Harriet
Versehentlich berühmt
Ein Kolibri auf dem Catwalk
Aus dem Englischen
von Elvira Willems
Holly Smale
war als Jugendliche ziemlich unbeholfen,
ein bisschen streberhaft und schüchtern und versteckte sich
während eines Großteils ihrer Teenagerjahre in der Schultoilette.
Mit 15 wurde sie völlig überraschend von einer Londoner
Topmodel-Agentur entdeckt und verbrachte die nächsten zwei Jahre
damit, über Laufstege zu stolpern, knallrot anzulaufen und
teure Dinge zu ruinieren, die sie nicht ersetzen konnte.
Sie studierte englische Literatur an der Bristol University,
gab das Modeln auf und entschloss sich, Schriftstellerin zu werden.
Harriet. Versehentlich berühmt ist ihr erstes großes Buchprojekt.
Für meine Schwester Tara.
In ruhigen wie in stürmischen Tagen.
1. Auflage 2014
Text © Holly Smale
© für die deutsche Ausgabe:Arena Verlag GmbH, Würzburg 2014
Umschlag: Frauke Schneider
Zuerst erschienen unter dem Titel »Geek Girl. Model Misfit«
bei Harper Collins Children’s Books, London 2013
Alle Rechte vorbehalten
Layout und Satz: tiff.any GmbH, Berlin
ISBN 978-3-401-80391-3
www.arena-verlag.de
Cool <Adjektiv> Jugendsprache, Umgangssprache
Herkunft: vom englischen Adjektiv cool für kühl
Im Deutschen in zwei Bedeutungen:
1. leidenschaftslos, nüchtern-sachlich, kühl, sich nicht aus der Fassung bringen lassend
2. sehr gut, hervorragend, der Idealvorstellung entsprechend Synonyme:
zu 1.lässig, leger, ausgeglichen, ruhig,überlegen, kaltschnäuzig, kaltblütig, unverfroren, abgeklärt, gelassen; (gehoben) souverän; (bildungssprachlich) stoisch.
zu 2. ausgezeichnet, erstklassig, brillant, vorzüglich, tadellos; (umgangssprachlich) super, toll, prima, sauber, pfundig, bombig, famos, spitze, klasse; (salopp) geil, krass, heiß, scharf, astrein, stark.
1
Ich heiße Harriet Manners und ich bin Model.
Dass ich Model bin, weiß ich, weil:
1. Es ist Montagmorgen und ich trage ein goldenes Tutu, eine goldene Jacke, goldene Ballettschuhe und goldene Ohrringe. Mein Gesicht ist golden geschminkt und um den Kopf hat man mir ein langes Stück Golddraht gewickelt. Normalerweise kleide ich mich montags nicht so.
2. Ich habe einen Bodyguard. Die Ohrringe sind so teuer, dass ich nicht auf die Toilette darf, ohne dass ein großer Mann anschließend meine Ohrläppchen kontrolliert, um sicherzugehen, dass ich die Dinger nicht aus Versehen runtergespült habe.
3. Ich durfte die letzten zwei Stunden nicht lächeln.
4. Wenn ich in einen Donut beiße, um bei Kräften zu bleiben, schnappen jedes Mal alle nach Luft, als hätte ich mich gerade gebückt und flink den Fußboden abgeleckt.
5. Eine riesige Kamera ist auf mein Gesicht gerichtet und der Mann dahinter sagt dauernd: »He, Model«, und schnippt mit den Fingern.
Es gibt noch mehr Indizien – ich ziehe einen kleinen Flunsch und mache wie ein Roboter alle zwei Sekunden winzige Bewegungen –, aber die sind nicht unbedingt beweiskräftig. So tanzt mein Vater nämlich auch, wenn im Fernsehen eine Autowerbung läuft.
Na egal, hier ist noch ein letzter Grund, warum ich weiß, dass ich Model bin:
6. Ich habe mich in ein anmutiges, elegantes und stilvolles Geschöpf verwandelt.
Man könnte auch sagen, dass ich erwachsen geworden bin, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Ich habe mich entwickelt. Bin aufgeblüht.
Also, nicht wörtlich. Ich habe noch genau dieselbe Größe und Gestalt wie vor sechs Monaten und die sechs Monate davor. Was weibliche Kurven angeht, so ist inzwischen klar, dass die Pubertät mich als Letzte auswählt – genau wie in der Schule, wenn beim Netzball die Mannschaften ausgewählt werden.
Nein, das war metaphorisch gesprochen. Eines Tages wurde ich wach und KRAWUMM, da waren Mode und ich die dicksten Freundinnen. Ab da haben wir zusammengearbeitet und einander geholfen. Genau wie das Krokodil und der kleine ägyptische Krokodilwächter-Vogel, der dem Krokodil ins Maul klettert, um ihm Fleischstückchen aus den Zähnen zu picken. Natürlich viel glamouröser und bei Weitem nicht so unhygienisch.
Ich will ganz ehrlich mit euch sein: Mode hat mich verändert. Die Uncoole gibt es nicht mehr, an ihrer Stelle steht jetzt jemand Glamouröses. Beliebtes. Cooles.
Eine ganz neue Harriet Manners.
2
Wie dem auch sei. Das wirklich Tolle daran, völlig mit der Modewelt synergetisiert zu sein, ist, dass die Shootings absolut reibungslos und konzentriert ablaufen.
»Gut«, sagt Aiden, der Fotograf, » was denken wir, Model?«
(Seht ihr, was ich meine? Was denken wir: Mode und ich teilen uns im Grunde ein Gehirn.)
»Wir denken geheimnisvoll«, sage ich. »Wir denken rätselhaft. Wir denken unergründlich.«
»Und warum denken wir das?«
»Weil es so auf der Seite der Parfümschachtel steht.«
»Genau. Ich denke an Garbo und Grable, Hepburn und Hayworth, Bacall und Bardot, aber wahrscheinlich ist es das Beste, wenn du an Reality-Show-Kandidaten denkst und das Gegenteil tust.«
»Alles klar«, sage ich, verändere leicht meine Position auf dem Boden und drehe einen Fuß so, dass die Fußsohle zu mir zeigt. Dann beuge ich mich elegant zu ihm hin.
