Arnold Werner-Jensen

Johann Sebastian Bach

Musikführer – Band 2

Arnold Werner-Jensen

Johann Sebastian Bach
Musikführer – Band 2:
Vokalmusik

SCHOTT

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Bestellnummer SDP 75

ISBN 978-3-7957-8623-6

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8078

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

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Inhalt

Vorbemerkung

Bachs Vokalmusik

Motetten

Kantaten

Oratorien

Weihnachts-Oratorium

Oster-Oratorium

Passionsmusiken

Johannes-Passion

Matthäus-Passion

Markus-Passion

Messen

Messe in h-Moll

Andere Messen und Einzelsätze

Magnificat

Choräle

Lieder und Arien

Anhang

Texte der h-Moll-Messe und des Magnificat

Literaturhinweise

Werkverzeichnis

Vorbemerkung

Im vorliegenden zweiten Band werden alle geistlichen und weltlichen Vokalwerke von J. S. Bach vorgestellt. Die Ausführungen stützen sich auf eine Reihe sehr verdienstvoller, grundlegender wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Unter ihnen seien als besonders hilfreich und unentbehrlich dankbar hervorgehoben: neben der Neuen Bach-Ausgabe vor allem Werner Neumanns »Handbuch der Kantaten Bachs« sowie Walter Dürrs zweibändiges Kompendium über »Die Kantaten von Johann Sebastian Bach« (vgl. Literaturhinweise S. 309). Darüber hinaus ist es dem Autor ein Bedürfnis, seinen herzlichen Dank auch den Partnern in der Verlagsredaktion auszusprechen, die mit unermüdlichem, sachlich-kritischem und zugleich einfühlsamem Engagement die Arbeit an der Endfassung des Manuskriptes zu diesem Band (wie auch zu allen vorangegangenen Bänden) begleitet und maßgeblich bewältigt haben.

Bachs Vokalmusik

Motetten

Die sechs berühmten Motetten von J. S. Bach (BWV 225–230) sind alle in seiner Amtszeit als Thomaskantor in Leipzig (also ab 1723) entstanden; fünf von ihnen – und dazu die im BWV nicht unter den Motetten geführte Nr. 118 – sind Begräbnismotetten und somit aus aktuellem Anlaß komponiert worden. In der langen, im 13. Jahrhundert einsetzenden Gattungstradition markieren sie einen der Höhepunkte und stellen bis heute im Repertoire der Chöre eine musikalische und geistige Herausforderung ersten Ranges dar. Die künstlerische Ausformung der Motette, der mehrstimmigen Gesangskomposition auf geistliche, selten weltliche Texte, hat sich im Lauf der Jahrhunderte mehrfach grundlegend gewandelt. Bachs Motettentypus ist hierbei eine Spätform: Er folgt dem mehrsätzigen Modell mit kontrapunktisch angelegten und sich in Struktur und Aussage voneinander abhebenden Abschnitten, das seinerseits seine Wurzeln in den großen Festmotetten und Geistlichen Konzerten der Venezianischen Schule (Giovanni Gabrieli, 1587–1612) hat. Für Bach war wohl auch das Mitgehen von Instrumenten mit den Singstimmen (colla parte) noch selbstverständlich. – Charakteristisch für diesen weitergeführten deutschen Kantatentypus ist darüber hinaus die abschnittweise textliche Gliederung in Bibelworte und Choralverse, also der aufeinander bezogene Wechsel von Verkündigung und Auslegung. Vorbilder könnte Bach bei Johann Hermann Schein (1586–1630) und Heinrich Schütz (1585–1672) gefunden haben; in seiner phantasievollen und kompositorisch ungemein kunstvollen und vielseitigen Ausführung aber ließ er alle etwaigen Modelle weit hinter sich.

Vier der Motetten sind achtstimmig (aufgeteilt auf je zwei vier- bis fünfstimmige gemischte Chöre), zwei sind vierstimmig gemischt angelegt. Allen sechs Motetten gemeinsam ist ihre bisweilen virtuose Stimmführung, in deren Koloraturlinien immer wieder die Grenzen vom Vokalen zum Instrumentalen aufgebrochen und überschritten werden.

Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 225)

Motette für zwei vierstimmige Chöre, B-Dur

Entstanden nach 1726, möglicherweise zu Neujahr 1727. – Text: Ps. 149, 1–3; Ps. 150,2 und 6; 3. Strophe des Chorals »Nun lob, mein Seel, den Herren« von Johann Gramann, 1540.

Obwohl nicht zu einem Begräbnis geschrieben, gehört dieses Meisterwerk dennoch dem mehrgliedrigen Typus der Begräbnismotette an. Vier Teile von recht unterschiedlichen Dimensionen und Aussagen reihen sich aneinander: Schlüsselwort des eröffnenden, prächtig ausholenden Satzes für Doppelchor (B-Dur, ¾) ist der fast leitmotivisch wiederkehrende Ruf »Singet«, der sich zu Beginn den Figurationen des jeweils anderen Chores entgegenstellt, ein Jubelgesang im dicht verzahnten, manchmal taktweisen Wechsel beider Chöre. Nach großflächigerem Alternieren der Chöre (»Die Gemeine der Heiligen«) verdichtet sich der Satz wieder zur Achtstimmigkeit (»Israel freue sich«) und mündet in eine sich gelassen aufschichtende Fuge, kontrapunktiert vom »Singet« des Coro II und endend in fünftaktiger blockhafter Imitation beider Chöre (»Mit Harfen und Pauken sollen sie ihm spielen«).

Die folgende, im wohlbedachten Kontrast nun eher nach innen gekehrte »Aria« (B-Dur, 4/4) verknüpft die abschnittweise vorgetragene Choralstrophe (»Wie sich ein Vat’r erbarmet«, Coro II) mit der bewegteren Deklamation eines freien Textes (»Gott, nimm dich ferner unser an«, Verfasser unbekannt). Beinahe tänzerisch und ausgelassen mutet danach das großflächige und zugleich koloraturhaft feingliedrige Wechselspiel beider Chöre an (»Lobet den Herrn«); fast wie eine Stretta folgt die krönende Schlußfuge im lebhaften ⅜-Takt und mit einem virtuosen Koloraturthema, aufsteigend vom Baß aus:

Der Geist hilft unser Schwachheit auf (BWV 226)

Motette für zwei vierstimmige Chöre, B-Dur

Entstanden 1729 »by Beerdigung des Seel. H. Prof. und Rectoris Ernesti«, des Leiters der Thomasschule, am 20. Oktober 1729. – Text: Rom. 8,26 und 27; Strophe 3 des Chorals »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« von Martin Luther, 1524.

Hier runden sich drei Abschnitte zum Ganzen, der erste Teil (Stollen A) ist in dreiteiliger Barform gehalten: Im Abstand von zwei Takten imitieren die beiden Chöre einander zu Beginn mit charakteristischer Sechzehntelfiguration (»Der Geist hilft...«, ⅜), worauf im wiegenden Achtelschritt Beruhigung eintritt (»denn wir wissen nicht«), im ständigen dichten Alternieren beider Chöre. Es folgt eine variierte Wiederholung (Stollen A'), die unmittelbar in den fugierten Abgesang mündet (»sondern der Geist selbst«), nun im 4/4-Takt.

