Das Jahr null

Die Mannschaft des Wirts

Zum Trainingsauftakt des Meidericher SV brachte der neue Trainer Rudi Gutendorf zwei Dinge mit, um die Mannschaft und Zuschauer zu beeindrucken: ein schnelles Auto und einen übergewichtigen Stürmer.

Leck mich am Arsch, dachte sich Torwart Manfred Manglitz, als er Gutendorf in einem glänzend weißen Mercedes 190 SL mit roter Ledergarnitur vorfahren sah. Als wollten sie Spalier stehen, wichen die Zuschauer zurück. Es war ein warmer Tag im heißen Juli 1963, der sie entschädigte für den Graus vom Vorjahr, den kältesten Sommer seit 111 Jahren mit einem einzigen Tag über 25 Grad. Da fährt der mit einem Mercedes in der Arbeiterstadt Meiderich vor, dachte Manglitz. Leute, die sich was trauten, gefielen ihm. Er selbst trug in den Spielen immer das neueste Modell einer Schirmmütze.

Es riecht hier so komisch, dachte sich Heinz Höher, der mit Manglitz überpünktlich losgefahren war, um am ersten Tag nicht zu spät zu kommen.

Der Geruch, stechend, säuerlich, musste von der Hochofenschlacke in der Phoenixhütte stammen. Heinz Höher fragte sich, ob es in Leverkusen auch so penetrant roch, sicher musste es riechen, bei den Abgasen, die Bayer in die Luft jagte. Aber es war ihm nie störend aufgefallen. Es war normal.

Minuten nach Gutendorfs Auftritt im Sportwagen schwappte die Menge der Schaulustigen auf dem Stadionparkplatz wieder nach vorne. Noch ein Mercedes bog von der Westender Straße ein. Gutendorfs gewichtiger neuer Stürmer fuhr vor: Der Boss kam.

Als Helmut Rahn ausstieg, sah die Menge einen Mann, der älter war, als man mit 34 sein musste, die Haut faltig, der Torso breit. Aber wen die Schaulustigen genauso wie die neuen Mitspieler noch immer in ihm sehen wollten, war Helmut Rahn, der neun Jahre zuvor im Weltmeisterschaftsfinale 1954 gegen Ungarn aus dem Hintergrund das Tor zu Deutschlands 3:2-Sieg geschossen hatte.

Ich sitze neben Helmut Rahn, dachte sich Horst Gecks in der Umkleidekabine, ein 20-jähriger Floh von einem Außenläufer, 1,73 klein, 62 Kilo leicht, und selbst in Gedanken traute sich Gecks den Satz nur zu flüstern. Außer einem 31-jährigen Verteidiger waren sie alle mindestens zehn Jahre jünger als Rahn. Mit großen Jungenaugen hatten sie ihn 1954 schießen sehen, als Rundfunkreporter Herbert Zimmermann mit seinem Kommentar den ersten Gemeinschaftsmoment der jungen Bundesrepublik schuf: »Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tooor!« 16-jährig hatte Heinz Höher damals vor dem Gasthaus Birkhäuser gestanden und versucht durch das Fenster einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen, die Wirtschaft war überfüllt zur Übertragung des WM-Finales. Helmut Rahn würde nie einfach ihr Teamkollege werden. Er würde immer auch ihr Held bleiben.

Dass Rahn mit 34 seinem alten Helden-Ich sichtbar hinterherhechelte, war zweitrangig. Der Boss blieb der Boss.

Doch im Prinzip kam die Bundesliga für die Weltmeister von 1954 zu spät. Fritz Walter trat nun als Repräsentant für Adidas sowie als Fußballweiser in Funk und Presse auf, sein Bruder Ottmar Walter verdingte sich als Tankstellenbesitzer mit flottem Werbespruch: »Willst du unserem Ottmar danken, musst du fleißig bei ihm tanken.« Neben Helmut Rahn blieben nur noch drei Weltmeister am Ball, Hans Schäfer in Köln, Max Morlock in Nürnberg und Heinz Kwiatkowski als Ersatztorwart in Dortmund. Die Bundesliga schien ein neuer Anfang: Es war Platz für neue Namen, eine neue Zeit.