Geheimnisvoll.
Ich fasse den Jackenzipfel und hebe ihn ein wenig an, wie einen Schmetterlingsflügel, und neige den Kopf nach unten.
Rätselhaft.
Schließlich drücke ich den Rücken durch und strecke den Arm so aus, dass ich in meine Armbeuge blicke.
Unergründlich.
»Ich hab’s.« Aiden schaut von der Kamera auf. »Model, Yuka Ito hatte recht. Du nimmst wirklich ein paar seltsame Posen ein, aber es funktioniert. Sehr kantig. Topmodisch.«
Was habe ich euch gesagt? Mode und ich: Ich klettere in ihr Maul und wieder heraus und sie versucht gar nicht mal mehr, mich zu fressen.
»Und jetzt zeig mit dem Ellbogen auf mich.« Der Fotograf hockt sich hin, dreht an der Blende und blickt wieder auf. »Zur Kamera.«
Sugar Cookies.
»Also«, sage ich, ohne mich zu bewegen, »geheimnisvoll, rätselhaft, unergründlich. Das ist eine Tautologie. Yuka könnte ganz schön viel Platz auf der Schachtel sparen, wenn sie nur einen Begriff wählen würde.«
»Beweg einfach nur den Arm.«
»Ähm, hat sie mal so was wie ›Da biste baff, was?‹ in Betracht gezogen?«
Aiden kneift sich mit den Fingern in die Nasenwurzel. »Gut. Wie wär’s, wenn du mir die Unterseite des Schuhs zeigst? Wir sollten versuchen, die kontrastierende Sohle ins Bild zu kriegen.«
Ich räuspere mich, mein Gehirn fängt an zu rattern. »Ähm … aber was ist mit Saudi-Arabien, China und Thailand? In diesen Kulturkreisen gilt es als unhöflich, die Schuhsohlen zu zeigen …« In blinder Panik sehe ich mich im Raum um. »Wir wollen doch nicht das Risiko eingehen, die Menschen dort zu brüskieren, oder?« In einer ausholenden, überzeugenden Geste fahre ich mit dem Arm durch die Luft.
Da erregt irgendetwas an meinem Ärmel Aidens Aufmerksamkeit.
O nein. Nein, nein, nein.
»Was ist das?«, fragt er, erhebt sich und kommt herüber. Ich will aufstehen, doch meine Füße haben sich in dem riesigen Tutu verheddert. Der Fotograf packt meinen Arm und pellt auf Höhe der Armbeuge einen winzigen goldenen Klebezettel von der Innenseite meines Jackenärmels. »Was ist das?«
»Hä?«, antworte ich, schlucke und mache gaaaanz runde Augen.
Aiden beäugt das Zettelchen. »F = ma?«, liest er langsam. Dann zieht er noch drei weitere aus dem Futter der Jacke. »U = RI?T = ½mv2?G = mg?«
Bevor ich mich rühren kann, zieht er mir den Schuh vom Fuß, dreht ihn um und pellt einen Klebezettel vom Absatz. Dann pellt er einen von meiner Armbeuge und vier aus den inneren Falten des Tutus.
Er blickt auf die Sticker und blinzelt zweimal, während ich zu Boden starre und mich so klein mache wie nur menschenmöglich. »Harriet«, sagt er langsam und ungläubig. »Harriet Manners, paukst du etwa mitten bei einem Shooting Mathe?«
Ich schüttele den Kopf und blicke in die Luft hinter dem linken Ohr des Fotografen. Wisst ihr noch, das Krokodil und der Vogel? Ich glaube, einer von uns wird gleich gefressen.
»Nein«, antworte ich leise. Denn a) ist es Physik und b) pauke ich die ganze Zeit.
3
Okay, na gut, ich hab’s mit der Wahrheit nicht ganz genau genommen.
Oder, wisst ihr, ganz schön ungenau.
Ich habe mich nicht verändert. Ja, eigentlich bin ich noch viel uncooler als früher, denn
1. in der grauen Masse in meinem Gehirn entwickeln sich immer noch jeden Tag neue Verbindungen,
2. ich weiß noch mehr Fakten als früher,
3. die Prüfungen gehen bald zu Ende und das bedeutet, dass mein Gehirn im Augenblick auf Hochtouren läuft.
Ich bin auch weder anmutig noch elegant noch modisch, aber das habt ihr euch sicher schon gedacht.
»Unglaublich«, murmelt Aiden und klickt die Fotos durch, während ich auf der anderen Seite des Raums hinter einem Vorhang verschwinde, um in meine Schuluniform zu schlüpfen.
»Es tut mir schrecklich leid, Mr Thomas«, rufe ich. »Ich wollte Ihnen und dem Kroko… ähm … der Modeindustrie gegenüber auf keinen Fall respektlos sein. Haben Sie ein paar gute Aufnahmen bekommen?«
»Darum geht es nicht. Weißt du, wie viele andere Models sich um diesen Job reißen würden?«
Allerdings. Als ich das letzte Mal bei Infinity Models war, haben zwei andere Models mich in einem Schrank eingeschlossen, damit ich ein richtig großes Casting verpasse. Ich musste warten, bis die Putzfrau zufällig vorbeikam und mich rausließ.
»Es tut mir leid, aber heute ist der letzte Tag der GCSE-Prüfungen«, erkläre ich ihm, während ich mich aus dem riesigen Tutu schäle und dabei mit dem Ellbogen gegen die Wand knalle, dass es wehtut. »Um zwei Uhr heute Mittag wird das britische Schulsystem darüber befinden, ob ich je die Gelegenheit bekomme, eine preisgekrönte Physikerin zu werden. Der heutige Tag entscheidet über meine ganze Zukunft.«
Ich ziehe den Schulpullover über, der sich prompt in dem Golddraht verfängt, der immer noch um meinen Kopf gewickelt ist. Es herrscht Schweigen, während ich mit dem Pullover über dem Gesicht in der »Umkleidekabine« herumhüpfe und die Arme über dem Kopf durch die Luft wedele wie manische Hasenohren.
