten mir doch zu schaffen.
Wenigstens hab ich das so in Erinnerung, obwohl ich nicht mehr alles parat hab, zuviel ist seit gestern Abend passiert, zuviel ist auf mich eingestürmt, und jetzt ist mir übel, denn ich muss an das Blut denken, an die aufgerissnen Augen, und einen Brummschädel hab ich auch. Ich weiß noch, dass ich über den Zaun stieg und dann von hinten an das Haus ranschlich, unter den Kirschbäumen durch und an den Johannisbeersträuchern vorbei. Hier hatte ich seinerzeit den großen Krach mit dem Alten, sagte ihm ins Gesicht, was ich von ihm hielt: Mir gegenüber den großen Gönner spielen und hintenrum alles tun, um mich anzuschwärzen, um mir die Stelle zu vermasseln; hier hatte ich ihm seine Gemeinheiten unter die Nase gerieben, und er war knallrot geworden. Erst hatte er kein Wort herausgebracht, dann aber vor Wut geschrien und mich rausgeschmissen.
Doch das war lange her, zwar nicht vergessen, aber eben lange her, ich dachte auch nur flüchtig dran, als ich an den Sträuchern vorbeischlich, mehr interessierte mich schon, ob das Fenster neben der Besenkammer wie früher einen Spalt breit offen stand, wegen der Katze, aber es gab eine Enttäuschung, das Fenster war zu. Es war fest von innen verriegelt, nicht mit der Hand aufzudrücken, wie ich zunächst noch gehofft hatte, und da stand ich und sah meine Felle wegschwimmen. Aber gleich darauf dachte ich an Karos schadenfrohes Gesicht, an Klettes Enttäuschung und an Annes mitleidiges Lächeln und wusste, ich musste mir was einfallen lassen. Da kam ich auf die Idee mit der Waschhaustür. Vom Waschhaus gelangt man in den Abstellraum und von da aus direkt in den Flur; zwar ist die Tür stabil, so 'ne richtige massive Eichenholztür, und verschlossen ist sie natürlich nachts auch, aber das ist kein Hindernis. Mit 'nem Stück Draht hatte ich sie nämlich früher schon mal aufgekriegt, mit 'nem starken Draht, wie er in Zieraus Schuppen lag, gleich nebenan also, da hatte sich nichts verändert, und 'ne Flachzange, um den Draht vorn umzubiegen, fand ich dort auch.
Auf die Art kam ich ins Haus, wenn ich auch länger brauchte als erwartet; einmal unterbrach ich die "Arbeit" sogar kurz, weil jenseits des Zauns ein Motorrad den Berg runterknatterte, der Scheinwerferstrahl tanzte über Büsche und Bäume weg, bevor er dann wie abgeschnitten verschwand. Es war überhaupt ein Wunder, dass ich mich zurechtfand nach so langer Zeit und bei der Finsternis, mit den paar Streichhölzern, die ich anstrich; aber wo man sich auskennt, da kennt man sich aus.
Bloß dass sich nach der Anstrengung mit dem Draht und der Tür in meinem Kopf alles drehte, hatte ich nicht vorausgesehen, und dass mir ganz mulmig wurde, als ich dann endlich im Korridor stand, fast so mulmig wie vorhin am Zaun. Nichts mehr von frischer Luft, von West- oder Nordwestwind, der mir das Hirn durchgeblasen hatte, es roch nach Zwiebeln und Schuhkrem im Korridor oder nach irgendwelchem Bohnerwachs, und das hatte mich früher schon immer ganz kribblig gemacht. Nur kam mir jetzt, im Dunkeln, alles noch muffiger als sonst vor. Wer weiß, wie lange der Alte nicht mehr gelüftet hatte.
