Jacob Ehrlich
Frederick Marryat
Inhalt:
Frederick Marryat – Biografie und Bibliografie
Jacob Ehrlich
Erstes Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Eilftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Zweites Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Eilftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Drittes Buch.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Eilftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechszehntes Kapitel.
Siebenzehntes Kapitel.
Jacob Ehrlich, Frederick Marryat
© 2011, Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849631307
www.jazzybee-verlag.de
admin@jazzybee-verlag.de
Engl. Romanschriftsteller, geb. 10. Juli 1792 in London, gest. 2. Aug. 1848 zu Langham in der Grafschaft Norfolk, trat 1806 in den Seedienst, focht mit Auszeichnung unter Lord Cochrane, diente darauf in dem amerikanischen Krieg (1812–14), wurde 1815 Kommandeur von St. Helena, ging 1823 als Befehlshaber der Korvette Larne nach Ostindien und erwarb sich in der Expedition gegen Rangun die Ernennung zum Flottenkapitän und Ritter des Bathordens (1825). Seit 1830 lebte er zurückgezogen meist in England, schriftstellerisch beschäftigt. Schon vorher hatte er sich belletristisch versucht mit der Erzählung »The naval officer« (Lond. 1829, 3 Bde.). In rascher Aufeinanderfolge schrieb er jetzt eine Reihe von Seeromanen: »The kings own« (1830), »Newton Forster« (1832), »Peter Simple« (1834) u. a.; sie sind sämtlich ins Deutsche übersetzt worden und zeichnen sich durch treue Auffassung des Lebens und leichte, gewandte Darstellung aus; das humoristische Element in ihnen erinnert vielfach an Smollet. Er verfasste außerdem für die Handelsmarine einen »Code of signals« (Lond. 1840), veröffentlichte eine Beschreibung seiner Reise durch Amerika: »Diary in America« (1839, 3 Bde.), und schrieb eine Reihe Kinderbücher. Vgl. außer der kürzern Biographie von Hannay (Lond. 1889): »Life and letters of Captain M.« (1872, 2 Bde.), herausgegeben von seiner Tochter Florence, geb. 9. Juli 1837 in Brighton, gest. 27. Okt. 1899 als Mrs. Francis Lean, die sich als Schauspielerin und Novellistin einen Namen gemacht hat. Sie trat zuerst hervor mit »Love's conflict« (1865, 3 Bde.) und ließ seitdem eine große Reihe andrer Romane erscheinen. Seit 1872 war sie an der Redaktion der »London Society« beteiligt.
Meine Geburt, meine Eltern und Familienansprüche. – Es zeigt sich, das ich ein jüngerer Sohn bin: ein Umstand, dem jedoch durch einen unglücklichen Zufall abgeholfen wird. Kaum werde ich durch meinen Vater in die ersten Elemente der Wissenschaft eingeweiht, als sich die Elemente gegen mich verschwören und mich zur Waise machen.
Ich ward auf dem Wasser geboren, geneigter Leser – nicht auf dem salzigen, ergrimmten Ocean, sondern auf dem süßen, rasch dahin fluthenden Strome. Auf einer Art Schwimmküste, genannt Lichter, und auf der Temse war es, wo ich bei niedrigem Wasserstande zum ersten Male den Geruch von Schlamm in mich sog. Mein Vater, meine Mutter und des Lesers gehorsamer Diener bildeten die Mannschaft (ein Ausdruck, der etwas prahlerisch erscheinen könnte, wenn ich nicht das Recht der Kindschaft in Anspruch nähme). Mein Vater hatte die ausschließliche Leitung; er war Monarch auf dem Verdecke; meine Mutter natürlich die Königin, und ich der muthmaßliche Thronerbe.
Bevor ich ein Wort von mir selbst rede, bitte ich um die Erlaubniß, eine gewissenhafte Beschreibung von meinen Eltern zu geben. Zuerst will ich ein Gemälde von meiner königlichen Mutter entwerfen. Die Tradition erzählt, daß nie eine leichtere Gestalt und ein leichterer Fuß über die Planken des Lichters hintanzte, als sie zum ersten Male an Bord kam; aber so weit mein Gedächtniß reicht, war sie immer eine dicke und schwerfällige Frau. Ortsveränderung war nicht ihre schwache Seite, wohl aber der Wachholderbranntwein. Die Kajüte verließ sie selten – den Lichter nie, weßhalb auch ihre Schuhe so wenig abgenutzt wurden, daß sie mit einem Paar fünf Jahre ausreichte. Bei dieser Liebe zur Häuslichkeit, welche sich alle verheirathete Damen zum Muster nehmen sollten, konnte man sie immer antreffen, wenn man ihrer bedurfte; aber war sie auch stets bei der Hand, so war sie doch nicht immer auf den Füßen. Wie der Tag sich neigte, legte sie sich auf's Bett – eine weise Vorsicht für diejenigen, welche nicht mehr stehen können. Die Wahrheit ist, daß meine verehrte Mutter, trotz ihres tadellosen Wandels, häufig vom starken Geiste verführt, und trotz ihrer ehelichen Treue bisweilen mit dem heimtückischen Feinde der weiblichen Tugend – dem Wachholder, im Bette gefunden wurde. Der Lichter wurde, wie ein zweites Eden, worin meine Mutter die Eva und mein Vater den Adam spielte, von dieser Schlange heimgesucht, und wenn die Königin auch keinen Apfel speiste, so wußte sie dafür das Glas zu führen, was im Grunde noch schlimmer war. Anfangs – ich erwähne dieß zum Beweise, wie schlau sich der Böse immer unter einer verführerischen Gestalt einzuschleichen weiß – anfangs trank sie nur in der Absicht, ihren Magen gegen die Kälte zu schützen, und die Nebeldünste, die aus dem Wasser aufstiegen, schienen eine solche Vorsichtsmaßregel völlig zu rechtfertigen. Mein Vater griff aus demselben Grunde zu seiner Pfeife; aber zu der Zeit, als ich geboren wurde, war die Gewohnheit in den Besitz ihrer vollen Rechte getreten: er rauchte und sie trank von Morgen bis in die liebe Nacht. An seinen Lippen hing die Pfeife, an den ihrigen das Glas, als wäre dieß nun einmal ein notwendiges Bedürfniß ihrer Existenz. Ich hätte jede Kälte herausfordern dürfen, in den Magen meiner werthen Eltern würde sie nicht eingedrungen sein. – Doch ich habe für jetzt genug von meiner Mutter gesprochen, und will daher auf meinen Vater übergehen.