In Meiderich überlegte der Verwaltungsrat, ob er eine Mark Eintritt für das Training verlangen sollte. Er verwarf den Gedanken schnell wieder aus Angst, einen Volksaufstand zu provozieren. In Meiderich, 70000 Einwohner, durch den Fluss Wedau von Duisburg abgegrenzt, arbeiteten die Fußballer an der Seite ihrer Zuschauer auf der Stahlhütte Phoenix-Rheinrohre. Da konnte es sich der Fußballverein nicht erlauben zu vergessen, wie hart die Zuschauer für ihre Mark arbeiteten. Ein Gefühl von Wehmut blieb allerdings im Verwaltungsrat, was sie ohne ein bisschen Aufwand an den ersten drei Trainingstagen hätten einnehmen können. 8500 Zuschauer waren im Jahr zuvor durchschnittlich zu Meiderichs Spielen gekommen, nun pilgerten 5000 zu einem gewöhnlichen Training, um die neue Zeit zu spüren und den Boss zu sehen.

Als erste Übung ließ Trainer Gutendorf die Spieler nebeneinander einmal den Platz hoch und wieder runter gehen, 100 Meter vor, 100 Meter zurück. Dabei musste jeder einen Ball mit den Füßen in der Luft jonglieren. So eine Übung hatte noch nie einer von ihnen gesehen.

Unter Gutendorfs Vorgänger Willy Multhaup hatte der MSV dienstags im Training einfach zehn gegen zehn über den gesamten Platz gespielt, und am Mittwoch hatte Stürmer Werner Krämer gebettelt, gestern sei es doch 14:15 ausgegangen, Trainer, lassen Sie uns bitte mit denselben Mannschaften noch einmal spielen, wir wollen Revanche nehmen. Na gut, hatte Multhaup geseufzt. So hatten sie die gesamte Woche einfach gespielt. Multhaup ging dann während des Trainings irgendwann an den Rand und unterhielt sich mit den Rentnern. Sonntags zum Spiel zog er sich Monokel, Manschettenknöpfe und Schuhe aus italienischem Leder an. Willy Multhaup, ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts geboren, war einer der erfolgreichsten und angesehensten Trainer in Deutschland.

Gutendorf war 37 und im Vorjahr mit dem TSV Marl-Hüls Letzter der Oberliga West geworden. Doch er hatte den Meidericher Vorsitzenden Herrn Dr. Schmidt bei dem Bewerbungsgespräch mit seinem jugendlichen Schwung, seinen modernen Ideen und seiner Weltläufigkeit beeindruckt. Gutendorf hatte schon in der Schweiz und, im Auftrag des deutschen Außenministeriums, als Entwicklungshelfer im Trainingsanzug in Tunesien gearbeitet.

Gutendorf musste dann spazieren gehen, während der Herr Dr. Schmidt den anderen Verwaltungsratsmitgliedern über den Bewerber Bericht erstattete. Beim folgenden Abendessen im Speiselokal Zum Marienbildchen setzte man Gutendorf nach alter Fußballtradition auf der Rückseite einer Speisekarte den Vertrag auf. Als nur noch die niemals leeren Gläser auf dem Tisch standen, verlangte Gutendorf auf der Speisekarte eine Klausel zu vermerken. Für den Gewinn der Bundesliga sei ihm eine Prämie von 100000 Mark, für den zweiten Platz von 30000 Mark gutzuschreiben.

Herr Gutendorf, wir sind schon froh, wenn wir nicht absteigen, sagte Herr Dr. Schmidt und schrieb die Klausel hin, denn das war wirklich ein guter Witz.

Von Helmut Rahns Verpflichtung überzeugte Gutendorf sie dann auch noch.

Aber sie hatten mit Heinz Höher doch schon einen erstklassigen Stürmer für die rechte Seite verpflichtet, argumentierte Herr Dr. Schmidt.

Es gehe nicht darum, einen erstklassigen Stürmer zu holen, sagte Gutendorf und holte Luft: Sie bräuchten eine Attraktion, jemanden, dessen Namen die Luft vibrieren ließe, der ganz Deutschland neugierig auf diesen unbekannten Flecken namens Meiderich blicken ließ, der ihnen das Stadion füllte.