Aber immerhin war ich im Haus, und alles andre ein Kinderspiel, 'ne Sache, die von selber lief, wie ich dachte. Ich horchte, alles blieb still, nur im Wohnzimmer, dessen Tür immer offen stand, Tag und Nacht, wenn nicht grade eisiger Winter war, tickte die Pendeluhr. Ich tastete mich langsam voran, zum Glück war der Flur einigermaßen aufgeräumt, das konnte ich im schwachen Lichtschein ausmachen, der von draußen durchs Eckfenster drang. Ohne sonderliche Schwierigkeiten gelangte ich zur Kellertür. Hier aber hatte ich nun Pech, denn als ich die Tür leise öffnen wollte, stieß ich mit dem Fuß gegen 'nen Blecheimer, 'nen Kanister oder so was, gegen ein großes Metallgefäß eben, das einen Ton gab, laut und unheimlich scheppernd. Ich dacht, mich trifft der Schlag, ich fuhr zusammen und erstarrte zur Salzsäule. Der Ton, so kam mir's jedenfalls vor, schwang noch 'ne Ewigkeit durch den Raum.
Ja, ich war unheimlich erschrocken, meine Pumpe blubberte wie verrückt, denn wenn mich der Alte erwischt hätte, er hätt mir das mit dem Wein nie und nimmer geglaubt. Und wenn er's geglaubt hätte, war er trotzdem fuchsteufelswild geworden — nicht ohne Grund, wie ich zugeben will, ganz zu schweigen davon, dass er dann tatsächlich ein Recht gehabt hätte, mir was anzuhängen. Ich fluchte innerlich, beinahe nahm ich mir's da schon übel, dass ich die blöde Wette eingegangen war, doch ich hatte noch mal Glück. Zierau pennte anscheinend wie 'n Hamster, vielleicht war ihm im Unterbewusstsein was aufgestoßen, aber er hatte sich auf die andre Seite gedreht und schlief weiter, den Kopf mit dem strähnigen Haar im blaugetupften Kissen vergraben. Freilich, wenn ich mir's jetzt überlege, soweit ich dazu fähig bin in dieser hundsmiserablen Situation — so fest kann er auch wieder nicht geschlafen haben, denn irgendwann muss er ja rausgesprungen sein aus der Koje, muss die Pantoffeln übergestreift haben, den Bademantel, den er immer neben dem Bett liegen hat, und muss sich runtergeschlichen haben. So stell ich mir's wenigstens vor, denn wie soll er sonst ins Wohnzimmer gekommen sein? Ob er doch was gehört hat, als ich gegen den Eimer stieß, oder ob er gegen Morgen erst, als es schon hell wurde, durch den andern aufgeweckt worden ist? Aber durch wen, zum Teufel?
Das alles ist verrückt, verrückt, dreimal verrückt und abscheulich, aber ich hab nichts damit zu tun, ich hab weder was gesehn noch was gehört, ich war zwar in dem Haus, das stimmt, die ganze Nacht war ich drin, aber das ist auch alles, und selbst das muss man mir erst mal nachweisen.
Und wenn die andern nun nicht dichthalten — Karo, die Großschnauze, seine eingebildete Nina, der blasierte Intelligenzler oder Müller, der ja nur einverstanden war, dass wir zu ihm auf die Bude rücken, wenn wir was zu trinken ranschafften? Gewiss haben die gewartet und auf mich geflucht, und Karo wird auf dem großen Pferd gewesen sein, weil er glaubte, er hätte seine Wette gewonnen... Ach was, Wette, wer denkt denn noch daran! Hauptsache, die halten dicht, erzählen nicht, wo ich gestern Abend hin wollte, Hauptsache, sie halten die Klappe, Annekathrin, Klette und Nina, alle eben, die Bescheid wussten. Was ist heute für ein Tag... Sonnabend? Ein Glück, da pennen die sich aus, da kann ich noch was machen, mit Karo muss ich zuerst reden.
Als ich auf der Kellertreppe stand — nichts hatte sich im Haus geregt, der Alte hatte nichts gemerkt —, dachte ich nur an eins, die Flaschen greifen und ab durch die Mitte. Ich stellte mir schon die Gesichter der andern vor, wenn ich mit dem Tokaier auftauchte, aber vorsichtig war ich trotzdem, vorsichtiger noch als vorher. Die Kellertür hatte ich offen stehen lassen, ich bilde mir das wenigstens ein (wozu auch hab ich sie zumachen sollen?), sechs Stufen waren's bis runter, sechs ausgetretne Steinstufen, man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte, aber sonst gab's da kein Problem. Dann wendete ich mich nach rechts, wo die Regale mit dem Wein standen. Durch das Kellerfenster, das von außen vergittert war, drang zwar nur wenig Licht, aber da sich sonst nichts verändert hatte, die Flaschen noch genauso geordnet waren wie früher, brauchte ich nur zuzugreifen. Der Tokaier, und es war eine beträchtliche Anzahl der kleinen dickbäuchigen Flaschen vorhanden, befand sich ganz außen, ich hatte kein Licht nötig, um ihn ausfindig zu machen, er war ohne Schwierigkeiten zu ertasten.
