Der
überaus starke
Willibald
Mit Illustrationen von
Werner Blaebst
Auswahlliste zum
Deutschen Jugendliteraturpreis
Ehrenliste zum
Österreichischen Staatspreis
für Kinderliteratur
Informationen zu Unterrichtsmaterialien
unter www.arena-klassenlektuere.de
1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2014
© 1983 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag- und Innenillustrationen: Werner Bleabst
Umschlaggestaltung und -typografie: knaus. büro für
konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80404-0
www.arena-verlag.de
1
n einem großen grauen Haus lebte eine muntere Mäuseschar. Nachts, wenn die Lampen gelöscht waren und die Menschenriesen schliefen, kamen die Mäuse aus ihren Mäuselöchern hervor.
Sie fiepten fröhlich, stellten die Schnurrbarthaare breit nach beiden Seiten und tollten durch die Räume. In der Küche suchten sie nach Resten. Im Esszimmer fanden sie unter dem Tisch Krumen. Im Wohnzimmer spürten sie hin und wieder eine Erdnuss auf oder naschten Schokolade und Pralinen, die die Menschenriesen auf dem Tisch liegen gelassen hatten.
Ein Schlaraffenland für die Mäuse war die reich gefüllte Speisekammer. Wenn die Tür nicht fest verschlossen war, dann drängten sich alle durch den Türspalt hinein. Dort knabberten sie an der Käserinde, schleckten gelbe Butter, nagten an der Hartwurst, leckten an der süßen Aprikosenmarmelade und fraßen fetten Speck. Waren sie rundum satt, dann strichen sie sich den Bart und putzten sich zufrieden das spitze Schnäuzchen.
So köstlich die Speisen in der Vorratskammer auch waren, so wurden sie doch übertroffen von den Herrlichkeiten im Mäusehimmel. Hoch oben in der Küche, wohl zwanzig Mäusesprünge höher als die Küchenlampe, hingen an einer Stange duftende Würste und sogar zwei geräucherte Schinken. Aber diesen Himmel vermochten die Mäuse nur zu schauen und zu riechen. Die Küchenwände waren glatt gekachelt.
Keine Maus hätte aus eigener Kraft zum Mäusehimmel emporklimmen können.
Die Urmutter des Rudels, die Mäusesandra, hatte es einmal ernsthaft versucht. Es war ihr schlecht bekommen.
Sie war aus halber Höhe abgerutscht und hart auf dem Steinboden aufgeschlagen.
Gelegentlich liefen die Mäuse auch in den größten Raum des Hauses. Dort standen viele, viele Bücher in hohen Regalen. Dicke Bücher gab es und dünne, schwere Bände mit ledernen Buchrücken und leichte Bücherheftchen mit einem Einband aus dünnem Karton; Bücher mit bunten Bildern standen neben solchen, in denen sich nur schwarze, ernste Buchstaben in langen Zeilen reihten.
Diese Bibliothek war der Tummelplatz der Mäuse. Zu fressen fanden sie hier allerdings nur selten etwas. Aber sie konnten über die Regale rennen, sich hinter Bücherreihen verstecken, von Bücherstapeln springen, auf Büchertürme klettern und über schräg stehende Bücher hinunterrutschen.
Das größte Vergnügen für die Mäuse war eine Weltreise rund um den Globus.
Dieses ziemlich große Modell der Erdkugel stand mitten in der Bibliothek.
Seine Achse wurde von einem kunstvoll geschnitzten hölzernen Gestell gehalten.
Wenn eine Maus von dem Holzständer auf den Globus kletterte, dann begann der, sich allmählich um sich selbst zu drehen. Die Maus musste laufen, wenn sie nicht von dem Erdball hinunterrutschen wollte. Der Globus drehte sich dann immer schneller.
Die Maus aber lief und lief und kam doch nicht vorwärts. Mit flinken Beinen tippelte sie über China und Japan hinweg und überquerte den riesigen Stillen Ozean in weniger als drei Sekunden. Amerika glitt unter ihr dahin und der Atlantische Ozean, schließlich Portugal, Spanien, das Mittelmeer, Italien und Griechenland. Die Türkei und ein Zipfel von Russland wurden von ein paar Mäuseschritten berührt und dann ging es wieder von vorn los:
China, Japan, der riesige Stille Ozean … Irgendwann ging auch der kräftigsten Maus die Puste aus. Der überaus starke Mäuserich Willibald, der einen besonders langen Mauseschwanz hatte, schaffte es, zweiunddreißig Mal die Erde zu umrunden. Dann aber rutschte selbst dieser Mäusekraftprotz über Afrika hinweg vom Globus hinab und landete erschöpft auf dem weichen Teppich.
