Patrick McGuinness

DIE ABSCHAFFUNG DES ZUFALLS

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Paul Zsolnay Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2011 unter dem Titel The Last Hundred Days bei Seren in Bridgend, Wales.

ISBN 978-3-552-05590-2

© Patrick McGuinness 2011

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Für Sarah …

TEIL EINS

»Und dennoch sind unsere verfehlten Leben das Leben selbst.«

Randall Jarrell

EINS

Im Rumänien der 1980er Jahre war Langeweile nichts Harmloses, sondern etwas Hochbrisantes: Sie benebelte und quälte die Menschen; sie war der Grund, über den die Tage knirschten wie ein Bootskiel über einen Kiesstrand. Im Westen ist Langeweile gleichbedeutend mit unerfüllter Zeit, in der man die Musik des Lebens aus den Ohren verliert. Die Langeweile in einem totalitären Staat ist etwas anderes. Sie ist unablässige Erwartung, getrübt von der Ahnung ihrer Unerfüllbarkeit. Die Vorfreude und das Ereignis verbinden sich zu einer Endlosschleife von Spannung und Enttäuschung.

Das sah man an den Schlangen, die sich vor den Läden bildeten, wenn Sardellenkonserven aus Nordkorea, Flaschen mit lausigem jugoslawischem Sliwowitz oder Brote eintrafen, die nur aus Kartoffelstaub zu bestehen schienen. Die Leute warteten bei eisigen Temperaturen oder brütender Hitze, setzten mit ausdruckslosem Blick und ertaubten Gliedern einen Fuß vor den anderen. Niemand wusste, wie viel es gab. Oft wusste man nicht einmal genau, was es gab. Man stand vier Stunden Schlange, und wenn man den Tresen erreichte, erfuhr man, dass nichts mehr da war. Die einen vergaßen, wofür sie sich angestellt hatten, die anderen fragten sich, was sie schließlich in den Händen hielten. Man wollte Brot und bekam Jugo-Fusel; Säufer, die den Fusel dringend brauchten, erhielten Sardinen oder Schuhcreme, und beides unterschied sich ganz sicher nicht im Geschmack. Manchmal veränderte sich das Objekt der Begierde: Man wollte Fleisch, stand auf halbem Weg aber für Basketballschuhe aus China an; israelische Apfelsinen verwandelten sich in Wegwerfkameras aus der DDR. Doch man kaufte alles, egal was es war. Das Bezahlen mit barer Münze war nur ein Vorspiel; innerhalb weniger Stunden wurden die neuen Waren auf dem Schwarzmarkt verschachert.

Man konnte nicht vorhersagen, an welchen Waren plötzlich Mangel herrschen, welches banale Alltagsprodukt auf einmal zum Luxusgut werden würde. Das bekamen sogar die Toten zu spüren. Seit Beginn der gigantischen Bauprojekte in den frühen achtziger Jahren war der Bedarf an Marmor und Stein für Fassaden und Innenräume stetig gestiegen. Auf den Friedhöfen wurden die Gräber deshalb mit Holzbrettern, Tischbeinen, Stühlen und sogar Besenstielen markiert. Ceaușescus neuer Palast des Volkes konnte nicht nur nach Quadratmetern, sondern auch nach Grabsteinen bemessen werden. Unter anderen Umständen wäre das surreal gewesen, aber leider war es die einzige zur Verfügung stehende Realität.

Bei meiner Ankunft war ich voller Optimismus, was ich im Rückblick als sicheres Zeichen dafür deute, dass die Dinge schiefgehen mussten, und zwar ganz gewaltig. Nicht, was mich betraf, denn ich war nur auf Stippvisite oder besser: im Transit. Was sich ereignete, geschah ringsumher und über meinen Kopf, ja sogar über meinen Körper hinweg, aber es betraf mich nie persönlich. Nicht einmal, als ich während der letzten hundert Tage mitten im Geschehen steckte.

Als ich Mitte April 1989 in Heathrow in das halb leere Flugzeug stieg, fühlte ich mich in die Vergangenheit zurückversetzt. Tarom war die rumänische Fluggesellschaft, aber ihre Flotte bestand aus ausrangierten Boeings von Air France, die man, wie in Rumänien üblich, überholt und aufpoliert hatte. Ich hatte das Gefühl, in die sechziger Jahre zurückversetzt worden zu sein. Die Stewardessen trugen kantig geschnittene Uniformen und runde Kappen.

Ich setzte mich weiter vorn in eine leere Reihe und blätterte in der abgegriffenen Broschüre der Fluggesellschaft. Sie war zwei Jahre alt, pries rumänische Spezialitäten und zeigte verwischte Modelle des »Boulevard des sozialistischen Sieges«, ein Bauvorhaben, das als »Höhepunkt der Vision eines modernen Rumäniens unter dem Genossen Präsident Nicolae Ceaușescu« bezeichnet wurde. Auf der zweiten Umschlagseite befand sich ein retuschiertes Foto von Ceaușescu – Tovarășul Conducător, Genosse Führer –, auf dem er zwanzig Jahre jünger wirkte und das aufgedunsene, marzipanrote Gesicht eines einbalsamierten Leichnams hatte.

Obwohl wir noch in Heathrow standen, wo ununterbrochen Flugzeuge landeten und starteten und das uferlose London in der Ferne zu sehen war, glich unser Flieger bereits einer aus Raum und Zeit gefallenen Kapsel. Sein Zielort und die dort herrschende Epoche schienen viel weiter entfernt zu sein als die dreieinhalb Flugstunden bis Bukarest.

Ich trug noch den schwarzen Anzug. Ich hatte weder eine Gelegenheit zum Umziehen noch die Zeit gehabt, vor dem Abflug nach Hause zurückzukehren. Ich war mit Koffer und Handgepäck zur Beerdigung geeilt und hatte beides während des Gottesdienstes im Vorraum des Krematoriums abgestellt. Ich wollte nicht pietätlos sein – an diesem Tag hätte es eigentlich nur einen Abschied geben dürfen –, aber es kam alles zusammen: mein neuer Job, das neue Land, nicht umtauschbare Flugtickets. »Man trägt nicht jeden Tag seinen Vater zu Grabe«, hatte jemand vorwurfsvoll zu mir gesagt. Nein, aber wenn du wie ich jeden Tag darauf gewartet hättest, genau das tun zu können, wäre die Sache auch für dich heikel. Natürlich sagte ich das nicht. Ich nickte nur und sah zu, wie alle so taten, als würden sie beten, wie alle sich um diesen wehmütigen Blick bemühten, wie alle irgendetwas in sich suchten, das ihnen ermöglichte, später zu behaupten, sie hätten dem Tod ins Auge geschaut, ohne dabei an ihr Abendessen oder das Fernsehprogramm gedacht zu haben.