Der Verwaltungsrat war beeindruckt. Das war eine neue Sichtweise für einen Trainer.

»Zuerst war ich dagegen, Rahn zu uns zu holen, nicht aus sportlichen Gründen wohlgemerkt«, sagte Herr Dr. Schmidt bei Rahns Präsentation den Journalisten, die ihn umringten. Die Reporter kicherten nach dem Zusatz: »nicht aus sportlichen Gründen wohlgemerkt«. Rahns Lust auf Bier war Teil seiner Legende.

»Aber«, fuhr Herr Dr. Schmidt fort, »wir sind unter den sechzehn Bundesligavereinen, hm, um es vorsichtig auszudrücken, sicherlich nicht der prominenteste. Wir mussten also etwas tun, um uns, na, sagen wir, aufzuwerten.«

Die Bundesligagründung machte die Welt auch in Meiderich größer. Mit Rahn, Manglitz und Höher heuerte der MSV erstmals Fußballer von weiter weg an. Sie kamen aus einem Umkreis von 75 Kilometern, Essen, Köln, Leverkusen. Wer beim MSV spielte, war bis dahin aus Obermeiderich oder Mittelmeiderich, eventuell noch aus dem Nachbarort Hamborn gekommen.

Horst Gecks, der leichtfüßige Linksaußen aus Mittelmeiderich, hatte bis 16 Handball gespielt. Nur in den Sommerferien war er jeden Tag die drei Kilometer zum Trainingsplatz des MSV gelaufen. Die Kinder durften dort ihre wilde Straßenmeisterschaft von Meiderich austragen, Kanalstraße gegen Gelderblomstraße, Weizenkamp gegen Herbststraße. Der Wirt der Vereinsgaststätte, Hugo Hesselmann, stand vor seiner Tür und sah zu.

Der Trainingsplatz war aus groben Kohlenstückchen. Horst Gecks riss sich die Beine auf. Nachts nässten die Schürfwunden und klebten am Bettlaken fest. Am nächsten Tag spielte er weiter. Irgendwann sprach ihn der Wirt an. Er solle doch mal zum MSV kommen. Der Wirt war der Talentjäger des Vereins, die A-Jugend trainierte er selber. Mit Gecks, Danzberg, Heidemann, Lotz, Nolden, Krämer, Versteeg, insgesamt 20 Mann, die sich quasi alle von der Schule kannten, die beinahe alle das Jugendtraining beim Wirt durchlaufen hatten, stürmte Meiderich in die Bundesliga. Nicht jeder konnte das fassen.

»Wo liegt eigentlich Meiderich?«, ließ eine Boulevardzeitung den Kapitän der Nationalelf, Uwe Seeler, fragen. Alemannia Aachen klagte vor einem ordentlichen Gericht gegen die Nominierung des MSV für die neue Eliteliga. Wie konnte dieser klapprige Vorortsklub der traditionsreichen Alemannia vorgezogen werden?

Selbst die Meidericher Spieler gaben die Aachener Verschwörungstheorien bald als Tatsachen weiter: Dem Franz Kremer, dem Präsidenten des 1. FC Köln und einflussreichen Verfechter der Bundesliga, hatten sie am Aachener Tivoli mal ein Bier über den Kopf geschüttet, erzählte Verteidiger Dieter Danzberg, »daraufhin sagte Kremer zu unserem Präsidenten: ›Diese Aachener will ich nicht in der Bundesliga sehen. Wenn ihr in der Oberliga Dritter werdet, garantiere ich, dass Meiderich in die Bundesliga kommt.‹«

Die Wahrheit war wohl langweiliger. Die DFB-Kommission, die über die 16 Bundesligaplätze verfügte, versuchte in einem Hochamt der Bürokratie, jeden Regionalverband zu berücksichtigen. Aus dem Fußballverband Niederrhein war der Sportverein aus dem Duisburger Vorort sportlich nachweislich der stärkste Klub. Alemannia Aachen, im Regionalverband Mittelrhein angesiedelt, hatte den 1. FC Köln vor sich.