Es war Minutensache, ich wischte den Staub mit dem Ärmel ab, keine sehr feine Methode, aber was sollt ich machen, die eine Flasche verstaute ich in der Innentasche meiner Kutte, selber angenäht, ziemlich tief, wie geschaffen für diesen Zweck, die anderen beiden Flaschen hielt ich in den Händen. So stieg ich die Kellertreppe hoch, ich nahm mir vor, nicht noch mal an den blöden Eimer zu stoßen, stellte mir das Gesicht des Alten vor, wenn er, vielleicht erst in ein paar Tagen, den Verlust entdecken würde — doch was hieß Verlust, das bisschen Wein verschmerzte der allemal, die paar Mark zählten bei dem überhaupt nicht. Trotzdem würde er sich natürlich wundern, sich den Kopf zerbrechen und fragen, wo die Flaschen so spurlos abgeblieben waren.
Ich stieg also die Stufen wieder hoch, langsam und doch beinahe beschwingt, wie man so sagt, der Alkohol in den Flaschen war kühl und still, nur der in meinem Schädel war heiß und rumorte fröhlich — ich wollte durch die Tür in den Korridor zurück, aber da erwartete mich 'ne Überraschung! Doch was red ich, ein Schlag war's, schlimmer als der mit dem scheppernden Blechding, ein verdammt böser Hieb war's, ein hinterhältiger Stoß, der was Unheimliches an sich hatte. Die Kellertür stand nämlich plötzlich nicht mehr offen, nicht weit und auch nicht den Schimmer von 'nem Spalt, sie war zu. Anfangs dacht ich zwar, sie sei einfach von selber zugegangen, ohne dass ich das unten im Keller gemerkt hatte, sanft gewissermaßen und leise, aber als ich mit dem Ellbogen dagegen drückte, dann kräftiger mit der Schulter, merkte ich, dass das nicht stimmen konnte. Die Tür war nicht angelehnt, sie war fest verschlossen, von außen verriegelt, das heißt, von der Flurseite her, wo sich der Riegel befand, da half kein Drücken und Dagegenstemmen.
Dennoch drückte ich mit der Schulter und stemmte mich dagegen, zunächst, noch die Flaschen in der Hand, mit halber Kraft, dann, nachdem ich sie abgesetzt hatte, mit meinem vollen Körpergewicht. Aber ich begriff sehr bald, dass ein kräftiger Eisenriegel vorgeschoben und deshalb nichts zu machen war. Da saß ich also in der Patsche, tiefer als man sich's überhaupt vorstellen kann. Eben noch im freudigen Vorgefühl meines Triumphes, nun mit der Nase im Dreck, geklatscht wie 'ne Fliege. Hatte der Alte doch was gemerkt, und ich war ihm in die Falle gegangen wie der dümmste Esel!
Zuerst wollt ich fluchen und gegen die Tür donnern; ich weiß zwar nicht mehr, was mir in diesem Augenblick alles durch den Kopf ging, aber dass mich eine ungeheure Wut packte, ist gewiss. Ja, ich hatte Wut und verspürte Lust, zu schrein, Zierau herauszufordern und zu beschimpfen, ihn, der mich so reingelegt hatte, wieder mal, auf seine Art, der heimlich und leise aus dem Bett gekrochen und die Treppe runtergeglitten sein musste, der mich gewiss im Keller scharren gehört und daraufhin den Riegel vorgeschoben hatte. Der nun aller Wahrscheinlichkeit nach im Korridor stand, den Atem anhaltend, seines Triumphes sicher, zufrieden, weil das Opfer in der Falle saß.