Nach der Landung warteten wir, bis die VIPs ausgestiegen waren, Männer im strengen, grauen Anzug und mit Frauen, die aussahen, als würden sie aus einer Mischung aus Zement und Eiercreme bestehen. Ihr Gepäck wurde nicht kontrolliert und in anthrazitfarbenen Limousinen verstaut. Ich kannte diese Autos – Dacias, im staatlichen Werk nach Vorbild des Renault 14 mit Heckantrieb gebaut. Wie ich aus meiner spärlichen vorbereitenden Lektüre wusste, hatte dieser Name eine Bedeutung. Laut der von Ceaușescu offiziell genehmigten Lesart der Geschichte waren die Dakier Überlebende der Belagerung Trojas gewesen, arme Vettern der Römer, die von ihrem Stamm abgeschnitten waren und in Osteuropa eine Insel des Römertums gegründet hatten, von den Slawen umzingelt, von den Türken niedergemetzelt und nun ein Satellit in der finsteren Umlaufbahn der Sowjetunion.

Es war April, aber wir landeten inmitten einer Hitzewelle. Draußen flimmerte alles. Der glitzernde Asphalt warf Falten, schwitzte das Öl aus, klebte unter den Schuhen. Hinter dem Flughafen erstreckte sich weites, flaches Land, von weißlichem Gras bedeckt, mit Maschendraht umzäunt. Ein Pferdepflug rumpelte dahin. Ein offenbar in eine Ackerfräse geratenes Tier lag zerstückelt in den Furchen. Aus der Luft hatten mich die gepflügten Felder an Notenblätter erinnert. Aus der Nähe betrachtet bestanden sie nur aus Erde, gewendet und wieder gewendet, Erde, die nie zur Ruhe kam, und alle, die sie bestellten, waren durch die Schufterei niedergedrückt und gekrümmt.

Die Wagenkolonne der VIPs fuhr weg, wie es die Reichen und Mächtigen überall auf der Welt tun: ohne einen Blick zurück, auf zu neuen Taten.

Das Aroma von Flughäfen: der scharfe Duft des Schwindels, Ausdünstungen von Staubsaugern, Parfüm und Rauch und schale Luft. Fein diffundiertes, verpufftes Flugzeugbenzin und verbranntes Ozon lassen den Himmel in einem unerhört klaren Blau erstrahlen.

Der Otopeni-Flughafen bestand aus einem zweistöckigen Gebäude mit Spiegelglaswänden und rötlich geäderten Marmorfußböden; es gab zu viel Personal, doch es herrschte eine Friedhofsruhe. Diese Stimmung, in der sich Bedrohung und gereizte Trägheit mischten, war in allen öffentlichen Gebäuden Rumäniens spürbar. Der nächste Flieger, aus Moskau kommend, traf erst in zwei Stunden ein. Der vorherige, aus Belgrad, hatte schon vor einer Stunde wieder abgehoben. Dieser Flughafen war ein Ort der ewigen Ruhe, des ewigen Transits, ein Mittel des Übergangs, wie das Flugzeug, das ich gerade verlassen hatte. Aber solche Orte des Übergangs können einen besonders stark in Bann schlagen und vereinnahmen.

»Willkommen in Rumänien«, verkündete eine dreifarbige Plakatwand. Die rumänische Flagge, blau, gelb und rot mit dem Parteiemblem in der Mitte, hing schlaff am Mast und zitterte in der schwächsten Brise. Hier gab es doppelt so viele Militärs wie Zivilisten. Frauen mit kniehohen Schnürsandalen schoben trockene Wischmopps über den Marmor, ordneten Kippen und Bonbonpapier zu neuen Mustern. Große, zylindrische Aschenbecher quollen über von ausgedrückten Zigaretten, und das, was an Luft noch übrig war, verschwand in einem Miasma aus blauem Dunst.

Die Zollbeamten verrichteten ihren Dienst mit bösartiger Lethargie, gewannen den Qualen, die sie bereiteten, jedoch so wenig Befriedigung ab, dass sie der Mühe nicht wert zu sein schienen. Durch die Glaswände konnte ich sehen, dass die Dacias das Flughafengelände verlassen hatten und über den Otopeni-Boulevard auf jene Stadt zufuhren, die mein Zuhause werden sollte.

Als ich an der Reihe war, musste ich das bisschen Gepäck vorzeigen, das ich mitführte. Die beiden Zollbeamten waren das perfekte Paar. Der eine hatte ein vollkommen nichtssagendes Gesicht, der andere eines, in dem verschiedenste Mienen ergebnislos um die Vorherrschaft kämpften. Der erste sprach ein gebrochenes Englisch, der zweite rauchte Zigaretten aus den USA und sprach fließend mit amerikanischem Akzent. Wenn es bei der rumänischen Polizei eine Karriere auf der Überholspur gab, war er dafür prädestiniert – sehnig, ausdruckslos, undurchschaubar.

»Was heißt Sie in Rumänien willkommen?«

Eine gute Frage, die nach einer schlagfertigen Antwort verlangte, aber dies war wohl nicht der Moment, den rumänischen Sinn für Humor auf die Probe zu stellen. Der Beamte griff nach meinem Kaffee und zwei Schokoriegeln und ließ alles schwungvoll in seiner Tasche verschwinden. Er sah mir in die Augen, als er auch noch die Batterien meines Walkmans an sich nahm. Und als hätten die beiden irgendein System vereinbart, konfiszierte sein Kollege meine Stange zollfreier Zigaretten.

»Steuer.« Er verzog keine Miene.

Mein Taxi, ein weißer Dacia mit Tigerstreifen aus Rost und blauer, schlecht schließender Fahrertür, wurde von einem Mann gefahren, der die ganze Zeit schwieg, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte und der sich kein einziges Mal zu mir umdrehte. Beim Anflug hatte ich die Gegensätze, die Bukarest kennzeichneten, sofort erkannt: Streng geometrisch angeordnete, breite Straßen mit neuen Häuserblocks, Wohntürme und sinnlose Prachtbauten bestimmten die Skyline. Dazwischen und ringsumher gab es ein Sammelsurium aus alten Kirchen, verwinkelten Straßen und kleinen Parks. Und aus der Froschperspektive bot sich der gleiche Anblick wie aus der Vogelperspektive: Die Altstadt erschloss sich dem Betrachter in Schichten, das neue Zentrum in Linien.

Bukarest war keine Stadt, die sich Vorort um Vorort in das Umland fraß, und das Umland wich auch nicht Schritt für Schritt dem urbanen Zentrum. Stattdessen gab es eine drei Kilometer lange, schadhafte, von Feldern gesäumte Straße, an deren Ende auf einmal Wohnblocks emporragten. Die Holperpiste glättete sich unter den Reifen, und ringsumher tauchte die Großstadt auf.

Die Wohnung, die mich erwartete, war überraschend groß und elegant. Sie nahm den gesamten zweiten Stock eines Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert ein, das an der Aleea Alexandru in Herastrau stand, einem Viertel in der Altstadt, das bislang von Ceaușescus groß angelegter »Modernisierung« verschont geblieben war. Hier wohnten Apparatschiks, Diplomaten und Ausländer; hier würde ich wohnen, solange ich es ertrug, solange man mich ließ. In der ganzen Stadt wurden Kirchen abgerissen und alte Straßen zubetoniert. Aber in diesem Viertel konnte man sich einbilden, dass alles beim Alten bliebe, obwohl der Lärm von Neubau und Abriss ständig zu hören war.