»Hm«, pflichtet Aiden mir bei, während er immer noch durch die Fotos klickt.»Du bist definitiv ein Genie, das auf den Nobelpreis zusteuert.«
»Bei GCSE-Physik geht es nicht im buchstäblichen Sinne um räumliches Bewusstsein«, schnaufe ich, umklammere blind meinen Kopf und knalle im selben Moment mit dem Knie an die Wand. »Es geht um den Begriff von räumlichem Bewusstsein. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.«
Was ein Glück ist, denn wie es scheint, hat sich der Draht auf meinem Kopf in allem im Umkreis von zwei Metern verheddert. Ich habe einen detaillierten »Komm pünktlich zur Schule«-Plan in meiner Schultasche und da steht nirgends: »Befrei dich von einem Gardinenring.«
»Es ist okay, Harriet«, rede ich mir gut zu und drehe mich hilflos in kleinen Kreisen. »Du brauchst eine Stunde und elf Minuten, um mit dem Zug zur Schule zu kommen. Oder eine Stunde und 16 Minuten mit dem Taxi. Du hast noch ewig viel Zeit.«
»Ähm … du weißt aber, dass die Uhr an der Wand dahinten nachgeht. Oder?«
Abrupt höre ich auf zu kreisen.
O Gott. O GOTT. Ich wusste, dass sie uns nicht ohne Grund im Religionsunterricht etwas über Karma erzählt haben.
»Nein«, kreische ich, reiße mich von dem Draht los – auf Kosten von ein paar Haaren, einem Kratzer auf der Wange, einem Gardinenring und einer halben Schuluniform. »Wie viel?«
»Eine Stunde«, sagte Aiden.
Damit ist – einfach so – nicht nur mein »Komm pünktlich zur Schule«-Plan futsch, sondern der Rest meines Lebens gleich mit.
4
Das ist mal wieder typisch.
Exakt an dem Tag, an dem mein Vater sich nicht beim Fotoshooting irgendwo im Hintergrund herumdrückt und versucht, »ein bisschen Leben in die Bude zu bringen«, indem er Teile von Schaufensterpuppen stiehlt und so tut, als hätte er drei Arme und vier Beine, könnte ich ihn wirklich gut brauchen.
Doch Dad ist bei einem Vorstellungsgespräch und ich habe jetzt keine 50 Minuten mehr, um an einen Ort zu kommen, der über eine Stunde weit weg ist.
Wie der Taxifahrer fröhlich betont, nachdem ich hinten eingestiegen bin und ihn angefleht habe, sich zu beeilen: »Ich kann nur so schnell fahren, als der Verkehr es erlaubt, Goldlöckchen. Ich bin Teil des Verkehrs, oder?«
Was ich wahrscheinlich als treffend formulierte universelle Wahrheit betrachten würde, wäre ich nicht damit beschäftigt, mich so leicht wie möglich zu machen in der Hoffnung, das verringerte Gewicht könnte dazu beitragen, dass das Auto schneller beschleunigt.
Und natürlich damit, seine Grammatik zu korrigieren.
Mehr kann ich nicht tun. Dank der Gesetze der Physik – und der Ironie – gehört zu den Faktoren, die darüber bestimmen, wie schnell ich zu meiner Prüfung komme, weder a) weinen noch b) hyperventilieren noch c) unablässig »Sugar Cookies« wiederholen, bis der Taxifahrer die Trennscheibe schließt und den Schalter umlegt, damit er mich nicht mehr hören muss.
Also kann ich die verbleibende Zeit auch konstruktiv nutzen, um euch zu erzählen, was die letzten sechs Monate so los war.
Hier eine kurze Zusammenfassung:
1. Ich bin noch unbeliebter als früher. Uncool + Model = eine ganz neue Serie von Kritzeleien auf meinen Sachen.
2. Ich gebe mir Mühe, deswegen nicht mehr so oft zu weinen. Jeder Mensch vergießt im Laufe seines Lebens durchschnittlich 121 Liter Tränen und ich kann es mir nicht erlauben, schon auszutrocknen, bevor ich die zwölfte Klasse erreicht habe.
3. Mein Vater ist immer noch arbeitslos und Annabel arbeitet immer noch als Anwältin. Das nützt aber nichts, denn meine Stiefmutter ist im siebten Monat schwanger und mein Vater definitiv nicht.
4. Anscheinend verzehrt der durchschnittliche Mensch im Jahr eine Tonne Lebensmittel, was dem Gewicht eines ausgewachsenen Elefanten entspricht. Annabel tut alles, um diese Statistik auf den Kopf zu stellen. Sie ist kugelrund.
5. Meine beste Freundin Nat ist 16 geworden und ich nicht. Das heißt, dass Nat jetzt in Georgia offiziell nach elf Uhr abends Flipper spielen und in England allein im Flugzeug fliegen darf und ich nicht.
6. Ich habe zwei Mal für Baylee gemodelt und war bei einigen Go-Sees (sofern ich meine Zeit nicht kreativ damit verbracht habe, in einem Putzschrank eingesperrt zu sein), und das war’s.
7. Ich bin endlich zu der schmerzlichen Erkenntnis gelangt, dass meine Haare nicht rotblond sind.
8. Sie sind rot.
Das war’s. Alles andere ist noch genau wie vorher.
Toby, mein Stalker, umkreist mich immer noch wie ein schwach glimmender Mond und Alexa, meine Nemesis, hasst mich mysteriöserweise immer noch.
Mein Agent, Wilbur, erfindet immer noch Wörter, sooft ihm danach ist, und die Modedesignerin, Yuka Ito, ist immer noch durch und durch furchterregend.
