Zur selben Zeit im Jahr null
Die Sekretärin am Plattenteller
In einer Scheune in Eschborn am Rande des Taunus tickte unaufhaltsam eine Bahnhofsuhr vorwärts. Um 21:20 Uhr, während sich die Meidericher Bundesligadebütanten im Bordell vergnügten, sahen sich mehr als eine halbe Million Deutsche an, wie der rote Sekundenzeiger der Uhr vorrückte. Exakt nach dem dritten Takt einer Begleitmelodie schwenkte die Fernsehkamera von der Bahnhofsuhr auf eine Litfaßsäule. Der Leichtathletik-Länderkampf Großbritannien gegen Bundesrepublik Deutschland, Die Große Rennwoche von Iffezheim sowie die Fußballbundesligaspiele in Saarbrücken, Frankfurt und München waren dort angeschlagen, und da begrüßte Gastgeber Heribert Meisel das hochverehrte Fernsehpublikum auch schon zur allerersten Ausgabe des Aktuellen Sportstudios. Die Scheune am Taunus hatte man ihm als Behelfsstudio zugeteilt.
Wie aktuell die Sendung gestaltet wurde, sollte jeder gleich an der Bahnhofsuhr erkennen, einem Symbol – meinten jedenfalls die Sportredakteure des Zweiten Deutschen Fernsehprogramms – für Bewegung und Dringlichkeit. Ob die Zuschauer überhaupt erkannten, dass es eine Uhr vom Bahnhof war, fragten sich die Redakteure nicht. Die wenigsten von ihnen hatten Ahnung vom Fernsehen. Das war, ohne dass sie es merkten, ihr großes Glück. Mit dem Enthusiasmus, aber auch der gesegneten Ignoranz von Pionieren wagten sie Sachen, die sich ein gelernter Fernsehredakteur niemals getraut hätte.
Im Winter 1962 war ein zweites deutsches Programm aus dem Stegreif gegründet worden. Ausreichend Fachleute, die dieses Fernsehen hätten machen können, gab es nicht. Ein paar wenige, meist junge Fernsehjournalisten, die das Abenteuer liebten, wie der 28-jährige Karl Senne vom WDR, ließen sich von den Landesrundfunkanstalten weglocken, die gemeinsam das erste und bislang einzige Programm gestalteten. Ansonsten sollten vor allem Zeitungsreporter das neue Sportfernsehen machen. Sie waren immerhin schon mal Journalisten. Horst Peets von Die Welt und Willi Krämer, der mal bei der Neuen Ruhr Zeitung gearbeitet hatte, dem vermutlich aber mehr seine Erfahrung als Kampfschwimmer im Zweiten Weltkrieg half, übernahmen das Sportressort. Sie stellten ein, wer ihnen gefiel, unter anderem den ehemaligen Geschäftsführer des Deutschen Handballbundes namens Wim Thoelke und Dettmar Cramer, einen der Assistenztrainer von Sepp Herberger. Schon bald waren sie sich einig: Sie würden etwas ganz Neues, etwas nie Gesehenes schaffen. Der Start der neuen Fußballliga am 24. August 1963 schien der ideale Termin für ein neues Fernsehformat.
Wie wäre es, wenn wir Sportler in die Sendung einladen?
Zu uns ins Studio, in die Scheune?
Ja, die Zuschauer sollen das Gefühl bekommen, die Sportler sitzen bei ihnen zu Hause auf dem Sofa. Sie sollen spüren: Im Sportstudio lerne ich die Stars wirklich kennen.
Niemand im Fernsehen lädt Gäste in die Sendung ein.
Dann machen wir es!
Nie fielen die Sätze: Das darf man nicht. Das können wir nicht.
Die Tatsache, dass man sie von der erst noch auszubauenden Sendezentrale in Mainz in dieses Taunusdorf ausgelagert hatte, befeuerte ihren Pioniergeist. Sie waren die im Matsch, sagten sie sich. Ein alter Bauernhof diente ihnen als Betriebsgelände, ihre Büros bestanden aus ein paar Baracken auf dem Acker. Wer ins Studio, in die Scheune, wollte, musste bei Regen durch autogroße Pfützen. Das Behelfsstudio mit seinen löchrigen Bretterwänden hatte sich gleich im ersten Winter den Spitznamen Telesibirsk verdient.