In einem Metallrahmen an der Tür steckte noch das Schildchen mit dem Namen des letzten Bewohners: »Belanger, Dr. F.« Mein Name stand auf einem Umschlag, der einen Schlüssel sowie die Aufforderung enthielt, großzügig mit allem umzugehen, was noch da war. Das Telefon war angeschlossen, Kühlschrank und Vorratskammer waren gut gefüllt. Die Schränke waren voller Kleidungsstücke, die mir passten, es gab Bücher und Schallplatten, die meisten davon nach meinem Geschmack, dazu Videorecorder und Fernseher. Mein Vorgänger war offenbar Hals über Kopf verschwunden. Oder hatte gewusst, dass ich kam. An einer Wand hing ein Plakat des 13. Parteikongresses: Ceaușescus Gesicht thronte wie eine Sonne über einem glänzenden Traktor, den sie mit ihren Strahlen überflutete. Daneben hing eine kleine, fein gearbeitete Ikone, die eine Verkündigungsszene zeigte. Sie wirkte alt und verwittert, die Vergoldung war abgeblättert, die Figuren gesichtslos und verblasst, aber die Rot- und Goldtöne glühten wie ein Feuer im Hintergrund. Die Ikone trug die aktuelle Jahreszahl, 1989, und war mit »Petrescu« sowie einem kleinen, orthodoxen Kreuz signiert, das mit einem Streichholz in die Farbe geritzt war.

Es war achtzehn Uhr. Ich holte mir eines von Belangers Bieren aus dem Kühlschrank und ging auf den Balkon. Unter den Füßen spürte ich die heißen Fliesen, und ich setzte mich in einen ausgefransten Korbsessel, um die Straße zu beobachten.

Ich hatte offenbar geschlafen, denn als es an der Tür klingelte, war es vollkommen dunkel, und die Fliesen waren kalt. In den Schatten der Wohnung klingelte das Telefon drei Mal, verstummte und klingelte dann erneut. Als ich den schweren Bakelithörer abnahm, legte der Anrufer auf. Ein leises Klicken, dann ertönte der hohle Ton des Freizeichens.

Der Strom war in der ganzen Stadt gesperrt, aber hier in Herastrau blieb uns das Schlimmste erspart. Mir wurde bewusst, dass kaum noch Verkehr zu hören war, dafür aber ein unablässiges metallisches Klirren, ein Bohren, der Lärm von Motoren. Ich stolperte durch die Dunkelheit, weil ich die Lichtschalter nicht fand, und musste anhand des wiederholten Klingelns erraten, wo sich die Wohnungstür befand.

Ich öffnete und sah einen kleinen, dicklichen, leicht schwankenden Mann mit schalkhaftem, vom Alkohol gerötetem Gesicht, den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich winkte ihn mit einer lässigen Handbewegung herein, die vertuschen sollte, dass ich hier erst seit wenigen Stunden wohnte. Doch ich fühlte mich wohl in Belangers Wohnung, dessen Habseligkeiten, obgleich sie mir nicht gehörten, meinem Wesen zu entsprechen schienen.

»Leo O’Heix. Erinnern Sie sich?«, sagte mein Besucher und knallte ironisch die Hacken zusammen. Aus seiner Jackentasche ragte eine eingerollte Ausgabe der Parteizeitung Scînteia hervor. Er streckte mir zackig die Hand entgegen, drängelte sich aber an mir vorbei, bevor ich sie schütteln konnte. »Das Bewerbungsgespräch?«

Ich hatte nie mit ihm gesprochen. Ich hatte mich für ein Dutzend Stellen beworben, war ein halbes Dutzend Mal zu einem Vorstellungsgespräch gebeten, aber nie genommen worden. Als sich der Job in Rumänien anbot, war ich schon so mutlos, dass ich gar nicht erst zum Gespräch erschien, und als ich zwei Tage später einen Brief erhielt, der mich »mit Freuden« darüber in Kenntnis setzte, dass man sich für mich entschieden habe, hielt ich das zunächst für einen Witz. Doch als eine Woche später mein Visum eintraf, begriff ich, dass es kein Witz war. Vielleicht stand die Pointe noch aus? »Du warst sicher der einzige Bewerber – alle anderen haben die guten Stellen abgestaubt, und du bekommst, was übrig ist«, hatte mein Vater gesagt. Damals konnte er ohne Hilfe nicht mehr seine Notdurft verrichten oder essen, aber er konnte sich immer noch dazu aufraffen, sein Gift zu versprühen. In diesem Fall überschätzte er mich allerdings zum ersten Mal, denn ich verdankte diese Stelle der Tatsache, dass ich gar nicht erst zum Gespräch erschienen war.

Die Pflege meines Vaters während seiner letzten Lebenswochen war eine harte Probe für uns beide. Wenn ich ihn im Rollstuhl durch die Stationen schob, wetterte er gegen falsche Schreibweisen, fehlerhafte Grammatik und überflüssige Apostrophe auf den laminierten schwarzen Brettern des Krankenhauses. Die Arbeitsgewohnheiten steckten ihm noch in den Knochen: Er hatte zwanzig Jahre lang die heißen Druckerpressen in der Fleet Street bedient, die Seiten von Hand gesetzt, sein Handwerk von der Pike auf gelernt und so den Umgang mit Wörtern geübt, eine Fähigkeit, die ein nicht ganz so unglücklicher Mann gewiss besser genutzt hätte. Als er vor drei Jahren gemeinsam mit sechstausend anderen Druckereiarbeitern entlassen werden sollte, spielte er ein paar Wochen lang Streikposten und bewarf Polizeiwagen mit Steinen, aber eines Morgens fuhr er mit den Streikbrechern wieder zur Arbeit. Der Bus, in dem sie saßen, hatte blinde Fenster, war mit Maschendraht umspannt und wurde von einem der neuen privaten Sicherheitsdienste eskortiert. Mein Vater war in politischer Hinsicht gern ebenso heißblütig wie sprunghaft.

Während er langsam dahinsiechte, sprachen wir nur über Banales, als wollten wir einer Versöhnung aus dem Weg gehen. In den Tagen vor seinem Tod fragte er im Delirium nach ihr, meiner Mutter, und schimpfte, weil sie ihn nicht besuchte. Sogar am Ende seines Lebens fand er noch einen Anlass, um sich aufregen zu können. Sein zähes Rückzugsgefecht, die Art, wie er der Krankheit trotzte und nur Schritt für Schritt zurückwich, obwohl der Krebs ihn schon Monate zuvor hätte besiegen müssen, versetzte den Arzt, der dies als »Grabenkrieg« bezeichnete, in Erstaunen. Ich wusste, was meinen Vater am Leben hielt: die Wut.