Mein Hund, Hugo, stürzt sich immer noch begeistert auf alles Klebrige, was er auf dem Bürgersteig erspäht, und ich sortiere meine Schulbücher immer noch alphabetisch, farblich und thematisch.
Denn so ist das im richtigen Leben: Menschen und Situationen und Hunde verändern sich nicht andauernd, selbst wenn man sehr detaillierte Pläne ausarbeitet und versucht, sie dazu zu zwingen.
Wenn ich meine Liste damit abschließen könnte, würde ich es tun. Denn es ist eine schöne Liste, nicht wahr? Eine hübsche, positive Liste, die sich auf einen ganzen Sommer mit Nat freut, eine neue, gekritzelfreie Schultasche für das nächste Schuljahr und – sehr bald – die Möglichkeit, allein im Flugzeug zu fliegen, sooft mir der Sinn danach steht.
Doch ich kann sie nicht so belassen, denn es ist noch etwas passiert. Und dagegen verblassen die anderen Punkte – zumindest für eine Weile – zur Bedeutungslosigkeit:
9. Löwen-Junge hat mit mir Schluss gemacht.
5
Gründe, nicht an Nick zu denken:
1. Er hat es gesagt.
Keine Sorge. Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört.
Ich meine, in gewisser Hinsicht ist es schon so schlimm, wie es sich anhört. Vier Monate nach unserem ersten Kuss hat Nick mir gesagt, wir sollten uns nicht mehr sehen, und ist ganz plötzlich wieder aus meinem Leben verschwunden. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Keine SMS. Kein Anruf, keine Voicemail. Keine E-Mail. Kein Tweet und keine Nachricht über Facebook. Nicht einmal ein Fax (auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob heutzutage überhaupt noch jemand Faxe schickt, aber die Möglichkeit besteht natürlich nach wie vor, oder?).
Aber das ist völlig okay. Man liest nicht fast 16 Jahre lang Liebesromane und skandiert Liebesgedichte und sieht sich Liebesfilme an, ohne eine ungefähre Ahnung davon zu kriegen, wie solche Geschichten laufen.
Jeder kennt das dramatische Auf und Ab, das den Unterschied zwischen einer wahren Liebesgeschichte – die verfilmt wird – und einer langweiligen ausmacht, bei der niemand sich die Mühe macht, ein Lied oder ein Buch darüber zu schreiben.
Wäre Stolz und Vorurteil berühmt, wenn Darcy und Lizzy nach dem ersten Ball geheiratet hätten? Wäre Sturmhöhe ein Klassiker, wenn Cathy nicht Heathcliff gewählt hätte?
Würde in der Schule Romeo und Julia gelesen, wenn sie ein paar Jahre miteinander gegangen wären und dann geheiratet hätten und an den Stadtrand von Mantua gezogen wären?
Genau.
Also selbst wenn es in deiner Liebesgeschichte darum geht, dass jemand mit dir Schluss macht und zurück nach Australien geht, musst du dich – mit Shakespeare – nur dazu durchringen, nicht »im Wege zu stehen«, dann kommt er schon zu dir zurück. Das weiß doch jeder.
Ja, klar, es ist inzwischen mehr als zwei Monate her, also braucht Nick wohl ein bisschen länger als andere, aber er ist bestimmt schon auf dem Weg.
Ich muss nur warten.
Inzwischen versuche ich, nicht an ihn zu denken. Ich denke weder an seine milchkaffeefarbene Haut noch an seine großen schwarzen Löwenlocken noch an seinen grünen Duft oder seine Augen, deren äußere Augenwinkel ein wenig schräg nach oben stehen. Ich denke nicht an die Neigung seiner Nase oder wie breit sein Lächeln ist oder wie er immer mit dem Daumen über meine Fingerknöchel gefahren ist, wenn wir Händchen gehalten haben, und wie er, wenn ich geniest habe, auf meine Nase getippt hat (was sehr unhygienisch war, was ich aber aus irgendeinem unfeinen und zutiefst beunruhigenden Grund irgendwie mochte).
Ich denke nicht daran, dass er mir das Gefühl gibt, ein Glühwürmchen zu sein – als wäre ein Teil von mir voller Feuer und der andere Teil könnte fliegen.
Ich denke nicht daran, dass ich, wenn es nach mir ginge, die ganze Zeit mit ihm zusammen wäre.
Und ich denke absolut niemals an die Tatsache, dass mir dieser Teil meiner Liebesgeschichte überhaupt keinen Spaß macht und dass ich viel lieber eine langweilige Geschichte gehabt hätte, in der Nick hiergeblieben wäre und alles genauso weitergegangen wäre wie vorher.
Selbst wenn es sämtliche romantischen Regeln brechen würde.
Der Fahrer räuspert sich.
»Verliebt, Goldlöckchen?« Er zwinkert mir im Rückspiegel zu und wedelt mit der Hand in meine Richtung. »Das erklärt so einiges.«
Überrascht sehe ich auf das anatomisch korrekte Herz, das ich auf die Fensterscheibe gezeichnet habe, und dann werde ich rot und wische es weg. Sehr subtil, Harriet.
»Nö«, antworte ich so gleichgültig wie möglich.»Ich … ich bereite mich nur auf den Biologiekurs im nächsten Jahr vor.«
»Klar.« Der Fahrer grinst.»Egal. Ich dachte, du hättst es eilig? Prüfungen?« Er nickt. »Du hast noch vier Minuten.«
Ich blinzele ein paarmal. Das Auto hat angehalten und wir stehen direkt vor meiner Schule. Mir war nicht mal aufgefallen, dass wir nicht mehr fahren.
»Aber …«, sage ich und krame in meiner Schultasche nach der Geldbörse, »wie ist das überhaupt möglich?«
Der Fahrer zuckt die Achseln. »Da bin ich wohl ein Zauberer«, konstatiert er sachlich. »Wie der dicke Kerl in Harry Potter. «
Ich blicke auf. Er sieht definitiv … außerirdisch aus. Ephemer. Überreichlich mit Körperbehaarung gesegnet.