Mein Vater war ein aufgedunsener, wohlgerundeter, langarmiger, kleiner Mann, der für seine Stellung in oder vielmehr außer der Gesellschaft geboren schien. Er konnte einen Lichter führen, wie nur irgend Jemand; aber mehr konnte er nicht, da er nur zu diesem Geschäfte von Jugend auf erzogen worden war. Das einzige merkwürdige Ereigniß in seinem Leben war allenfalls ein Gang für meine Mutter an's Land und die Rückkehr an Bord, sein einziger Genuß die Pfeife, und da ein geheimnißvolles Band zwischen dem Geschäfte des Rauchens und der Philosophie besteht, so brachte er es durch lauter Rauchen zu einer gewissen Vollkommenheit in der letzteren. Es ist eben so seltsam, als wahr, daß wir unsere Sorgen durch den Tabak wegdämpfen können, während sie ohne dieses Mittel schwer auf unserer Seele lasten. Es gibt keinen beruhigenderen Zug, als den Zug durch das Rohr einer Pfeife. Die wilden Krieger von Nordamerika erfreuten sich dieser herrlichen Gabe der Natur vor uns, und der Pfeife wird die Weisheit ihrer Berathung und die lakonische Aeußerung ihrer Gedanken zugeschrieben. Es wäre gut, wenn sie auch in unsren gesetzgebenden Versammlungen eingeführt würde. Freilich könnten dann die Damen nicht mehr durch die Luftlöcher hinunterschielen, aber wir würden mehr Vernunft und weniger Worte haben. Auch der stoische Gleichmuth, womit diese amerikanischen Krieger mit der Pfeife im Mund alle Foltern ihrer Feinde ertragen, ist eine Folge des Tabaks; und von der wohlbekannten Wirkung dieses Wunderkrautes rührt der sonderbare Ausdruck her, daß man sagt, man habe "einem Andern die Pfeife ausgelöscht," wenn man ihn erzürnt hat.
Meines Vaters Pfeife erlosch niemals, weder im buchstäblichen, noch im bildlichen Sinne. Er besaß einige Sprüche, die jeden Unfall zu einem glücklichen Ende brachten; und weil er sich selten oder nie in viele Worte ergoß, so prägten sich diese Sätze tief in mein junges Gedächtniß ein. Einer heißt: "Mit Weinen gewinnt man nichts; geschehene Dinge lassen sich nicht ändern." Waren einmal diese Worte über seine Lippen getreten, so wurde der Sache nicht weiter erwähnt. Nichts schien ihn zu berühren. Die Führer der übrigen Lichter, Barken, Schiffe und Boote aller Art, welche mit uns um den Extrafuß Wasser stritten, wenn wir mit der Fluth hinauf- oder hinabtrieben, brachten durch ihre Flüche keine andere Wirkung auf ihn hervor, als ein paar Extrarauchsäulen aus seinem Pfeifenkopf. An meine Mutter richtete er nur die einzige Ermahnung: "Nimm's kaltblütig;" aber sie verfehlte ihren Zweck völlig, da sie im Gegentheil ihre Leidenschaften steigerte und Oel in's Feuer goß. Gleichwohl war der Rath gut, und er wäre noch besser gewesen, wenn sie ihn befolgt hätte. Ein anderer Lieblingsausdruck meines Vaters, der nach demselben Muster seiner Philosophie gebildet war, und dessen er sich bediente, wenn etwas nicht nach seinem Wunsch ging, lautete: "Das nächste Mal mehr Glück." Diese Denksprüche prägten sich tief in mein Gedächtniß. Ich wiederholte sie mir unaufhörlich, und wurde dadurch ein Philosoph, als meine Weisheitszähne noch lange im Keime schlummerten und ich noch die erste Zahnreihe hatte, womit uns die Natur beschenkt, damit wir uns ohne Gefahr den Genüssen des Sauglappens hingeben können. Meines Vaters Erziehung war vernachlässigt worden. Er konnte weder lesen noch schreiben; aber wenn er auch nicht gerade ein Erfinder der Buchstaben genannt werden konnte, wie Cadmus, so gewöhnte er sich doch an gewisse Hieroglyphen, die gewöhnlich ihrem Zwecke hinreichend entsprachen und als ein künstliches Gedächtniß betrachtet werden konnten. "Ich kann weder schreiben, noch lesen, Jacob," sagte er; "ich wollt', ich könnt' es, aber sieh', Junge, dieses Zeichen bedeutet drei Viertel von einem Buschel, merke dir's, wenn ich dich frage, oder ich will des Kukuks sein, wenn ich dich nicht bläue." Nur in besondern schwierigen Fällen bedurfte er einer neuen Hieroglyphe – oder einer so langen Rede, wie die ebengenannte. Ich war vertraut mit seinen gewöhnlichen Zeichen und Streichen, und da ich ein gutes Gedächtniß hatte, konnte ich ihm auf den Sprung helfen, wenn er beim Augenblicke eines mißgestalteten x oder z nicht wußte, was er daraus machen sollte, um die unbekannte Größe zu finden, welche diese Buchstaben, wie in der Algebra, bezeichneten.
Ich habe zwar gesagt, daß ich der muthmaßliche Erbe, nicht aber, daß ich auch das einzige Kind war, das meinem Vater in der Ehe geboren wurde. Meine verehrte Mutter hatte außer mir noch zwei Sprößlinge zur Welt gebracht; aber das erste, ein Mädchen, war durch die Masern den Leiden der Welt entrückt worden, das zweite, mein älterer Bruder, hatte im dritten Lebensjahre sein Unterkommen durch einen Sturz vom Sterne des Lichters gefunden. Zur Zeit dieses Ereignisses war meine Mutter, unter Begleitung des starken Geistes, zu Bett gegangen, während mein Vater auf dem Verdeck stand und, behaglich seine Pfeife schmauchend, am Haspel lehnte. "Was war das?" rief er, lauschend und seine Pfeife aus dem Mund nehmend; "soll mich wundern, wenn es nicht Joe gewesen ist." Und er steckte die Pfeife wieder zwischen die Lippen und rauchte wie zuvor.
Die Vermuthung meines Vaters erwies sich als richtig. Niemand anders als Joe hatte das Geräusch im Wasser erregt, das meinen Vater aus seinen Betrachtungen weckte, denn am andern Morgen war er nicht zu finden. Einige Tage später wurde er zwar aufgefischt, aber begreiflichermaßen war "der Lebensfunke erloschen," wie die Zeitungen zu sagen pflegen; ja noch mehr, die Aale und Kaulbarsche hatten dermaßen an seiner Nase und seinem dickbackigen Gesichte genagt, daß er, wie sich mein Vater ausdrückte, "zu nichts mehr zu gebrauchen" war.