Aber ich schrie nicht, im Gegenteil, ich gab keinen Ton von mir, ich rüttelte noch nicht mal an der Tür. Ich würgte vielmehr meinen Zorn hinunter, meine Enttäuschung, denn mir kam plötzlich die Idee, dass mich der Alte vielleicht doch nicht entdeckt hatte, dass sich alles anders verhielt, dass ich noch eine Chance hatte, mit 'nem blauen Auge davonzukommen. Keine Ahnung, weshalb ich mir das einbildete, wahrscheinlich, weil der Mensch die Hoffnung nie aufgibt, obwohl man ja sieht, wie ich jetzt drinstecke; vielleicht kam ich auf diesen hirnverbrannten Gedanken, weil alles weiterhin still blieb. Man muss sich das mal überlegen: Jemand entdeckt um Mitternacht 'nen Einbrecher in seinem Keller — happiges Wort das, Einbrecher —, entdeckt ihn und schließt ihn ein, ohne ein Wort zu sagen. Ohne sich davon zu überzeugen, um wen es sich handelt. Dass der Alte anfangs, als er sich seiner Sache noch nicht sicher war, so leise wie möglich vorging, dass er da auf Katzenpfoten schlich — nun gut, das leuchtete ein. Dass er aber auch später kein Licht machte, um festzustellen, wer da eingedrungen war, dass er nicht mit eignen Augen sehen wollte, was eigentlich im Keller vor sich ging, und dass er jetzt, da er den Eindringling in der Falle wusste, noch immer keinen Laut von sich gab — das war nun doch verwunderlich. Wollte er Katz und Maus mit mir spielen, im Stillen abwarten, was ich anstellte?
Ich presste das Ohr an die Tür und lauschte, alles blieb ruhig, unheimlich ruhig. Hatte er Angst und war weggelaufen, um Hilfe zu holen? Das war bei einem andern möglich gewesen, doch kaum bei Zierau; den kannte ich, der hatte keine Angst, das war die einzige gute Eigenschaft an ihm. Und deshalb eben kam mir der Gedanke, er hätt mich vielleicht gar nicht entdeckt. Möglicherweise hatte er doch noch nicht richtig geschlafen, nur so geduselt und mit einem Mal ein Geräusch gehört, mein Poltern mit dem Eimer. Er begriff vielleicht nicht, woher das kam, kriegte es erst nach 'ner Weile mit, so wie es einem eben geht, wenn man schläft. Da hatte er sich aufgerappelt, war nach unten geschlurft und hatte im Wohnzimmer nachgeschaut, im Flur, in der Besenkammer, was weiß ich, jedenfalls nicht im Keller. Nicht dort, sonst hätte er stutzig werden müssen, nur den Riegel hatte er so im Vorübergehen zugeschoben. Und sich dann wieder hingelegt. Oder er war überhaupt nur rein zufällig aufgewacht, hatte Durst gehabt, war runtergekommen, um sich was zu trinken zu holen, merkte dabei, dass die Kellertür einen Spalt offen stand, drückte sie zu, schob den Riegel vor und ging wieder ins Bett. Ja, genau so musste es sein, das redete ich mir wenigstens ein, das hoffte ich in dieser vertrackten Situation, ich, mit meinen Flaschen beschäftigt, hatte nur nichts gemerkt. Ich redete es mir ein, denn wenn ich nicht entdeckt war, hatte ich die Chance, doch noch irgendwie auszukratzen. Obwohl mir klar war, dass das nicht mehr in dieser Nacht passieren konnte. Ich kannte den Keller, war mehr als einmal hier drin gewesen, ich wusste, wie dicht die Tür schloss und dass ihr selbst mit 'nem Brecheisen nicht beizukommen war. Wenn mich der Alte tatsächlich rein zufällig eingeschlossen hatte, dann musste ich warten, bis er genauso zufällig wieder öffnete. Wenn er in den Keller kam, konnte ich bestimmt an ihm vorbeiflitzen. Vielleicht mit 'ner Socke überm Kopf oder so. Wie man's in Krimis sah.