Der zweite Abschnitt ist eine monumental-strenge Doppelfuge über zwei Themen, die regelgerecht zunächst nacheinander exponiert und danach (Takt 198) miteinander gekoppelt werden:

Das ebenfalls monumentale erste Thema setzt jeweils paarweise in Engführung ein (Baß/Tenor, Alt/Sopran); und das zweite Thema wird sogleich mit seinem festen Kontrapunkt verknüpft. Hier wie im abschließenden Choralsatz werden beide Chöre zum vierstimmigen Satz zusammengefaßt. – Diese Motette ist die einzige, zu der die von Bach vorgesehene Besetzung der Colla-parte-Instrumentalstimmen überliefert ist: Coro I: Viol. 1, 2, Viola, Vcl.; Coro II: Ob. 1, 2, Taille, Fag., Continuo und Kontrabaß.

Jesu, meine Freude (BWV 227)

Motette für vier- bis fünfstimmigen Chor, e-Moll

Entstanden 1723, wahrscheinlich zur Beerdigung einer »verwittibten Ober-Post-Meisterin« am 18. Juli 1723. – Text: Röm. 8,1.2.9.10.11; alle 6 Strophen des Chorals »Jesu, meine Freude« von Johann Franck, 1653.

Dies ist die vielgestaltigste und zugleich ausdrucksstärkste der sechs Motetten. Auffällig ist ihr durchdachter, weitgehend symmetrischer Aufbau (insgesamt elf Sätze). Im Mittelpunkt (als 6. Satz) steht die auch textlich – im Sinne des Trauergottesdienstes – zentrale Aussage der ausgedehnten und auch technisch den Chor fordernden Fuge (»Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistig«, G-Dur, fünfstimmig):

Um diese Achse herum gruppieren sich die je drei variierten Choralstrophen im Wechsel mit je zwei freien Chorsätzen unterschiedlichsten Charakters: Die Choralstrophen 1 und 6 (erster und letzter Satz) sind musikalisch identisch; Strophe 2 (»Unter deinen Schirmen«) läßt den Cantus firmus im Sopran, erweitert die Stimmenzahl auf fünf und belebt vor allem die drei tieferen Stimmen.

Strophe 3 (»Trotz dem alten Drachen«, e-Moll, ¾) verarbeitet die Textworte in einer freien, hochexpressiv die Aussagen vertonenden Choralfantasie. Mit zwei »Trotz«-Aufschreien, gegen den Dreiertakt gesetzt und mit einem harmonischen Umweg über die Zwischendominante der Subdominante beginnend, folgt die Musik exakt den Bildern des Choralverses: mit dynamischen Kontrasten auf engstem Raum (»trotz der Furcht«), in tobender Koloratur (»Tobe, Welt«) und auf einmal (»in gar sichrer Ruh«) ganz zurückgenommen; zärtlich wiegend in weichen Terzenparallelen (» Gottes Macht hält mich in Acht«) und mit jähem Sprung in den »Abgrund«, mit plötzlichem Pianoeffekt und überraschenden Pausen (»muß verstummen«) bis zum kompakten Abschluß in fünfstimmiger enger Verzahnung (»ob sie noch so brummen«) – ein Kompendium vokaler Programmusik auf engstem Raum! Die programmatisch-textausdeutenden Momente erschließen sich auch dem heutigen Hörer unweglos, ohne daß man im einzelnen die zahllosen Bezüge zur musikalisch-rhetorischen Figurenlehre jener Zeit herauslösen müßte.

Strophe 4 hält sich wieder an den Cantus firmus (Sopran) und belebt die drei übrigen Stimmen merklich Zeile um Zeile mit großer Prägnanz der Motivik. Strophe 5 (»Gute Nacht, o Wesen«, C-Dur, 2/4) verläuft in der Art einer großen, strengen Choralbearbeitung: Der Cantus firmus erklingt zeilenweise abgesetzt im Alt, während die drei übrigen Stimmen – Sopran 1 und 2 sowie der Tenor, also ohne Baß! – dezent die Textaussagen kommentieren. Quasi leitmotivisch wirkt hier die häufige Wiederkehr der Terzen- und Sextenparallelen des »Gute Nacht«

mit zartem Echoeffekt des Stimmentausches im 3. Takt.

Von den freien Sätzen verarbeiten Nr. 2 und 10 das gleiche musikalische Material (jeweils fünfstimmig, e-Moll, 3/2): der erste (»Es ist nun nichts«) ausgedehnter und mit Fugato-Ansätzen, der zweite (»So nun der Geist«) kompakter und wie ein Konzentrat und zugleich eine Reminiszenz an den 2. Satz. Den stärksten Gegensatz zu den großen klangmächtigen Sätzen bilden die beiden dreistimmigen Sätze 4 und 8, die jeweils als vokale Triosätze miteinander korrespondieren: Nr. 4 (»Denn das Gesetz«, e-Moll, ¾) als schwereloses Frauenstimmen-Terzett dreier polyphon geführter Linien, mit düster-verhangenem, harmonisch eingetrübtem Schluß (»Von dem Gesetz der Sünde und des Todes«); Nr. 8 als Quasi-Siciliano der drei tiefen Stimmen (Alt, Tenor, Baß, »So aber Christus in euch ist«, C-Dur, 12/8), zunächst im wiegenden Dreierrhythmus, dann in fließenden Koloraturen aufgelöst (»Der Geist aber ist das Leben«).

Fürchte dich nicht, ich bin bei dir (BWV 228)

Motette für zwei vierstimmige Chöre, A-Dur

Entstehungszeit nicht gesichert (4. Februar 1726?). – Text: Jes. 41,10 und 43,1; Strophen 11 und 12 des Chorals »Warum sollt ich mich denn grämen« von Paul Gerhardt, 1653.

Die Form dieser Motette ähnelt der von BWV 225; der erste Großabschnitt ist ein Musterbeispiel der motivisch dicht verzahnten, imitatorischen Chorpolyphonie aus der deutschen Tradition des 17. Jahrhunderts (4/4); unmittelbar aus ihm heraus erwächst der fugierte zweite Teil mit seinem chromatisch herabsinkenden Thema (»Denn ich habe dich erlöset«):

in dem sich die beiden Chöre nun zum dreistimmigen Block der Unterstimmen zusammenschließen, während der Sopran sporadisch die einzelnen Abschnitte des Choral-Cantus (Strophe 11 und 12) hinzufügt. Das Nacheinander von freiem Chorsatz und gebundenem Choralsatz (wie in BWV 226) ist nun zur Gleichzeitigkeit konzentriert, in der Art einer großen Choralbearbeitung.

Komm, Jesu, komm, mein Leib ist müde (BWV 229)

Motette für zwei vierstimmige Chöre, g-Moll

Entstanden wohl bis 1732. – Text: erste und letzte Strophe des Chorals »Komm, Jesu, komm!« von Paul Thymich.