Am Morgen nach diesem Unfall stand mein Vater früh auf und vermißte den armen Joe. Er ging in die Kajüte, rauchte seine Pfeife und sagte nichts. Da mein Bruder zur gewöhnlichen Stunde nicht beim Frühstück erschien, rief meine Mutter mit heiserer Stimme seinen Namen; aber Joe befand sich außer Hörweite und blieb stumm wie ein Fisch. Da mein Vater gleichfalls den Mund nicht zur Antwort öffnete, so verließ meine Mutter die Kajüte und durchsuchte den ganzen Lichter; ja, sie warf sogar ihre Blicke in den Hundestall, um sich zu überzeugen, ob er nicht vielleicht bei dem großen Hunde schlafe– aber Joe war nirgends zu finden.
"Wo mag er denn hingekommen sein?" rief meine Mutter mit dem Ausdrucke mütterlicher Besorgniß auf ihrem Gesichte, indem sie sich auf dem Rückwege nach der Kajüte an meinen Vater wandte. Mein Vater nahm seine Pfeife aus dem Munde, senkte den Kopf derselben in lothrechter Richtung, bis er sanft auf dem Verdecke landete, steckte sie dann wieder in den Mund, rauchte mit kummervoller Miene und schwieg.
"Du wirst doch nicht sagen wollen, er sei über Bord gefallen?" schrie meine Mutter.
Mein Vater nickte mit dem Kopfe und blies eine dichtere Rauchwolke von sich. Ein Strom von Thränen, Ausrufungen und Vorwürfen folgte diesen bejahenden Zeichen. Mein Vater störte den Ausbruch mütterlichen Schmerzes mit keiner Sylbe. Und als er in Schluchzen dahinstarb, war auch die Glut seiner Pfeife erloschen. Er klopfte die Asche aus und bemerkte mit ruhiger Miene: "Mit Weinen gewinnt man nichts; geschehene Dinge lassen sich nicht ändern." Damit füllte er seine Pfeife aufs Neue.
"Nicht ändern?" rief meine Mutter, "hätten aber können geändert werden."
"Nimm's kaltblütig," versetzte mein Vater.
"Nimm's kaltblütig!" wiederholte meine Mutter mit Wuth – "nimm's kaltblütig! Ja, du nimmst Alles kaltblütig; ich glaube, du würdest es kaltblütig nehmen, wenn ich über Bord fiele."
"Auf jeden Fall würdest dann du es kaltblütig aufnehmen müssen," versetzte mein unerschütterlicher Vater.
"Ach Gott! ach Gott!" rief meine arme Mutter, "zwei so arme Würmlein, und beide verloren!"
"Das nächste Mal mehr Glück," tröstete sie mein Vater; "also sprich jetzt nicht mehr von der Sache, Sally."
Mein Vater rauchte seine Pfeife und meine Mutter trocknete ihre Augen, bis endlich der gutherzige Mann von der Kiste, auf welcher er gesessen, aufstand, an den Schrank trat, eine Theetasse mit Wachholder füllte und sie meiner Mutter anbot. Es war freundlich von ihm, und meine Mutter war für Freundlichkeit empfänglich. Es war ein reines Opfer im Geiste der Liebe und wurde in dem Geiste angenommen, in dem es dargebracht wurde. Nach einigen Wiederholungen des Trankopfers, die um so notwendiger waren, als ihre Thränen die Kräfte desselben geschwächt hatten, waren Schmerz und Erinnerung ertrunken, wie zwei Liebende, die sich in einem feuchten Tode umarmten.
Mit dieser schönen Metapher beschließe ich die Episode von meinem unglücklichen Bruder Joe.
Ungefähr ein Jahr nach dem Verluste meines Bruders wurde ich zur Welt befördert, ohne einen andern Beistand oder Zuschauer, als meinen Vater und Mutter Natur, welche meines Erachtens eine sehr geschickte Hebamme ist, wenn man ihr nicht in die Quere kommt. Mein Vater, der einige schwache Begriffe von Christenthum hatte, vollzog die Taufhandlung, indem er mit dem Mundstücke seiner Pfeife das Zeichen des Kreuzes über meine Stirne machte und mich Jacob nannte. Was den Kirchgang meiner Mutter betrifft, so war sie nur einmal in ihrem Leben in einem Gotteshause gewesen. Ich habe schon gesagt, daß sie den Lichter nie verließ, und mein Vater stieg nur auf einige Minuten an's Land, wenn er beim Aus- oder Einladen vom Aufseher oder Eigenthümer der Schiffsgüter gerufen wurde, oder wenn er, was des Monats einmal geschah, die nöthigen Einkäufe besorgte.
Die Erinnerungen meiner Kindheit beschränken sich auf wenige; aber das liegt mir noch im Gedächtniß, daß der Lichter oft glänzend roth und blau bemalt war, und daß mich meine Mutter mit den Worten: "wie hübsch" darauf aufmerksam machte, wenn sie mich beschwichtigen wollte. Doch ich übergehe das, und beginne mit meinem fünften Jahre, in welchem ich meinem Vater bereits Handreichung that. Ich war damals beinahe so weit, als manche Kinder im zehnten. Dieß mag seltsam erscheinen, aber wenn auch meine Begriffe blos das Prädikat "beschränkt" verdienten, so waren sie doch in einem Mittelpunkte vereinigt. Der Lichter, seine Ausrüstung und seine Bestimmung bildeten die Welt meiner jungen Einbildungskraft; da alle meine Gedanken auf so wenige Gegenstände gerichtet waren, so hatten sie gehörig Muße, sich dieselben tief einzuprägen und ihren Werth vollkommen zu schätzen.
Bis zu meinem eilften Jahre, in welchem ich den Lichter verließ, bildeten die Ufer des Flusses die Gränze meiner Meditationen. Ich hatte eine gewisse Vorstellung von Bäumen und Häusern; aber ich wußte, glaube ich, nicht, daß die ersteren wachsen. So lange ich mir sie am Ufer denken konnte, schienen sie mir immer die gleiche Größe zu haben, in der ich sie zuerst gesehen hatte, und andere Leute fragte ich nicht. Aber schon in meinem zehnten Jahre kannte ich den Namen einer jeden Strecke des Flusses, den Namen eines jeden Vorsprungs, die Tiefen des Wassers, die seichten Stellen, den Strich der Strömung und sogar die Ebbe und Fluth. Deßgleichen wußte ich auch den Lichter zu führen, wenn er mit der Ebbe hinabtrieb; denn was mir an Stärke abging, ersetzte ich durch Gewandtheit, die ich mir durch beständige Uebung erworben hatte.