Leo machte Licht und steuerte den Spirituosenschrank noch selbstverständlicher an, als ich ihn hereingewinkt hatte. Er schenkte sich einen Gin ein, fügte ein symbolisches Quentchen Tonic hinzu, ging zum Kühlschrank und warf ein paar Eiswürfel ins Glas. Dann schlug er auf dem Sofa die Beine übereinander und sah mich an. Ich war am Zug.

Leo trug eine flache, verschwitzte Kappe, die wie angeschraubt aussah und rote Furchen auf seiner Stirn hinterlassen hatte, und seine Haut erinnerte an mehrfach geflickten Asphalt. Seine Hose hatte die Farbe gefleckter Pilze, und obwohl seine Beine gleich lang zu sein schienen, konnte man dies von den Hosenbeinen nicht unbedingt behaupten. Sein Hemd war von dem streifigen Grau weißer Kleidungsstücke, die man jahrelang zusammen mit blauen Unterhosen gewaschen hat.

Da ich noch nicht ganz wach war, fiel es mir schwer, mich zu sammeln. Aber das erwies sich ohnehin als überflüssig, denn bevor ich den Mund aufmachen konnte, beendete Leo seinen Drink und sprang auf.

»Wir gehen essen.«

Er stieß mich in den Flur. In der Wohnung klingelte das Telefon, aber Leo hatte die Tür schon geschlossen.

»Willkommen im Paris des Ostens«, sagte er. Leo war der einzige Mensch in meinem Leben, der über dieselben Dinge sowohl ernst als auch sarkastisch reden konnte, und zwar gleichzeitig.

Paris des Ostens … Das kam mir bekannt vor. Städte der zweiten Garnitur werden immer als das Irgendwas des Irgendwas bezeichnet. Nur war Bukarest auf seine Art einmalig; das war das große Problem dieser Stadt.

ZWEI

Leo war angetrunken, aber das kümmerte hier niemanden, denn es herrschte Benzinmangel, und auf ein Auto aus der staatlichen Fabrik musste man sieben Jahre warten. Mit ihm am Steuer hatte ich das Gefühl, in einer Geisterstadt Autoskooter zu fahren, vor allem angesichts des CD-Schildes – Corps diplomatique –, das er auf dem Schwarzmarkt gekauft und am Heck seines Škodas befestigt hatte. Die Kräne und Bagger, die das Straßenbild Bukarests prägten, verliehen der Stadt die Atmosphäre eines menschenleeren Rummelplatzes. Manche arbeiteten noch einsam vor sich hin, mit halber Kraft und der Hälfte des üblichen Personals wuchteten sie die Schatten der Arbeiter zum rauchigen Mond hinauf.

Die Bürgersteige wirkten wie leer gefegt, aber in den Schatten wimmelte es von Miliz in grauer Uniform. Man sah sie erst, wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten; dann nahmen sie Glied um Glied Gestalt an, schälten sich aus dem Zwielicht, in dem sie hausten. Im alten Bukarest hatte man verwahrloste Pariser Arrondissements mit den Vororten Istanbuls gekreuzt; Osten und Westen führten einen immerwährenden architektonischen Tanz auf. Pflanzen hingen von Balkonen, auf denen Leute im Dunkeln saßen, beleuchtet vom Blau ihrer Fernseher. Kerzen flackerten in den Fenstern orthodoxer Kirchen. Schichtarbeiter standen dicht gedrängt an Biertresen, tranken wortlos mit gesenktem Blick.

Leos Auto raste auf einen weiten, leeren Platz wie ein kleines Fischerboot, das mit Volldampf in die offene See vorstößt: die Piaţa Republica, auf der sich der Palast von Königin Marie und die Parteizentrale gegenüberstanden, getrennt durch eine große, gepflasterte Kreuzung. Ich sah den Lichtschein im Norden, wo 24 Stunden täglich am Palast des Volkes und am Boulevard des sozialistischen Sieges gearbeitet wurde. Ganz in der Nähe ragte ein hohes Gebäude empor, ein Wolkenkratzer in dieser kümmerlichen Skyline, vor dem schwarze Dacias und westliche Autos parkten. Portiers wuselten vor den Drehtüren.

Leo hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, aber die Aussicht auf einen neuen Drink löste seine Zunge.

»Das Hotel InterContinental«, sagte er, »hier ist die Madonna-Disco und der Tummelplatz der jeunesse dorée der Partei.« Ein dröhnender Bass war zu hören, der anschwoll und wieder verebbte, als eine Kellertür sich öffnete und schloss.

Ein roter Porsche raste über den Platz und bremste abrupt vor dem Nachtclub. Im Schein der Straßenlaternen leuchtete sein Nummernschild auf: NIC1. Ein Mann in einem weißen Anzug und einem glänzend blauen Hemd stieg aus und wurde untertänigst in die Lobby des Hotels geleitet, gefolgt von zwei mageren Mädchen in silberfarbenen Miniröcken, die so hohe Absätze trugen, dass jeder ihrer Schritte ein wankender Kampf gegen die Schwerkraft war.

Leo zog eine Grimasse: »Nicu. Der Playboy-Prinz. Ceaușescus Sohn und designierter Nachfolger.«

Das Capsia, ein dreistöckiges Gebäude im französischen Stil an der Ecke Calea Victoriei und Strada Edgar Quinet, schien direkt aus dem Paris des Fin de Siècle zu stammen. Die drei Doppeltüren, die den bescheidenen Eingang vom opulenten Speisesaal trennten, glichen den Dekompressionskammern eines U-Bootes. Sie verhinderten, dass Lärm, Gerüche und Luxus bis auf die Straße drangen, und sie sorgten dafür, dass der Hunger und die Entbehrungen der Straße die Gaumenfreuden im Capsia nicht trübten.

Kellner in weißen Hemden und dunkelgrünen Westen mit Messingknöpfen umschwirrten die mit Silbergeschirr beladenen Tische. Doch ihre Gesichter passten nicht zu den tadellosen Uniformen: Sie waren bleich und nachlässig rasiert, misslungene Parodien jener Kellner, die in den 1890er Jahren Paris durch einen Streik lahmgelegt hatten, mit dem sie sich das Recht auf einen Schnurrbart erkämpfen wollten. Dennoch war Bukarest angeblich ähnlich gewesen: Eine Insel der Latinität, so mein Reiseführer, der französischen Lebensart, des französischen Stils und des französischen Essens. Ich zog das Buch hervor und suchte das Capsia. Der Reiseführer empfahl »Absinth, Cognac, Magenbitter oder Amers, Curaçao, Grenadine, Orgeat und Sorbet« und beschloss den Rat, das Bukarester Leben »in all seinen Facetten« von der Terrasse aus zu beobachten, mit der Warnung: »Stühle, die unangenehm dicht am Rinnstein stehen, sollte man selbstverständlich meiden.«

Mein Reiseführer, das einzige Buch über Rumänien, das ich zu Hause hatte auftreiben können, stammte allerdings aus dem Jahr 1899 und hatte im Oxfam-Laden auf der Isle of Dogs zehn Pence gekostet. Leo nahm es mir ab, strich über den strapazierten Einband, den roten, vom Buchrücken baumelnden Faden der Bindung. »Keine Ahnung, wie es um Curaçao, Grenadine, Orgeat und Sorbet bestellt ist, aber den Rinnstein gibt es noch. Und was das Bukarester Leben in all seinen Facetten betrifft, tja, das kann ich dir garantieren …«

