Sieben Stunden im April
Meine Geschichten vom Überleben
Patmos Verlag
Prolog
Das Nachwort als Vorwort
Frau Hoppe macht sauber
Die dicke Susanne macht Lärm
Dr. Achtermann macht gesund
Olivenöl macht glücklich
Bumbum macht traurig
Watte macht Angst
Mairegen macht schön
Frau Bäcker-Rode macht keine Kompromisse
Kartoffelpuffer machen dick
Intermezzo I: Das Ende
Moni macht Stress
Katharina macht Mut
S’Allergröschde macht Arbeit
Cowboys machen mobil
Zumba macht stolz
Vergleich macht gelassen
Viele Steine machen eine Brücke
Intermezzo II: Die Verwandlung
Dr. Lange macht müde
Bad Sachsa macht alt
Mary macht Kohl
Tante Anna macht alles richtig
Armut macht keinen Spaß
Nur Holländer machen Aprilglöckchen
Der Herr macht es möglich
Frau Bergmann macht Probleme
Ho Narro macht stark
Neue Sätze machen´s leichter
Ostfriesland macht stur
Japanisch macht aggressiv
Intermezzo III: Die Abrechnung
Kälte macht klamme Finger
Nordseeluft macht rote Wangen
Abschied macht frei
Starke Seile machen sicher
Zusammenfassen macht Mühe
Überleben macht hungrig
Der Rucksack macht es möglich
Epilog
Ein Jahr später
Für alle,
die sich plötzlich ungewollt
in einem anderen Leben wiederfinden.
Für Wolfram und für David.
Und für mich.
Er reißt an der Befestigung der Jalousie. Er will sie runterlassen, die weiße Jalousie mit den schmalen Lamellen. Seit fast fünf Jahren hängt sie vor diesem Fenster. Runtergelassen habe ich sie noch nie. Er reißt und zerrt. Irgendetwas an der Befestigungsvorrichtung gibt nach. Die Jalousie hängt schräg im Fenster. Er zerrt. Erst in die eine, dann in die andere Richtung.
Auf der Fensterbank steht ein Foto in einem schmalen Holzrahmen. Die Jalousie wird auf diesen Rahmen fallen. Das lässt sich gar nicht verhindern. Das Bild wird kippen, umfallen, vielleicht auf den Boden. Er zerrt weiter. Erst in die andere, dann in die eine Richtung.
Lieber Gott, lass das Bild nicht umfallen. Lieber, lieber Gott, bitte, bitte, bitte, gib mir ein Zeichen. Mach, dass das Bild stehen bleibt. Dann schaffe ich es. Fällt es um, war es das für mich. Dann werde ich hier in diesem Raum sterben. Bitte, bitte, bitte, gib mir ein Zeichen, lieber Gott, bitte. Lass das Bild stehen bleiben. Bitte. Lass es nicht umfallen. Gib mir doch bitte dieses Zeichen. Lass mich doch nicht ganz alleine. Bitte.
Er zerrt. Die Jalousie bewegt sich. Gibt nach. Er zerrt weiter. Sie kracht runter. Erst auf das Bild, dann auf die Fensterbank. Der Holzrahmen kippelt bedenklich.
Bitte, bitte, bitte nicht.
Das Bild bleibt stehen. Auf der Fensterbank. Dahinter die weißen Lamellen der Jalousie.
Wahrscheinlich gibt es nicht viele Bücher, Romane, Erzählungen, Essays, die mit dem Nachwort beginnen. Aber wahrscheinlich gibt es auch nicht viele Autorinnen oder solche, die sich dafür halten, die eine klare Vorstellung davon haben, wie sie in der NDR Talk Show ihr Sensationswerk vorstellen, ins kleine Schwarze gewandet, bescheiden, aber selbstsicher auftretend. Und die gleichzeitig überhaupt keinen Plan haben, wie sie dieses Ziel genau erreichen können. Menschen, den Kopf voller Ideen, Fragmenten, Kapitelüberschriften, Buchtiteln, Bildern, aber unfähig, dieses Knäuel zu entwirren, um den Anfang zu finden.