»Und ich habe sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen ignoriert«, fügt er strahlend hinzu. »Das macht 80 Pfund, Liebes. Zauberei hat ihren Preis heutzutage. Und jetzt ab mit dir, du hast noch drei Minuten.«
6
Ich schwöre auf mein Oxford English Dictionary, dass ich mich noch nie im Leben so schnell fortbewegt habe.
Als ich durch die schon im Schließen begriffene Tür der Turnhalle husche, atme ich so gepresst, dass ich mich anhöre wie unser Staubsauger, wenn Annabel damit das Sofa traktiert. Schweiß rinnt mir in den Hals und das Einzige, womit ich ihn aufwischen kann, ist der Rand meines Schulpullovers, der mir in drei Fetzen um den Hals hängt wie ein modernes Kunstwerk. Oder etwas, was Wilbur tragen könnte.
Ich habe kaum zwei Schritte in den Raum getan, da schießt Tobys Wuschelkopf herum. Ich kann nur vermuten, dass er mich mit dem Hinterkopf wahrgenommen hat, wo seine, wie er sie nennt, »Harrietenne« sitzt.
»Toby«, sagt Miss Johnson in warnendem Tonfall und Toby hört augenblicklich auf zu winken und blinzelt stattdessen und wirft mir Kusshändchen zu.
Ich grüße ihn mit einem Nicken, eile vorbei und stelle meine kleine Plastiktüte mit Stiften und so weiter behutsam auf die rechte Seite meines Tisches. Dann setze ich mich und schließe die Augen.
Nur eine Minute, um meine Gedanken zu sammeln, das Wissen der Klebezettelchen zu visualisieren und meine Umgebung auszublenden. Nur wenige kostbare Augenblicke, um die Stresshormone zu zerstreuen, meine Atmung zu beruhigen, auszurechnen, wie spät es in Australien ist, und mich dann ganz auf Physik einzustimmen.
Mitternacht. In Sydney ist gerade Mitternacht.
Irgendjemand schnaubt.
Konzentrier dich, Harriet. Es gibt zwei Arten von Elektronen: negative und positive. Gleiche Ladungen stoßen sich ab. Gegensätzliche Ladungen ziehen sich an.
Wieder schnaubt jemand und ein paar Plätze weiter ist ein leises Kichern zu vernehmen.
Wenn man Isoliermaterialien aneinanderreibt, werden Elektronen von einem Atom abgelöst und docken an einem anderen an.
Wieder lacht jemand und plötzlich habe ich das vage Gefühl, ein Blick durchbohrt meine Stirn.
Nicht nur Tobys, wie der sich anfühlt, weiß ich.
Vorsichtig öffne ich die Augen und sehe mich im Raum um. In der Turnhalle sind 152 Schülerinnen und Schüler und sämtliche Blicke sind auf mich gerichtet.
Ich habe nicht den geringsten Schimmer, warum. Es ist, als hätten die alle noch nie im Leben Schweiß gesehen. Oder einen zerrissenen Pullover. Oder eine einzelne Socke und ein zerkratztes Gesicht. So enden im Laufe eines Schuljahres ziemlich viele Mittagspausen.
Ich sehe Toby an und bemerke, dass er sich die Wange tätschelt. Was macht der da? Als ich mich nach Nat umsehe und sie entdecke – weit weg –, versucht sie, mir stumm etwas zu sagen.
»Geh«, sagt sie und zeigt unauffällig auf mich. »Geh.«
Ich liebe Nat. Sie ist mir der liebste Mensch auf der ganzen Welt (gefolgt von meinem Vater und Annabel). Aber ich gehe bestimmt nirgends hin. Ich bin doch gerade erst gekommen.
»Geh«, sagt sie noch einmal stumm und dann verdreht sie die Augen und schlägt sich mit einer Hand an den Kopf.
Also, die Geste verstehe ich.
»Alle schauen nach vorn zu mir«, brüllt Miss Johnson aufgebracht und 302 Augen lösen sich plötzlich von meinem Gesicht. »Toby Pilgrim, das gilt auch für dich«, schreit Miss Johnson und auch das letzte Augenpaar wendet sich nach vorn. » Ihr habt 30 Sekunden, bevor eure Prüfung beginnt.«
Die Einzige, die sich nicht sofort auf die bevorstehende Prüfung konzentriert, ist Alexa, die schräg hinter mir sitzt. Sie hat ihr Standardgesicht aufgesetzt – selbstgefällig – und dreht etwas zwischen den Fingern. Bevor ich dahinterkomme, was es ist, beugt sie sich unauffällig vor und rollt ein Papierbällchen über den Boden, sodass es direkt unter meinem Tisch zu liegen kommt.
»20 Sekunden.«
Verdutzt starre ich auf das Papierbällchen und dann geht mir ein Licht auf:Alexa will meine Prüfung sabotieren. Sie will mir einen Spickzettel unterschieben. Eine weitere Runde ihres teuflischen Plans, mein Leben zu zerstören.
O Gott. Wenn ich das Bällchen aufhebe und erwischt werde, schmeißen sie mich aus der Prüfung. Wenn ich es nicht aufhebe und sie finden es hinterher unter meinem Tisch, werde ich wegen Pfuschens disqualifiziert.Was soll ich bloß machen?
»Zehn Sekunden.«
Aufheben oder nicht? Liegen lassen oder aufheben?
»Fünf Sekunden.«
Ich bücke mich rasch und schnappe es mir. Wenn ich die Beweise zerstören kann, bevor die Prüfung anfängt, dann pfusche ich nicht. Ich … beseitige nur verantwortungsvoll Müll.
Aber wie Pandora muss ich wissen, was in der Büchse ist. Ich muss wissen, womit sie mich zerstören wollte. Also schiebe ich den Zettel unter die Bank und falte ihn leise auseinander:
HEY, UNCOOLE, DEIN GESICHT’S GANZ GOLDEN.