Deshalb also kämpfte ich meine Wut und meinen Schrecken nieder und tappte langsam die Kellertreppe wieder runter. Nicht, ohne mich nochmals an der Tür versucht zu haben. Aber die rückte und rührte sich nicht. Ich setzte mich auf die unterste Stufe und überlegte, wie ich die Nacht am besten rumbringen konnte. Teufel, sehnte ich mich auf einmal nach meinem Bett. Bisher hatte mich die Anspannung wach gehalten, aber jetzt merkte ich, wie müde ich war. Außerdem hatte ich Durst, einen wahnsinnigen Durst. Na gut, wenigstens dem war abzuhelfen. Ich hatte die Flaschen der Einfachheit halber auf den Fußboden abgesetzt, jetzt griff ich mir eine davon und öffnete sie mit dem Korkenzieher meines Taschenmessers. Ich setzte die Pulle an, trank und verschluckte mich anfangs fast. Dennoch, gut war das Zeug, wirklich gut, das einzig Gute an dieser misslichen Lage. Ich nahm einen kräftigen Zug, dann noch einen, mir wurde wohler und wärmer, nur munterer wurde ich nicht. Wenn ich mich wenigstens für 'ne Stunde hätte lang machen können. Ich suchte den Keller mit den Augen ab, denn ich hatte mich inzwischen besser an die Dunkelheit gewöhnt. In einer Ecke neben 'ner Kartoffelkiste entdeckte ich einen Haufen alter Säcke, nicht das beste Bett, gewiss nicht, aber in der Not... Ich setzte die Flasche noch mal an, ich konnte mich nicht davon trennen, einen guten Geschmack hatte die Annekathrin, das musste ich ihr lassen. Lange hatte ich nicht solchen Durst gehabt, das machte bestimmt die Aufregung, lange hatte mir nichts so gut geschmeckt, ein riesiges buntes Rad drehte sich in meinem Kopf, nein, ich drehte mich mit dem Rad, mittendrin in dem Rad war ich, auf 'ner Schaukel in dem Rad war ich, komisch das Ganze, der Alte hatte bestimmt nicht gedacht, dass ich auf dieser Schaukel seinen sorgsam behüteten Szaporozi gurgeln würde, wundern würde der sich, wundern...
Ich weiß nicht mehr, was dann kam, ich hab mich wohl lang hingehaun auf die Säcke, aber ohne die Flasche aus der Hand zu lassen. Dann muss ich den Rest Wein getrunken haben oder auch nicht, vielleicht ist mir die Flasche auch weggerutscht, und der Rest ist ausgelaufen. Genau weiß ich das nicht mehr. Und dann bin ich wohl eingeschlafen.
Ein Sonnabend im Juli, aber ein Sonnabend, der nicht recht in die Vorstellungen von diesem Monat passen will. Der Himmel wolkenverhangen, das Wetter neblig, nur ab und an gelingt es der milchigen Sonne, ein paar dünne Strahlen zur Erde zu schicken. Frisch ist es, ungewöhnlich frisch für die Jahreszeit, und der Mann, der mit langen Schritten, eine Aktenmappe unterm Arm, der VP-Inspektion zustrebt, ärgert sich, dass er den Regenmantel zu Hause gelassen hat. Dass er zu optimistisch war und dem Wetter mehr Sommerlichkeit zugetraut hat, als es nun bietet. Zum Glück stehen heute keine besonderen Ausflüge auf dem Programm; wenn irgend möglich, nutzt er den Wochenenddienst, um liegen gebliebenes Aktenmaterial aufzuarbeiten, um fällige Berichte abzuschließen oder ein letztes Mal durchzusehen. Gut jedenfalls, dass er nicht, wie eigentlich vorgesehen, gerade in diesen Wochen seinen Urlaub genommen hat.