So lebten die Mäuse in dem großen grauen Haus, fraßen, spielten und machten vieles gemeinsam. Eines Nachts gab es einen heftigen Streit. Die Mäuse waren aus der Küche ins Wohnzimmer gelaufen. Nur Lillimaus trödelte noch in der Nähe des Kochherdes herum, blickte sehnsüchtig zum Mäusehimmel empor und versuchte, eine Nase voll Räucherduft einzufangen. Aber da war doch irgendetwas anders als sonst?
Es roch so eigenartig nach Grün und Gras. Lillimaus schnupperte und versuchte herauszuriechen, woher dieser Geruch kam.
Die Fensterklappe im Küchenfenster, die sich nur nach außen hin aufdrücken ließ, war verriegelt. Lillimaus näherte sich der Tür. Die führte von der Küche in den Garten hinaus. Erst als sie schon ganz dicht davorstand, da sah sie, dass die Tür zum Garten nicht fest geschlossen war.
Ein Schrecken durchfuhr sie heiß von der Schwanzspitze bis in die Schnurrbarthaare. Für eine Hausmaus ist nämlich der Garten eine höchst gefährliche Gegend. Furchtbare Geschichten von scharfkralligen Eulen und stacheligen Igeln schossen ihr durch den Kopf. Sie sprang vor Entsetzen fünf Zentimeter hoch und raste in das Wohnzimmer. Laut schrie sie: »Die Tür!
Die Küchentür! Die Tür zum Garten!«
»Was ist mit der Gartentür?«, fragte ängstlich die Mausemimi.
»Sie steht offen«, stieß Lillimaus hervor. Für einen Augenblick erstarrten alle Mäuse vor Schreck. Dann aber rannte das Mäuserudel wild durcheinander, hetzte zu den Mäuselöchern und hatte sich schließlich verkrochen, lange bevor die Uhr im Wohnzimmer sieben schlug und das Morgenrot heraufzog.
Am nächsten Abend machte sich der Mausephilipp auf. Der war mutig genug und wollte nachsehen, ob die Menschenköchin wieder vergessen hatte, die Tür zum Garten hin zu schließen. Er schlich aus dem Mauseloch ins Wohnzimmer hinaus. Durch den schmalen Spalt zwischen Schrank und Wand drängte er sich hindurch und tastete sich vorsichtig bis in die Küche.
Er reckte die Nase hoch in die Luft und schnüffelte, aber er roch nichts von Blatt und Baum. Er sah, dass es mit der Gartentür und dem Klappenfenster diesmal seine Ordnung hatte.
»Kommt ruhig heraus. Heute ist alles sicher«, meldete er.
»Das darf uns nicht noch einmal passieren«, rief der Mausegeorg und atmete erleichtert auf. »Wir wollen beraten, was geschehen soll.«
Den Mausegeorg hatte das Rudel zum Präsidenten gewählt. Er sorgte dafür, dass jede Maus bei den Beratungen zu Wort kam. Wenn alle ihre Meinung gesagt hatten, dann wurde abgestimmt. Wer für einen Vorschlag war, der reckte seinen Mauseschwanz hoch, wer dagegen war, der legte seinen Mauseschwanz platt auf die Erde.
Der Mausegeorg war klug. Er konnte alle Zahlen bis neunundneunzig. Das reichte immer, wenn die Stimmen ausgezählt werden mussten. Die anderen Mäuse waren auch nicht dumm. Sie konnten wenigstens bis sieben zählen. Das war wichtig. Wenn nämlich die große Uhr im Wohnzimmer siebenmal schlug, mussten alle geschwind in die Mäuselöcher, denn dann dauerte es nicht mehr lange, bis die Menschenköchin erschien.
2
n dieser Nacht nun, als der Präsident gerade zur großen Beratung gerufen hatte, da verbreitete Mausehugo eine fürchterliche Neuigkeit.
