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www.piper.de
ISBN 978-3-492-98502-4
August 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Erstmals veröffentlicht 1996 im Deuticke Verlag
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Covermotiv: shutterstock.com
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Kurz nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, zahlte man knappe achtzig Schilling für eine Busreise von Krakau nach Wien. Der Bus, der mich zum ersten Mal in den Westen brachte, erinnerte an einen der Länge nach hingefallenen Kühlschrank, an den man vier Räder montiert hatte. Um diese äußerlichen Mängel auszugleichen, hatte man ihm die Flanken mit der knallroten Aufschrift Dream Travel verschönert. Der Fahrer, der zugleich der Besitzer des Busses war, war im Wartezimmer seines Zahnarztes auf diese Idee gestoßen. Er hatte in einem der Illustriertenstapel nach einem Playboy-Heft gesucht, sich aber, da er wegen der Zahnschmerzen alles wie durch einen Schleier sah, vergriffen und plötzlich einen Neckermann-Katalog in der Hand gehabt. Statt Samantha Fox’ Busen erblickte er einen zweistöckigen Luxusbus mit der Aufschrift Dream Travel, und es beschlich ihn das Gefühl, dass das Schicksal zu ihm gesprochen hatte. Er hatte das Richtige für seinen alten Ikarus gefunden.
Die Reise in den Westen mit dem Unternehmen Dream Travel dauerte über zehn Stunden. Der voll beladene Ikarus erreichte in seinen besten Momenten eine Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern, und einmal, als wir bei Olmütz einen Berg hinunterfuhren, kam er sogar auf hundertzehn. Nach acht Stunden Fahrt rollte der Bus langsam in Richtung österreichische Grenze, worauf viele Passagiere letzte Vorbereitungen für die Grenzkontrolle zu treffen begannen. Marlboro-Stangen tauchten auf und verschwanden unter den Sitzen. Wodka wurde in Thermosflaschen gefüllt. Die erfahreneren Passagiere schraubten den Oberteil der Motorhaube auf und schoben dort Flaschen mit sonderbarem Inhalt hinein. In den nächsten zehn Minuten wurde schweigsam an den Sitzen, Verschlägen und Böden des Busses gearbeitet. Unser Fahrer drosselte das Tempo, damit alles rechtzeitig sein Versteck fand. Das Handgepäck wurde unter die Sitze geschoben, und was nicht mehr ging, ließ man einfach im Gang stehen.
Die Blondine neben mir, die während der ganzen Reise an ihren Fingernägeln gefeilt hatte, machte eine Pause und schob sich ihre braune Reisetasche unter den Hintern. Offenbar hielt sie das für den sichersten Platz auf der ganzen Welt. Sie sah darauf aus wie eine brütende Henne.
Gegen drei Uhr früh kamen wir an der Grenze an. Eine Stunde lang geschah überhaupt nichts. Wir standen nur einfach da. Als Neuling wurde ich etwas unruhig, aber die anderen Passagiere kostete diese Zermürbungstaktik nur ein Lächeln, während sie nachprüften, ob alles gut festsaß.
So gegen vier ging zischend die Tür auf, und drei Zöllner stiegen so langsam ein, als hätten sie vor, den ganzen Monat in unserem Bus zu verbringen. An ihren Gürteln baumelten Pistolen und Handschellen. Der letzte Mann führte einen Schäferhund an der Leine herein. Der Schäferhund war als Einziger unbewaffnet, aber dafür so dressiert, dass er jedem, der nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besaß, automatisch die Zähne entgegenfletschte. Irgendwie schien es mir nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Zöllner all die versteckten Zigarettenstangen und Wodkaflaschen ausheben würden. Aber ich hatte nicht mit der Erfahrung der Passagiere gerechnet, die sich vor meinen Augen aus einer grölenden Masse in ein ruhiges, aufmerksames Kollektiv verwandelten. Bereits bei der Passkontrolle begannen die Passagiere die Zöllner mit falschen Auskünften zu füttern. Man konnte diese Auskünfte nicht als Lügen bezeichnen, sie widersprachen einander bloß. Wenn zum Beispiel ein Passagier eine gelbe Reisetasche als sein Eigentum meldete, fand sich gleich ein zweiter, der sich ebenfalls als der Besitzer dieser Reisetasche ausgab. So hatten einige Gepäckstücke zwei, drei oder, wie es im Falle der besagten gelben Reisetasche war, sogar fünf Besitzer. Auf der anderen Seite gab es eine Menge Reisetaschen, die ihre Besitzer verloren hatten.
Die Zöllner ernteten nur ein Achselzucken und konnten nichts tun, obwohl die herrenlosen Reisetaschen eindeutig Schmuggelgut beinhalteten und man damit den Besitzer als Schmuggler festnageln und ihm die Einreise verweigern hätte können. Um die Verwirrung zu steigern, gab es noch eine andere Sorte von Passagieren. Sie waren in einen komaähnlichen Schlaf gefallen. Die Zöllner sprachen solche schlafenden Passagiere zuerst höflich an, verloren aber ziemlich rasch die Geduld und brüllten, was in einem merkwürdigen Gegensatz zu ihrer anfänglichen Höflichkeit stand. Doch die Schläfer gaben nur schmatzende Geräusche von sich und drehten dem Zöllner den Rücken zu.
Servus in Österreich
Plötzlich stieß mich jemand von hinten an. Ich drehte mich um und sah den Mann, der Schimanski unschädlich gemacht hatte. Er war angetrunken, aber sein dümmlicher Gesichtsausdruck war wie weggeblasen. Er strahlte schlecht unterdrückte Freude aus und hielt eine Flasche Wodka, die er gerade unter seinem Sitz hervorgezaubert hatte, in der Hand.
»Trink einen mit mir, Junge! Trink!«, rief er mir leise ins Ohr und hielt mir die Flasche vor die Nase.
»Trink mit mir auf dieses Schimanskilein, dieses arme blöde deutsche Schäferhundilein, das uns nach Österreich hereingelassen hat!«