Die Auswahl der Bundesligavereine musste zu Ungerechtigkeiten führen. Der 1. FC Saarbrücken als einziger renommierter, halbwegs wirtschaftsstarker Vertreter des Saarlandes wurde zugelassen, obwohl er selbst im dünn besiedelten Südwesten nur Fünfter der Oberliga geworden war. Bayern München blieb außen vor, obwohl es in der Oberliga Süd vor dem VfB Stuttgart, dem Karlsruher SC und Eintracht Frankfurt lag. Doch als Süd-Dritter war der FC Bayern eben auch nur die dritte bayerische Kraft. Es ging darum, dass die neue Spielklasse wirklich als Liga des ganzen Landes startete und nicht als Liga der momentan besten Mannschaften.

Am Freitag, dem 23. August 1963, traf sich die Mannschaft des Meidericher SV am Duisburger Hauptbahnhof. 17 Tickets zweiter Klasse nach Karlsruhe-Durlach waren für sie reserviert. Neben 14 Spielern reisten der Trainer, der Spielerausschussobmann und der Masseur mit. Falls sich ein Spieler ernsthafter verletzte, würde sich der Mannschaftsarzt des Karlsruher SC um ihn kümmern. Auf das Ehrenabkommen, dass der Arzt der Heimelf im Notfall auch die Auswärtsspieler versorgte, hatten sich alle Bundesligisten geeinigt, denn die Ärzte konnten doch nicht jedes Wochenende quer durch die Republik fahren, die Ärzte hatten zu tun. Und man benötigte den Arzt sowieso fast nie. Als sich Torwart Manglitz im allerersten Training in Duisburg bei einer Schussabwehr einen Finger ausgerenkt hatte, ging Trainer Gutendorf zu ihm, warf einen Blick auf den abstehenden Finger, und mit einem Ruck renkte er ihn wieder ein. Leck mich am Arsch, dachte sich Manglitz. Er trainierte dann die nächsten Wochen als Feldspieler mit.

Heinz Höher liebte die Fahrten mit der Fußballelf, wenn sie bereits einen Tag vor dem Spiel anreisten. Es gab ihm stets das Gefühl, etwas Besonderes, etwas Großes stehe bevor. Bislang hatte er solche Fahrten nur zu Spielen der Amateur- oder Juniorennationalelf unternommen. In der Oberliga West waren sie stets am Spieltag mit dem Bus zum Stadion gefahren, ausgestiegen und hatten sich aufgewärmt.

Im Zug nach Karlsruhe klopften ständig Passagiere an das Abteilfenster. »Helmut Rahn, der Helmut Rahn!« Der Meidericher SV übernachtete in einer Familienpension in Karlsruhe-Durlach.

Einer der Spieler hatte die Neue Ruhr Zeitung als Reiselektüre mitgebracht, Heinz Höher warf einen Blick hinein. Die NRZ wurde von einem frischen, offenen Geist getragen, sie druckte hintergründige Reportagen und, viele erfahrene Journalisten schüttelten den Kopf, gelegentlich sogar Interviews mit Fußballtrainern. Wie konnte man den Worten von ungehobelten Männern so viel Raum und Gewicht geben? Zum Bundesligastart schrieb die NRZ einen offenen Brief an die Bundesligavereine:

Liebe Vereine,

es ist erfreulich festzustellen, daß bei den meisten von Ihnen der Optimismus überwiegt und nicht das Nachtrauern an die Zeit, da man die Torstangen selbst zum Platz trug und Eintrittsgelder auf dem Suppenteller kassiert wurden. Vorbei, vorbei, überlassen wir es den braven, den echten Amateuren!

Der Realismus ist trumpf. Künftig muß mehr getan werden, um möglichst viele Zuschauer (lies: Geld) heranzuholen. Die Werbung der Spitzenvereine war bisher wie im Mittelalter des Fußballsports. Man verließ sich auf die vorschaufreudige Presse, man klebte Plakate an Litfaßsäulen, die in ihrem Charakter seit 50 Jahren unverändert geblieben sind.