Diese Motette verarbeitet lediglich zwei Choralverse auf äußerst kunstvoll-konzentrierte Weise. Es handelt sich um jenes Lied, das ein Mitglied des Thomaskollegiums 1684 auf den Tod des Thomasrektors Thomasius verfaßt und das der Thomaskantor Joh. Schalle komponiert hatte. Wie eine Eingangspforte steht zu Beginn (3/2) die mehrmalige Anrufung »komm«, danach werden die einzelnen Choralzeilen in ständiger Durchdringung der beiden Chöre dezent textausdeutend vertont: Da gibt es die resigniert abwärts gewandte Geste der Baß-Stimmen bei »Die Kraft verschwindt« oder das in weichen Bindungen schwingende »Ich sehne mich«, oder auch das aus zwei aufwärts gerichteten Halbtonschritten gefügte, die Quinte umkreisende Fugato-Thema bei »Der saure Weg wird mir zu schwer«:

Mit einem Vorhaltakkord auf der Dominante D-Dur wendet sich das Metrum zum 4/4-Takt und zur bewegten achtstimmigen Chorpolyphonie des »Komm, komm, ich will mich dir ergeben«. Unvermittelt ändert sich noch einmal das Metrum zum 6/8-Takt (»Du bist der rechte Weg«) und läßt in biegsam expressiver Melodik beide Chöre alternieren, in schwingender Rhythmik und koloraturendurchsetzt. Im Gegensatz zu dieser ausgedehnten und vielgestaltigen ersten Choralstrophe erklingt die andere – letzte – Strophe danach im kompakten vierstimmigen Choralsatz, freilich ohne die originale Choralmelodie, im frei erfundenen vierstimmigen Kantionalsatz. (Unter einem Kantionalsatz versteht man den vierstimmigen Kirchengesang im einheitlichen Rhythmus, der führenden Melodiestimme angepaßt.)

Die Stellung der Motette im Gottesdienst. Notiz Bachs (auf der Rückseite des Titelblattes seiner Kantate 61): »Anordnung des Gottesdienstes in Leipzig am 1. Advent-Sonntag frühe. 1. Präludieret. 2. Motetta. 3. Präludieret auf das Kyrie, so ganz musizieret wird. 4. Intonieret vor dem Altar. 5. Epistola verlesen. 6. Wird die Litanei gesungen. 7. Prälud. auf den Choral. 8. Evangelium verlesen. 9. Prälud. auf die Hauptmusik. 10. Der Glaube gesungen. 11. Die Predigt. 12. Nach der Predigt, wie gewöhnlich einige Verse aus einem Liede gesungen. 13. Verba Institutionis. 14. Prälud. auf die Musik. Und nach selbiger wechselweise prälud. auf Choräle und gesungen, bis die Kommunion zu Ende...« Berlin, Staatsbibliothek

Lobet den Herrn, alle Heiden (BWV 230)

Motette für vierstimmigen Chor, C-Dur

Entstehungszeit und Anlaß unbekannt, Echtheit gelegentlich angezweifelt. – Text: Ps. 117,1 und 2.

Zu dieser Motette ist eine separate Continuo-Stimme überliefert, die auch bei pausierendem Chorbaß eigenständig weitergeführt ist. Die Textvorlage ist durchlaufend in einem Satz komponiert , jeweils Zeile für Zeile neu und fugatomäßig imitierend gearbeitet. Zum abschließenden »Alleluja« wendet sich das gerade Metrum zum Dreiermetrum. Manche kompositorische Einzelheit dieser Motette weicht deutlich von den fünf Schwesterwerken ab und weckt Zweifel an der Echtheit, ohne daß bisher Beweisansätze vorliegen.

O Jesu Christ, meins Lebens Licht (BWV 118/231)

Motette für vierstimmigen Chor, B-Dur

Entstanden um 1736/37. – Text: Choral von Martin Behm, 1611. – Besetzung: Chor; 2 Hörner, Zink, 3 Posaunen (2. Fassung, nach 1740:2 Hörner, 2 Oboen, Oboe da caccia, Fagott).

Die einsätzige Motette in Gestalt eines einheitlichen Choral-Chorsatzes stammt ebenfalls aus Bachs Leipziger Wirkungszeit. Sie ist uns in zwei Fassungen überliefert, jeweils in der Handschrift des Komponisten, und ist wiederum eine Trauermotette, deren Entstehungsanlaß jedoch nur ungenügend abgesichert ist. Die beiden Fassungen unterscheiden sich in der beigefügten Instrumentation: In der zweiten Version (nach 1740) gibt es neben den sogenannten »Litui«-Instrumenten (wohl Hörner) auch Streicher und zusätzliche Ad-libitum-Holzbläser. Der Sterbechoral wird zeilenweise fugiert vorgetragen, der Instrumentalsatz ist motivisch auf die Liedmelodie bezogen.

Die Kantaten

Die charakteristischen Merkmale der Gattung Kantate sind untrennbar mit denen der Oper verbunden: In Italien, dem historischen Stammland der Oper, entfaltete sich die Kantate neben ihr als typische Ausprägung des weltlichen Sologesangs, als »cantata da camera«, in mehrteiliger Gliederung und von Instrumenten begleitet, herangereift bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und vertreten durch Komponisten wie Luigi Rossi (1598–1653) und Giacomo Carissimi (1605–1674), dann Giovanni Legrenzi (1626–1690), Francesco Cavalli (1602–1676), Alessandro Stradella (1644–1682) und Alessandro Scarlatti (1660 bis 1725).

In Deutschland entwickelte sich die Kantate als zentrale Gattung der evangelischen Kirchenmusik aus den musikalischen Wurzeln von Monodie, Madrigal, Motette und Concerto: Monodie als instrumental begleiteter Sologesang auf der Basis des Generalbasses; Madrigal, ebenfalls aus Italien nach Deutschland importiert, als mehrstimmiges Lied mit einer nichtstrophigen Gedichtvorlage; Motette als vielteilige polyphone Komposition, in der ein Text zeilenweise durchgeführt wird; Concerto schließlich als abwechslungsreiches Mit- und Gegeneinander mehrerer instrumentaler und/oder vokaler Gruppen oder auch Einzelstimmen (Gruppenkonzert/Solokonzert). Als Vorläufer und Wegbereiter für die Kantaten Bachs sind in Deutschland die Geistlichen Konzerte von Heinrich Schütz und Johann Hermann Schein zu nennen.

Für das Kantatenschaffen Bachs wurde immer wieder der Versuch gemacht, eine Typologie aufzustellen und so eine Gliederungshilfe für ihre beeindruckende Fülle in die Hand zu bekommen. Bei allen begründeten Vorbehalten gegenüber derartigen Typologien in der Kunstbetrachtung lassen sich doch einige übergeordnete Gesichtspunkte nennen, als Anhaltspunkte für eine gliedernde Sichtung.

Eine übergeordnete Typologie ergibt sich allein schon aus der Besetzung: So steht der »Kantate« schlechthin (mit Chor und Solisten) die Solokantate (für einen Solosänger, mit oder ohne Chor) gegenüber.

Eine weitere Unterscheidung ergibt sich nach Art und Anlage der Kantaten-Texte. Die frühesten Kantaten Bachs aus seinen Mühlhausener und ersten Weimarer Jahren (also 1707 bis etwa 1710) werden gern als »Vor-Neumeister-Typ« bezeichnet – es sind dies BWV Nr. 4, 71, 106, 131, 150, 196. Ihre Merkmale sind das Fehlen einer Gliederung in Rezitative und Arien, wie sie für das Vorbild, die Neapolitanische Oper, kennzeichnend ist, sowie der weitgehende Verzicht auf freie Dichtung: Textgrundlage sind hier Choral und Bibelwort. Musikalisch ist eine Reihung verhältnismäßig kleiner Abschnitte zu beobachten, die zunehmend zu größeren Sinneinheiten zusammengefaßt werden. Charakteristische kompositorische Stilmittel sind die Prinzipien der Permutationsfuge, einer strengen Fuge ohne Zwischenspiele und mit festgelegter Reihenfolge der Themen- und Kontrapunkt-Einsätze sowie des Stimmentauschs, innerhalb und auch außerhalb der Fuge.