Oh, denke ich.
Oh.
»Dreht bitte eure Unterlagen um«, verkündet Miss Johnson, während ich das Gesicht in den Händen vergrabe und mich auf meinem Stuhl ganz klein mache. » Ihr könnt jetzt anfangen.«
7
Als ich meine letzte Prüfung ablege, sehe ich aus wie eine Statue, die Schauspielerinnen einmal im Jahr in der Hand halten und darüber Tränen vergießen. Im Internet habe ich mal einen IQ-Test gemacht und dabei habe ich 143 Punkte erreicht. Doch ich habe eindeutig keinen blassen Schimmer, was ich mit irgendeinem davon anfangen soll.
Toby ist da ganz anderer Meinung.
»Harriet«, sagt er fröhlich, als ich die Turnhalle verlasse und nach draußen gehe, um auf Nat zu warten. »Es ist mir eine Ehre, dich zu stalken. Mir fällt ehrlich niemand anders ein, an dessen Fersen ich mich lieber wie besessen heften würde.«
Irgendwie sieht Toby noch dünner und in die Länge gezogener aus:Als wäre er ein Stück geschmolzener Käse, den gerade jemand von einer Pizza gepult hat. Seine Haare sind wuscheliger, er hat dunkle Ringe unter den Augen und er hüpft neben mir her, die Hände ordentlich an den Seiten, und seine kleine Nase zuckt leicht. Er ähnelt noch mehr einem Erdmännchen als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen habe.
Sagen wir mal so, ich würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn ein Flugzeug vorbeifliegen und er wegrennen würde, um Deckung zu suchen.
»Was redest du da, Tobes?«
»Gold ist traditionell die Farbe des Erfolgs, der Vollendung und des Triumphs«, erklärt Toby und seine Stimme strotzt vor Bewunderung.»Du trägst die perfekte Farbe für die letzte Prüfung. Ich frage mich, warum niemand vor dir diese Idee hatte.«
Ich starre ihn an und dann breche ich in lautes Gelächter aus. Nur Toby kann auf die Idee kommen, ich hätte mich heute absichtlich golden angemalt.
Moment mal … Verliebt, Goldlöckchen? Das erklärt so einiges.
Augenblicklich höre ich auf zu lachen. O Gott. Der Taxifahrer hat es auch gedacht. Ich sehe eindeutig aus wie ein Mädchen, das verrückt geworden ist und sich regelmäßig anmalt.
Das ist nun ganz und gar nicht der Eindruck, den ich der Welt vermitteln möchte.
Während Toby aufgeregt über Prüfungsfragen und die Oszillation von Lichtwellen plaudert, sehe ich zu ihm hinüber und lausche dem munteren Auf und Ab seiner Worte, immer im Kreis.
Ich weiß ehrlich nicht mehr, wie es war, ihn nicht um mich zu haben. Toby ist wie eine Tatsache:Wenn man ihn mal kennt, kann man ihn nicht unkennen. Seit ein paar Monaten verbringt er ein bisschen mehr Zeit da, wo Nat und ich nicht so tun müssen, als könnten wir ihn nicht sehen. Und wir …
Also, wir lassen ihn gewissermaßen gewähren.
In kleinen Dosen ist er gar nicht so schlimm. Solange er Nat nicht zu sehr nervt. Sie hat nur ein begrenztes Interesse an irrelevanten Fakten und ihre Quote fülle ich schon locker aus.
Schließlich gehen wir nach draußen, blinzeln ein paarmal in der hellen Sonne und machen uns halb blind auf den Weg zu einem Fleck, der im Schatten liegt. Nats Nachname kommt im Alphabet ziemlich weit vorn, also sitzt sie im Prüfungssaal meistens hinten, wo sie an ihrem Nagellack kratzt und ungeduldige Seufzer ausstößt wie ein hübscher Drache mit schicker Frisur.
Als wir Alexa entdecken, ist es zu spät.
Sie steht mit ein paar Freundinnen außerhalb des Schultors: alle in ihren clever aufgepeppten Schuluniformen wie eine modische Armee – am Bund umgeschlagene Röcke, eingesteckte Oberteile, rosa Strähnchen und hervorblitzende BH-Träger. Sie lümmeln drohend auf dem Rasen herum, als gehörte die Schule ihnen.
Und, wie soll ich es formulieren?
Irgendwie tut sie das.
8
Nein, übrigens.
Wenn ihr denkt, ein höfliches, aber verbindliches Gespräch mit meiner Tyrannin vor sechs Monaten hätte zwischen uns alles geklärt, dann seid ihr Alexa offensichtlich nie begegnet. Und mir auch nicht.
Oder irgendeinem Mädchen im Teenageralter.
Ich möchte so tun, als würde Alexa mit ihren Freundinnen mir nicht auflauern, doch ein rascher Blick in ihr Gesicht belehrt mich eines Besseren. Sie sabbert förmlich. Das ist nicht so toll am letzten Schultag: Sie muss keine Konsequenzen fürchten, wenn sie’s mir heute noch mal so richtig gibt.
»Hey«, sagt sie spitz und macht einen Schritt auf mich zu, »Manners.«
Instinktiv suche ich nach einem anderen Ausgang. Aber wenn ich nicht Toby als Sprungbrett missbrauchen will, um über den Zaun zu gelangen, dann gibt es keinen anderen Weg vom Schulhof nach draußen. Also senke ich den Kopf und mache mich möglichst unsichtbar. Da ich kein Mitglied der Fantastischen Vier bin, funktioniert es leider nicht.