Auch hier wäre ein Wandel nützlich und daher empfehlenswert. Ihr Vereinsbosse, schaut euch doch mal im Ausland um, wie es da gehandhabt wird!

Besucht Vereine in England, in Italien, in Spanien!

Dort können wir alle noch viel lernen, was es heißt, eine Profiabteilung zu haben.

Nun Mut also zum morgigen Bundesligastart! Wir alle haben mitgeholfen, sie zu schaffen, wir werden auch jetzt vornean sein, wenn es gilt, die Hindernisse des ersten Saisonabschnitts zu beseitigen.

Herzlichst,

Ihre NRZ

Horst Gecks fuhr am nächsten Tag mit vier Fans aus Meiderich im Auto nach Karlsruhe. Der Außenstürmer stand nicht im Aufgebot. Das erste Bundesligaspiel wollte er sich jedoch nicht entgehen lassen. Er erhielt vom MSV zwei Eintrittskarten, die restlichen drei mussten sie kaufen, 6,50 Mark der unüberdachte Sitzplatz.

Es war das Schicksal der halben Mannschaft, beim Spiel nur Zuschauer zu sein. Es wurden nur elf Spieler benötigt. Zur Sicherheit reisten noch der zweite Torwart sowie ein defensiver und ein offensiver Ersatzmann mit, falls einer der elf Auserwählten erkranken oder auf der Hoteltreppe umknicken würde. Doch wenn nichts Unvorhergesehenes geschah, saßen diese drei beim Spiel dann auch auf der Tribüne. Auswechslungen waren verboten.

Schon länger wurde darüber debattiert, ob nicht wenigstens der Torwart bei einer schlimmen Verletzung ausgetauscht werden dürfte. Aber das würde doch die Reinheit des sportlichen Wettkampfes zerstören. Wenn sich der Torwart verletzte, ging er in den Sturm, wo er herumhumpelte, so gut es ging, und ein Feldspieler vertrat ihn im Tor. Als Heinz Höher einmal in einem Olympia-Qualifikationsspiel bei einem Foul das Schienbein aufgeschlitzt wurde, schrie ihn DFB-Trainer Georg Gawliczek an: Wenn du rausgehst, operiere ich dich, und zwar sofort hier auf dem Platz! Das Blut strömte aus Höhers Bein, aber er rannte weiter, das ganze Spiel, aus Angst vor Gawliczek.

In den Wochen vor dem Bundesligaauftakt hatten Manfred Manglitz und Heinz Höher sich mit dem gespielten Raunzen, das Fußballer gerne für Coolness halten, auf ihren Fahrten zum Training gelegentlich versichert, wenn die dummen Leverkusener ihnen nur das Geld gezahlt hätten, wären sie geblieben. So besonders sei diese Bundesliga doch auch nicht. Samstags um kurz vor fünf am 24. August im lichtüberfluteten Wildparkstadion von Karlsruhe konnte das niemand mehr behaupten. Über 40000 Zuschauer füllten das Stadion zur Bundesligapremiere. In Leverkusen, in der Oberliga West, waren es Festtage gewesen, wenn sie vor 20000 gespielt hatten. Die Meidericher Spieler trugen fast ausnahmslos Fußballstiefel von Hummel. Die Sportartikelfirma aus Kevelaer hatte jedem Spieler 25 Mark versprochen, der ihre Schuhe zum Bundesligastart schnürte. Heinz Höher drückten die Hummel-Schuhe. Er wollte seine gewohnten Adidas-Stiefel tragen, aber auf die 25 Mark nicht verzichten. Über eine Stunde saß er auf dem Hotelzimmer und kratzte mit Schere und Feile die Adidas-Streifen ab, klebte das Hummel-Emblem auf.

In der Umkleidekabine schaute er aus den Augenwinkeln natürlich auf Helmut Rahn. Sein Blick blieb an den Unterschenkeln hängen. Der Boss zog keine Schienbeinschoner an. Mache er nie, sagte Rahn. Die störten nur.

Der Ball im Wildparkstadion war schwarz-weiß. Eine Erfindung für das Fernsehen. Der alte braune Lederball war dort nicht so gut zu erkennen.

