Hannelore Nissen

In den Tiefen des
magischen Reiches

Ein poetisches Märchen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlag: Die Autorin

mit ihren beiden Enkelsöhnen

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine Kinder

und für diejenigen, die sich wie Kinder

von einer Geschichte verzaubern lassen;

für dich, Anita,

und Gerard, der zu unserem besten Freund wurde.

DIE VORGESCHICHTE

Das Telefon neben mir klingelt. Als ich mich melde, sind nur aufgeregte Atemgeräusche zu höre. Sonst nichts. Wer ist denn das?, grüble ich.

„Omama, bist du’s?“

Ach … unverkennbar, es ist die Stimme meines Enkelsohns. Mika schreit immer, wenn er mit mir telefoniert. Wahrscheinlich denkt er, er müsste so die 200 Kilometer Entfernung zwischen uns überbrücken.

Sein älterer Bruder Philipp telefoniert nicht so gern. Dafür jedoch der kleinste der Brüder, Jona. Ich verstehe ihn allerdings nicht immer, weil der kleine Kerl noch nicht richtig sprechen kann. Macht nichts! Trotzdem haben wir uns viel zu erzählen und zu lachen, wann immer wir miteinander telefonieren.

Heute kommt Mika gleich zur Sache: „Omama, schreibst du uns wieder ein neues Märchen?“ Philipp höre ich im Hintergrund flüstern. Die beiden haben offensichtlich den Lautsprecher angestellt. Auf diese Weise kann auch der andere sofort hören, was ich dazu sage.

„Was für eine Art Märchen soll’s denn sein, meine Kleinen? Wieder ein Abenteuer … oder eins über Ritter?“

Ratlose Stille.

Ich bekomme zunächst keine Antwort und schlage vor: „Sollen vielleicht Piraten darin vorkommen?“

Am anderen Ende der Leitung wird gewispert. Na, das wird ein längeres Gespräch! Ich setze mich jetzt gemütlich in einen Korbsessel, der auf unserer Terrasse steht, und lege dabei meine Beine auf die breite Armlehne des Stuhls, der mir gegenübersteht.

Die beiden zögern noch immer. Dann aber höre ich eine aufgeregte Diskussion, doch sie können sich offensichtlich nicht einigen.

Da habe ich eine Idee: „Sprecht erst einmal in Ruhe miteinander. Ihr denkt euch einfach Personen aus, die in meiner Geschichte vorkommen sollen. Die nennt ihr mir dann. Wollen wir das so machen?“

„Ich weiß es ja schon!“, schreit Mika temperamentvoll. „Ein Prinz … eine böse Königin … und eine Schlange!“ Wichtig betont er jedes Wort.

Ich muss grinsen.

„Ein Weiser, da muss noch ein Weiser vorkommen“, zischelt Philipp leise von hinten dazwischen.

Das gibt’s doch nicht, denke ich, diese Kerle machen sich noch nicht einmal die Mühe, nachzudenken. Ich weiß genau, dass die beiden mit ihren sechs und sieben Jahren momentan täglich Ausschnitte aus der Oper „Die Zauberflöte“ von Mozart zu hören wünschen. Den ganzen Tag sind sie nicht so brav wie am Abend vor dem Schlafengehen. Dann bedrängen sie nämlich ihren Vater, ihnen Videos von einzelnen Szenen dieser Märchenoper vorzuspielen. Genau daher kennen sie den Prinzen und die machtgierige Königin der Nacht, natürlich auch die Schlange. Nur Papageno fehlt noch, der lustige Vogelfänger mit seinem Zauberglockenspiel. Im Moment sind sie es, die meine Enkel begeistern.

Ich musste den beiden Opernfans schon Kostüme nähen. Philipp bekam einen schwarzen Umhang mit silbernen Sternen. Am meisten gefiel ihm der zarte, glitzernde Schleier. Den steckte ich in seinen blonden Haaren fest. So schwebte er mit träumerischen Augen als Königin der Nacht durch die Wohnung, während Mika natürlich der waghalsige Prinz sein wollte, mit allem Drum und Dran.