In Eschborn gab es eine Dorfschänke, in der die Pommes frites schmeckten, als wären sie vom Teller eines gestrigen Gastes aufgehoben worden. Die Gruppe der Jüngeren um Karl Senne und Wolfram Esser, die sich als Rhein-Ruhr-Mafia einen Namen im Haus machte, traf sich mittags deshalb lieber in der Schnitzelstadt. Im Nachbardorf Steinbach gab es ein Speiselokal, wo die Schnitzel größer als die Teller waren. Hier konnten sie ewig sitzen und über das Sportstudio reden, das sie machen würden. Abends nach der Arbeit trafen sie sich wieder und redeten weiter bis in die Nacht über ihr Sportstudio.
Besonders Wim Thoelke tat sich mit großen Vorschlägen hervor. Er war, wie Briten sagen, ein Mann größer als das Leben. Selten machte er nur eine Sache. Als Geschäftsführer des Handballbundes und später der Fluggesellschaft Bavaria hatte er nebenbei als Rundfunkreporter sowie Vermögensberater gearbeitet. Er hatte eine Charterfluggesellschaft gegründet und eine Dehnbundhose für Männer mit wechselndem Bauchumfang patentieren lassen. Er war noch keine 35 Jahre alt. Thoelke hatte keine Ideen, er sprühte Ideen.
Die Tauziehnationalmannschaften der Schweiz und Deutschlands wollte er nach Eschborn ins Studio einladen und dort gegeneinander antreten lassen. Musik musste ins Programm, sie mussten nicht nur eine Sportsendung, sondern ein Unterhaltungsprogramm werden.
Teak-Wim nannten ihn die Jüngeren. Thoelke hatte als Einziger Teppich und einen Schreibtisch aus Teakholz in den Baracken in Eschborn. Plötzlich, noch bevor das Sportstudio auf Sendung ging, sahen die jungen Kollegen ihn im Fernsehen. Er moderierte die ZDF-Nachrichtensendung heute. Wie hatte er den Job wieder bekommen?
Thoelke, dessen Körper nicht dick oder breit, sondern mächtig war, der scharfzüngig und gleichzeitig charmant sein konnte, würde der Gastgeber ihres Sportstudios, entschied Sportchef Peets. Aber für die erste Sendung wollten sie einen erfahrenen Kopf, einen großen Namen. Sie verpflichteten den Sportkommentator des Österreichischen Rundfunks, Heribert Meisel.
Die Bahnhofsuhr hatte getickt, am 24. August 1963, und nachdem Gastgeber Heribert Meisel durch einige Beiträge geführt hatte, übergab er an die Sekretärin der ZDF-Sportredaktion. Die Kamera schwenkte auf Uschi Stöhr, eine junge, hübsche Frau, selbstredend blond. Die Fernsehzuschauer sahen dabei zu, wie Uschi sorgfältig eine Schallplatte auf den Plattenteller legte, dann kratzte kurz die Nadel, und es erklang ein Hit wie Fingertips von Stevie Wonder. Während das Lied lief, zeigte die Kamera unentwegt das Bild von der sich drehenden Schallplatte.
Die erfahrenen Fernsehkollegen des Ersten Deutschen Fernsehens, die – natürlich nur zufällig – eingeschaltet hatten, um zu sehen, was die neuen Kollegen so trieben, musste das Zusehen körperlich schmerzen. Was für ein Dilettantismus!
Lauter Todsünden begingen diese Anfänger. Da waren Kameras, Kameramänner und Kabel im Bild, und offenbar ließen die jungen Kerle diesen Blick hinter die Kulissen auch noch absichtlich zu. Dann Musik in einer Sportsendung! Und jetzt traten – zum ersten Mal in einer deutschen Fernsehsendung, egal, ob aus Politik, Sport oder Kultur – auch noch Gäste in der Sendung auf – wie wollten diese Banausen da ihre journalistische Unabhängigkeit bewahren, sich nicht gemein machen mit dem Sport?