ERDMANN NEUMEISTER (1671–1756), nach dem ein formaler Haupttyp der Bach-Kantate benannt wird, war Pastor in Thüringen und zuletzt an der Hamburger Jacobi-Kirche; er hat »Geistliche Kantaten« verfaßt, von denen die ersten fünf Jahrgänge zwischen 1704 und 1716 als Lesetexte erschienen. In diesen aus Predigten hervorgegangenen Dichtungen, die von mehreren Komponisten vertont wurden, ist das Satzpaar Rezitativ – Arie aus der italienischen Cantata da camera in die literarische Form der Kirchenkantate übernommen. Für die Arie sah Neumeister die Dacapo-Form (Dreiteilige Reprisenform A B A) vor; mit dem 2. Jahrgang (1708) lieferte er jeweils auch die Textvorlage für den großangelegten Eröffnungschor. Hinzu fügte er Choral und Bibelwort.

Bach übernahm diese neue Kantaten-Form, den »Neumeister-Typ«, im Laufe seiner Weimarer Tätigkeit (1714–1717); seit 1714 hatte er den Auftrag, regelmäßig Kantaten zu komponieren, so entstand bis Ende 1716 etwa alle vier bis acht Wochen eine neue Kantate.

1714:

BWV 12, 21, 54, 61,152,172,182,199;

1715:

BWV 18?, 31, 80a, 132, 163,165, 185;

1716:

BWV 70a, 147a, 155,161?, 162?, 186a.

(Hier und im folgenden nach Dürr. Die numerische Reihenfolge gibt nicht die chronologische Entstehungsfolge an.)

Die Texte für diese Kantaten stammen überwiegend nicht von Neumeister, sondern von dem Weimarer Hofbibliotheksleiter SALOMON FRANCK (1659–1725), dessen Dichtungen zunächst nur aus Strophengedicht und Bibelwort bestehen, sich dann aber allmählich dem Neumeister-Vorbild annähern. In diese Zeit fällt also auch musikalisch die konsequente Übernahme von Rezitativ und Arie in die Kantate. Beim Rezitativ wird unterschieden zwischen dem lediglich akkordisch vom Generalbaß mit seinen bezifferten Bässen gestützten Secco und dem Accompagnato mit seinen für Streicher und/oder Bläser ausinstrumentierten Harmonien; hin und wieder wird dieses Modell durch ein ständig sich wiederholendes einzelnes Motiv als »motivgeprägtes Accompagnato« charakterisiert. Immer wieder auch weitet sich das Rezitativ zum Arioso, in dem die Wortdeklamation nicht mehr nur syllabisch im Sinne des »Sprechgesangs« ist, sondern rhythmisch exakt fixiert und melismatisch; zugleich gewinnt auch die Continuostimme größere Eigenständigkeit bis hin zu Imitationen zwischen Stimme und Generalbaß. Die Übergänge zwischen den einzelnen Formen sind fließend, vom schlichten Secco bis hin zum textbezogen ausdeutenden Begleitsatz.

In der Arie herrscht prinzipiell das Modell der dreiteiligen Dacapo-Form (A B A) vor, das Bach jedoch vielfältig abwandelt und erweitert oder durch Rondo- (A B A C A ...) oder Bar-Formen (A A B) ersetzt. Die Instrumentalfassung variiert von der reinen Continuobegleitung über den linearen Trio- und Quartettsatz mit obligaten Solo-Instrumenten (vor allem Violine, Querflöte, Oboe d’amore, gelegentlich aber auch – dann oft textbezogen – ausgefallenere Instrumente) bis hin zum vollen Orchester, das neben Streichern und Generalbaß eine charakteristische Auswahl an Holz- und Blechblasinstrumenten enthält (Oboen, Hörner, Trompeten und Pauken). Beim Einsatz von Solo-Instrumenten tritt häufig das Concerto-Prinzip in den Vordergrund, ein Miteinander-Konzertieren der Instrumente und Instrumentengruppen untereinander und mit der Singstimme.

Zu Beginn der Kantate des »Neumeister-Typs« steht immer öfter ein großangelegter Chorsatz für vierstimmigen Chor und Orchester, häufig mit instrumentaler Einleitung, in deren Wiederkehr der Chorsatz »eingebaut« wird. Die Großform ist meist mehrgliedrig, etwa wieder in Dacapo-Form, wobei sich Rahmenteile und Mittelabschnitt hinsichtlich des Kompositionsprinzips unterscheiden: Polyphonie hebt sich ab von Homophonie, mit zahlreichen Abstufungen zwischen beiden. Darüber hinaus werden zahlreiche Anregungen aus dem Bereich der zeitgenössischen Instrumentalmusik aufgegriffen und eingebaut, wie etwa Ostinato-Modelle (ständig wiederkehrende Motivwendungen), das Konzertprinzip (kontrastierender Wechsel von Tutti- und Solo-Passagen) oder Anregungen aus der Suite in Gestalt von Tanztypen.

Innerhalb des »Neumeister-Typs« gibt es bei Bach 1724/25 als spezielle Form die Choralkantate, für die jeweils ein Choral die textliche und musikalische Basis ist, nach dem alten Vorbild der Liedvariation (»per omnes versus«: für jede Strophe eine Variation). Grundschema der Textanlage: Erster und letzter Satz bringen die erste und die letzte Choralstrophe wörtlich, die dazwischenliegenden Texte sind (von unbekannten Autoren) umgedichtete weitere Strophen des Chorals. – Musikalisch gibt es ähnliche Charakteristika: Anfangs- und Schlußchor bringen die Melodie unverändert, der erste in ambitionierter kompositorischer Durchgestaltung, der letzte als schlichter vierstimmiger Choralsatz mit Instrumenten colla parte, d.h. unisono mit den Singstimmen. In den solistischen Zwischensätzen dienen Text und Melodie als anregendes Ausgangsmaterial, oft nur bruchstückhaft in Gestalt einzelner (variierter) Zeilen oder motivischer Bestandteile.

In seinen Köthener Jahren, 1717–23, hatte Bach keine kirchenmusikalischen Aufgaben, deshalb fehlen hier die Kirchenkantaten ganz; wir kennen aus dieser Zeit dagegen einige weltliche Kantaten.

Erst in seiner Leipziger Tätigkeit ab 1723 kommt es zum letzten und umfangreichsten Höhepunkt im Bachschen Kantatenschaffen. Drei Jahrgänge haben sich vollständig erhalten: 1723/24, 1724/25 sowie der vermutlich aus drei Jahren stammende: 1725–27; zwei folgende (1728 und 1729), die auf Dichtungen des Leipziger Poeten Christian Friedrich Henrici, genannt PICANDER (1700–64) basieren, rudimentär. Unter den Kantaten der ersten drei, 1723–27 komponierten Jahrgänge finden sich allerdings eine Reihe früher entstandener Werke, die Bach in Leipzig wiederaufgeführt hat; auch einige »Parodien«, also Neufassungen weltlicher Kantaten mit geistlichem Text, sind darunter. Die Jahrgangs-Reihe der Kompositionen folgt dem Kirchenjahr, beginnt aber nicht wie dieses mit dem 1. Advent, sondern mit dem 1. Sonntag nach Trinitatis (dem 2. Sonntag nach Pfingsten).