»HEY«, sagt Alexa noch einmal und tritt mir in den Weg. Toby wirft sie einen kurzen Blick zu. Er kratzt sich im Ohr und schnuppert dann an seinem Finger. » Hattest du Spaß bei der Prüfung, Uncoole? Jede Wette. Ich wette, es war der größte Spaß, den du seit Ewigkeiten hattest.«
Ich werde ein wenig rot. Sie hat absolut recht: Es war toll. Als ich zu der Stelle kam, wo wir einen Aufsatz über den Lebenszyklus eines Sterns schreiben sollten, wurde mir vor lauter Aufregung sogar ein wenig übel. »Vielleicht«, sage ich und zucke möglichst unverbindlich die Achseln.
»Ich wette, du hast alle Antworten gewusst, du Streberin.«
Ich schüttele den Kopf. » Nur ungefähr 93 Prozent.«
Alle kichern – ich weiß gar nicht, warum: Das gibt immer noch ein solides A* – und Alexa blickt mich finster an. Ich will weitergehen, doch sie schiebt sich mir wieder in den Weg. »Hast du von der Megaparty gehört, die ich heute Abend schmeiße?«
Die Antwort auf diese Frage lautet offensichtlich: Ja. Selbst in Sibirien sind heute Eskimos in dem Wissen aufgewacht, dass Alexa heute Abend eine Party schmeißt.
»Nein.«
»Ich aber«, mischt Toby sich eifrig ein. »Es gibt kleine Wackelpeter, oder? Alexa, das klingt fantastisch. Normal großen Wackelpeter fand ich immer schon unhygienisch. Die ganzen verschiedenen Löffel. Es ist viel hygienischer, wenn jeder viele kleine kriegt, nicht wahr?«
Alexa beachtet ihn gar nicht. »Ein Typ, der schon mal im Fernsehen war, kommt. Also ist es genau genommen eine Promiparty.«
Toby nickt weise. » Also kein grüner Wackelpeter. Nur beeindruckend roter und lilafarbener, richtig? Meine Mum macht meinen in Form einer Rakete und da, wo der Motor wäre, tut sie Lakritze rein.«
Wenn Historiker sich in ferner Zukunft Berichte über unsere Zeit ansehen, werden sie sich fragen, wie es Toby gelungen ist, sie lebend zu überstehen.
»Schön für dich, Alexa«, sage ich und flitze endlich an ihr vorbei und mache mich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung.
»Also, Manners«, sie räuspert sich, »hast du Lust zu kommen?«
Ich verharre mitten im Schritt. Wenn man jemandem den Kopf abhaut, dann kann er noch fünf oder sechs Sekunden lang hören und sehen und blinzeln, kann sich jedoch nicht mehr rühren, weil er schon in zwei Hälften zerteilt ist.
So fühle ich mich gerade.
Langsam drehe ich mich um. »Verzeihung?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Nat aus dem Schultor kommt, kurz stoppt und dann auf uns zueilt.
»Willst du zu meiner Party kommen?«, fragt Alexa mit völlig ausdruckslosem Gesicht.»Wir haben einen Fernsehstar, also wärst du die perfekte Promi-Ergänzung. Ein Model.«
»Ehrlich?«
»Ja«, sagt sie langsam und auf ihrem Gesicht macht sich wieder das affektierte Grinsen breit. »Und wenn wir Lust haben zu tanzen, können wir dich an den Füßen an der Decke aufhängen und dich ganz schnell herumwirbeln. Als menschliche Discokugel.«
Dann zeigt sie auf mein Gesicht und bricht in hysterisches Gelächter aus und ein paar Nanosekunden später fangen hinter ihr alle an zu kichern.
Der menschliche Körper braucht 30 Minuten, um genug Hitze zu produzieren, um zwei Liter Wasser zum Kochen zu bringen. So heiß, wie meine Wangen sind, bringe ich das im Augenblick wahrscheinlich in elf oder höchstens zwölf Minuten fertig.
Warum bin ich nicht einfach weitergegangen? Was ist los mit mir? Natürlich abgesehen davon, dass ich ein goldenes Gesicht habe und nicht den geringsten Überlebensinstinkt besitze.
» Du kannst uns mal, Hockey-Krummbein«, fährt Nat auf, die an meine Seite geeilt ist. »Als wollten wir zu deiner Möchtegern-Party.«
»Als wollte ich euch dabeihaben. Ich bin immer noch dran, die Nieten von eurem letzten Besuch von der Türschwelle zu schrubben«, feixt Alexa. »Egal, warum sollte ich die da«, dabei zeigt sie auf mich wie auf ein Stückchen Zehennagel, das im Teppich festhängt,»bei mir zu Hause haben wollen, wo sie ihre Uncoolheit versprüht? Das ist mit noch so viel Coolness nicht wiedergutzumachen. Es würde sich zu einer Epidemie auswachsen.« Dann klatscht sie feierlich mit ihren Freundinnen ab.
Als stünde ich nicht immer noch mit brennenden Wangen da.
Als spielte ich keine Rolle.
Als würde ich nie eine Rolle spielen.
Als hätte sich überhaupt nichts verändert.
9
Langsam zähle ich bis zehn und dann atme ich tief durch, greife in die Tasche und ziehe ein zerknittertes Zettelchen heraus.
Ich tippe meiner triumphierenden Nemesis auf den Rücken und reiche es ihr.
»Was zum Teufel ist das?«
HEY, UNCOOLE, DEIN GESICHT’S GANZ GOLDEN.
»Das ›ist‹ kann man so nicht abkürzen und mit Apostroph anhängen, Alexa«, sage ich. »Wenn du Hilfe in Grammatik brauchst, musst du nur fragen.«
Verdutztes Schweigen, gefolgt von ein paar verzweifelt unterdrückten Schnaubern, bei denen mir plötzlich Zweifel kommen, ob die anderen Alexa wirklich so mögen, wie sie tun. Oder ob einige nur wegen der »Promi-Partys« und der kleinen Wackelpeter hier sind.
Das hat Alexa endlich ihr affektiertes Grinsen aus dem Gesicht gewischt. »Das weiß ich«, zischt sie wütend. »Das war ein Tippfehler.«
Sie knüllt die eindeutig handgeschriebene Notiz wieder zusammen und schmeißt sie mir ins Gesicht. Mit einem leisen PLOPP trifft sie mein linkes Ohr.