Als ich eilf Jahre zählte, trat eine Katastrophe in meinem Leben ein, welche auf einmal meine Aussichten umgestaltete. Doch ich muß noch Einiges von meinem Vater und meiner Mutter erzählen, um den Leser aus diesen Zeitpunkt meiner Geschichte vorzubereiten. Die Neigung meiner Mutter zu geistigen Getränken hatte nach dem gewöhnlichen Lauf der Natur mit der Zeit zugenommen, und in demselben Maße sich auch der Umfang ihrer Gestalt erweitert; sie war jetzt eine höchst unförmliche, aufgedunsene Fleischmasse, wie mir seitdem keine mehr zu Gesicht gekommen ist. Indessen empfand ich doch keinen Widerwillen bei ihrem Anblick, da ich unaufhörlich in ihrer Umgebung war, und andere Mitglieder des schönen Geschlechts nur in der Entfernung sah.
Seit zwei Jahren verließ sie das Bett nur noch selten, denn höchstens kroch sie jetzt einmal in der Woche aus ihrer Kajüte hervor, um nach fünf Minuten wieder zurückzukriechen, weil ihre Körperfülle und fortwährende Trunkenheit sie zu weiterer Bewegung unfähig gemacht hatte. Mein Vater ging jeden Monat einmal auf eine Viertelstunde an's Land, um Wachholder, Tabak, Pücklinge und verdorbenen Schiffszwieback einzukaufen; – der letztere bildete meine gewöhnliche Kost, wenn ich sie nicht allenfalls dadurch verbesserte, daß ich an Orten, wo wir vor Anker lagen, hin und wieder mit meiner Angel ein Fischlein aus dem Wasser herausholte. Ich wurde daher zu einem großen Wassertrinker, nicht sowohl aus eigener Wahl, als vielmehr in Folge der salzigen Natur meiner Speisen, und der Vorsorge meiner Mutter, die immer noch Besinnung genug hatte, um die Wahrheit einzusehen, daß der Wachholder nicht für kleine Jungen sei.
Mit meinem Vater war jedoch eine große Veränderung vorgegangen. Ich hatte das Verdeck beinahe ganz allein zu besorgen; mein Vater kam selten heraus, und lieh mir seinen Beistand nur, wenn wir unter den Brücken durchschossen, oder wenn eine größere Kraft erfordert wurde, um uns zwischen dem Gedränge der Fahrzeuge, die uns einschlossen, durchzuwinden.
Je tüchtiger ich wurde, desto untüchtiger wurde mein Vater. Er brachte den größten Theil seiner Zeit in der Kajüte zu, wo er meiner Mutter den großen steinernen Krug leeren half. Das Weib hatte den Mann überredet, und nun genossen beide von der verbotenen Frucht des Wachholderbaumes. So standen die Angelegenheiten in unserem kleinen Königreich, als die Katastrophe eintrat, die ich jetzt berichten will.
An einem schönen Sommerabende fuhren wir mit der Fluth stromaufwärts. Der Lichter war schwer mit Kohlen befrachtet, welche in einiger Entfernung oberhalb der Putney-Brücke an der Werfte des Eigenthümers ausgeladen werden sollten. Ein starker Landwind erhob sich und hemmte unsere Fahrt. Wir konnten die Werfte nicht mehr am gleichen Abende erreichen, wie wir im Sinne gehabt hatten. Als wir uns ungefähr anderthalb Meilen ob der Brücke befanden, trat die Ebbe ein, und wir mußten Anker werfen. Mein Vater, der, in der Hoffnung, noch am nämlichen Abend anzukommen, ungern nüchtern geblieben, wartete noch, bis der Lichter in die Strömung getreten war, und sagte dann: "Jacob, morgen früh müssen wir an der Werfte sein; bleibe munter." Nach diesen Worten stieg er in die Kajüte hinab, um sein Trankopfer darzubringen, und ließ mich allein im Besitze des Verdecks und meines Abendessens, das ich nie im untern Räume zu mir nahm, weil die enge dumpfe Kajüte durchaus nicht einladend war. Ich hielt überhaupt alle meine Mahlzeiten sub divo, und wenn die Nächte nicht allzu kalt waren, schlief ich auch auf dem Verdeck, und zwar in der geräumigen Hütte, welche einst vom großen Kettenhunde bewohnt gewesen war. Vor einigen Jahren war derselbe gestorben, über Bord geworfen und aller Wahrscheinlichkeit nach in Cervelatwürste, das Pfund zu einem Schilling, verwandelt worden. Einige Zeit nach seinem Hintritte hatte ich von seinem Gemache Besitz genommen, und versah seitdem auch sein Hüteramt. Ich hatte meine Mahlzeit beschlossen und mit einer ordentlichen Menge Themsewasser niedergeschwemmt; denn oberhalb der Brücke trank ich immer mehr, weil mir das Wasser reiner und frischer vorkam. Nachdem ich noch einmal nach dem Ankertau gesehen und meine sämmtlichen Geschäfte beendet hatte, legte ich mich auf dem Verdecke nieder, und überließ mich den tiefen Spekulationen eines eilfjährigen Jungen. Ich beobachtete die Sterne, die im matten Zwielichte über mir schimmerten und von Zeit zu Zeit zu verschwinden oder wieder hervorzutreten schienen. "Aus welchem Stoffe mögen sie wohl gemacht sein," fragte ich mich selbst, "und wie kommen sie da hinauf?" Da wurde ich plötzlich durch einen lauten Schrei aus meinen Träumereien aufgeschreckt, und ich verspürte einen seltsamen brandigen Geruch. Das Geschrei verstummte und begann auf's Neue; kaum war ich aber aufgesprungen, als mein Vater aus der Kajüte hervorstürzte, über Bord sprang und unter dem Wasser verschwand. Ich hatte einen Blick von seinen Zügen erhascht und Angst und Betrunkenheit darin erblickt. Sogleich eilte ich an die Stelle, wo er verschwunden war, konnte aber bei der raschen Strömung nur noch einige Wasserkreise bemerken, die sich an der Seite des Fahrzeuges brachen. Einige Sekunden lang blieb ich im Zustande der Betäubung über das plötzliche Verschwinden und den augenscheinlichen Tod meines Vaters stehen, aber der Rauch, der mich umgab, und das Geschrei meiner Mutter, das immer schwächer und schwächer wurde, riefen mich bald wieder zum Bewußtsein; ich eilte fort, um meiner Mutter beizustehen.