So bin ich. Beseelt vom Wunsche, eine richtig gute Geschichte zu erzählen. Und völlig unfähig, zugunsten des Ziels – NDR Talk Show, Buchvorstellung, Weißweinglas in der Hand, im kleinen Schwarzen kluge Dinge sprechend – Ordnung in den Kopf zu bringen oder auch nur so etwas wie Disziplin an den Tag zu legen. Oder, noch einfacher, nur anzufangen. Irgendwie. Mit irgendwas.
Vor vielen Jahren hat mir ein erfahrener Berufskollege einmal geraten, einen schwierigen und komplizierten Sachverhalt, der sich nicht auf das Papier zwingen lassen wollte, dergestalt auszutricksen, dass ich den letzten Satz, das Ergebnis, auf das ich zusteuern will, zuerst aufschreibe. Diese Methode hat geklappt und sich auch in der Folgezeit noch oftmals bewährt. Aha. Warum sollte das dann bei einem Buch nicht funktionieren?
Ich werde jetzt also anfangen, meine Geschichte zu erzählen, ohne genau zu wissen, wie. Mir ist unklar und auch völlig egal, welchem literarischen Genre diese Geschichte zugeordnet werden kann. Mir ist egal, wie lange es dauert. Mir ist eigentlich sogar egal, ob sie jemals verlegt wird. Wichtig ist nur, dass ich anfange – sonst werde ich nie im kleinen Schwarzen in der NDR Talk Show sitzen, soviel steht fest. Ich erzähle jetzt eine kleine Geschichte. Und dann noch eine. Und noch eine. Und mit etwas Glück und Durchhaltevermögen fügt es sich vielleicht zu einem verständlichen Ganzen, zu meiner Geschichte, zu meinem Buch vom Überleben.
Natürlich habe ich Sorge, ein weiteres Werk aus der Rubrik »Bücher, die die Welt nicht braucht« ins Leben hinauszuschicken. Ich werde trotzdem schreiben, auch wenn die Welt vielleicht auf das, was ich zu sagen habe, verzichten kann – ich kann es nicht. Ich brauche es, zu schreiben, zu erzählen, mich auf diesen Weg zu begeben. Und im Moment ist das das Einzige, was zählt.
Kein Nachwort ohne Danksagung. Ich danke meinem Mann und meinem Sohn, die mir das Überleben ermöglicht haben und für die es sich gelohnt hat und immer noch lohnt. Außerdem danke ich den Böhsen Onkelz für die folgenden großartigen Zeilen:
Nichts hat Bestand, nicht mal das Leid, und selbst die größte Scheiße geht mal vorbei. Lass es zu, dass die Zeit sich um dich kümmert, hör mir zu, mach es nicht noch schlimmer, denn es gibt ’nen neuen Morgen, ’nen neuen Tag, ein neues Jahr. Der Schmerz hat dich belogen, nichts ist für immer da.1
Auch diese Worte haben mir beim Überleben geholfen.
Und an meine Kritiker, die ich jetzt schon habe, und an die, die ich vielleicht noch bekommen werde: »Schreibt doch eure eigenen Geschichten auf, dann seid ihr nicht auf mich angewiesen.« Das ist ein Zitat der von mir sehr geschätzten Rita Mae Brown. Vielleicht sitzen wir uns dann eines Tages in einer Talkshow gegenüber und warten mal ab, was passiert. Das ist von mir.
Ich wäre froh und stolz, die erste Geschichte mit einem bahnbrechenden, alles bereits Gewesene in den Schatten stellenden, die Leserschaft auf ewig beeindruckenden Satz beginnen zu können. So in etwa aus der Liga eines Tolstoi mit seinem berühmten Anfang von Anna Karenina. Oder zumindest wie Tania Blixen: »Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge …«
Leider bin ich von derartigen literarischen Qualitäten Lichtjahre entfernt. Mindestens.