Der zweite Leipziger Jahrgang, 1724/25, ist jener der bereits erläuterten »Choralkantaten«; von der Osterkantate (BWV 4) an tritt dieser Typus nicht mehr in Erscheinung. Bach griff die formalen Prinzipien des ersten Leipziger Zyklus (1723/24) wieder auf: mit großangelegten Chorsätzen zu Beginn, mit Secco-Rezitativen und Accompagnati mit Tendenz zum Arioso, Arien und Choralsätzen, mehrfach auch in zweiteiliger Gliederung der Kantate.

Ebenso hielt er es im folgenden, dritten Jahrgang, der im übrigen nicht mehr die zyklische Geschlossenheit der beiden vorigen aufweist und möglicherweise aus mehreren Jahren stammt (1725–27).

Trotz solcher deutlichen Typisierungen weisen Bachs Kantaten eine ungemein kreative Vielfalt auf. Seine historisch einmalige Leistung ist gerade diese Vielfalt in der Einheit. Bei aller Regelmäßigkeit, etwa in der Satzfolge, stellt jede einzelne Kantate ein individuelles Meisterwerk dar, das gesonderte Betrachtung und Würdigung verdient. So wechselt beispielsweise im Rahmen des traditionell Vorgegebenen die jeweilige Instrumentation, und sie nimmt in ihren Feinheiten Bezug auf die textlichen Formulierungen.

Einen Sonderfall bilden die Solokantaten, in denen ein einziger Vokalsolist eingesetzt ist; in ihnen bietet Bach seine ganze Kunstfertigkeit auf, um die Musik trotz dieser äußerlichen Beschränkung abwechslungsreich und vielseitig zu gestalten.

In diesem Zusammenhang ist auf ein häufig bei Bach und anderen zu findendes Phänomen hinzuweisen, das aus heutiger Sicht oft mißverstanden wird: das Parodieverfahren. Unter »Parodie« versteht man in der musikalischen Praxis die Umarbeitung einer vorliegenden Vokalkomposition auf einen anderen Text. Es kann so beispielsweise aus einem weltlichen Stück ein geistliches werden; die wohl bekanntesten Beispiele finden sich im »Weihnachts-Oratorium«, das in Teilen auf drei weltliche Kantaten (u. a. »Laßt uns sorgen, laßt uns wachen. Herkules auf dem Scheidewege«, BWV 213) zurückgeht. Eine andere Methode der Parodierung ist die Umarbeitung von reinen Instrumental- zu Vokalsätzen durch Einbau bzw. Hinzufügung eines Chores. Das Verständnis für solche Arbeitstechniken wird gewiß erschwert durch eine gleichsam »modernere« Kunstauffassung, die sorgfältig zwischen Original und Bearbeitung unterscheidet, von der inhaltlichen Entsprechung zwischen Text- und Musikbedeutung ausgeht und folglich Diskrepanzen mißbilligend konstatieren möchte. Bezogen auf die Zeit Bachs bringt dieses Vorgehen eine nachträgliche Unterstellung mit sich, indem ein Kunstbegriff aus dem 19. Jahrhundert auf eine Epoche angewendet wird, die ihre Kunst unter ganz anderen Voraussetzungen und Auffassungen ausübte – in alter Handwerkstradition, nicht unter dem bedingungslosen Primat der individuellen Originalität. Man sollte sich solchen Parodien deshalb unvoreingenommen nähern, ohne die Erwartung einer Rangordnung der Fassungen, und man wird feststellen, daß gerade durch die Neutextierung manches in der Musik schlummernde Moment erst zum Vorschein kommen kann. Selbstverständlich bleibt es nicht aus, daß sich das Verfahren unter dem gelegentlichen Zwang von Zeitnot und anderen hinderlichen Umständen manchmal nachteilig auswirkt.

1. Leipziger Jahrgang

1723:

BWV 21, 24, 25, 40, 46, 48, 60, 61, 63, 64, 69a, 70, 75, 76, 77, 89, 90, 95, 105, 109, 119, 136, 138, 147, 148, 162, 163?, 167, 179, 185, 186, 194, 199.

1724:

BWV 4, 12, 18, 22, 37, 44, 59?, 65, 66, 67, 73, 81, 83, 86, 104, 134, 144, 153, 154, 155, 165?, 166, 172, 173, 181, 182, 184, 190, 194 und »Siehe, eine Jungfrau ist schwanger« (ohne BWV-Nr.).

2. Leipziger Jahrgang

1724:

BWV 2, 5, 7, 8, 10, 20, 26, 33, 38, 62, 78, 91, 93, 94, 96, 99, 101, 107, 113, 114, 115, 116, 121, 122, 129, 130, 133, 135, 137, 139, 178, 180.

1725:

BWV 1, 3, 41, 92, 111, 123, 124, 125, 126, 127.

3. Leipziger Jahrgang

1725–26

BWV 13, 16, 17, 19, 27, 28, 32, 35, 39, 43, 45, 47, 49, 52, 55, 56, 57, 58?, 72, 79, 82, 84, 88, 98, 102, 110, 137, 146?, 151, 164, 168, 169, 170, 187, 194 (Neufassung).

1727:

BWV 58, 82, 84.

4. und 5. Leipziger Jahrgang

1728:

BWV 149, 188, 197a.

1729:

BWV 145, 156, 159, 171, 174.

Kantaten nach 1729 und Parodien

BWV 9, 14, 29, 30, 34, 34a, 36, 51, 69, 97, 100, 112, 117, 119, 120, 120a, 140, 157, 177, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 197.

Außer seinen zahlreichen Kirchenkantaten komponierte Bach auch eine Reihe von Kantaten auf weltliche Texte. Die Anlässe hierzu waren vielfältig: Neben Huldigungswerken für fürstliche Gönner und Dienstherren entstanden Festkompositionen für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, beispielsweise zu Geburtstagen, Hochzeiten oder zum Dienstantritt. Und mit dem Leipziger studentischen Collegium musicum, das Bach von seinem berühmten Vorgänger Telemann übernahm, führte er ebenfalls unterhaltende weltliche Kantaten auf. Neben anderen Dichtungen stützte sich Bach hierbei auf Textvorlagen von Picander und Gottsched. Manche der Kantaten verfügen über eine fortlaufende Handlung (»Kaffeekantate«, »Bauernkantate«); die Bezeichnung »Dramma per musica« ist als Hinweis auf eine Handlung zu verstehen, während die Überschrift »Cantata« eher auf einen lyrisch-besinnlichen, betrachtenden Charakter des Werkes hindeutet; die Übergänge sind jedoch bei Bach sehr fließend, es gibt keine systematischen Gattungsgrenzen mehr. In der Ausformung der Einzelsätze sind die weltlichen mit den Kirchenkantaten vergleichbar, bisweilen auch identisch, so daß Bach ohne Mühe Kirchenkantaten als Parodien von weltlichen Vorbildern ableiten konnte (»Weihnachts-Oratorium«).