Ein starker brandiger Rauch drang die Kajütentreppe herauf und stieg, weil eben Windstille eingetreten war, in einer dichten Säule in die Luft. Ich versuchte hinabzugehen, aber der Rauch machte es unmöglich, denn er würde mich in einer halben Minute erstickt haben. Ich that, wie die meisten Kinder in einem solchen Zustande von Aufregung und Rathlosigkeit gethan haben würden, – ich setzte mich nieder und weinte bitterlich. In ungefähr zehn Minuten nahm ich die Hände von meinem Gesichte und sah nach der Kajütenluke. Der Rauch war verschwunden und Alles stille. Ich ging auf die Treppe zu. Der Rauch war zwar noch immer stark genug, aber doch konnte ich ihn ertragen. Ich stieg die kleine, drei Stufen hohe Treppe hinab und rief: "Mutter!", erhielt aber keine Antwort. Die Glaslampe, die am Hinterbalken befestigt war, brannte noch hell genug, um jeden Winkel der Kajüte zu beleuchten. Nirgends bemerkte ich eine Spur von Feuer; nicht einmal die Vorhänge des Bettes meiner Mutter schienen versengt. Ich war bestürzt; die Furcht versetzte mir den Athem. Mit zitternder Stimme wiederholte ich den Ruf: "Mutter!" Länger als eine Minute rang ich nach Athem. Dann wagte ich, die Vorhänge des Bettes zurückzuschlagen. Meine Mutter war nicht da, aber in der Mitte des Bettes lag eine schwarze Masse. Angstvoll streckte ich die Hand darnach aus – es war eine fette ölige Asche. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr mir – mein Kopf schwindelte – ich schwankte aus der Kajüte, und in einem Zustande, der an Wahnsinn gränzte, fiel ich auf's Verdeck nieder. Dann folgte eine Art von Betäubung, welche mehrere Stunden lang dauerte.
Da der Leser vielleicht in einigem Zweifel über die Veranlassung des Todes meiner Mutter schweben könnte, so muß ich ihn benachrichtigen, daß sie auf jene furchtbare und entsetzliche Weise zu Grunde ging, welche bisweilen diejenigen trifft, die dem unmäßigen Genusse geistiger Getränke fröhnen. Fälle der Art ereignen sich vielleicht nur alle Jahrhunderte einmal, aber die Thatsache läßt sich nicht bestreiten. Sie starb durch Selbstverbrennung, eine Folge von Entzündung der Gase, mit denen der Organismus durch die geistigen Getränke geschwängert wird. Wahrscheinlich beraubte der furchtbare Anblick der Flammen, die aus dem Körper meiner Mutter hervorbrachen, meinen Vater, der sich gleichfalls angetrunken hatte, seines Bewußtseins, und so verlor ich in demselben Augenblicke Vater und Mutter, den einen durch das Wasser, die andere durch das Feuer.
Ich erfülle die letzten Befehle meines Vaters und werde auf einem neuen Elemente eingeschifft. – Mein erster Handel in der Welt ist sehr einträglich, meine erste Trennung von alten Freunden sehr schmerzlich. – Mein erster Eintritt in das gesittete Leben fällt für alle Theile sehr unbefriedigend aus.
Es war heller Tag, als ich aus meinem Zustande körperlicher und geistiger Ermattung erwachte. Eine Zeit lang konnte ich mich des Vorgefallenen gar nicht entsinnen; aber die Last, die auf meinem Herzen lag, sagte mir, daß es etwas Furchtbares war. Endlich fiel mein Auge auf die Kajütenthüre, die noch immer offen stand. Alle Schrecken des vergangenen Abends traten vor meine Seele, und ich erinnerte mich, daß ich allein auf dem Lichter war. In stummer Verzweiflung erhob ich mich und sah mich rings um. – Der Morgennebel hing über dem Flusse, und kaum konnte ich die Gegenstände am Ufer unterscheiden. Der kalte Thau, dem ich die ganze Nacht ausgesetzt gewesen, und vielleicht noch mehr durch die vorhergegangene außerordentliche Aufregung lag mir wie Blei in meinen Gliedern. Ich wagte es nicht, in meine Kajüte hinabzugehen. Eine unbeschreibliche Furcht, eine Art von Abscheu vor dem, was ich gesehen hatte, schreckte mich mit lähmender Gewalt zurück, und doch war ich nicht befriedigt. Ich hätte Welten gegeben (wenn ich sie gehabt hätte), den Schleier des Geheimnisses zu lüften. Meine Augen fielen auf den Strom. Ich gedachte meines Vaters, und mehr als eine halbe Stunde lang starrte ich in die hinaufrauschende Fluth. – Mein Geist war in einem Zustande völliger Gedankenlosigkeit. Die Sonne erhob sich, der Nebel rollte allmälig dahin; Bäume, Häuser und Matten tauchten empor, Barken schwammen mit der Fluth herauf, Boote fuhren hin und wieder, Hunde ließen ihr Gebell erschallen, Rauchsäulen stiegen aus den verschiedenen Schornsteinen in die Lüfte – und Alles das erinnerte mich, daß ich mich in einer geschäftigen Welt befand und selbst ein Geschäft zu verrichten hatte. Die letzten Worte meines Vaters – und seine Worte waren mir stets Befehle gewesen – hatten gelautet: "Jacob, Morgen früh müssen wir an der Werfte sein, bleibe munter." Ich schickte mich an, zu gehorchen. Den Anker zu lichten vermochte ich nicht, deßhalb löste ich das Kabel, band ein zerbrochenes Ruderstück als Ankerboje daran, und der Lichter trieb wieder auf dem Strome, unter der Leitung eines Kindes von eilf Jahren. Nach zwei Stunden war ich ungefähr noch hundert Ellen von der Werfte entfernt und ganz in der Nähe des Ufers. Ich rief um Beistand, worauf zwei Männer, die zu den an dem Kai liegenden Lichtern gehörten, auf mich zuruderten, und nach meinem Begehren fragten. Ich sagte ihnen, daß ich mich allein auf meinem Schifflein befinde, ohne Anker und Kabel. Sie stiegen an Bord, und in einigen Minuten lag mein Lichter ruhig neben den andern. Sobald er festgebunden war, fragten sie mich nach dem Vorgefallenen, aber wenn auch die Erfüllung der letzten Befehle meines Vaters meinem Geiste einige Schwungkraft gegeben hatte, so forderte jetzt, da dieß geschehen war, die Natur ihre Rechte zurück. Ich vermochte kein Wort hervorzubringen. Im Uebermaße des Schmerzes warf ich mich auf's Verdeck und weinte wieder, als ob mir das Herz brechen müßte.