Leutnant Kielstein hat noch keine Ahnung von der Nachricht, die ihn an diesem Sonnabend erreichen wird, steht noch nicht unter der Anspannung der nächsten Stunden und bewegt sich folglich ganz ungezwungen. Wer ihn beobachtete, sich ein Bild von ihm zu machen suchte, würde sicherlich feststellen: Der Mann erweckt keinen unsympathischen Eindruck. Groß ist er, 1,78 bis 1,80 Meter vielleicht, hat volles, dunkelblondes Haar und ein — nun ja — nicht gerade markantes Gesicht. Weder treten die Backenknochen hervor, noch ist die Stirn besonders hoch; weder ist die Nase scharf geschnitten, noch sind die Augenbrauen buschig. Die Augen spielen ins Bräunliche, die Ohren stehen ein wenig ab, aber eben nur ein wenig — alles in allem kein Antlitz, das sich dem Betrachter sofort und nachhaltig einprägt. Da fallen schon eher die eckigen, schlenkrigen Bewegungen des Mannes auf. Mitte der Dreißig mag Kielstein sein, aber sein schlaksiger Gang lässt ihn jünger erscheinen. Sieht er aus wie einer, der seit gut zehn Jahren Gesetzesbrechern nachspürt? Hauptmann Bothe, sein unmittelbarer Vorgesetzter, der einen halben Kopf kleiner ist, doch breiter in den Schultern, wuchtiger von der ganzen Gestalt, wird von Leuten, bei denen er ermitteln muss, sofort für voll genommen, Kielstein geschieht öfter einmal das Gegenteil. Selbst wenn er seinen Ausweis gezeigt hat, scheint ihn mancher noch für einen Aushilfspolizisten zu halten, für einen Mann, der besser Tennisspieler, Jazzmusiker, Büroangestellter geworden wäre. "Ein Vorteil für dich", sagt Bothe, und da mag er Recht haben. Jedenfalls weiß der Leutnant durchaus den Naiven zu spielen, wenn es darauf ankommt, den Ungeschickten, den, der dreimal fragen muss, um eine einfache Sache zu begreifen.
Andererseits versteht es Kielstein jedoch, sich im gegebenen Augenblick durchzusetzen. Er hat mehr Erfahrungen im Beruf als mancher ältere Kollege, er hat Ideen, und die jahrelange Konfrontation mit den verschiedenen Vergehen und Verbrechen hat ihn nicht zum Routinier werden lassen. Im Gegenteil, sie hat ihn nur nachdenklicher und eigenwilliger gemacht. Ende der fünfziger Jahre, auf der Polizeischule, dachte er wie viele seiner jungen und auch älteren Genossen noch, dass sich die Verbrechensquote mit der Zeit nahezu automatisch senken würde, in dem Maße, wie sich die Lebensverhältnisse, die Beziehungen der Menschen zueinander besserten. Die Arbeit der Polizei und speziell der Kriminalpolizei, wo er bald danach seinen Dienst antrat, war notwendig, das schon, und sie musste gut gemacht werden, das unbedingt, aber sie würde stetig leichter werden, immer weniger Platz im Leben der Gesellschaft einnehmen, einfach, weil es die Leute nicht mehr nötig hatten, zu stehlen, zu rauben, zu morden. Ende der fünfziger Jahre, zwanzig, einundzwanzig Lenze alt, mit dem unbekümmerten Vorwärtsdrang der Jugend ausgestattet, hatte Kielstein geglaubt, diese Entwicklung würde sich schnell vollziehen, schneller, als es dann tatsächlich geschah; er hatte alles sehr großzügig eingeschätzt, sehr von außen — nicht, dass er sich in jedem Punkt Illusionen gemacht hätte, aber vereinfacht hatte er schon. Er hatte viel theoretisiert und die Anstrengungen unterschätzt, die selbst der kleinste Fortschritt beim Kampf gegen die Kriminalität verlangt. Grob gesehen, auf längere Zeiträume, stimmte es natürlich: Die Welt zum Besseren verändern hieß dem Verbrechen den Boden entziehen, und es war ja auch auf seinem Gebiet eine Zeitlang gut vorangegangen. Dann jedoch hatte es Rückschläge gegeben, ein Auf-der-Stelle-Treten, Einflüsse von drüben machten sich negativ bemerkbar, und hier, unter den neuen Bedingungen, zeigte sich: Ein höheres Lebensniveau, eine sozialistische Erziehung der Jugend führten nicht zwangsläufig zum Absinken der Verbrechensziffer. Der Gedanke, sich unrechtmäßig zu bereichern, sich durch Betrug, Raub, ja Tötung einen Vorteil zu sichern oder auf diese Weise unangenehmen Problemen aus dem Weg zu gehen, setzte sich immer wieder in den Köpfen einzelner Menschen fest. Gegen die Täter musste unnachgiebig, mit zäher Ausdauer und Geschicklichkeit gekämpft werden. Heute wie damals. Die Routine nützte dabei, die Erfahrung half, doch jeder neue Fall forderte auch neue Überlegungen und ein Vorgehen, das auf die spezielle Situation und die darin verwickelten Menschen gemünzt war.