Im folgenden werden alle Kantaten von J. S. Bach in der Reihenfolge der BWV-Nummern einzeln vorgestellt. Unentbehrliche Grundlage für diese Betrachtung waren die Standardwerke zweier Musikwissenschaftler, die sich gerade um die Kantaten Bachs, die Erforschung ihrer kompositorischen Grundprinzipien und ihrer Entstehungsumstände, verdient gemacht haben: Werner Neumanns systematisches »Handbuch der Kantaten J. S. Bachs«, erstmals erschienen 1947, und Alfred Dürrs Kompendium »Die Kantaten von Johann Sebastian Bach« (erstmals 1971). Sie bieten dem interessierten Leser alle zusätzlichen wissenschaftlichen Daten und Details, die den vorgegebenen Umfang des vorliegenden Musikführers gesprengt hätten, auch enthalten sie die zum Verständnis der Kompositionen unentbehrlichen Kantatentexte vollständig (Dürr). Im übrigen empfiehlt es sich, zum erweiterten Verständnis der geistlichen Kantatentexte die Epistel- und Evangelientexte der Aufführungssonn- und -feiertage heranzuziehen. Stellenangaben finden sich dazu ebenfalls bei Dürr.

Im folgenden werden einige Abkürzungen verwendet: B. c. = Basso continuo, C. f. = Cantus firmus; bei den Besetzungsangaben bedeuten die Kürzel S, A, T, B jeweils die Solostimmlagen Sopran, Alt, Tenor, Baß.

Bei den Besetzungsangaben werden immer nur die wechselnden Instrumente genannt, nur in Ausnahmen jedoch die regelmäßig eingesetzten Streicher (1. und 2. Violine, Viola und Basso continuo).

BWV 1

Wie schön leuchtet der Morgenstern

(Mariae Verkündigung)

Entstanden zum 25. März 1725. – Text: Choral von Philipp Nicolai, 1599 (Strophen 1 und 7 wörtlich; Umdichtung der Binnenstrophen von unbekanntem Autor). – Besetzung: 3 Soli (S, T, B), Chor; 2 Oboi da caccia, 2 Hörner, 2 Solo-Violinen.

Die sechssätzige Choralkantate verwendet alle sieben Strophen des zugrunde liegenden Liedes: die Strophen 1 und 7 textgetreu in den Rahmenchören, die übrigen in freien Umdichtungen für die je zwei Rezitative und Arien. Der Eröffnungschor (12/8) ist eine groß angelegte Choralbearbeitung mit Vor- und Nachspielen sowie unterschiedlich langen Zwischenspielen zwischen den einzelnen vokalen Choralabschnitten: Hier fällt jeweils dem Sopran der getragene C. f. zu, während die übrigen Chorstimmen das bewegte Motivspiel des Orchesters fortführen und es jeweils behutsam motivisch der aktuellen Textzeile anpassen. Charakteristisch ist das orchestrale Klanggewand mit seiner eher dunkel getönten Bläsergrundierung, über der sich die Sechzehntelketten der beiden konzertanten Violinen erheben.

Die beiden Rezitative (Nr. 2, 4) fallen Tenor und Baß zu; die erste Arie (Nr. 3, B-Dur) stellt dem Sopran eine solistische Oboe da caccia im polyphonen Wechselspiel gegenüber, während die Tenor-Arie (Nr. 5, F-Dur) vom sonoren Tuttiklang der Ripieno-Streicher begleitet wird. Bemerkenswert sind hier die sorgfältig vorgezeichneten Echoeffekte – offenkundiger Textbezug dieses so musikantisch mitreißenden Satzes ist der »Ton der Saiten«. Den abschließenden Choralsatz der letzten Strophe führt das als bewegte Gegenstimme eingesetzte zweite Horn an.

BWV 2

Ach Gott, vom Himmel sieh darein

(2. Sonntag nach Trinitatis)

Entstanden 1724. – Text: Choral von Martin Luther, 1524 (nach Ps. 12; Strophen 1 und 2 wörtlich; Umdichtung der übrigen Strophen von unbekanntem Autor). – Besetzung: 3 Soli (A, T, B), Chor; 2 Oboen, 4 Posaunen.

Sechsteilige Choralkantate mit zwei rahmenden Chorsätzen: Choralchor (g-Moll) zu Beginn in Form einer strengen Cantus-firmus-Motette. Der C. f. liegt im Alt, ist zeilenweise durchgeführt und jeweils als Fugato vorausimitiert in den übrigen Chorstimmen. Die Instrumente sind colla parte geführt. – Vierstimmiger schlichter Schlußchoral.

Das zweite der beiden Rezitative, für Baß mit Streichern (Nr. 4), hat einen ariosen Mittelteil. – Von den zwei Arien ist die erste, für Alt (Nr. 3, B-Dur), ein Triosatz mit Solo-Violine und fast ostinat motivgebundenem, häufig im Kanonbezug zu Stimme und Instrument einsetzendem B. c.:

Die Solo-Violine geht vom gleichen Motiv aus, in Triolen figurativ bewegt. Im Mittelteil des Vokalparts wird die Choralmelodie zitiert. Freie Dacapo-Form. Die zweite Arie (5. Satz), für Tenor (g-Moll), steht im oboenverstärkten Streichersatz, der in seiner ständig fast monoton aneinandergereihten Motivik wie ein rhythmisches Ostinato wirkt . Wieder Dacapo-Form; der Mittelteil überwiegend mit Continuobegleitung. Rückführung zur Reprise als Adagio.

BWV 3

Ach Gott, wie manches Herzeleid

(2. Sonntag nach Epiphanias)

Entstanden 1725. – Text: Choral von Martin Moller, 1587 (Strophen 1, 2, 18 wörtlich; Umdichtung weiterer Strophen eines unbekannten Autors). – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; 2 Oboi d’amore, Horn, Posaune.

Sechsteilige Choralkantate. Im eröffnenden Choralchor (A-Dur) liegt der C. f. im Baß (mit Posaune), getragen vom imitatorischen Gefüge der übrigen Stimmen und zeilenweise eingefügt in den selbständig durchlaufenden Instrumentalsatz. Die solistischen Oboen beschreiben zwei ausdrucksvoll klagende Melodielinien. Auffällig ist die ständig wiederkehrende motivische Anfangsfigur als Umspielung eines chromatischen Abwärtszuges, verwandt dem bekannten Lamento-Baß:

– Schlichter Schlußchoral.

Außer einem Secco-Rezitativ (Nr. 4, Tenor) enthält das Werk ein Rezitativ für alle Solostimmen (Nr. 2) im zeilenweisen Wechsel mit dem vierstimmigen Choralsatz, zu dem eine ostinate B. c.-Stimme erklingt, die sich motivisch auf den Anfang des C. f. bezieht. Zwei weitere Solonummern sind eine Arie für Baß (fis-Moll) in Dacapo-Form mit Ostinatoansätzen in der reinen Continuobegleitung und deutlichen Textbezügen in Chromatik (»Höllenangst und Pein«) und weiterführender Figuration der Singstimme (»rechte Freude«), ferner ein Duett zwischen Sopran und Alt (Nr. 5, E-Dur) als strenger Quartettsatz mit führender hoher Instrumentalstimme (Violinen mit Oboen), auf die der B. c. sich motivisch bezieht, ein Singstimmenduett in ausgeprägter imitatorischer Linearität, wieder in Dacapo-Form.

BWV 4

Christ lag in Todes Banden

(1. Osterfeiertag)

Entstanden vor 1714, aufgeführt 1724 und 1725. – Text: Choral von Martin Luther, 1524. – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; Zink (Cornettino), 3 Posaunen, geteilte Bratschen.