Mein erster Satz lautet daher schlicht und ergreifend:
Manchmal, wenn ich auf dem Balkon sitze oder rausgehe, um eine Zigarette zu rauchen, was auch im Winter viel zu häufig vorkommt, sehe ich, dass Frau Hoppe sauber macht. Frau Hoppes Balkon liegt, von unserem aus gesehen, über Eck schräg links in der zweiten Etage und ist sehr viel kleiner als unserer, höchstens halb so groß. Auf Frau Hoppes Balkon gibt es drei mäßig bewachsene Blumenkästen, einen kleinen Pflanzkübel mit einer vereinsamten Konifere, eine Fußmatte, daneben stehen immer ein paar dunkelgraue Hausschuhe ganz ordentlich nebeneinander, und zwei alte Holzstühle, deren weißer Lack sich von Jahr zu Jahr weiter verabschiedet. Die Stühle sind ganz akkurat links und rechts neben der Balkontür aufgestellt und verlassen, soweit ich das bislang verfolgen konnte, ihren Platz nie. Anders als die meisten der 27 Balkone unseres Innenhofs ist der von Frau Hoppe nicht mit einer im Wind knirschenden Schilfmatte abgeschirmt – das würde in diesem Fall auch nichts nützen, weil ich so oder so von oben auf den Balkon sehen kann. Keine Chance, Frau Hoppe!
Frau Hoppes Balkon wird nie von einem Sonnenstrahl getroffen, was sich durch die eigentümliche Bauweise des Gebäudekomplexes erklärt und mir wirklich leidtut, denn auf unserem Balkon scheint von mittags bis in die späten Abendstunden Sonne satt. Unser Balkon ist chaotisch-wohnlich: viele Pflanzen, Strandkorb, Sonnenschirm, Holzbank, Wassertümpel. Laternen, pausbäckige Engel, Glaskugeln. Unser zweites Wohnzimmer, stets gern genutzt, wenn es das Wetter zulässt. Genutzt zum Essen, Trinken, Dösen, Schlafen, Lesen, Feiern, Lachen, Streiten. Und ich liebe es, grünen Nachschub aus Gärtnereien anzuschleppen. Ich liebe es, zu dekorieren und umzutopfen und zurückzuschneiden, und überhaupt verfolge ich das Ziel, unseren Balkon zu dem schönsten und wohnlichsten des Viertels zu stylen. Das hilft, die Seele zu heilen. Und, im Gegenzug, macht es ein Balkon der verwundeten Seele noch schwerer, trübe, lange Wintertage zu überstehen.
Es gibt ein chinesisches Sprichwort:
Willst du für eine Stunde glücklich sein, so betrinke dich. Willst du für drei Tage glücklich sein, so heirate. Willst du für acht Tage glücklich sein, so schlachte ein Schwein und gib ein Festessen. Willst du aber ein Leben lang glücklich sein, so schaffe dir einen Garten.
Manchmal trinke ich Rotwein, geheiratet habe ich vor gut einem Jahr, ein Festessen für Freunde mache ich selten.
Früher, in meinem alten Leben, hatte ich einen Garten.
Frau Hoppe sitzt nie auf ihrem Balkon. Auch ihre Kinder – Jungen unbestimmten Alters, zu groß für Windeln, zu klein für Pubertätspickel – habe ich noch nie auf dem Balkon gesehen. Einen Herrn Hoppe scheint es nicht zu geben. Ab und an beobachte ich Frau Hoppe, die den Balkon offensichtlich nur betritt, um das Geländer zu putzen oder Blumen zu gießen, und die sich vorher grundsätzlich die grauen Hausschuhe anzieht. Ich glaube nicht, dass sie gerne auf ihrem Balkon ist. Und nur an ganz besonders heißen Sommertagen, an denen sich die Luft im Innenhof staut, steht manchmal die Balkontür auf. Aber man hört kein Lachen, keine klappernden Töpfe, keine Musik – nichts. Auch das tut mir leid.