In dieser Geschichte kommt später noch ein Weiser vor. Und genau den wünschen sich jetzt die beiden in meinem neuen Märchen. Also … alles schon da gewesen!

Ihr macht’s euch leicht, geht es mir durch den Kopf … Und nun soll ich aus dieser starken, fantasievollen Geschichte, die jedermann kennt, eine ganz andere kreieren? Wie soll ich denn das hinkriegen?

‚Aber wenn sie sich doch darüber freuen‘, meldet sich eine Stimme in mir. Oh, ich kenne sie! Und schon gebe ich nach – wenn auch zum Schein widerwillig. Na ja, man kann es ja mal versuchen …

Es ist wie immer, meine Enkel haben gewonnen!

Beim nächsten Besuch übergebe ich ihnen bereits das erste Kapitel. „Hier, lest!“, sage ich zu ihnen. „Und denkt dabei an mich, wenn ich wieder weit weg bin!“

Zögernd nimmt Philipp das Manuskript.

Da fasst Mika meine Hand und zieht mich in Richtung seines Zimmers. „Omama, wir machen’s uns gemütlich!“ Dann lächelt er mich an. „Bitte … vorlesen!“

Gemütlich, das gefällt mir! Ich folge ihm sofort. Wir kuscheln uns unter das Hochbett, wo viele bunte Kissen liegen und auch der Lümmelsack.

„Also …“, beginne ich.

1. Kapitel

Auf der unendlich weiten Wiese wurde es bereits dunkel. Trostlos und öde ragten hier und da abgestorbene Zweige aus gelbem, fauligem Gras. Hier blühten keine Blumen und hier sang auch kein Vogel. Bedrückend war die Stille, die noch nicht einmal vom heiseren Schrei irgendeiner dort lebenden Krähe durchbrochen wurde.

Aus dem fernen Wald flog gerade ein Schwarm Glühwürmchen herbei. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Laternen verirrte Wanderer zu warnen. Viel Unglück war hier schon geschehen. Und wieder erblickten sie einen jungen Mann, der durch die unheimliche Wiese stapfte. Mit jedem seiner Schritte sank er tiefer in den nassen, morastigen Boden. Hoch schwang er beide Arme, um überhaupt vorwärtszukommen, doch es war und blieb mühsam. Seine Kraft erlahmte mehr und mehr.

Das sahen die Glühwürmchen. Diesmal aber schien einiges anders zu sein. Dank ihrer sensiblen Gaben spürten sie sofort: In den Gesichtszügen dieses jungen Mannes zeigte sich nicht der Ausdruck von Habgier, den sie bei vielen anderen Abenteurern gesehen hatten. Er schien kein gewöhnlicher Mensch zu sein. Hoffnung erwachte in den Glühwürmchen: War er der Auserwählte, auf den sie so lange schon gewartet hatten?

„Junger Mann“, rief die älteste der kleinen Lichtgestalten, „kehre um … Sollen wir dir leuchten?“

Ein anderes Glühwürmchen warnte: „Du gehst hier einen sehr gefährlichen Weg, denn hier beginnt das dunkle Moor.“

Die piepsende Stimme des jüngsten schrie in großer Aufregung: „Es ist das unermesslich große Reich der undurchschaubaren Düsteren Königin.“

Und dann riefen alle durcheinander: „Dort droht dir Gefahr … Hör auf uns, Jüngling … Bleib sofort stehen … Kehr um!“

Da blieb der Junge stehen und sah sich verwundert um, woher wohl die zarten Stimmen kamen. Aber alles, was er in der beginnenden Finsternis noch erkennen konnte, war ödes Land. Kein blühender Strauch, kein grüner Baum. Auch der Himmel war in seiner Weite fahl und wie Asche so grau.

‚Wer war das?‘, wunderte er sich und wollte mühsam das vordere Bein zurückziehen, um etwas auszuruhen und sich umzusehen. Aber sogleich umfloss das Moor schmatzend und mit zähem Schleim den Stiefel, um den Jungen festzuhalten.