Die Meidericher Spieler waren sich nicht sicher, ob von ihrem Spiel ein Fernsehbericht gezeigt würde, vielleicht wegen Helmut Rahn. Gegen 21 Uhr sollte es im zweiten Fernsehprogramm eine neue Sendung geben, das Aktuelle Sportstudio, vielleicht konnten sie es vor der Rückfahrt im Nachtzug irgendwo in einem Gasthaus sehen.

Wenn die Karlsruher euch vor dem Spiel im Tunnel grüßen, schaut grimmig zurück!, waren Gutendorfs letzte Worte vor dem Anpfiff, oder vielleicht sagte er es auch vor einer anderen Partie, seine Spieler können sich nicht mehr exakt daran erinnern, nur dass Gutendorf immer solch einen Spruch, solch einen Befehl auf Lager hatte.

Niemand konnte die Stärke von Karlsruhe und Meiderich realistisch einschätzen, die, getrennt in Süd und West, sich nie begegnet waren. Der Ahnungsloseste konnte schon nach wenigen Spielminuten erkennen, dass der vorgebliche Abstiegskandidat Nummer eins eine Nummer zu groß für den KSC war. Meiderich stürmte. Die Halbstürmer, Werner Krämer rechts und Heinz Höher links, schlugen Haken, passten auf die Flügel, boten sich postwendend für den Flachpass in den freien Raum an, nahmen den Ball auf und dribbelten dem Tor entgegen. Ließen sich Krämer oder Höher einmal zurückfallen, glaubte das Publikum, nun ruhten sie sich einmal aus. Da spielten sie plötzlich einen Steilpass aus der Tiefe, der Karlsruhes Abwehr zerschnitt. Nach 37 Minuten stand es 0:3. Werner Krämer hatte mit einem brachialen Sololauf Meiderichs erstes Bundesligator erzielt, der Boss nach einem Steilpass von Heinz Höher das dritte markiert. Helmut Rahn auf der theoretisch laufintensiven Position des Rechtsaußen beteiligte sich nur in ausgewählten Momenten am Spiel, und wenn er stand, trat beim Ausatmen sein Bäuchlein hervor. Doch wenn er spielte, war zu erkennen, dass die Form eines Fußballers kommen und gehen mag, die Klasse aber immer bleibt.

Auf der Pressetribüne schien der Reporter des Kicker, Waldemar Rink, persönlich beleidigt. »Diese Karlsruher wirkten wie der kranke Mann«, schrieb er.

Meiderich behielt in der zweiten Halbzeit die Initiative. Jedes Mal, wenn sich sein Gegenspieler Rolf Kahn in den Angriff einschalten wollte, schien sich Werner Krämer für den Freiraum zu bedanken; kaum eilte Kahn nach vorne, rollte der Angriff nach einem Ballverlust wieder über Krämer auf das Karlsruher Tor. Kahns fletschendes Kinn würde allerdings erst Jahrzehnte später berühmt werden: in der Gestalt seines Sohnes Oliver im Tor der Nationalelf, der die Geste mit dem verärgert malenden Unterkiefer vom Vater geerbt hatte.

1:4 hieß es beim Abpfiff. Werner Krämer, den niemand Werner nannte, sondern alle Eia riefen, hatte noch einmal getroffen. »Krämer war ein großartiger Regisseur und schußgewaltiger Torjäger zugleich, prächtig assistiert vom blonden Höher«, schrieb Rink im Kicker. »Überzeugend der technisch glänzende Höher«, urteilte die Süddeutsche Zeitung, die sich zum Start der Bundesliga einen Korrespondentenbericht aus jedem Stadion leistete.

Heinz Höher bekam das Lob von allen Seiten mit. Er selbst aber spürte die Begeisterung über seine Leistung nicht. Bei aller äußerlichen Zufriedenheit blieb er im Kern auf unergründliche Weise traurig. War es, weil er von Gutendorf vom rechten auf den linken Flügel verschoben worden war und somit demonstriert bekommen hatte, dass er in Meiderich anders als in Leverkusen nicht mehr der bestimmende Mann, sondern Krämers und Rahns Nebendarsteller war? Oder war es, weil Sepp Herberger nach dem Spiel zu ihnen in die Umkleidekabine gekommen war?