In unserem Innenhof gibt es viele Tauben. Riesengroße, fiese, laute, unangenehme Stadttauben. Tauben, wie es sie überall auf der Welt in allen Städten gibt. Und wie überall auf der Welt machen auch unsere Tauben viel Dreck. Und dieser Taubendreck landet zum Großteil auf dem Fensterbrett von Frau Hoppe. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß aber, dass ich noch nie Taubendreck in solchen Mengen auf unserem Balkon vorgefunden habe, so dass es sich gelohnt hätte, zu Putzutensilien zu greifen. Anders bei Frau Hoppe. Ich kann es mir nicht erklären, wirklich nicht, doch es ist nun mal traurige Tatsache, dass der Großteil der ganzen Taubenkacke – man sollte die Dinge beim Namen nennen und auf Euphemismen wie »Taubendreck« verzichten: Gemeint ist Kacke, dann soll es auch Kacke heißen – auf Frau Hoppes Fensterbank landet. Nicht bei uns, nicht bei den anderen 25 Mietern, nein – nur Frau Hoppe hat das Problem. Leider weiß ich nicht, welcher Raum sich hinter diesem Fenster verbirgt. Aber egal, ob Schlaf-, Wohn- oder Kinderzimmer – in keinem Fall ist es besonders schön, auf eine zentimeterdicke Lage Taubenkacke zu blicken. Also macht Frau Hoppe regelmäßig sauber. Mit Putzlappen und gelben Gummihandschuhen. Und mit einem unglaublich verbitterten Gesichtsausdruck, der mich frieren lässt. Nein – eigentlich macht er mir Angst. Wie gesagt: keine Euphemismen! Und wahrscheinlich schrubbt Frau Hoppe in dem Bewusstsein, diesen Vorgang alsbald wiederholen zu müssen, was vielleicht auch nicht besonders fröhlich macht.
Nun möchte ich nicht behaupten, vor Glück zu strahlen, wenn ich Taubenkacke vom Fensterbrett kratzen müsste, bei Frau Hoppe irritiert mich aber, dass sie immer so aussieht. So verbittert, unglücklich, unfreundlich. Es ist egal, ob ich ihr in der Tiefgarage oder im Treppenhaus begegne, egal, ob morgens oder nachmittags oder abends, ob sie Tüten schleppt oder ihre Söhne an der Hand hält – Frau Hoppe sieht immer gleich verbittert aus. Oder wäre »unglücklich« zutreffender? Unterscheiden sich diese beiden Worte überhaupt? Frau Hoppe sagt auch nie »Guten Tag«, nur manchmal nickt sie knapp. Und an vielleicht besonders schlechten Tagen kann es schon mal passieren, dass sie die Haustür direkt vor einem zuhaut. Mit Absicht, wäre zu unterstellen. Das ist Frau Hoppe.
Ich weiß nicht, welchen Beruf Frau Hoppe ausübt, ich weiß nicht, wie alt sie ist, ich weiß nicht, was mit Herrn Hoppe geschehen ist. Ich weiß nicht, wo die Liebe, deren Ergebnis zwei Söhne sind, geblieben ist oder ob es sie überhaupt jemals gab. Ich weiß eigentlich nichts von Frau Hoppe, die ich noch nie habe lachen oder auch nur lächeln sehen. Natürlich habe ich auch noch nie im Leben ein Wort mit Frau Hoppe gewechselt – wie denn auch?
Ich weiß nur, dass schräg links über Eck in der zweiten Etage die Traurigkeit und die Verbitterung wohnen. Sie sollen niemals bei mir einziehen, denn so war ich nie und so werde ich nie und so will ich nie sein. Niemand sollte so sein müssen wie Frau Hoppe.