Wie konnte er denn wissen, dass ein Zauberspruch der wabernden, blubbernden Masse befohlen hatte, jeden Fremden einzuschließen. Niemand sollte das dunkle Reich betreten, ohne je wieder hinauszukönnen! Unbarmherzig hüllte ihn dann das Moor mit seinem Nebel ein, der den Eindringling trunken machte und ihn so verwirrte, dass er den Weg zurück nicht mehr finden konnte. Später zog die dunkle, zähe Masse an seinen Beinen. Sie blubberte Stolpersteine vor seine Füße, sodass der Wanderer stürzen musste und elend im Moor versank. Dann war er für immer gefangen.

„Wer ruft? Sind hier Menschen? Meldet euch! Ich habe mich verirrt, aber in der Ferne sehe ich Lichter – das sind bestimmt Häuser … Kommt ihr von dort?“ Die Stimme des jungen Mannes wurde immer lauter und zum Schluss schrie er die letzten Worte in seiner Not und Angst in das Dunkel.

Im Nu flogen die Glühwürmchen zu dem Jungen: „Nicht! Geh nicht weiter! Das sind Irrlichter, unsere armen Brüder. Sie werden im Moor gefangen gehalten“, wisperte der ganze Schwarm aufgeregt und beschwörend durcheinander. Dann bildeten sie mit ihren leuchtenden Körpern einen Kreis um ein Etwas, das der Jüngling noch nicht genau erkennen konnte.

Die kleinen Lichtgestalten begannen auf einen schon halb verwitterten, großen Ast hinzudeuten. Man konnte sich jetzt noch vorstellen, dass er vor vielen hundert Jahren mit seinen grünen Blättern einst einen stolzen Baum geschmückt hatte. Lange war dieser Riese schon gefallen und von der schwarzen Masse des Moores geschluckt worden. Nur dieser kahle Ast ragte noch bizarr, aber stark und eigensinnig in die Höhe.

Aufgeregt hielt der ganze Schwarm in seinem unruhigen Flug inne und wartete. Wenn dieser junge Mann der Auserwählte sein sollte, so musste jetzt etwas geschehen.

Tatsächlich! In dem Augenblick, als der Jüngling im Lichte der Glühwürmchen den rettenden Ast erblickte und schnell ergriff, erwachte auf geheimnisvolle, wundersame Weise das tote Holz plötzlich zu neuem Leben. Der junge Fremde fühlte in seiner Hand das Erstarken des modrig-schwammig gewordenen Holzes. Es formte sich zu schlanker Höhe und zusehends glättete sich auch seine Außenhaut. Sie begann im matten Abendlicht silbern zu strahlen. Zum Erstaunen aller bildete sich am oberen Ende des Stabes langsam eine gläserne Kugel. Alle schauten fasziniert zu, wie sie plötzlich in wechselnden Farben zu leuchten anfing.

In diesem Moment schrien die Glühwürmchen auf. Dann hörte man wieder die aufgeregte Stimme des kleinsten: „Sieh doch, Omi, er hat den toten Ast zum Leben erweckt!“

Seine Großmutter flog, wie immer, dicht neben ihm. Jetzt nickte sie ihm zu und rief glücklich: „Endlich! Er ist gekommen … Ja, er muss es sein!“ Sie wandte sich auch an die anderen: „Wir haben so lange gewartet … Jetzt ist er da – der Retter der Märchenwelt!“

Daraufhin schrien und lachten sie alle durcheinander. Das war ein Sirren von vielen zarten Stimmchen.

Indessen klammerte sich der Jüngling an seinen festen Halt und ließ nicht nach, ihn zu umschlingen. Zu groß war seine Angst, vom Moor verschluckt zu werden.

Plötzlich begann sich der Stock zu erheben und schließlich zu schweben. Und so zog die Kraft dieses mächtigen Stabes den jungen Mann aus dem gefährlich glucksenden Moor heraus.

Spätestens jetzt musste jeder Beobachter begriffen haben, dass dieser scheinbar tote Ast Zauberkraft besaß. Nun konnte sie endlich zu wirken beginnen, denn ein Auserwählter hatte ihn mit seinen Händen berührt.

Ein besonders großes Glühwürmchen kreiste um den Jungen. „Was führt dich hier an diesen gefährlichen Ort?“, fragte es, offensichtlich noch ganz überrascht von dem Geschehenen, und bremste kurz vor ihm seinen Flug.