Der Bundestrainer gratulierte jedem Einzelnen von ihnen schweigend, mit Handschlag. Ihn sprach er an. »Heinz«, sagte Herberger, lächelte kurz, drückte die Hand und ging zum Nächsten.

Es war kein Geheimnis, dass Herberger gekommen war, um Eia Krämer zu beobachten. Heinz Höher konnte den Gedanken nicht verhindern: Deinetwegen kommt er nicht mehr.

Als Sepp Herberger Heinz Höher 1958 zum ersten Mal zu einem Sichtungslehrgang der Nationalelf nach Grünwald eingeladen hatte, musste sich Höher von der Schule befreien lassen. Er ging mit 20 noch in die 13. Klasse am Carl-Duisberg-Gymnasium, weil er zwischenzeitlich zwei Lehren versucht und gelangweilt abgebrochen hatte. In der Sportschule Grünwald übten sie Grundtechniken, den Kopfball am Ballpendel, den Spannschlag, Innenristpass, eine Wiederholung und noch eine, nur durch die permanente Wiederholung wurde ein Fußballer besser, sagte Herberger. Sein Assistent Helmut Schön warf Höher den Ball halb hoch zu, damit er den Drehschlag übte. Heinz Höher holte in der halben Körperdrehung wuchtig aus. Als er den Ball sauber mit dem Spann in der Luft traf, multiplizierte sich die Geschwindigkeit seines Fußes mit der des Balles, in einer geraden Linie sauste der Ball in den Torwinkel. Sepp Herberger packte Heinz Höher an der Schulter. Du hast den besten Drehschlag von allen, sagte der Bundestrainer. Heinz Höher war verwirrt. Warum sagte Herberger das? Albert Brülls hatte doch einen viel besseren Drehschlag.

In den Tagen danach, als der Satz immer wieder in seinem Kopf nachhallte, glaubte Heinz Höher zu begreifen, was der Satz bedeutete: Herberger hielt viel von ihm, Herberger baute auf ihn. Abends auf dem Zimmer gewann das Lob in Heinz Höhers Wachträumen eine immer größere Bedeutung: Vielleicht wollte Herberger ihn zu Fritz Walters Nachfolger aufbauen!

An einem freien Nachmittag unternahmen sie einen Ausflug zur Zugspitze. Um 21:15 Uhr würde der Bus vom Skistadion in Garmisch, am Fuß des Berges, zurück in die Sportschule fahren. Drei Minuten vor der Abfahrt stieg Heinz Höher ein, er war noch mit einem Kollegen durch den Ort geschlendert. Sieh einer an, die Jüngsten kämen wieder einmal als Letzte, sagte Herberger. Heinz Höher nahm es mit einem verschämten Lächeln hin. Er war doch nicht zu spät, oder, fragte er sich. Während er auf seinen Sitzplatz kletterte, schaute er auf seine Uhr, um sich zu vergewissern. Da tat es einen Schlag.

Herberger hatte gegen die Fensterscheibe gehauen. Das war ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit, dass es Höher nun auch noch wage, provozierend auf die Uhr zu schauen, brüllte Herberger, eine anmaßende Respektlosigkeit sei das!

Aber der Sturm ging vorüber. Zum Länderspiel am 6. Mai 1959 in Glasgow gegen Schottland lud Herberger ihn ein.

Deinen Reisepass, bitte, sagte der DFB-Generalsekretär Georg Xandry im Trainingslager in Duisburg.

Den habe der DFB doch eingeschickt, um das Visum für das Junioren-Länderspiel in 14 Tagen in Polen zu erhalten, sagte Höher. Er habe den Personalausweis dabei.

Ach ja, richtig, sagte Xandry und nahm den Ausweis an sich.

Mit dem Stapel Pässe ging Xandry am Abflugtag am Flughafen Düsseldorf zum Lufthansa-Schalter, um die Sitzplätze der Mannschaft zu buchen. Er brauchte nicht lange. Als er zurückkam, sagte er, jetzt hätten sie ein Problem. Ohne Reisepass ließ man Heinz Höher nicht nach Großbritannien einreisen. Da war nichts zu machen.