Ich beobachte Frau Hoppe seit längerem, regelmäßiger aber erst seit April des vergangenen Jahres, das heißt, ich befinde mich gerade im zweiten Sommer mit Frau Hoppe, ihrem Balkon, ihrer Taubenkacke und ihren gelben Gummihandschuhen. Diese Frau lässt mir keine Ruhe. Vielleicht wäre sie zufriedener, wenn sie von ihrer Wohnung aus den Dom sehen könnte, aber ich glaube, das kann sie nicht. Auch das tut mir leid.
Wenn ich aus dem Schlafzimmerfenster schaue, kann ich in der Ferne die beiden Türme des Domes sehen. Je nach Wetterlage erscheinen sie ganz nah und klar oder eher fern, durch Nebel oder Regen verschwommen. Zu sehen sind sie aber immer.
Der Dom steht dort seit gut achthundert Jahren und oftmals, wenn ich aus dem Fenster sehe, staune ich darüber, was diese älteste gotische Kirche auf deutschem Boden – so heißt es –schon alles gesehen und miterlebt hat: Kriege, Wohlstand, Demonstrationen, Zerstörung, Wiederaufbau. Eigene Wunden. Eine endlose Kette sich wiederholender Ereignisse. Und stoisch wacht der Dom über allem. Ich habe mir schon oft vorgestellt, was dieses Bauwerk wohl über uns Menschen denken mag, wenn wir, gebeugt von Kummer oder Einkaufstaschen, über den Domplatz gehen. Oder weinend. Oder fröhlich. Kommen einem solchen Bauwerk unsere kleinen Leben unwichtig vor? Denken Steine? Wenn ich der Dom wäre, wäre ich nur dankbar und froh, Dom sein zu können. Ich glaube, ich hätte keine Lust zum Denken. Und nach achthundert Jahren auch nicht mehr genug Energie, um sie an kleine, flüchtige Leben zu verschwenden.
Vor drei Jahren war ich zum ersten Mal im Dom und habe eine Kerze angezündet. Nicht, dass ich besonders gläubig bin, aber dieser Akt hat so etwas Erhabenes, Mystisches. Man fühlt sich auf eine undefinierbare und wahrscheinlich auch geheuchelte Art gesegnet und mit welchem Geist auch immer verbunden. Und schaden wird es wohl nichts, dachte ich damals.
Zwischenzeitlich war ich noch oft dort, habe den Archäologen zugesehen, den Restaurateuren, habe die Orgelbauer beobachtet und die Touristen. Ich habe verfolgt, wie die Arbeiten voranschritten, war im Raum der Stille und habe dort tatsächlich den Mund gehalten. Ich habe mehrmals den Kreuzgang durchschritten, obwohl ich normalerweise einfach nur gehe, und habe irgendwann begonnen, mich im Dom zu Hause zu fühlen. Beheimatet. Aber der Akt des Kerzenentzündens hat seine Besonderheit für mich nie verloren. Ich habe Kerzen angezündet für mich, meinen Mann, meinen Sohn, meine Mutter, für Schulabschlüsse und Klassenarbeiten, für wichtige Arbeitsentscheidungen, unsere Liebe, unser aller Gesundheit. Es sind im Laufe der Zeit viele, viele Kerzen geworden. Gebetet habe ich nie. Aber leise gesprochen. Mit wem auch immer.