Ein anderes rief: „Wer bist du?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wollte ein weiteres wissen: „Wie kommst du hierher?“

Danach riefen alle Glühwürmchen ihre Fragen und Vermutungen durcheinander. Sie hatten schon manchen Fremden tollkühn das nasse Gras, das spärlich am Rande des Moores wuchs, durchschreiten sehen. Sie alle hatten den sagenhaften Schatz der Düsteren Königin erobern wollen, von dem man sich erzählte. Aus Habgier hatten sie die undurchschaubaren Gefahren im Reiche der Königin herausgefordert und waren nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.

Der Junge fiel erschöpft auf das Gras nieder. Behutsam bettete er den Stab neben sich. „Ich bin Tahomo, der Prinz von Tandonay, und suche nach Salmidon, dem Weisen. Wahrscheinlich bin ich vom Weg abgekommen“, erklärte der Jüngling den Glühwürmchen. „Ich danke euch! Ohne eure Hilfe wäre ich wohl verloren!“ Und dann erzählte er ihnen voller Vertrauen seine traurige Geschichte.

Inzwischen war es vollends dunkel geworden. Über dem schaurigen Moor schwebte ein schillernd flackerndes Licht. Es war einem Wetterleuchten ähnlich. Leise Stimmen flüsterten hier und dort und verstummten wieder – auch hörte man vereinzelt sehnsuchtsvolle Klagelaute. Dann herrschte wieder bleierne Stille. Nur, wer genau hinhörte, nahm jetzt ein leises Singen wahr.

Das zuckende Wetterleuchten und der Gesang wurden stärker. Die Klänge schwollen an. Sie waren von magischer Anziehungskraft. Tahomo schaute sich suchend um. Eine starke Sehnsucht überfiel ihn und begann alle Sinne des jungen Prinzen zu verwirren. Als ob er die Warnung seiner neuen Freunde nicht gehört hätte, erhob er sich plötzlich wie im Wahn. Schwankend schritt er wieder auf das gefährliche schwarze Moor zu; er konnte nicht anders, so sehr lockte ihn der betörende Klang dieser Stimmen. Die Glühwürmchen jammerten und warnten eindringlich, doch der Junge hörte sie nicht.

Da flammte das Licht über dem Moor wie ein Strahlenkranz auf. Schemenhaft formte sich aus ihm die unheimliche Gestalt der undurchschaubaren Düsteren Königin. Tahomo blieb stehen. Er war von der Anziehungskraft dieser schwebenden, zarten und elfengleich anmutenden Frauengestalt fasziniert. Ein dunkelblaues Schleierkleid umfloss ihren Körper. Der Saum wehte in Fetzen über das unruhige Moor. Wassertröpfchen funkelten wie Sterne auf dem tanzenden Gewand, und wenn sie herunterfielen, so stürzten sie mit einem silbernen Klang, „ping“, wie Sternschnuppen so hell in das schwarze Moor und verschwanden auf immer. Auf dem Haupt der Düsteren Königin strahlte ein Diadem in kalten Regenbogenfarben. Die langen Haare ringelten sich wie schwarze Schlangen in lebendigem Auf und Ab um ihr bleiches Gesicht.

Nun begannen sich ihre Arme in einem weiten Halbkreis zu bewegen, so als winkte sie den Jungen zu sich. Plötzlich wand sich auch ihr Körper in schlängelnden Bewegungen. Ihr ganzer Leib nahm mehr und mehr die Gestalt einer riesigen Schlange an.

Tahomo sah nur den eigentümlich schmerzlichen Ausdruck ihres lieblichen Gesichts. Ihm schien, als kenne er es. Wo hatte er diese Augen schon einmal gesehen? Sie waren ihm so vertraut. Mit lockendem Gesang kam sie näher, immer näher. Gerade wollte sie den gebannten Jüngling umschlingen; doch in seinem Inneren spürte Tahomo plötzlich glühend die Gefahr: Ich muss wach werden, jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Hastig atmete er tief ein, als ob er sich von Fesseln befreien wollte. Da löste sich ein lauter Schrei aus seiner Kehle: „Salmidooooon!“

Dann geschah etwas Unglaubliches: Der geheimnisvolle Zauberast erhob sich langsam aus dem Gras. Sirrend rotierte er um sich selbst und flog dem Prinzen hinterher. Sein schnelles Kreiseln nahm zu. Bald konnte man keine klaren Umrisse mehr erkennen. Er wuchs, wurde größer und größer. Dann zerfloss er breit und verwandelte sich zu einem leuchtenden Schiffskörper.