»Denkt euch nur«, sagte er und riss die Augen weit auf, »eine große, getigerte Katz soll um das Haus herumschleichen.«
»Gefährlich, gefährlich«, jammerte Mausikarin. »Mein Großvater hat erzählt, dass sein Großvater von einer Katz erwischt worden ist. Er soll gerade auf der Fensterbank gesessen und den Vollmond angesungen haben.«
»Was hat die Katz denn gemacht mit dem Großvater von deinem Großvater?«, fragte die Mausemimi und ihr blieb vor lauter Angst fast die Stimme weg.
»Sie hat den armen Mausemann mit Haut und Haar …«, hier verstummte die Mausikarin. »Aufgefressen«, wollte sie nicht aussprechen. Ihr lief auch ohnedies ein Schauer über den Pelz.
»Lasst die alten Geschichten«, tadelte der schlaue Mäusejosef die Mausefrauen.
»Überlegt lieber, was wir anfangen wollen, wenn die große, getigerte Katz plötzlich in unser Haus eindringt!«
»Wir werden gründlich beraten und dann abstimmen«, schlug der Mäusepräsident vor. »Ich zähle die Stimmen aus und dann …«
»Lange Beratungen. Natürlich …«, unterbrach ihn die dicke Hermannmaus.
»Anderes fällt dem Herrn Präsidenten nicht ein. Lange Beratungen wären unser schnelles Ende.«
Der schlaue Mäusejosef nickte heftig mit dem Kopf und fuhr fort:
»Ein Präsident lässt reden und reden und abstimmen und abstimmen. Dann zählt er und zählt er, und wenn er endlich fertig ist, dann hat die Katz uns längst gekrallt.«
»Ins Loch müssen wir fliehen«, sagte Lillimaus. »Im Loch sind wir sicher.«
»Ja, ja«, stimmte Mausefriederike zu.
»Meine Freundin Lillimaus hat recht. In unserem Loch sind wir vor jeder Katz sicher und können in Ruhe beraten.«
»Lillimaus soll schweigen«, brüllte der überaus starke Willibald. »Schweigen soll sie! Wer weiß, vielleicht haben wir den ganzen Schrecken nur ihr zu verdanken. Sie hat gesehen, dass die Tür zum Garten nicht geschlossen war. Wie kommt es, dass wir das nicht auch gesehen haben? Wir waren doch alle in der Küche!«
Als die Mäuse verdutzt schwiegen, fuhr Willibald fort: »Ich will es euch sagen.
Ich nehme an, dass Lillimaus selbst die Tür geöffnet hat.«
»Warum sollte Lillimaus das tun?«, fragte Karlemaus ungläubig.
»Weil sie keinen anständigen grauen Pelz hat. Weil sie weiß ist, weiß wie die Kacheln in der Küche. Weil sie hässliche rote Augen hat«, sagte Willibald gehässig. »Sie gehört gar nicht zu unserem Rudel. Vielleicht hat gerade sie die große, getigerte Katz angelockt. Eine weiße Maus, das weiß doch jedes Mausekind, die kann man schon von ferne erkennen. Anständige graue Mäuse dagegen fallen nicht auf. Lillimaus ist eine Gefahr für uns alle!«
Eines stimmte: Bis auf Lillimaus waren alle Mäuse grau.
Einige hatten, bei Licht besehen, einen bräunlichen Schimmer. Nur Lillimaus war schneeweiß und hatte rubinrote Augen. »Lillimaus ist ein Albino«, wollte der Mäusepräsident erklären, aber der überaus starke Willibald blickte ihn drohend an und streckte seinen kräftigen, langen Mauseschwanz angriffslustig in die Luft. Da bekam der Mausepräsident Angst und das Wort blieb ihm im Halse stecken. Er murmelte sehr leise vor sich hin: »Ein Albino hat keinen Farbstoff in Haar und Haut. Das ist alles.« Aber mehr sagte er nicht.
»Lillimaus soll den Mund halten«, keifte Mausikarin. »Sie ist keine von uns. Den Mund halten soll sie. Mit einem Präsidenten dauert alles viel zu lange. Er schwätzt und schwätzt. Jeder will sich wichtig tun.«