1899 – das war neunzig Jahre her. Damals wurden die aus Frankreich zurückkehrenden Rumänen, den Kopf voll neuester Literatur, am Körper die neueste Mode, bonjouristes genannt. Das Capsia war nicht nur ein Relikt jener Epoche, sondern auch ihr Reliquienschrein: in Leder gebundene Speisekarten mit geprägter Aufschrift, Tischdecken mit Monogramm, silbernes Tafelgeschirr. Auf dem Einband der Speisekarte stand: Chez Capsia. Bienvenue à la gastronomie Roumaine. Zum Dekor – goldene Beschläge, damastene Paravents, hohe tropische Pflanzen mit staubigen Blättern – passte das Streichquartett, das Melodien von Strauss schabte. An den Wänden hingen altersblinde, von Haarrissen übersäte Spiegel. Man hatte das Gefühl, dass Bruchstücke des eigenen Spiegelbilds in diesen Rissen hängen blieben wie Dreck in Fliesenfugen.

Kellner schoben Servierwagen. Ganz hinten im Raum labte sich eine Gruppe älterer Parteifunktionäre an einem in Cognac flambierten Gericht. Die bläulichen Flammen erhellten ihre Gesichter von unten.

»So ist das«, sagte Leo mit Blick auf die Männer und lächelte sarkastisch. »Sieh dir das an: Die Partei hat alle Bedürfnisse befriedigt!« Die Männer hoben den Kopf und grinsten kauend. »Bon appétit, Genossen!«

Der Maître d’hôtel, in prächtiger Livree und mit wolfsartigem Gesicht, führte uns zu einem Tisch an einem Milchglasfenster mit Blick auf den Cercul Militar. Wir konnten hinausschauen, aber niemand konnte hineinsehen. Dies war die rumänische Lebensart, auf den Punkt gebracht im besten Restaurant der Stadt: Kellner schnitten mit sanftem Druck Chateaubriand-Filets, während in den Läden Fliegenfänger vor gähnenden Regalen hingen und die Straßen, bar jeden Verbrechens, die Last ihrer Leere schulterten.

Wie Leo mir erzählte, war das Capsia der einzige Ort, an dem fast alle Gerichte auf der Speisekarte tatsächlich serviert wurden. »Deshalb ist sie so kurz.« Er legte eine Schachtel Kent auf den Tisch, hier eine Währungseinheit: Tabakbarren. Sie drückten den Wunsch nach besonderer Aufmerksamkeit aus und deuteten an, dass man dafür bezahlen konnte. Leo bestellte eine Flasche Dealul Mare, und sie stand sofort auf dem Tisch, hervorgezaubert hinter dem Rücken des Kellners.

»Es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst …«, setzt Leo an, verteilt den Wein im Mund und schluckt dann ruckartig. Er beendet den Satz nicht, sondern mustert mich zum ersten Mal von Kopf bis Fuß: »Du wirkst wie jemand, der geglaubt hat, kaum etwas mitnehmen zu müssen, aber schon jetzt sein Gepäck vermisst.«

Ich erwidere, dass ich müde sei, einen Jetlag habe, der sich nicht nur der zweistündigen Zeitverschiebung zwischen Rumänien und Großbritannien verdanke; dass ich mit einem unruhigen Säufer in der halbdunklen Hauptstadt eines Polizeistaats und dort auch noch in einem absurden Restaurant sitze; dass ich hier sei, weil man mir nach einem Bewerbungsgespräch, zu dem ich nie erschienen sei, eine Stelle angeboten habe, um die ich mich nie beworben hatte; dass mein Gepäck das einzige sei, woran ich mich in diesen unwirklichen Zeiten festhalten könne.

»Aber genug von mir. Erzähl von dir …«

Leo hat bislang nichts von sich preisgegeben. »Du hast das Bewerbungsgespräch beeindruckend gemeistert. Immer genau die richtige Antwort.«

»Sehr witzig. Aber mal ehrlich: War es ein großer Nachteil, dass ich nicht erschienen bin?«

»Nun, ich bin stolz darauf, mich nicht vom ersten Eindruck täuschen zu lassen … Professor Ionescu freut sich auch, dich kennenzulernen. Wir sind der Meinung, den Richtigen für diesen Job gefunden zu haben. Jemanden, der … äh … hineinwachsen wird. Außerdem haben wir uns die Freiheit erlaubt, deinem Namen ein BA hinzuzufügen: Bachelor of Arts. Ein Willkommensgeschenk von mir.« Leo schiebt eine Urkunde über den Tisch, ein reich verziertes, mehrmals gestempeltes und signiertes Pergament mit einem Klecks Siegelwachs und einem Bändchen. Einserabschluss, summa cum laude. »Wenn du einen Doktortitel willst, musst du allerdings wie alle anderen bezahlen. Nur damit das klar ist.«

Leo zuckt mit den Schultern und lacht – er ist schon einen Schritt weiter, bereit, mich umfassend aufzuklären. »Und glaub mir: Hier liegt so manches im Dunkeln, das aufgeklärt werden muss.« Sein Witz verpufft (ist es ein Witz?), aber er lässt sich davon nicht verdrießen, beginnt mit jenem Vortrag, den er schon unzählige Male gehalten hat. Ich hatte bestimmt Dutzende von Vorgängern, aber keiner von ihnen hat es mehr als ein paar Wochen ausgehalten. Nur Belanger erweckte den Eindruck, nicht vorzeitig die Flucht ergreifen zu wollen, aber über Belanger spricht Leo nicht.

Leo erklärt, Leo stellt Zusammenhänge her, Leo schmückt aus. Manches muss übertrieben, anderes heruntergespielt werden. Nach einigen Monaten wird beides auf das Gleiche hinauslaufen: Das Leben in einem Polizeistaat verherrlicht die kleinen Gnaden über alle Maßen; zugleich werden es die schlimmsten Schikanen zur banalsten Routine.

Unser Kellner, von unbändigem Pflichteifer erfüllt, tritt an den Tisch und fragt: »Schmeckt es Ihnen?« Da wir noch nichts bestellt haben, ist der Zeitpunkt für diese Frage gut gewählt. Er beäugt die auf dem Tisch liegende Schachtel Kent.

Leo antwortet: »Da, multunmesc.« Ja, es schmeckt uns sehr gut.