Der völlig verwirrte Prinz stand wie gelähmt. Er sah staunend, wie der vordere Teil des Schiffes in die Höhe schwebte, sodass er in das Innere schauen konnte. Dort stand reglos eine hohe Gestalt. Sie schien aus mehr oder minder dichten, dunkelgrauen Rauchschwaden zu bestehen und war nur schemenhaft zu erkennen. Mit heiserem Flüstern lockte sie: „Komm zu miiir!“ Die durchsichtige Gestalt öffnete weit ihre Arme und wie durch einen starken Sog zog es den Jungen in das große, strahlende Boot hinein. Danach zerfloss dieses Wesen und löste sich langsam in Luft auf. Hinter Tahomo schloss sich der Bug.

Das Schiff hob ab und flog mit dem Prinzen himmelwärts, weit weg von dem blubbernden und wuchernden Schleim des Moores, auf dem sich jetzt eine große, schillernde Schlange wand. Da bäumte sie sich nochmals auf, setzte zu einem Sprung an, um das strahlende Luftschiff vielleicht noch zu erhaschen. Doch schwebte dies bereits weit über den lichten Wolken der wärmenden Sonne entgegen. Die silberne Schlange aber stieß einen verwunderlich klagenden Seufzer aus und sank in sich zusammen.

„Er sucht Salmidon, den Herrscher des Magischen Reiches“, riefen einige Glühwürmchen dem Gefährt nach.

Andere schrien: „Hilf ihm und behüte seinen Weg.“

Damit entschwand Tahomo den Blicken seiner kleinen Freunde.

„Mehr wird heute und hier nicht verraten“, ende ich mein erstes Kapitel.

Im Kinderzimmer liegen meine Enkelsöhne auf dem Lümmelsack in meinen Armen, als ich die Geschichte vorlese. Sie haben sich angekuschelt und sind ganz still. Nur manchmal wackelt mein Manuskript, wenn ein Beinchen sich strecken muss.

„Mehr von den Abenteuern Prinz Tahomos erfahrt ihr das nächste Mal, wenn ich wieder zu euch komme!“, schließe ich die Geschichte ab.

„Noch mal lesen, Omama!“ Mika schaut lächelnd in meine Augen. Beide sind sich einig und ich bin sehr zufrieden. Offensichtlich hat ihnen mein Märchen bis jetzt gefallen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

DIE VORGESCHICHTE

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Zur Autorin

2. Kapitel

Warum kann ich nicht einschlafen? Ich muss unbedingt schlafen … Morgen will ich sehr früh zu meinen Enkeln fahren, und das ist ein weiter Weg …

Es knackt und ich vernehme ein fremdes, schleifendes Geräusch, was ich mir nicht erklären kann. Ist Gerard aufgestanden? Nein, er schläft ganz tief neben mir … Was ist da … Ein Einbrecher? Was bedeutet das alles? Was geht hier vor? Und dort … Das sind doch funkelnde Augen … Sie starren mich aus der Dunkelheit an. Da ist doch etwas! Mein Herz pocht schneller. Ich sehe, wie sich auch etwas bewegt … Genau kann ich es nicht erkennen … Ist das nicht wie ein Tanzen von Schlangen um ein Gesicht?