Zehn Tage, nachdem mein altes Leben zu Ende gegangen ist, habe ich geheiratet. Nach der standesamtlichen Trauung haben wir, die kleine, traurige, zutiefst verstörte Hochzeitsgesellschaft bestehend aus dem Brautpaar, zwei Trauzeugen nebst jeweiligem Partner, einem jungen Mann, Sohn der Braut, einem verwitweten Doktor h.c., Vater des Bräutigams, und einer verwitweten Hauptsekretärin im Ruhestand, Mutter der Braut, uns in der Marienkapelle des Doms eingefunden, um den kirchlichen Segen zu erhalten. Nein, keine kirchliche Trauung im engeren Sinne, sondern einen schlichten Segen. Ohne Orgel und sonstiges Brimborium. Die kirchliche Trauung sollte, so war es mit dem Probst abgesprochen, einige Monate später an einem anderen Ort stattfinden. Dort, wo der Bräutigam seine Kindheit verbracht hatte. Dort, wo seine Mutter begraben liegt. So war der Plan, denn die Immer-noch-Frischverliebten waren übereinstimmend der Ansicht, bestimmte Aufgaben im Leben könnten mit Gottes Hilfe besser gelingen. Die Ehe zum Beispiel. Wenn es Gott denn gibt, aber das ist ein anderes Thema.
Die Gästeliste für die große kirchliche Trauung habe ich einen Tag, bevor mein altes Leben zu Ende ging, erstellt. Die Einladungen sind jedoch nie verschickt worden. Der kirchliche Segen in der Kapelle des alten, weisen Domes, die schlichte, zu Herzen gehende Zeremonie musste fürs Erste genügen. Und soll und wird es auch. Ich erinnere mich kaum mehr an das, was in der Kapelle geschehen ist. Nur an die Worte Glaube, Liebe, Hoffnung.
Dieses ist meine zweite Ehe. Die erste war, wie so viele andere Ehen, ein langjähriger Kampf ohne Gewinner. Dann die Scheidung, dann unerwartet die neue, die große, die vielleicht ewige Liebe einer fast Fünfzigjährigen zu einem Mann, den sie nicht glaubt, verdient zu haben. Glück, Lachen, Leidenschaft, atemberaubender Sex, Heiratsantrag und ein halb gelachtes, halb geweintes JaJaJaJaJa! Ich hatte mich auf diese Hochzeit, auf diese Ehe gefreut. Auf Fahrten im Riesenrad des Lebens – und noch eine Runde und noch eine Runde und noch mal, höher, höher, schneller, viel schneller.
But if he finds you and you find him,
The rest of the world don’t matter;
For the Thousandth Man will sink or swim
With you in any water.
So heißt es bei Rudyard Kipling. Ich wusste, ich hatte ihn gefunden. The Thousandth Man.
Nine hundred and ninety-nine of ’em call
For silver and gold in their dealings;
But the Thousandth Man he’s worth’em all
Because you can show him your feelings.
Nachdem mein altes Leben beendet war, habe ich meinen späteren Mann bei unserer ersten Begegnung im neuen Leben gefragt, ob er mich immer noch heiraten wolle. Er hat geantwortet: »Und nun erst recht.« Was hätte ich getan, wenn er »Nein.« gesagt hätte? Ich weiß es nicht.
Im Nordturm des Domes hängt die dicke Susanne und macht Lärm. Lärmen kann sie, weil sie eine große, dicke Kirchenglocke ist. Das alles ist bei Wikipedia nachzulesen. Ich verstehe nämlich nichts von Glocken, kaum etwas von Kirchengeschichte und nur sehr wenig von Musik, von Tonleitern, von Akkorden oder was immer für den Klang von Kirchenglocken entscheidend sein mag. Aber die Vorstellung, in dieser Stadt, in der ich mich immer selbstständiger und selbstverständlicher bewege, durch den Lärm der dicken Susanne geschützt und an die vielen Kerzen, die ich angezündet habe, an den Zauber des Kreuzganges oder den kirchlichen Segen bei meiner Hochzeit erinnert zu werden, gefällt mir gut. Ich sehe den Dom von meinem Fenster aus, ich sehe ihn, wenn ich mich, aus welcher Himmelsrichtung auch immer, von ferne der Stadt nähere, und manchmal, wenn ich ihn gerade nicht sehe, höre ich den Lärm der dicken Susanne. Ich glaube, dieser Lärm ist wirklich in der ganzen Stadt zu hören, wahrscheinlich, nein: ganz bestimmt auch in der Praxis von Dr. Achtermann.