Während die Nationalmannschaft nach Glasgow flog, fuhr Heinz Höher alleine mit dem Vorortzug in die Düsseldorfer Altstadt, trank zwei Bier und einen Klaren, geriet dabei in eine Gruppe von zehn, zwölf Modemodells und fand den Abend auch nicht schlecht.

Heinz Höher empfing weiterhin Herbergers Rundbriefe an die Nationalspieler (»Liebe Kameraden und Freunde!«), er wurde in den ersten, den 40 Mann starken Sichtungskader für die Weltmeisterschaft 1962 in Chile berufen. »Er mochte dich«, sagt Herbergers Assistenztrainer Dettmar Cramer zu Heinz Höher, als sie sich, 88 und 74 Jahre alt, fünf Jahrzehnte später wiedersehen. »Er war verliebt in deinen Drehschlag. Er suchte einen, der mehr konnte als rennen und kämpfen.«

Ein Bild kommt Cramer wieder in den Sinn, im Herrenhaus des Schlosses Oberhausen, 1961, die Amateur-Nationalteams von Deutschland und den Niederlanden trafen sich zum obligatorischen gemeinsamen Bankett nach einem Länderspiel. Es gab Schinkenröllchen, gefüllt mit Eiersalat und Spargel, zur Vorspeise und nach dem Paprikasteak Fürst-Pückler-Eis mit Sahne zum Nachtisch. Das weiß Cramer natürlich nicht mehr, so steht es in der auf schwerem Karton gedruckten Einladung mit eingestanztem DFB-Emblem, die Heinz Höher aufgehoben hat. Bei Kaffee und feinem Backwerk saßen Herberger, Cramer und der niederländische Trainer nach dem Mahl zusammen.

Der Höher, das wäre einer für ihn, so einen hätte er nicht, der sei etwas Besonderes, sagte der niederländische Trainer. Sepp Herberger wandte sich Cramer zu und sagte: Siehste.

»Er war sich nur nicht ganz sicher, ob du diese mentale Härte hättest«, sagt Dettmar Cramer, fünf Jahrzehnte später, zu Heinz Höher.

Nach dem ersten Bundesligaspiel in Karlsruhe beschlich Heinz Höher die Ahnung, was Herberger mit fehlender mentaler Härte gemeint hatte. Egal, wie viel er sich vornahm, wie hart er trainierte, er war in seiner Leistung immer unstet geblieben.

Anders als alle anderen in Karlsruhe hatte er nicht das Gefühl, dass etwas Großes begann. Ihn hatte Herbergers Erscheinen daran erinnert, was vorüber war. Heinz Höhers Nationalmannschaftskarriere endete nach jenem ersten Länderspiel in Schottland, das er nie machte.

Aber gut, sagt er sich, jetzt ging er erst mal mit der Mannschaft ein Bier trinken.

Ihr Nachtzug zurück nach Duisburg verließ Karlsruhe nicht vor 23 Uhr. Sie hatten Zeit und Lust, etwas zu erleben. So weit draußen in der Welt waren sie selten, schon Frankfurt war Ausland für ihn, dachte sich Manfred Manglitz, wenn wir schon mal in Karlsruhe sind, dann wollen wir doch auch was sehen. Also gingen sie in einen Puff.

»Gepufft haben wir aber nicht«, sagt Manglitz.

Im Puff liefen die neuesten Hits, »Ich will ’nen Cowboy als Mann«, die Spieler tranken Bier und lachten, um ihre Aufregung zu vertuschen, wenn die Frauen sie ansprachen. Die Sportredakteure der drei Lokalzeitungen, die über den Meidericher SV berichteten, waren auch mitgekommen. Sie gehörten dazu. Trainer Rudi Gutendorf, ganz die Autorität auf allen Gebieten, erzählte gerne von den Prostituierten in Tunis, elfenbeinhäutigen Araberinnen und Zentralafrikanerinnen mit geweiteten Ohrlappen, so dunkel, dass sie blau schimmerten. Kurz gesagt, dozierte der Trainer, die unglaublichsten Huren.