Möglicherweise handelt es sich hier um die erste überlieferte Bach-Kantate (neben BWV 131) und zudem um das früheste seiner Orchesterwerke. Die vorliegende Fassung (e-Moll) basiert auf den Stimmen für die späteren Leipziger Aufführungen, ist also möglicherweise mehr oder weniger überarbeitet. Die Form ist die der Choralvariation, wobei in allen acht Sätzen die Liedmelodie erklingt und nur mehr oder weniger, vor allem durch die Art der musikalischen Umgebung, variiert wird. Der Kantaten-Text besteht aus den unveränderten sieben Strophen des Chorals.

Die eröffnende, 14 Takte kurze Sinfonia (Nr. 1) für Streicher in der Art einer wohlklingenden venezianischen Ouvertüre zitiert die erste Choralzeile. Nr. 2 ist ein ausgedehnter Chorsatz, der sich zum abschließenden »Halleluja« ins Allabreve-Metrum steigert. Nr. 3 ist ein Duett von Sopran und Alt mit einem ostinaten Continuo-Baß mit kleinteiliger Motivik in eigenwillig bizarrer Oktavversetzung:

Der C. f. erklingt leicht verändert im Sopran. Nr. 4 vereint die beiden Violinstimmen zu einem bewegt figurierten Kontrapunkt, mit C. f. im Tenor; bemerkenswert ist hier die ausdrucksvolle Adagio-Verzögerung bei »Tods Gestalt«; und zum »Halleluja« am Schluß löst sich der Solo-Tenor auf einmal aus seiner C. f.-Ruhe und schwingt sich zu einer Jubelkoloratur auf. Nr. 5 fügt Sopran, Tenor und Baß zu einem dichten imitatorischen Satz und stellt ihnen im Alt den C. f. gegenüber. Nr. 6 wendet die Choralmelodie im Solo-Baß in eine leicht variierte ¾-Linie, die im Streichersatz alsbald zeilenweise imitiert wird. In Nr. 7 ahmen sich Sopran und Tenor jeweils zu Zeilenbeginn nach und schließen sich dann zu paralleler Triolenkoloratur zusammen. Nr. 8 ist abschließend ein vierstimmiger Choralsatz, der wie Nr. 2 vom Blechbläserquartett (Zink und 3 Posaunen) unterstützt wird.

BWV 5

Wo soll ich fliehen hin

(19. Sonntag nach Trinitatis)

Entstanden 1724. – Text: Choral von Johann Heermann, 1630 (1. und 11. Strophe wörtlich, Umdichtung der Binnenstrophen von unbekanntem Autor). – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; 2 Oboen, hohe Trompete (B), Solo-Viola.

Siebenteilige Choralkantate mit schlichtem Schlußchor und ausgedehnterem Choral-Chorsatz (g-Moll) zu Beginn: C. f. im Sopran, zeilenweise unterbrochen und getragen vom imitatorisch bewegten Chorsatz. Die Thematik des durchlaufenden eigenständigen Instrumentalsatzes ist vom Anfang der Choralmelodie abgeleitet:

Drei Rezitative (Nr. 2,4,6): neben zwei Secco-Rezitativen ein Choral-Rezitativ (Nr. 4), in das der C. f. instrumental von der Oboe eingefügt wird.

Zwei Arien in Dacapo-Form: die erste, für Tenor (Nr. 3, Es-Dur), als Triosatz mit konzertant bewegter Solo-Bratsche über einem ruhigeren B. c. mit charakteristischer Zweierphrasierung der Achtelbewegung und intervallisch gespreizt deklamierender Solo-Singstimme. Die zweite Arie, für Baß (B-Dur), mit konzertant geführter Solo-Trompete, weist deutlich textbezogene musikalische Elemente auf, etwa die ruhenden Akkorde bei »verstumme«, das »Höllenheer« in aufgeregter kleinteiliger Motivik.

BWV 6

Bleib bei uns, denn es will Abend werden

(Ostermontag)

Entstanden 1725. – Text: unbekannter Autor; Lk. 24,29; Choräle: »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ« nach Philipp Melanchthons »Vespera iam venit«, 1579; Strophe 2 des Chorals »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort«, 1542. – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; 2 Oboen, Oboe da caccia, Violoncello piccolo.

Sechsteilige Kantate. Die Rahmenteile des aufwendigen Anfangschoral-Chors (c-Moll) schreiten im Sarabandenschritt und mit eindringlich bittender Deklamatorik (»Bleib bei uns«) voran, sowohl in der Instrumental-Einleitung wie auch im durchbrochenen Chorsatz; die Reprise ist stark verkürzt. Mittelteil (Andante) als fugierter Chor, zunächst nur mit B. c.-Begleitung, dann mit weiteren hinzutretenden Instrumenten.

Als Nr. 3 (»Aria«) erklingt eine Choralbearbeitung für Sopran (Allegro, B-Dur), ein klassisch ausgewogener Triosatz: B. c. mit untergeordnetem Stützcharakter, C. f. im Sopran und mit motivisch figurativer, vom B. c. abgeleiteter Instrumentalstimme (Violoncello piccolo). Bekannt wurde die Bearbeitung als Schübler-Choral Nr. 5 (BWV 649).

Neben einem Secco-Rezitativ (Nr. 4) stehen zwei Arien: eine für Alt (Nr. 2, Es-Dur) als Triosatz mit tänzerisch ausschwingender, motivisch eng auf die Solo-Singstimme abgestimmter Solo-Oboe da caccia und unthematischem B. c. (pizzicato), eine zweite für Tenor (Nr. 5, g-Moll) im Streichersatz mit führender, triolisch bewegter 1. Violine, in zweiteiliger Formanlage; mit wortausdeutender Thematik (z. B. klingendes Kreuzsymbol):

Schlichter Schlußchor.

BWV 7

Christ unser Herr zum Jordan kam

(Johannistag)

Entstanden zum 24. Juni 1724. – Text: Choral von Martin Luther, 1541 (Strophen 1 und 7 wörtlich; Strophen 2 bis 6 Umdichtung eines unbekannten Autors). – Besetzung: 3 Soli (A, T, B), Chor; 2 Oboi d’amore, 2 Solo-Violinen.

Siebenteilige Choralkantate mit zwei rahmenden Chorsätzen. Nr. 1 ist eine ausgedehnte Choralbearbeitung (e-Moll) mit motivisch unabhängigem Orchestersatz, aus dem die Solo-Violine hervortritt; der C. f. liegt im Tenor. Die wiegende Dreiklangsbrechung im Instrumental-Baß wird gern als Wellenmotiv (»Jordan«) gedeutet, doch auch die Sechzehntelfiguren der konzertierenden Violine sind so erklärbar.

In Nr. 2, einer Baß-Arie (G-Dur) über sehr charakteristischem Generalbaß, glaubt man die »Sturzbäche« des Taufwassers zu hören:

Nach dem Tenor-Rezitativ (Nr. 3) folgt eine Tenor-Arie (a-Moll) voll hintergründiger Textausdeutung, begleitet von den beiden Solo-Violinen; die Form ist dreiteilig mit ausgedehntem Vor- und Nachspiel. Nr. 5 ist ein Accompagnato (Baß, Streicher), das beim Taufauftrag (»Geht hin in alle Welt...«) zur Andeutung eines Ariosos wird. Die nächste Arie, Nr. 6, stellt dem Solo-Alt die an die Orchestergeigen gekoppelte Oboe d’amore gegenüber, wobei Zeile für Zeile Gesang und Instrument alternieren, nur zu den Worten »Glaub’ und Taufe macht sie rein« vereinigen sie sich. Ein Vorspiel fehlt, statt dessen gibt es ein Nachspiel. – Nr. 7 ist ein vierstimmiger Choralsatz.