»Diese neumodische Tour …«, sagt er. »Sie fragen, ob das Essen gut ist, wünschen einen guten Appetit. Früher war das besser, da haben sie den Fraß einfach auf den Tisch geknallt und sind weggewatschelt, um sich am Arsch zu kratzen. Sie müssen diesen Unsinn kürzlich im ausländischen Fernsehen ausgeschnappt haben. Als ich damals, nach meiner Ankunft in Bukarest, hier zu Mittag essen wollte, saß eine der Putzfrauen auf dem Teppich und schnitt ihre Zehennägel. Das war noch das gute alte Rumänien. Ah! Die alten Zeiten … Jetzt heißt es: Hi! Ich heiße Nicolae und bediene Sie heute Abend …« Leos amerikanischer Akzent klingt furchtbar. »Ich schätze, dass Dynasty schuld daran ist. Seit kurzem läuft zweimal pro Woche eine Folge. Das füllt ein Viertel des dreistündigen Abendprogramms. Die Serie soll den Rumänen die grässlichen kapitalistischen Exzesse vor Augen führen, aber sie gibt den Parteibonzen nur Lifestyle-Tipps. Die Parteiläden haben seit neuestem jede Menge Whirlpools, Eiskübel und Cocktailshaker im Angebot …«

Er winkt dem Kellner, damit dieser unsere Bestellung aufnimmt: die Spezialität des Hauses, »Schweinefilets auf jüdische Art«, ein Gericht, das den gedankenlosen Antisemitismus eines ganzen Kontinents auf den Punkt bringt.

Leo isst wie ein Kleinkind, schneidet mit dem Messer Fleischstückchen ab, die er mit den Fingern auf die Gabel steckt, um diese danach in die andere Hand zu nehmen und das Essen in den Mund zu befördern. »In diesem Land werden fünfzig Prozent der Bevölkerung von den übrigen fünfzig Prozent bewacht. Und dann wird gewechselt.«

Ich lausche seinen schlechten Witzen, ahne jedoch, dass sie keine sind. Stattdessen dienen sie dazu, der Wahrheit schonend ins Gesicht zu sehen, so ähnlich, wie man dem schneidenden Wind die Seite zukehrt. Während ich esse und Wein trinke, schildert Leo eine Welt des Misstrauens und der Intrigen, in der er glücklich ist, die ihn anregt, erfüllt. Er passt hierher. Nicht weil ihm das Land ähnelt, sondern weil er es so weit übertrifft.

Doch vor allem liebt er es. »Hier gibt es alles, Leidenschaft, Nähe, Zusammenhalt. Man muss sich den Umständen nur anpassen«, sagt Leo. »Um ehrlich zu sein, hat es etwas von einer Grauzone. Oder noch ehrlicher: Es ist eine flächendeckende Grauzone.« Er weist mit großer Geste auf die Welt außerhalb des Capsia, als würde diese in einer Wechselbeziehung zu dem moralischen Universum stehen, das wir bewohnen. Dann bestellt er mit einem Wink eine dritte Flasche Pinot Noir. Ich frage mich, ob es in Rumänien Aspirin gibt. Himmel, denke ich, was für ein Auftakt.

Aber Leo hat recht. Er ist nicht wie die anderen Ausländer, die ein tiefes Misstrauen gegen ihre rumänischen Kollegen hegen, die Stimme senken, wenn diese den Raum betreten, oder nur widerwillig und abweisend mit ihnen verkehren. Er dagegen hat sich sich trotz seiner Neigung zu Prahlerei und Ausschweifung an die Einheimischen und ihre außergewöhnlichen Lebensumstände gewöhnt, die den Alltag so gewaltsam prägen.

All das ist eng mit Leos ganz spezieller Verachtung verbunden. Diese gilt nicht nur den Parteibonzen, die ihr Volk auf eine so korrupte, unfähige und verächtliche Art regieren, sondern auch den Ausländern: den Diplomaten, Geschäftsleuten und Unternehmern, die im Westen der Stadt ihr eigenes Viertel samt eines englischen Pubs, The Ship and Castle (»The Shit and Hassle«), und eines Botschaftsladens bewohnen. Leo hat die fixe Idee, Designerparfüms für sie zu kreieren: »Essenz von Broadstairs«, »Bromley Man« oder »Stevenage: Für die Frau«. Die Feiern dieser Leute, eine endlose Folge von Cocktailpartys und Besäufnissen, sind »manchmal amüsant, und sei es nur, weil man einen Drink abstauben oder einen Blick in die britischen Zeitungen von letzter Woche werfen kann«, aber alles in allem ist dieser Reigen, wie er sich ausdrückt, ein Doppelgangbang, bei dem sich die immer gleichen, gelangweilten Leute in wechselnden Konstellationen ficken.

An jenem Abend im Capsia erfüllten mich zwei einander widersprechende Gefühle. Beide waren Extreme meiner Persönlichkeit. Erstens das Gefühl, dass sich die Welt um mich zusammenschloss und fast klaustrophobisch verengte; zweitens eine Euphorie oder besser: das Gefühl einer Fülle von Möglichkeiten, einer Weite, die sich ringsumher auftat, während ich den menschenleeren Platz betrachtete. Es schien, als würden sich sowohl die Platzangst, die einem diese neue Architektur gezielt einzuflößen versuchte, als auch das politische System, das durch diese Stadt gleichsam in Beton gegossen werden sollte, auf mein Inneres übertragen, wo sie sich in eine Welt voller Intensität verwandelten. So wie man ein Atom spaltet, um die schrankenlose Fülle der darin eingeschlossenen Energien freizusetzen, schien mein Leben inmitten dieses Zwangs und all der Beschränkungen plötzlich eine Vielzahl von Möglichkeiten zu bieten.

Das erste, was ich lernte, und zwar von Leo, bestand darin, die Menschen und ihre Taten voneinander zu trennen. Sie bewegten sich in einer Welt, die mit ihren Taten nichts zu tun hatte; nur so konnten sie in einem Polizeistaat Freundschaften aufrechterhalten. Wenn Rodica, die Sekretärin der Fakultät, unsere Büros öffnete, damit die Polizei sie durchsuchen und Unterlagen kopieren konnte, oder wenn meine Vermieterin der Polizei Einlass in meine Wohnung gewährte, schwieg ich. Ich wusste, dass sie wussten, dass ich es wusste, und hätte ich etwas dazu gesagt, so hätte das nichts geändert.

Trotz der Brutalität und der grotesken Zustände waren unsere Beziehungen von Normalität geprägt; von der menschlichen Gabe, sich den Umständen anzupassen, und nicht von der Korruption und der Doppelzüngigkeit, die diesen zugrunde lagen. Dies war auch unsere wichtigste Verteidigung – Sorge, Mangel und Unterdrückung in Routine zu verwandeln, bis man nichts mehr davon merkte, bis man sogar das Grässlichste nicht mehr wahrnahm.

»Eines solltest du wissen …« Leo erzählt mir etwas – eines der wenigen Details über Bukarest, die mir schon bekannt sind: dass diese Stadt weltweit die größte Zahl von Kinos pro Kopf hat.

Leo meint, dass ich für diesen Abend genug habe. Das Capsia schließt – es geht auf Mitternacht. Er will noch einen Drink, aber ich brauche Schlaf, und er fährt mich freundlicherweise nach Hause, langsam und mit vielen Stopps, um mich auf Sehenswertes hinzuweisen. Im InterContinental läuft immer noch Musik. Ein Stückchen weiter steht das Hotel Athénée Palast, ein würdevolleres Etablissement, dessen Eingang im Gold der Scheinwerferkegel von Limousinen erstrahlt. Leo nimmt einen Boulevard, an dem jedes zweite Gebäude ein Kino ist: Buster Keaton, Laurel und Hardy, Harold Lloyd.