Der Weitspringer Wolfgang Klein und der Torwart des 1. FC Köln Fritz Ewert waren geladen. Ewert hatte mit Köln sein erstes Bundesligaspiel in Saarbrücken bestritten, vom Schlusspfiff bis zum Sendebeginn blieben genau zweieinhalb Stunden, um ihn ins Studio zu bringen. Das sollte, bei 183 Kilometer Entfernung, gerade so hinhauen. Aber selbst wenn der Torwart direkt vom Auto ins Studio käme, wäre das kein Drama, sondern phantastisch: Es würde die Werkstattatmosphäre der Sendung betonen. Die Zuschauer sollten spüren, mit welch heißem Atem hier gearbeitet wurde.
Mit jeweils zwei Kameras waren die Reporter bei den Spielen in Saarbrücken, München und Frankfurt gewesen, eine Führungskamera auf der Tribüne und eine zusätzliche Kamera hinter einem der beiden Tore. Wenn sie Glück hatten, fielen die Tore auf dieser Seite. Wenn sie Pech hatten, wechselte der Kameramann gerade die Filmkassette, wenn das einzige Tor fiel.
Wohl niemand in der Redaktion grämte sich, dass sie keinen Bericht von den beiden aufsehenerregendsten Partien des ersten Bundesligaspieltags hatten, Karlsruhe gegen Meiderich und Werder Bremens 3:2-Sieg über den Meister Borussia Dortmund. Der Zeitdruck war zu groß, um sich zu ärgern, und sie waren auf jugendliche Art auch zu berauscht von sich und ihrem neuen Journalismus, um sich wegen so etwas Banalem wie verpassten Ereignissen zu grämen.
Nachdem Karl Senne von den Pferden aus Iffezheim berichtet hatte, rundete Dettmar Cramer die Sendung mit dem Bundesligaüberblick ab. An einer Klapptafel waren handschriftlich die Resultate des Spieltags aufgemalt. Cramer stand daneben und dozierte fachmännisch über Spiele, die er nicht gesehen hatte. Die Sportschau des Ersten Fernsehprogramms hatte gar keine Bilder gezeigt, weil die Partien in der Bundesliga erst um 17 Uhr begannen, zu spät, um davon zwischen 18 und 19 Uhr noch etwas zu senden. Bei der Anstoßzeit Rücksicht auf das Fernsehen zu nehmen wäre niemandem eingefallen. Die Anstoßzeit richtete sich nach dem Sonnenlicht. Von 17 Uhr im August ging sie nach und nach auf 14:15 Uhr im Januar zurück, um dann wieder Monat für Monat später in den Nachmittag zu rücken.
Dettmar Cramer sagte Sätze wie: Mit ihren Dribblings zogen Höher und Eia Krämer die Karlsruher Läuferreihe so tief in die eigene Hälfte, dass die Karlsruher, selbst wenn sie den Ball gewannen, ungefährlich bleiben mussten, denn sie waren nun beim Umschalten auf Angriff viel zu weit weg vom Meidericher Tor. Er hoffte, den Genuss der Fans beim Fußballschauen zu erhöhen, wenn sie fachlich von ihm lernen konnten.
Beim Mittagessen in der Schnitzelstadt redeten die Rhein-Ruhr-Mafiosi, den Cramer verstehe niemand, er müsse lernen, dass er zu Hunderttausenden spreche, nicht zu elf Fußballspielern. Cramer sah die Jungen mittags Bier trinken und fühlte sich fremd, allein, wie hatte er denken können, dass Sportler und Journalisten etwas gemein hatten, nur weil das Wort Sportjournalismus existierte?
Samstagnachts jedoch kam nach Dettmar Cramer noch einmal die Sekretärin Uschi Stöhr ins Bild und legte eine beschwingte Musik auf, die zum Abschluss alle in gute Stimmung versetzen sollte. Das erste Aktuelle Sportstudio, das neunzig Minuten dauern sollte, ging nach zwei Stunden und 32 Minuten zu Ende.