Ein Verdacht schießt mir wie ein Blitz durch den Kopf. Schwarze Schlangen, die ein Gesicht umtanzen, stammen doch aus meiner Geschichte für meine Enkelsöhne! Nein … Nein, das kann nicht wahr sein! Es kann einfach nicht sein! Die Düstere Königin habe ich mir doch nur ausgedacht …

Wilde Angst flammt in mir auf. Leise, ganz leise, zugleich aber immer widerhallend, höre ich eine Stimme. Sie kommt genau aus der Richtung, aus der mich die blinkenden Augen ansehen: „Ich brauche deine Hilfe!“ Ein Raunen folgt einem Echo gleich. „Nur du und deine Enkelsöhne …söhne … wurden bestimmt, mich zu erlösen …lösen! Helft mir, helft mir doch bitte … Nur du und deine Enkelsöhne …söhne … Helft mir doch … helft mir … bitte!“

Gerard berührt mich am Arm. „Warum bist du so unruhig? Ich bin davon aufgewacht.“

Leise frage ich ihn: „Hast du das auch gehört?“, und suche die funkelnden Augen, doch sie sind nicht mehr da.

„Da ist nichts“, sagt Gerard. „Was soll denn da gewesen sein? Soll ich das Licht einschalten?“

„Nein!“

Dieses Etwas, wenn es noch hier sein sollte … Ich will es nicht verjagen. Diese Stimme, ihre große Trauer berührt mich. Oder war es ein Traum und ich bilde mir alles nur ein? Nein, das kann eigentlich nicht sein, ich habe ja noch nicht geschlafen. Komisch … Ich drehe mich auf meine gewohnte Einschlafseite. Oder sollte ich doch geträumt haben? Schnell einschlafen!

Am nächsten Tag erwarten mich meine Enkelsöhne bereits an ihrer Wohnungstür. Sie ziehen mich sofort in ihr Zimmer und wollen wissen, wie meine Geschichte weitergeht. Da beginne ich zu erzählen, weiß allerdings auch noch nicht genau, was weiter geschieht.

3. Kapitel

Ein bunt bemaltes, leuchtendes Schiff flog in strahlender Sonne und großer Höhe. Es hatte stolze Segel, die den Wind liebten und sich von ihm aufblasen ließen, sodass das Luftschiff rasend schnell über einem weiten Meer dahinschwebte.

Es erreichte schließlich das Ufer eines fremden Landes. Von der Küste aus stieg das Gelände stark an. Ein junger Mann stand aufrecht darin und versuchte, durch Wolkenlücken das bizarre Gebirge unter sich wahrzunehmen. Einsam und schroff ragten Felsen in eisige Höhe und doch waren sie von beeindruckender, erhabener Schönheit. Hier und da erkannte Tahomo Gämsen. Sie sprangen über Steine und Geröll. Wie sie das nur schafften? Sonst lebte hier scheinbar niemand.

Aber halt! Er beugte sich tief über den Rand des leuchtenden Bootes, um die Landschaft unter ihm genauer erkennen zu können. Dort stand eine kleine Hütte. Sie war offensichtlich aus zufällig gefundenen und aufgelesenen Planken mithilfe junger, biegsamer Wurzeln zusammengefügt worden. Schief und wacklig sah diese armselige Behausung aus. Der junge Mann dachte: Sie ist sicherlich längst verlassen. Wer dort wohl gewohnt haben mag? Na, wenn der nächste Sturm kommt …, mutmaßte er.

Aber nein, nahe der Hütte sah er den Besitzer kommen. Ein uraltes Männlein war es mit einem auffällig breiten Buckel. Seine krummen Beine steckten in roten Strümpfen, die man deutlich erkannte, weil es eine weite, aber viel zu kurze Hose trug. Seine Füße steckten in verschiedenen Schuhen. Es schleppte ein Bündel Holz auf seiner Schulter. Trotz dieser Last aber trug dieses Männlein vor seiner Brust noch eine winzige Tasche. Die schien es mit den Händen fest zu umklammern. Als das kleine Wesen das Luftschiff mit dem dahinfliegenden Prinzen erblickte, warf es das Bündel ab und verbeugte sich tief.

Tahomo dachte: Wie kann er mich kennen? Doch dann versperrte ihm eine Wolke die Sicht.

Weiter und immer weiter flog das stolze Gefährt mit dem Prinzen. Als er wieder hinuntersehen konnte, war er bereits fern von jenem Ort, an dem das kleine Lebewesen hauste. Jetzt wurde das Hochgebirge immer schroffer. Tahomo sah nur noch die von Schnee bedeckten Gipfel oder Felsen mit messerscharfen Graten. Zwischen ihnen stürzten von Zeit zu Zeit gefährliche Geröll-Muren donnernd in die Tiefe. Er wusste, dass das Geröll dann alles mit sich riss, was in seiner Nähe war, und ein banges Gefühl beschlich den jungen Prinzen.