BWV 8

Liebster Gott, wenn werd ich sterben?

(16. Sonntag nach Trinitatis)

Erstaufführung am 24. September 1724. – Text: Choral von Caspar Neumann, vor 1697 (Strophen 1 und 5 wörtlich; übrige Strophen Umdichtung eines unbekannten Autors). – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; Querflöte, 2 Oboi d’amore oder da caccia; spätere Fassung von 1740 mit 2 Solo-Violinen, Horn.

Sechsteilige Choralkantate, in späterer Fassung (1740er Jahre) von E-Dur nach D-Dur transponiert. Den Schluß bildet ein schlichter Choralsatz, mit hornverstärktem C. f. im Sopran, den Beginn ein eindrucksvoll die Todesstunde beschwörender Choral-Chorsatz mit koloriertem C. f. im Sopran und konzertant geführtem Oboenpaar, pizzicato von den Streichern begleitet; die Tonrepetitionen der Flöte sind das Klangsymbol des Totenglöckchens. Von den beiden Rezitativen (Alt; Sopran) ist das erste (Nr. 3) von Streichern begleitet. Nr. 2 ist eine zweiteilige Arie für Tenor (cis-Moll) als Fortführung der in Nr. 1 ausgemalten Todesfurcht:

mit expressiver Melodik, korrespondierend zur solistischen Oboe d’amore; Continuo pizzicato. – Dacapo-Form hat die Nr. 4, eine Arie für Baß (A-Dur) mit solistisch bewegter Querflöte, im eher fröhlichen Charakter einer Gigue.

BWV 9

Es ist das Heil uns kommen her

(6. Sonntag nach Trinitatis)

Entstanden um 1732–35. – Text: Choral von Paul Speratus, 1523 (Strophen 1 und 12 im Wortlaut; Umdichtung anderer Strophen von unbekanntem Autor). – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; Querflöte, Oboe d’amore, Solo-Violine.

Siebenteilige Choralkantate mit schlichtem Schlußchoral und einem eröffnenden Choral-Chorsatz (Nr. 1, E-Dur), in den die Choralmelodie zeilenweise eingefügt ist; der C. f. liegt im Sopran, die imitatorisch lebhaften Unterstimmen stehen in enger Verwandtschaft zum Instrumentalsatz. Konzertante Elemente enthält der Part der beiden solistischen Blasinstrumente (Querflöte, Oboe d’amore) sowie der sich ihnen immer wieder anschließenden 1. Violine.

Von den drei Seccorezitativen (Nr. 2, 4, 6) weist das der Nr. 4 (Baß) einen ariosen Schluß auf: im B. c. findet sich eine über fast zwei Oktaven hinabsteigende Treppentonleiter (»fest um Jesu Arme schlingt«). Nr. 3 ist eine Arie für Tenor (e-Moll), ein Triosatz in freier Dacapo-Form, im Charakter einer flinken Gigue, mit auffälligen synkopisch hemmenden Überbindungen (deutlicher Wortbezug: »zu tief gesunken, der Abgrund ...«); Solo-Violine und Singstimme stehen in enger motivisch-imitatorischer Abstimmung über untergeordnetem Generalbaß. Nr. 5, ein Duett für Sopran und Alt (A-Dur), ist ein strenger und dennoch konzertant gelöst klingender Quintettsatz mit dichter kanonischer Instrumentalimitation der beiden Solo-Bläser und mit ebenso eng verzahntem Stimmenduett; es hat Dacapo-Form. Sein Mittelteil ist zurückgenommen in der kontrapunktischen Intensität zugunsten größerer Parallelität zwischen Stimmen und Instrumenten.

BWV 10

Meine Seel erhebt den Herren

(Mariae Heimsuchung, 2. Juli)

Entstanden zum 2. Juli 1724. – Text: Lobgesang Mariä (nach Lk. 1,46–55), teils wörtlich (Nr. 1, 5, 7), teils Umdichtung eines unbekannten Autors. – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; 2 Oboen, Trompete.

Dieser siebenteiligen Choralkantate liegt der deutsche Text des »Magnificat« (vgl. den Text S. 299 und BWV 243), Teil der traditionellen Vesperliturgie, zugrunde sowie die gregorianische Melodie des 9. Psalmtons. Am Beginn steht ein Choral-Chorsatz (Vivace, g-Moll) im konzertant-lebhaften Instrumentalgewand, der C. f. in Vers 1 im Sopran, in Vers 2 im Alt als transponierte Wiederholung auf der Subdominante im Stimmentausch, mit jeweils auf den instrumentalen Rahmen bezogenen Begleitstimmen. Codaartig der Abschluß dieses 1. Satzes der Kantate im freien motettischen Chorsatz.

Zwei Secco-Rezitative für Tenor bilden die Nr. 3 und 6: zunächst eines mit markanten Wortausdeutungen (»Gewalt«; »wie Spreu zerstreun« am Schluß als Triolenkoloratur); das zweite geht in ein streicherbegleitetes Arioso über, mit textausdeutender, weit ausschwingender akkordischer Begleitung (»wie Sand am Meer und Stern am Firmament«).

Nr. 5, eine Choralbearbeitung als Duett für Alt und Tenor (»Er denket der Barmherzigkeit«, d-Moll), ist ein kurzer konzentrierter Quartettsatz zweier kanonisch geführter (Mittel-)Stimmen über einem angepaßten B. c. und farblich markant davon abgesetztem C. f. (Oboen und Trompete, eventuell alternativ?). Eingeleitet und abgeschlossen wird der Satz durch ein Continuo-Ritornell (Bearbeitung als Schübler-Choral Nr. 4, BWV 648).

Von den beiden Arien ist Nr. 2, für Sopran (B-Dur), im Streichersatz mit Oboen als zusätzlicher Klangfarbe wie ein lebhafter Konzertsatz angelegt, in textbezogener energischer, diatonischer Thematik; der Mittelteil der Dacapo-Form klingt deutlich zurückgenommen und endet als reiner Continuosatz. Nr. 4, eine Arie für Baß (F-Dur), ist ein Continuosatz mit charakteristischer repetierender Ostinato-Thematik, die alsbald beim Einsatz der Solostimme vokal umgeformt wird:

Schlichter vierstimmiger Choral zum Kantaten-Ende.

BWV 11/249b

Lobet Gott in seinen Reichen

(Himmelfahrts-Oratorium)

Entstanden 1735(?) – Text: unbekannter Autor (Picander?); Lk. 24,50–52, Mk. 16,19, Apg. 1,9–12; Choräle: 4. Strophe des Chorals »Du Lebensfürst« von Johann Rist, 1641; 7. Strophe des Chorals »Gott fähret auf gen Himmel« von Gottfried Wilhelm Sacer, 1697. – Besetzung: 4 Soli (S, A, T, B), Chor; 2 Querflöten, 2 Oboen, 3 Trompeten, Pauken.

Elfsätzige Kantate in zwei Teilen: erster Teil (Nr. 1–6) vor der Predigt, zweiter Teil nach der Predigt; Bezeichnung »Oratorium« vom Komponisten.