»Nur Chaplin nicht«, sagt Leo. »Chaplin ist tabu – natürlich wegen Der große Diktator. Und die Marx Brothers werden auch nicht geduldet. Warum das so ist, weiß ich beim besten Willen nicht. Man würde doch meinen …«

Der rumänische Zensor hat eine Vorliebe für Pierrot-Typen mit traurigen Gesichtern wie Keaton und Lloyd, Gestalten, die mit den Dingen der Welt über Kreuz liegen, Hamlets des boomenden und kriselnden Westens. In ihren Komödien werden die Menschen durch die Objekte einer gesättigten Gesellschaft aus der Lebensbahn geworfen, durch Waren ausgegrenzt, an den Rand gedrängt. Hier, in Ceaușescus Rumänien, gibt es nur Mangel, Fehlstellen, leeren Raum, hier ist die Welt des materiellen Überflusses genauso außerirdisch wie die Naturgesetze in Star Trek.

Ich ging nach oben, ohne zu wissen, wo sich die Lichtschalter befanden, tastete mich im Dunkeln die Treppe hinauf. Sobald ich in meiner Wohnung war, fiel ich auf das unbezogene Bett. Ich lag auf einer groben, pieksigen Decke, mein Mund war trocken, mein Schädel brummte. Ich sah mich vergeblich nach einem Kopfkissen um. Alles schien sich zu drehen. Ich hatte den Zustand der Betrunkenheit übersprungen und war mitten in einem Kater gelandet.

Wenn man in einem neuen Bett liegt, wird man meist durch ungewohnte Geräusche wach gehalten. Doch in dieser Nacht war es die befremdliche Stille, ein ständiges Rascheln wie das verhaltener Bewegungen, ein leises Rauschen in der Stille von Belangers Wohnung. Ich stand mehrmals auf, um zu pinkeln oder rostiges Wasser aus dem Hahn im Bad zu trinken. Das Telefon klingelte, aber ich wusste nicht, ob im Traum oder in der Realität. Wenn ich erwachte, war es verstummt. In meinem Kopf schwirrten Bruchstücke des Tages: das Flugzeug, das glänzende Silbergeschirr im Capsia, die raubtierhaften Augen des Maître d’hôtel. Ich biss mich an dem Gedanken an all jene Jobs fest, die ich hätte bekommen, an alle die Städte, in denen ich hätte arbeiten können: Prag, Budapest, Barcelona. Obwohl ich nie dort gewesen war, verschmolzen ihre Bilder miteinander, und der Ort, der dabei entstand, war das Bukarest, in dem ich mich seit wenigen Stunden aufhielt: ein abweisendes, brutales Labyrinth, in dem Baumwurzeln die Bürgersteige aufrissen, dessen Türme und Mauern sich auflösten wie Zucker.

Ich schlief lange. Als ich erwachte, schien die Sonne so grell, dass das Blut in meinen Augenlidern zu brodeln schien. Mein erster Vormittag war dem Papierkram im Innenministerium gewidmet. Das Gebäude beherrschte einen Kreisverkehr, dessen Größe sogar jene Kräne und Bagger in den Schatten stellte, die wie Fischer-Technik-Monster über den Straßen dieser Stadt schwankten. Gegenüber standen einige alte, gebrechlich wirkende Gebäude. Ob ihre Fundamente schon vor dem Abriss zitterten? Noch ein paar Monate, dann würde man sie dem Erdboden gleichmachen. Das mausgraue und klotzige, außen nur mit einem Parteiemblem aus Stuck geschmückte Ministerium erwies sich im Inneren als unfassbar groß und labyrinthisch. Ich fühlte mich an die Escher-Poster meiner Studentenzeit erinnert: eine allen physikalischen Gesetzen widersprechende Architektur, Räumlichkeiten wie gähnend tiefe Schluchten; Treppen, die sich im Nichts verloren; Balkone mit Blick in andere Räume, die in Balkonen mit Blick in wieder andere Räume ausliefen, riesige Schreibtische mit nichts als leeren Blättern, Telefonen, Aschenbechern; Stimmen, so laut, dass man erschrak, aber zu leise, als dass man sie hätte verstehen können; rätselhafte Schritte, die sich näherten, ohne dass sich eine Person materialisiert hätte, dann wieder vollkommen lautlos auftauchende Personen. Das Rascheln unsichtbarer Geschäftigkeit, das alles erfüllte, glich dem nächtlichen Zirpen von Insekten. Ich musste unwillkürlich an Kafkas Schloss denken – ein Buch, das ich nicht kannte, das aber in die Kategorie jener Literatur fiel, die stellvertretend für einen selbst von der Allgemeinheit gelesen und im kollektiven Gedächtnis archiviert wird. Und dieser Bau glich in meinen Augen Kafkas Schloss.

Nach einer Stunde erschien ein blinzelnder, nach Keller riechender Mann. Ich füllte die Formulare aus und ließ nur die Spalte »Nächste Angehörige« frei. Ich hatte mich darauf gefreut, sie frei zu lassen. »Keine Nächsten«, sagte ich, »keine Angehörigen«, aber er bestand darauf, dass ich etwas eintrug. In diesem Land durfte keine Spalte leer bleiben. Ich entschied mich für Leos Namen.

Mein Foto wurde auf ein Kärtchen geklebt und gestempelt. Das war mein Pass für die Bukarester Diplomatenläden, die speziellen Tankstellen, die Clubs für Ausländer.

Draußen trieb Staub von der Baustelle auf der anderen Seite des Boulevards herüber. Dort arbeiteten Männer, die weder Helm noch Hemd, sondern nur Sporthosen und Schlappen trugen. Neben schwarzen Einsatzfahrzeugen mit vergitterten Fenstern saßen Soldaten auf der Bordsteinkante, das Gewehr quer auf den Knien, und rauchten.

Alle zwanzig Meter stand Miliz. Während der letzten Nacht hatten die Männer unheimlich und gespenstisch gewirkt, wie ruhelose Schatten, die eine verschwundene Bevölkerung bewachten. Nun standen sie schwankend in der Hitze, schlampig gekleidet und gelangweilt, weniger wie Posten, sondern eher wie die leibhaftige Mahnung an eine höhere Wachsamkeit. Unterwegs wurde mir bewusst, was fehlte. Aus den Häusern und Läden drang keine Musik; kein Radio lief, niemand pfiff oder sang; man konnte nirgendwo auf einen Kaffee oder eine Kleinigkeit einkehren. Es gab keine plaudernden Passanten, und wenn jemand vorbeikam, dann allein. Die Schulhöfe waren totenstill. Ein Zeitungskiosk hatte ein bräunliches Getränk namens »Rocola« im Angebot – rumänische Cola –, Zigaretten und grau-grüne Stapel von Lotterielosen. Schwer zu sagen, wie hoch die Preise waren.