„Wohin trägst du mich, mein leuchtendes Boot?“ Der junge Mann schrie seine Worte in den Wind. Da er hier allein war, rechnete er jedoch mit keiner Antwort.

Aber was für eine Überraschung: Am Bug des bunt bemalten Schiffskörpers erstrahlte plötzlich eine goldene Gestalt mit wunderlichem, eher männlichem Kopf. In dem Augenblick, als Tahomo seine Frage in den Wind schrie, erwachte diese Gestalt zum Leben. Aus seinen Lippen sprudelte ein schmales, weißes Band mit singender Schrift, welche im Fahrtwind heftig zitternd und wirbelnd flatterte. In tönenden Worten wurde dem Prinzen mitgeteilt, dass das Boot die Aufgabe habe, ihn, den Auserwählten, zu Salmidon, dem Herrscher des Magischen Reiches, zu bringen.

„Genau dorthin wollte ich, denn ich muss den Auftrag meines Vaters erfüllen!“, rief der Prinz erregt.

„Danke nicht mir, Tahomo“, erklang das singende Band, „danke dem Gebot eines höheren Wesens. Es hat mir befohlen, dich auf deinem Weg zu beschützen!“

„Wie komme ich zu Salmidon? Verrate es mir!“

„Die Zeit ist noch nicht reif, Tahomo, noch muss dies für dich ein Geheimnis bleiben.“

„Auch für euch, meine Kleinen, muss noch ein Geheimnis bleiben, wie die Geschichte weitergeht. Einen Teil davon erfahrt ihr im nächsten Kapitel, aber das muss ich erst schreiben!“

„Weißt du schon, was passiert?“, drängeln meine Enkelsöhne.

„Nein, das weiß ich vorher nie …“

Dann herrscht eine Weile Stille zwischen uns.

„Omama, Mika und ich haben bald Ferien. Können wir zu euch kommen? Dann hast du bestimmt das neue Kapitel fertig!“

4. Kapitel

Der Flug im leuchtenden Schiff unter der wärmenden Sonne hatte den Prinzen seine schweren Sorgen fast vergessen lassen. Nun aber legte er sich still auf den Boden des fliegenden Gefährts und schloss seine Augen. In der Erinnerung über das, was zu Hause geschehen war, kamen ihm Tränen.

Was aber hatte sein Leben so völlig verändert?

Ehe sein Vater, der Herrscher von Tandonay in die Krankheit tiefer Traurigkeit gefallen war, nicht mehr sprach, kaum aß und regungslos mit trüben Augen vor sich hin starrte, hatte er seinen Sohn Tahomo zu sich kommen lassen.

„Mein geliebter Sohn“, hatte er mühsam und leise gesprochen. „Ich habe es nie verstanden und ahne auch heute nicht, warum deine Mutter plötzlich nicht mehr bei uns war. Ist ihr ein Unglück zugestoßen? Oder geschah hier ein Verbrechen? Ich bin inzwischen zu alt und zu schwach, um weiter in die Welt zu gehen und die Ursache zu suchen. Ich bin nicht mehr in der Lage, für das, was an meinem Hofe geschehen ist, eine Erklärung zu finden oder gar ein böses Vergehen rächen zu können!“ Langsam hatte sich der alte König zum Sohn gebeugt und ihn lange umarmt. „All die Jahre habe ich dich mit viel Wissen ausgestattet und zu aufrechtem Denken erzogen. Mein Vertrauen zu dir ist unendlich groß, also auch meine Überzeugung, dass du diese schwere Aufgabe für mich lösen kannst! Geh in die Fremde und such nach Salmidon, dem Weisen im Magischen Reich. Er wird dir Rat geben!“

Der Sohn spürte die innige Umarmung seines Vaters noch immer. Von nun an war der König von Tandonay völlig apathisch und kraftlos geworden. Später verfiel er der Krankheit der tiefen Traurigkeit.