Das also ist Kielsteins Meinung, sie hat sich in der Zeit seines Polizeidienstes, vor allem während seiner sechsjährigen Tätigkeil bei der MUK, herausgebildet, und er vertritt sie nicht nur theoretisch, er steht auch in der Praxis konsequent zu ihr, zu konsequent mitunter. Es ist schon passiert, dass er zuviel Spezielles, Eigenständiges in Situationen und Menschen hineindeutete, zu ausgefallene Wege gehen wollte, dabei aber das Nahe liegende übersah und auf die Nase fiel. Gut, dass es dann Bothe gab, Unterleutnant Andreesen und Kriminalmeister Felsch, die in die Bresche sprangen, ihn zurückhielten oder in eine andere Richtung stießen. Außerdem ist Kielstein keiner, der auf der Nase liegen bleibt und etwa beim nächsten Auftrag zuerst an die früheren blauen Flecken denkt. Kanten, die zu scharf waren, hat er sich mit der Zeit abgeschliffen, und von einigen Fällen abgesehen, gibt ihm der Erfolg Recht. Hauptmann Bothe jedenfalls, dem er manchmal noch zu eigensinnig, zu heißblütig und dann auch wieder zu nachgiebig ist, schätzt seine Art, sich in eine Spur zu verbeißen, die zunächst nicht das Geringste verheißt. Er weiß, dass der Leutnant in verfahrener Lage oftmals überraschend produktive Einfälle hat, mit Fantasie und Menschenkenntnis zu Werke geht. Dass er, vor allem beim Umgang mit jugendlichen Straftätern, Fingerspitzengefühl bewiesen hat. Mit den Jahren ist ein nahezu gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den beiden entstanden, das die Ordnung in der Dienststelle jedoch nicht durcheinander bringt. Klar, dass Bothe der Chef ist, dass er, wenn auch oft unmerklich, den Ton angibt, dass in schwierigen, unübersichtlichen, umstrittenen Situationen er entscheidet. Kielstein hat das Polizeigebäude erreicht, etwas lässig zeigt er am Eingang seinen Dienstausweis vor, dann steigt er, meist zwei Stufen auf einmal nehmend, zum dritten Stock, zu den Räumen der Morduntersuchungskommission empor. Es ist sieben Uhr dreißig, er ist mehr als pünktlich, aber er liebt es nicht, morgens in letzter Minute durch die Gänge zu hasten. Schließlich wartet ja auch Andreesen auf Ablösung, der Nachtdienst hatte.
Kielstein betritt sein Zimmer, der andere ist nicht da, er stellt die Aktentasche auf den Schreibtisch, nimmt Zigaretten und Streichhölzer aus dem Jackett, legt beides in die Schublade. Er ist Gelegenheitsraucher, tagelang tut er keinen Zug, dennoch schleppt er immer eine Schachtel Juwel mit sich herum. Für Gäste, langweilige Sitzungen oder, umgekehrt, Augenblicke der höchsten nervlichen Anspannung. Bekannte und Kollegen mokieren sich über diese Manie, doch das stört ihn nicht. Die eigene Note. Marianne, als sie noch verheiratet waren, hat auch darüber gelacht. Marianne — das ist nun fünf Jahr her.
Andreesen kommt ins Zimmer, er hat sich nebenan rasiert. Ob man die Nacht geschlafen hat oder nicht, man muss rasiert sein, wenn man unter die Leute geht, das ist seine Meinung.
Die beiden Kriminalisten begrüßen einander, der Unterleutnant erstattet Bericht, es gibt — glücklicherweise — keine besonderen Vorkommnisse. Dann ein kurzer Gedankenaustausch über private Angelegenheiten, vor allem über das Fußballspiel von Rot-Weiß am Nachmittag, das Kielstein leider nicht verfolgen kann. Andreesen rüstet zum Aufbruch, der Leutnant zieht eine Mappe mit Pressenotizen aus dem Schreibtischfach, macht sich an die Arbeit. Stille, Friedfertigkeit. Nichts Außergewöhnliches, Unerfreuliches, Bestürzendes scheint sich anzubahnen.