An einem sonnigen Nachmittag im Mai habe ich Dr. Achtermann zum ersten Mal getroffen – er war mir vom Nachbarn eines Bruders eines entfernten Bekannten empfohlen worden. Mein Mann hat mich hingefahren und wir hatten zunächst große Mühe, das schicke Appartementhaus zu finden. Vielleicht war es auch so schwierig, weil nicht mal das Navi glauben konnte, dass es in diesem heruntergekommenen Stadtteil, voll mit halb verfallenen grauen Fabrikgebäuden, an deren frühere Aufgaben sich niemand mehr erinnern kann, einen Neubau geben sollte. Ganz zu schweigen von einem Dr. Achtermann.
Wir haben geklingelt, sind in die dritte Etage hinaufgegangen. Dann die Begrüßung. Und dann die Aufforderung an meinen Mann, wieder zu gehen. Spazieren oder Kaffee trinken. Was auch immer. Nein, ein Wartezimmer gebe es nicht.
Für das Behandlungszimmer des Dr. Achtermann gibt es nur einen treffenden Begriff: gediegen. Ich saß also in einem gediegenen Behandlungszimmer auf einem gediegenen Stuhl dem gediegenen Dr. Achtermann gegenüber und schickte mich an zu erzählen. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tag und den folgenden erzählt habe. Ich erinnere mich nicht. Aber ich erinnere mich gut an den Ausblick auf den Fluss, daran, dass ab und zu frische Blumen auf dem Tisch standen und dass Dr. Achtermann ein gut gefülltes Buchregal besaß. Manche der Bücher kannte ich. Und ich habe mich gefragt, ob die Bücher der Dekoration dienen oder ob er sie braucht, um hin und wieder etwas nachzuschlagen. Ich habe mich auch gefragt, wie teuer die Wohnung wohl ist, ob Eigentum oder gemietet, wo Dr. Achtermann wohl studiert haben mag, wo er wohnt und vieles mehr. Keine dieser Fragen habe ich Dr. Achtermann jemals gestellt. Mir war klar, dass sich das nicht gehört.
Ich war einige Male bei Dr. Achtermann und habe erzählt. Und zwar alles Mögliche, bunt durcheinander: von meiner Kindheit, meinen Eltern, meiner Schulzeit, meinem beruflichen Werdegang, von meiner Ehe Nr. 1, meiner Ehe Nr. 2, meinem Sohn, meinen Plänen, meinen Ängsten, meinen Hoffnungen, meinen Träumen. Besonders über meine Träume hat mich Dr. Achtermann sehr gerne berichten lassen. Natürlich war ich neugierig, wie sie zu deuten seien, aber das hat mir Dr. Achtermann nie gesagt. Irgendwann hat es keinen Spaß mehr gemacht, Träume zu erzählen und zu interpretieren – alles war irgendwie falsch und gleichzeitig auch ein bisschen richtig, aber nie ganz. Dr. Achtermann war nie wirklich zufrieden, so schien es. Nicht mit meinen Antworten, nicht mit meinen Träumen, nicht mit mir.