Die Männer waren erstaunt, mich allein auf dem Lichter zu finden, und wußten sich eben so wenig mein Benehmen zu erklären. Sie stiegen an's Land und benachrichtigten den Werftenschreiber von dem Vorfalle. Dieser kam mit ihnen an Bord des Lichters und legte mir einige Fragen vor; da sich jedoch der Ausbruch meines Schmerzes noch nicht vertobt hatte, so waren meine vom Schluchzen unterbrochene Antworten durchaus unverständlich. Ohne weiter in mich zu dringen, stieg der Schreiber mit den beiden Männern in die Kajüte, trat aber eilends wieder heraus und verließ den Lichter. Ungefähr nach einer Viertelstunde ward ich abgeholt und vor den Eigentümer meines Lichters geführt – es war das erstemal in meinem Leben, daß mein Fuß die terra firma betrat. Man wies mich in das Wohnzimmer, wo ich den Herrn des Hauses mit seiner Frau und seiner Tochter, einem neunjährigen Mädchen, beim Frühstücke fand. Ich hatte mich wieder erholt und erzählte auf ihre Fragen meine Geschichte kurz, aber verständlich, während schwere Thränen über mein beschmutztes Gesicht hinabrollten.
"Wie seltsam und grauenvoll," sagte die Dame des Hauses zu ihrem Gemahl; "ich kann es gar nicht begreifen."
"Auch mir geht es so, und doch muß es nach dem, was der Werftenschreiber Johnson mit eigenen Augen angesehen hat, wahr sein."
Mittlerweile hielten meine Augen Musterung im Zimmer. Meine Unbekanntschaft mit der Welt glaubte ein Golkonda von Pracht und Reichthum zu sehen. Ich erblickte eine Menge Gegenstände, die ich früher nie gesehen hatte, aber eine Art von Naturgefühl sagte mir, daß Vieles davon von großem Werth wäre. Den silbernen Theetopf, die zischende Urne, die Löffel, die Gemälde in ihren prächtigen Rahmen, jedes Stück des Zimmergeräthes erregte meine Aufmerksamkeit und Bewunderung, und auf einige Zeit vergaß ich Vater und Mutter, bis mich die Frage des Hausherrn, wie weit ich den Lichter ohne Beistand gebracht habe, aus meiner spekulativen Welt in die natürliche zurücklief.
"Hast du Verwandte, armer Junge," fragte die Dame.
"Nein."
"Was, keine Verwandten am Lande?"
"Ich war früher in meinem Leben nie am Lande."
"Weißt du, daß du eine verlassene Waise bist?"
"Was ist das?"
"Daß du weder Vater noch Mutter hast," bemerkte das kleine Mädchen.
"Nun," versetzte ich mit meines Vaters Worten, weil ich nichts Besseres zu erwiedern wußte, "mit Weinen gewinnt man nichts, und geschehene Dinge lassen sich nicht ändern."
"Aber, was willst du jetzt beginnen?" fragte der Herr des Hauses, und faßte mich auf die eben gegebene Antwort scharf in's Auge.
"Das weiß ich wahrhaftig nicht," versetzte ich weinend; "nimm's kaltblütig."
"Welch ein seltsames Kind!" bemerkte die Dame. "Kennt es wohl auch den ganzen Umfang seines Unglücks."
"Das nächste Mal mehr Glück, Ma'am," versetzte ich, meine Augen mit dem Rücken der Hand abwischend.
"Welch wunderliche Antworten von einem Kinde, das so viel Gefühl verrathen hat," sagte der Lichter-Eigenthümerzu seiner Frau. "Wie nennst du dich?"
"Jacob Ehrlich."
"Kannst du schreiben oder lesen?"
"Nein," erwiederte ich, und bediente mich abermals der Worte meines Vaters: "nein, ich kann's nicht, aber ich wollt', ich könnt's."
"Schon gut, mein armer Junge, wir wollen sehen, was zu thun ist," bemerkte der Herr des Hauses.
"Ich weiß, was zu thun ist," versetzte ich, "Sie müssen ein Paar Leute ausschicken, um den Anker und das Kabel zu holen, bevor die Boje abgeschnitten wird."
"Du hast Recht, Junge, das muß augenblicklich geschehen," erwiederte der Herr des Hauses; "aber nun würde ich dir rathen, mit Sarah in die Küche zu gehen, wo die Köchin Sorge für dich tragen wird. Liebe Sarah, führe ihn hinunter."
Das kleine Mädchen winkte mir, und ich folgte. Die Länge und Mannigfaltigkeit der Schiffsleitern – denn für solche hielt ich die Treppen, – setzte mich in Erstaunen. Endlich langten wir unten an. Die kleine Sarah gab der Köchin den Auftrag, Sorge für mich zu tragen, und trippelte wieder zu ihrer Mutter hinauf.
Ich fand, daß der Ausdruck "Sorge tragen" am Lande eine ganz andere Bedeutung hatte, als auf dem Wasser; denn wenn man mir zurief: "Trag' Sorge," so hieß dieß so viel als: "nimm dich in Acht, gehe aus dem Wege und halte dich ferne." Die Landbedeutung gefiel mir weit besser. Die Köchin trug Sorge für mich: sie war eine gutherzige, beleibte Weibsperson, welche bei einer Schmerzgeschichte vor Rührung zerschmolz, obgleich das Feuer keinen Eindruck auf sie machte. Ich sah nicht nur, ich verschlang auch Dinge, die mir noch nie in den Sinn, geschweige denn in den Mund gekommen waren. Der Kummer hatte meinen Appetit nicht beeinträchtigt. Von Zeit zu Zeit hielt ich jedoch einen Augenblick inne, um zu weinen, trocknete dann meine Thränen und setzte mich wieder. Zwei volle Stunden waren auf diese Art verflossen, als ich endlich Messer und Gabel aus der Hand legte, wiewohl ich nicht eher "genug" rief, als bis sich an der Nähe meines Kehlkopfes ernstliche Symptome der Erstickung zeigten. Ein gewisser Jemand hat ein Epigramm über die ungeheuren Begriffe gemacht, die eines Geizhalses Pferd vom Hafer haben müsse. Wenn solche Vorstellungen wirklich existiren, so zweifle ich, ob sie meinem Erstaunen über eine Hammelskeule gleichkommen könnten. Ein solches Stück Fleisch hatte ich noch nie gesehen, und ich war begierig, ob es grün oder geräuchert wäre. Nach einer solchen Mahlzeit übermannte mich die Neigung zum Schlafe, und in wenigen Minuten lag ich schon schnarchend auf zwei Stühlen, welche die Köchin mit ihrer