Die Sechziger

Motorbiene

Nach ihren Spielen gingen die Fußballer des Meidericher SV selten nach Hause. Die Sporttaschen sperrten sie bei der Rückkehr von Auswärtspartien in die Schließfächer am Duisburger Bahnhof. In der Stadt hatten ein paar neue Clubs aufgemacht.

Ein Tanzlokal, das etwas auf sich hielt, nannte sich nicht mehr Tanzlokal, sondern gab sich einen englischen Namen oder zumindest einen, den man für englisch halten konnte, wie das Shirkin in Meiderich. Sogar Benny Quick, von dem nur noch die wenigsten wussten, dass er eigentlich Rolf Müller hieß, trat im Shirkin auf. Die Menge stieß einen spitzen Schrei aus, als er das ba baba baba von Motorbiene anstimmte, und die Wildesten sangen sogar mit: »Am Sonntag fahr ich mit dir zum Rummelplatz, du nimmst auf meinem Sozius Platz.«

Glücklich war, wer rechtzeitig ein Mädchen zum Tanz aufgefordert hatte. »Dann fahr’n wir schnell in jede Kurve rein, du bist froh, mit mir allein zu sein, oh, oh Motorbiene!« Wobei Horst Gecks lieber mit Männern tanzte. Die Mädchen konnten ihn nicht auf die Schultern stemmen, und das war doch das Schönste am Rock ’n’ Roll: wenn der Tanzpartner ihn in die Luft hob und Horst Gecks aus zwei Metern Höhe mit einem Salto-Überschlag absprang. Und schon ging es weiter, linker Fuß kickt, rechter Fuß setzt ab. Horst Gecks musste immer schauen, dass er genug Platz auf der Tanzfläche fand, um den Salto zu schlagen. Wenn die Kapelle Bill Haley intonierte, strömten plötzlich alle zum Tanz. Außer Heinz Höher, der lehnte, ein Bier in der Hand, den Ellenbogen auf dem Tresen, an der Bar.

Seit ich dich kenne, verlerne ich das Tanzen, sagte Doris zu ihm. Aber selbst die Liebe konnte ihn nicht animieren, sich einen Ruck zu geben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Körper die Geschmeidigkeit und Leichtigkeit fand, die das Tanzen erforderte, jedenfalls fühlte er sie nie. Was ihn zum Tanzen brachte, wenngleich nur innerlich, war das Bier, zwei Bier und ein Klarer, zunächst stieg ihm ein angenehmer Schwindel in den Kopf, dann löste sich ein Riegel, die Gedanken und die Gefühle flossen leichter, sogar nach draußen.

Verwegen schwungvoll trug Heinz Höher den blondierten Pony über der Stirn, an den Seiten waren die Haare gut vier Zentimeter lang, unverschämt lang, auch wenn er sie selbstverständlich nicht über die Ohren wachsen ließ wie diese neuen Musikstars aus England. Ich gebe dir Geld, damit du dir die Haare ordentlich schneiden lässt, sagte Onkel Willi jedes Mal, wenn er zu Besuch kam. Die anderen Spieler in Meiderich hatten die Haare nach Onkel Willis Geschmack an den Seiten akkurat kurz gestutzt, das Haupthaar ordentlich gescheitelt oder zurückgekämmt. Heinz Höher war es schon aus Leverkusen gewohnt aufzufallen und tat es nicht ungern.

Samstagnachts im Club in Duisburg wurden sie sogar von einigen Gästen erkannt, manch ein Mädchen flüsterte wohl zu ihrer Freundin, das sind doch die Spieler von Meiderich. Wenn der Kellner das Bier, den Schnaps und den Sekt kassieren wollte, sagten die Fußballer: Das zahlt der Helmut. Und welcher Kellner traute sich schon, Helmut Rahn aufzufordern, er möge bitte die Rechnung begleichen?

Der Meidericher SV wuchs über seine Stadt hinaus. Die Heimspiele trug er in der Bundesliga in Duisburg aus, wo extra eine neue Tribüne mit 6500 Sitzplätzen errichtet wurde. Wer Sitzplätze hatte, würde bald die Liga dominieren, prophezeiten die Experten. Denn die Einnahmen der Klubs mit großen überdachten Tribünen lagen ein Vielfaches über denen der anderen. Der Hamburger SV konnte das städtische Volksparkstadion mit 30800 Sitzplätzen nutzen, bei Sitzplatzpreisen zwischen vier und zehn Mark versprach das den dreifachen Gewinn im Vergleich zu Schalke oder Eintracht Frankfurt mit jeweils nur 4200 Sitzplätzen.


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