Zu den Ängsten, die mich quälten und die ich mithilfe von Dr. Achtermann loswerden wollte, fiel ihm ein interessantes Bild ein, das er einmal auf einem Werbeplakat gesehen hatte: Ein Ritter in voller Montur sei mit einem Pferd auf einen relativ kleinen Drachen zugeritten, um ihn mit seiner Lanze zu töten. Nur der Betrachter habe aber sehen können, dass der Drache eine Handpuppe war – geführt von einem ungleich größeren Drachen, der tief in einer finsteren Schlucht auf sein Opfer, den Ritter, wartete. Ich sei der Ritter und der kleine Drache, die Handpuppe, sei meine Angst. Was er mir damit sagen wollte, der Herr Doktor? Er wollte sagen, meine Ängste, die mich zu ihm geführt hatten, seien nicht das Problem. Ich sei das Problem. Ich, der große Drache. Ich, hinterhältig in einer finsteren Schlucht lauernd, sei das zu behebende Übel. Dieses Bild hat mich nur kurzfristig amüsiert. Eigentlich hat es mich traurig gemacht.
Dr. Achtermann hat, wenn er denn mal gesprochen hat, gerne Bilder, Sprüche, Geschichten benutzt, die ich leider oft nicht verstanden habe, die mich aber ins Grübeln gebracht oder manchmal, so wie das Bild der beiden Drachen, traurig, nie glücklich oder klüger, gemacht haben. Ich hatte weiterhin Angst, Wut, Zorn, Traurigkeit in mir. Ich konnte nicht schlafen. Ich musste Medikamente nehmen. Ich habe mein altes Leben vermisst. Das alles hat Dr. Achtermann nicht interessiert. Er wollte auch nie wissen, wie genau mein altes Leben zu Ende gegangen ist. Er ließ nur durchblicken, ich hätte es provoziert und gewollt. Zufälle gebe es nicht. Auch das hat mich traurig gemacht.
Dr. Achtermann und ich trennten uns, nachdem er mir mitteilte, ich müsse nun fünfmal wöchentlich erscheinen, wenn ich gesund werden wolle. Ich müsse mich auch auf das gediegene Sofa legen, um gesund zu werden. Dabei sei es völlig egal, ob ich das wolle oder könne – so sei die Technik und er wisse, sie sei gut. Urlaub könne ich nur nach Abstimmung mit ihm und zu vorgegebenen Zeiten machen. Meinen Einwand, ich könne mich nicht in derartige Abhängigkeiten begeben, nannte Dr. Achtermann Abwehr: »Wollen Sie denn nun gesund werden oder nicht?« Als ich ihm sagte, dass ich mir nie mehr von einem Mann sagen lasse, wo ich mich hinzulegen habe, schwieg er einfach. Aber er sagte mir voraus, dass ich ohne seine Hilfe und seine Technik scheitern werde. Das System, mein System, sei schon seit langem zum Scheitern verurteilt. Ich hätte keine Chance.
Ich habe mich bald von Dr. Achtermann verabschiedet. Ich brauchte und brauche keinen Psychoanalytiker. Ich brauche wenig, manchmal beispielsweise nur eine Flasche Olivenöl.
Kochen macht Spaß. Kochen ist meditativ. Kochen ist kreativ. Manchmal jedenfalls. Ich bin keine begnadete, aber auch keine schlechte Köchin. Nicht, dass ich mit Begeisterung täglich ein mehrgängiges, gesundes, ökologisch und ernährungsphysiologisch beanstandungsfreies Menü auftischen würde oder könnte, aber ab und an brutzele ich gerne und probiere hin und wieder ein neues Rezept aus, wobei ich aber auch gegen einen gepflegten Gang ins Restaurant nichts einzuwenden habe. Meine bevorzugte kulinarische Richtung liegt irgendwo zwischen italienisch und thailändisch, die bodenständige deutsche Küche mag ich hingegen weniger. So habe ich zum Beispiel noch nie Kohlrouladen oder Schweinebraten gemacht. Ein Männeroberhemd habe ich übrigens auch noch nie gebügelt und da bin ich stolz darauf, aber das ist wieder ein anderes Thema. Jedenfalls ist es mit meinen allgemeinen hausfraulichen Fähigkeiten nicht so weit her. Dies bestätigt sich täglich aufs Neue und zeigt sich auch in meiner Art der Vorratshaltung.