Schürze verhängte, um mich gegen die Fliegen zu schützen. So war ich denn auf einem neuen Elemente – der Mutter Erde – eingeschifft, und es dürfte jetzt gerade der rechte Zeitpunkt sein, einen Blick auf das Kapital zu werfen, das ich zu meinem neuen Anfange besaß. Was meine Persönlichkeit betrifft, so sah ich gerade nicht so übel aus; ich war hübsch gewachsen, stark und flink. Von meiner Kleidung möchte ich sagen, je weniger Worte, desto besser. Ich hatte ein Paar Hosen ohne Hintertheil; aber dieser Mangel wurde, wenn ich stand, durch meine Jacke verdeckt, die von einer alten Weste meines Vaters abstammte, und so weit hinabreichte, als der Morgenrock unserer Zeit. Ein Hemde von grobem Zwilch, und eine Pelzmütze, die dermaßen mitgenommen war, als wäre sie der von Hunden zerrissene Balg einer Katze gewesen, vollendete meinen Anzug. Schuhe und Strümpfe besaß ich nicht, denn solche überzählige Kleidungsstücke hatten die Thätigkeit meiner Füße nie beschränkt. Die Schätze meines Geistes waren nicht minder werthvoll; – sie bestanden in einer ordentlichen Bekanntschaft mit der Tiefe des Wassers, den Namen der Landspitzen und Wasserstrecken in der Themse, – Kenntnisse, die ihre Bedeutung auf dem trockenen Lande freilich verloren – und in den wenigen Hieroglyphen meines Vaters, welche nach dem Ausdrucke des Ausrufers, "für Niemand brauchbar waren, als für den Eigentümer". Rechnet man zu diesen Reichthümern noch die drei Lieblingsgrundsätze meines schweigsamen Vaters, welche unauslöschlich in mein Gedächtniß eingegraben waren, so hat man das ganze Inventarium meines Handelskapitals. Die drei Maximen meines verehrlichen Erzeugers hatten sich durch beständige Wiederholung gleichsam völlig in meinen Gedanken verkörpert, und ehe ich mich an diesem Abende schlafen legte, sagte ich sie mir noch einmal vor. Das Sprüchlein: "Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern", tröstete mich über das Mißgeschick meines Lebens; "das nächste Mal mehr Glück" erheiterte meine Aussicht in die Zukunft, und "nimm's kaltblütig" war ein Gegenstand tiefen Nachdenkens, bis ich in gesunden Schlaf sank; denn ich besaß Scharfsinn genug, um die Beobachtung zu machen, daß mein Vater sein Leben verlor, weil er seinen eigenen Grundsätzen untreu war, und diese Wahrnehmung steigerte meinen Glauben an die Unfehlbarkeit dieser Maximen zur unerschütterlichen Ueberzeugung.
Ich habe angegeben, worin der Nachlaß meines Vaters bestand, und der Leser wird vermuthen, daß mein mütterliches Erbe ziemlich genau gleich Null war. Unmittelbar läßt sich dieß allerdings nicht in Abrede ziehen, aber mittelbar bewährte sie sich doch als eine sehr gute Mutter, und zwar durch die außerordentliche Weise, in welcher sie sich von dieser Welt trennte. Wäre sie eines gewöhnlichen Todes gestorben, so hätte sie nichts für mich thun können. Selbst für Burke hätte sie keinen Werth gehabt; aber da sie auf eine so eigenthümliche Weise aus dem Leben schied, so wurde ihre Asche eine Quelle des Reichthums für mich. Das Bett, worin ihre irdischen Ueberreste lagen, sogar die Vorhänge desselben wurden an's Land gebracht, und in einem Nebenhause verschlossen. Der Leichenschauer fuhr auf Kosten der Grafschaft in einer vierspännigen Postkutsche heran; die Geschworenen wurden erwählt, meine Aussage zu Protokoll genommen, Wundärzte und Apotheker kamen aus der Nähe und Ferne, um ihre Meinung abzugeben, und nach mancher Untersuchung, Muthmaßung und Widerlegung wurde der Ausspruch zu Tage gefördert, "daß sie an der Heimsuchung Gottes gestorben sei". Da das in einer andern Ausdrucksweise so viel hieß, als: "Gott allein weiß, wie sie gestorben ist", so ward er nem. con. angenommen und befriedigte alle Theile. Die Erzählung des außerordentlichen Vorfalls verbreitete sich mit den gehörigen Erweiterungen nach allen Seiten, und Tausende von Neugierigen strömten nach den Hause des Werftmeisters, um die Wirkungen einer Selbstverbrennung mit eigenen Augen zu sehen. Alsbald kam der Lichter-Eigenthümer auf den Gedanken, daß er die öffentliche Neugierde zu meinem Vortheile benutzen könne. Ein Teller mit einigen Silber- und Goldstücken wurde unten an der wollenen Matratze meiner armen Mutter hingestellt, und mit großen Buchstaben darüber geschrieben: "zum Besten der Waise". Manche Shillinge und halbe Kronen, ja noch größere Summen wurden von den Zuschauern hineingeworfen, welche sich schaudernd von dem furchtbaren Beweise der Wirkungen einer beständigen Betrunkenheit abwandten.
Die Zeit der Ausstellung, welche viele Tage lang dauerte, brachte ich bei der Köchin zu, der ich die Pfannen scheuerte und in andern Geschäften – wozu eben meine geringen Dienste verwendbar waren – an die Hand ging; daß meine arme Mutter zu meinem Vortheil Levée halte, fiel mir nicht ein. Am eilften Tage endlich wurde die Ausstellung geschlossen. Der Lichter-Eigenthümer ließ mich nun rufen, und als ich auf seinem Zimmer erschien, traf ich einen kleinen, schwarz gekleideten Herrn bei ihm. Es war ein Wundarzt, der sich zum Ankauf der irdischen Ueberreste meiner Mutter sammt Bette und Vorhängen erboten hatte. Mein Beschützer fühlte sich geneigt, sie auf eine so vorteilhafte Weise loszuschlagen, glaubte sich aber nicht befugt, diesen Schritt zu thun, ohne vorher die Zustimmung des gesetzlichen Erben einzuholen.
"Jacob," sagte er, "hier ist ein Herr, der für die Asche deiner armen Mutter zwanzig Pfund bietet – eine große Summe Geldes. Hast du etwas dagegen, wenn sie ihm überlassen wird."