Kurz hinter meiner Wohnung bemerkte ich eine Menge. Als ich sie erreichte, erblickte ich ein Gebäude, so nichtssagend, dass ich es noch nie bemerkt hatte, obwohl ich schon dreimal daran vorbeigelaufen war. Wie im Capsia konnte man auch hier nicht durch die Fenster schauen. Nach einer Weile begriff ich, dass es sich um ein Parteigebäude handelte: Es war jene unscheinbare, aber hochmoderne Klinik, in der die Parteioberen und ihre Familien alles vornehmen ließen, von Abtreibungen über Herzoperationen bis zur Chemotherapie. Mächtige Eisentore bildeten den Eingang, eine Marmortreppe führte zu einem Portikus mit Glasdach hinauf. Das Gebäude wirkte elegant, aber schlicht. Draußen standen parteieigene Krankenwagen, weiße Mercedes-Kombis mit roten Streifen und rotierenden Blaulichtern.

Arbeiter in Blaumännern übertünchten vor der Mauer einen Schriftzug, bewacht von jungen Männern im Anzug. Es war ein ungleicher Kampf, denn die dünne Emulsionsfarbe war machtlos gegen die knallroten Lettern. EPID – EMIA. Das Wort wurde von einem schwarzen Tor geteilt, über dessen Gitterstäbe ein langer, blutiger Trennstrich gemalt worden war. Die Tropfen und Schlieren der roten Lackfarbe erinnerten an einen billigen Horrorfilm; an diesem grauen Ort wirkte das Rot gespenstisch, beinahe brutal. Passanten eilten mit gesenktem Blick daran vorüber.

Während der nächsten Monate sollte ich dieses Graffiti mit schöner Regelmäßigkeit entdecken. Wenn es nicht mehr da war, meinte ich, die ans Licht drängenden Lettern unter der dünnen Farbschicht erkennen zu können, aber vielleicht spielte mir meine Einbildung einen Streich. Das Wort umgab mich von allen Seiten, allerdings in leibhaftiger Gestalt: in den ausgemergelten Gesichtern der Armen und Kranken, all der Lumpensammler auf dem Müllhaufen der rumänischen Gesellschaft. Einige Tage später, an einem Freitagabend, als ich gerade von der Arbeit zurückkehrte, erblickte ich eine junge Roma, zu Tode erschöpft und offenbar in ihren letzten Zügen. Sie trug bunte Kleider und eine Bernsteinkette und streckte bettelnd einen Arm aus, den Daumen auf der Handfläche angewinkelt. Dieses winzige Detail brannte sich mir ein, es kam mir vor wie ein Symbol für Elend und Hoffnungslosigkeit. Aus der Straßenbahn beobachtete ich, wie sich zwei Soldaten über die auf dem Bürgersteig hockende Frau beugten, ihr Urin lief zwischen den Beinen bis in die Gosse. Die Männer streiften weiße Gummihandschuhe über und luden sie auf einen Dacia-Pick-up. Ihre geisterhafte Silhouette blieb da, als wäre sie mit jenem Schweiß auf die Wand gemalt worden, den ihr verdorrender, am Ende nur noch aus Knochen und Luft bestehender Körper ausgedünstet hatte.

EPIDEMIA: Dieses Wort stand in den Augen der hageren und wilden jungen Männer, die sich am Rand des Marktes herumtrieben, auf dem es so wenig zu kaufen gab, dass die meisten Stände schon um acht Uhr früh schlossen. Waren, die ich immer verpackt gekauft hatte und nur in großen Mengen kannte, waren hier ausgestellt wie Juwelen: verschrumpelte, an alte Socken erinnernde grüne Paprikas, krumme Möhren, ein paar Salatköpfe. Das Einzige, was es in rauhen Mengen zu geben schien, war Eingelegtes: Gemüse und Rüben, die in ihren Gläsern wie Gehirne, Organe oder Blinddärme in Formaldehyd aussahen und nur auf jenen Stromstoß zu warten schienen, der sie wieder zum Leben erweckte, zu einem funktionierenden Körper verband. Aber welcher Art von Energie bedurfte es, um diese an niedergedrückte, gebrochene Strohpuppen erinnernden Menschen in Revolutionäre zu verwandeln?

Wieso ahnte ich nicht – ahnte niemand von uns –, was da auf uns zukam? Weil es vollkommen unrealistisch zu sein schien, bis es urplötzlich doch Realität wurde? Vielleicht. Leo schien allerdings eine Vorahnung gehabt zu haben. »Man muss dicht dranbleiben oder so rasch wie möglich abhauen«, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt und dabei auf etwas hinter oder neben einem gezeigt. »Welche Wahl werden wir treffen?«

DREI

In einer fremden Umgebung nimmt man alles Mögliche wahr, nur nicht das, was zählt. Sogar die Luft ist angespannt, jedes noch so kleine Detail mit Bedeutung aufgeladen: Der Geruch der Flure, eine Mischung aus Tabakqualm, Fußbodenpolitur und Schweiß, die durch schlechte Belüftung ihre besondere Note erhält; die dick aufgetragene, graue Eierschalenfarbe der Wände; der rötliche Linoleumfußboden, rissig und lädiert und nicht mehr zu reparieren; die Anschlagtafeln aus Kork, an denen Papierfetzen an Stecknadeln und Heftklammern hängen; abgerissene Ecken von Plakaten; veraltete, im Wind flatternde Bekanntmachungen … All das scheint mir in seiner Alltäglichkeit und Zusammenhanglosigkeit wirklicher (noch wirklicher?) als das zu sein, was später geschah: Die Morde und der Mob, die Schießereien und die Anarchie. Was wohl daran liegt, dass diese Details in meiner Vorstellung das Gewicht dessen tragen, was danach geschah – als wären alle Schrecken und Auswüchse immer schon latent vorhanden gewesen, nur einen Gedanken, eine falsche Denkbewegung entfernt.

An meinem ersten Arbeitstag führte mich ein alter Portier zu meinem Büro in der Universität. Ein Plastikschild wies ihn als Micu aus. Er trug eine graue Hose und eine blaue, von Orden und Schnüren übersäte Tunika. Seine Brust glich einer Wand voller Auszeichnungen, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seinem Status stand – auf jeden Fall zum jetzigen. Schwer zu sagen, ob er sich als Soldat oder Fabrikarbeiter ausgezeichnet oder nur ein gewisses Alter erreicht hatte, was in Rumänien an sich schon eine Leistung war. Sollte die durchschnittliche Lebenserwartung weiter so rasant sinken wie in den letzten zehn Jahren, hatte Micu sämtliche Orden mehr als verdient, denn er war mindestens achtzig. Die Regierung verteilte so viele Orden und Ehrenurkunden – für heldenhafte Mütter (jene mit fünf oder mehr Kindern), heldenhafte Arbeiter (jene, die an drei von vier Sonntagen arbeiteten) oder heldenhafte Ackerbauern –, dass eigentlich nur jene Menschen auffielen, die nichts dergleichen vorzuweisen hatten.