"Was haben Sie damit vor?" fragte ich.
zuvor
Mit der Küche und ihrem Inhalt war ich jetzt völlig vertraut, aber jeder andere Theil des Hauses und des Hausgeräthes war ein Gegenstand des Erstaunens für mich. Alles kam mir fremd, seltsam und unnatürlich vor, und weder Prinz Libuh, noch irgend ein anderer Wilder verwunderte sich mehr, als ich, da mir von den meisten Dingen der Gebrauch, von manchen sogar der Name unbekannt war. Ich konnte im buchstäblichen Sinne ein Wilder genannt werden, obgleich ich ein gutartiger und gelehriger Wilder war. Am Tage nach meiner neuen Einkleidung ward ich in's Wohnzimmer gerufen. Herr Drummond und seine Frau musterten mich in meinem veränderten Anzug, und erlustigten sich an meiner Unbehülflichkeit, während sie auf der andern Seite meinen wohlgefügten, kräftigen und geraden Gliederbau bewunderten, der in einem Rahmenwerk aufgespannt war, welches mir viel zu enge vorkam. Die kleine Sarah, die mir eine große Aufmerksamkeit schenkte, ging zu ihrer Mutter, und flüsterte ihr etwas in's Ohr. "Du mußt den Papa fragen," lautete die Antwort. Ein zweites Geflüster und ein Kuß, und Herr Drummond sagte mir, ich möchte mit ihnen essen. Nach einigen Minuten folgte ich der Familie in's Speisezimmer, und zum ersten Male setzte ich mich zu einer Mahlzeit, welche sich einiger von den überzähligen Behaglichkeiten des gesitteten Lebens rühmen konnte. Hier saß ich aufgepflanzt auf einem Stuhle, und meine Füße machten ihre Pendelschwingungen dicht über dem Bodenteppiche, während mein Kopf vom Drucke meiner Kleider, wie auch von der Neuheit meiner Lage und Umgebung glühte. Herr Drummond legte mir eine siedend heiße Suppe vor, und ein silberner Löffel wurde mir in die Hand gesteckt. Ich besah ihn um und um, und betrachtete das Miniaturbild meines Gesichtes, das mir aus seiner Glanzfläche entgegenstrahlte.
"Nun, Jacob," sagte die kleine Sarah lachend, "mit dem Löffel mußt du die Suppe essen; spute dich, wir sind schnell fertig."
"Nimm's kaltblütig," versetzte ich, meinen Löffel tief in die siedende Masse tauchend und in den Mund steckend. Aber alsbald brach ein Schauerregen aus meinem mißhandelten Schlunde hervor, und ein Schmerzgeheul begleitete die Erruption.
"Der arme Junge hat sich den Mund verbrannt," rief die Dame, einen Becher mit Wasser füllend.
"Mit Weinen gewinnt man nichts," versetzte ich unter einem Strom von Thränen, "geschehene Dinge lassen sich nicht ändern."
"Besser, es wäre nicht geschehen," bemerkte Herr Drummond und wischte seinen Antheil an der freigebigen Spende von Rock und Weste.
"Der arme Junge ist entsetzlich vernachlässigt," sagte die gutherzige Frau Drummond.
"Komm Jacob, setze dich und versuche es noch einmal; jetzt wird es dich nicht mehr brennen."
"Das nächste Mal mehr Glück," bemerkte ich, eine Portion aufladend und mit zitternder Hand langsam zum Munde führend, so daß die Hälfte unterwegs über Bord fiel. Es war jetzt kalt, aber dennoch ging das Geschäft nicht sehr schnell von Statten; ich hielt meinen Löffel schief und beschmutzte meine Kleider.
Frau Drummond trat in's Mittel und zeigte mir freundlich, wie ich mich anzustellen hätte, allein Herr Drummond meinte: "Laß den Jungen essen, wie er will, meine Liebe – nur etwas flink, Jacob; wir warten."
"Dann sehe ich nicht ein, warum ich so viel verschütten soll," bemerkte ich, "indem ich es auf die Schaufel lade, während ich in einer Minute Alles auf einmal einschiffen kann."
Ich legte meinen Löffel weg, senke meinen Kopf, setzte meinen Mund an den Rand des Tellers und schlürfte den Rest in meinen Schlund, ohne einen Tropfen zu vergeuden. Mit vergnügter Miene sah ich mich nach Beifall um, und vernahm von Frau Drummond mit Erstaunen die ruhige Bemerkung: "Das ist nicht die rechte Art, Suppe zu essen."
Ich machte während des Essens so viele linkische Streiche, daß die kleine Sarah einmal über das andere laut auflachte, und dieß machte mich so unglücklich, daß ich mich von ganzem Herzen in meine Hundehütte an Bord des Lichters zurückwünschte, wo ich sonst mit dem ganzen Seligkeitsgefühl der Zufriedenheit und der ganzen Würde patriarchalischer Einfalt an meinem Zwieback nagte. Zum ersten Male fühlte ich die Pein der Demüthigung. Die Unwissenheit ist nicht immer mit Mangel an Selbstgefühl gepaart. An Bord des Lichters genügte ich mir, meiner Gesellschaft und meinen Pflichten. Wenn mein Arm hinreichte, um die ungeheure Masse durch das Gewässer zu leiten, fühlte ich eine Elasticität und Kraftfülle in mir, die mir Achtung gegen mich selbst einflößte. Dort war ich, ohne meine Empfindungen zergliedern zu können, der Lenker einer kleinen Welt, und an diesem Tische unter vernünftigen und gesitteten Wesen fühlte ich mich gedemüthigt und herabgewürdigt. Mein Herz überströmte vor Scham, und auf ein ungewöhnlich lautes Gelächter der kleinen Sarah überströmte auch das überfüllte Maß meiner Pein in eine Fluth von Thränen. Vom Gefühle meines verwundeten Stolzes überwältigt, legte ich, ohne alle Rücksicht auf die fürchterlichen Gesetze des Anstandes, meinen Kopf auf das Tafeltuch und schluchzte aus tiefstem Grunde meines Herzens. Da fühlte ich plötzlich einen warmen Hauch an meiner Wange. Ich sah furchtsam empor und erblickte das glühende, schöne Gesicht der kleinen Sarah, die sanften Augen mit Thränen gefüllt, und mit einem so schmeichelnden Ausdrucke auf mich gerichtet, daß mir auf einmal der Gedanke kam, ich müsse einigen Werth haben, und wolle mir Mühe geben, diesen Werth zu erhöhen.
"Ich will nicht mehr über dich lachen, Jacob," sagte sie, "höre auf zu weinen."
"Ich will nicht mehr weinen," versetzte ich und heiterte mich auf. Sie blieb bei mir stehen, und im Gefühle der Dankbarkeit flüsterte ich: "Sobald ich ein Stück Holz bekomme, will ich dir einen Kahn ausschneiden."
"Papa, Jacob sagt, er wolle mir einen Kahn ausschneiden."
"Der Junge hat ein Herz," sagte Herr Drummond zu seiner Frau.
"Aber wird er auch schwimmen, Jacob?" fragte das Mädchen.
"Ja, und wenn er sich auf die Lofseite legt, so nennt mich einen Pfuscher."
"Was ist das, Lofseite und Pfuscher?" fragte Sarah.
"Nun weißt du das nicht?" rief ich und fühlte wieder Selbstvertrauen, weil ich sah, daß ich in diesem unbedeutenden Falle mehr wußte, als sie.