»Was schert es mich überhaupt?«, fügt sie hinzu. »Die Schule ist aus. Im wirklichen Leben interessiert sich doch keiner für so einen Blödsinn.«
»Ich schon«, versetze ich leise.
» Ich auch«, sagt Nat laut, legt mir den Arm um die Taille und drückt mir ein Küsschen auf die Wange.
» Und ich«, pflichtet Toby mir bei. »Unterschätze nie die Macht eines wohlgesetzten Apostrophs.«
Wir drehen uns um, um zu gehen, und plötzlich rastet Alexa aus – als würde ihre ganze Wut unvermittelt in einem hasserfüllten Feuerwerk explodieren. »Ihr lasst mich hier nicht so stehen, ihr Uncoolen!«, schreit sie und schlägt mit der Hand gegen einen Poller. » Wir sind hier noch nicht fertig!Wartet nur bis nächstes Jahr! Dann mache ich … Ich mach … das ist … das ist … ihr habt’s doch …«
»Hey!«, sagt Toby. » Ich glaube, sie hat’s endlich raus, Harriet!«
»Wir freuen uns schon darauf, den Rest des Satzes im nächsten Schuljahr zu hören, Alexa«, ruft Nat noch. »Bis dahin hast du genug Zeit, dir was richtig Schreckliches zu überlegen.«
Wir grinsen einander an und gehen weiter. Alexas Gekeife wird leiser und immer leiser, bis nur noch ein harmloses Sirren zu hören ist wie von einer winzigen Stechmücke.
Ich schaue nach oben.
Der Himmel ist strahlend blau und vor uns erstreckt sich nichts als der endlose Sommer.
10
Wir warten mit dem Tanzen nicht mal, bis wir um die Ecke sind.
Das ist das Schöne an den Sommerferien. Es ist, als wäre das Leben eine große Zaubertafel und einmal im Jahr darf man sie mit einer schwungvollen Geste sauber wischen und wieder ganz von vorn anfangen. Wenn wir zur Schule zurückkehren, ist das ganze vorangegangene Jahr weggewischt.
Gewissermaßen.
Jedenfalls genug, um dafür zu sorgen, dass niemand sich daran erinnert, dass Toby mit seiner Schultasche auf dem Kopf auf der Straße Breakdance gemacht hat.
»Hast du Alexas Gesicht gesehen?«, ruft Nat, macht einen kleinen Scherensprung und stößt die Faust in die Luft. »Das war überirdisch.«
Ich hüpfe fröhlich ein wenig, auch wenn es heißt, dass ich mich jetzt woanders zur Oberstufe anmelden muss, wenn ich nicht meine restlichen Teenagerjahre in einer Toilette ihrer Wahl verbringen will. (So gründlich funktioniert der Trick mit der Zaubertafel nicht.) »Glaubst du, ich habe Alexa irgendetwas ganz Schreckliches angetan, als wir noch so klein waren, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann?«
»Und wennschon?«, ruft Nat, dreht eine aufgeregte kleine Pirouette und schlägt bei jeder Drehung mit mir ab. » Alexa ist fort! Die Prüfungen sind vorbei. Weißt du, was das heißt?! Kein Physik mehr! Kein Chemie mehr! Kein Geschichte mehr! Kein MATHE mehr!«
Ich will in Physik, Chemie, Geschichte und Mathe Abitur machen und ich habe vor, für die Fächer zu lernen, bevor die Woche zu Ende ist, aber ich schlage trotzdem mit meiner Freundin ab.
Übermütig zieht Nat einen Taschenrechner aus ihrer Tasche und wirft ihn auf den Boden. »Dich werde ich nie wieder benutzen!«, schreit sie ihn an. »Hast du verstanden? Du und ich, wir sind Geschichte!«
Toby bückt sich und hebt ihn auf. » Willst du nicht Modedesign studieren, Natalie?«
»Ja.« Sie wirft ihr schimmerndes schwarzes Haar nach hinten und strahlt ihn an. »Ab jetzt geht es nur noch um Kleider, Kleider, Kleider, für den Rest meines Lebens.«
»Dann brauchst du den aber«, sagt Toby und reicht ihn ihr. » Um Stoffmengen auszurechnen, Körperformen, Gewinnspannen, Herstellungskosten und Kreditraten, ganz zu schweigen von Schnittmustern und Größenanpassungen.«
»Was?« Nat zieht ein langes Gesicht.»Ach zum …« Sie sieht mich an. »Das hätte doch gereicht, wenn er mir das in ein paar Monaten gesteckt hätte, oder? Im Ernst. Muss er hier sein? Können wir ihn nicht dahin zurückschicken, wo er herkommt … wo auch immer das ist?«
»Hempel Hempstead«, wirft Toby hilfsbereit ein. »Ich kann den 303er-Bus nehmen.«
»Wir haben einen ganzen Sommer vor uns«, erinnere ich Nat glückstrahlend, ohne auf ihn zu achten. Ich fühle mich ein bisschen wie Neil Armstrong, kurz bevor er 1969 an Bord der Apollo ging:Als hätte man uns gerade das ganze Universum zu Füßen gelegt und wir könnten damit machen, was wir wollten. »Also, ich hab einen ganz detaillierten Plan gemacht.« Ich krame in meiner Schultasche herum und ziehe mit ausholender Geste ein Blatt Papier heraus. »Tadaa!«
Nat nimmt es mir ab und runzelt die Stirn.»Nats und Harriets Sommerspaß-Flussdiagramm?«
»Genau!«
Ich lege einen kleinen Tanz hin und zeige dann auf die bunten Blasen: gelb für mich, lila für Nat und – dank der Natur des Farbkreises – ein unglückliches Kackbraun für alles dazwischen. »Ich habe sämtliche Einzelheiten geplant, für maximalen Spaß- und Unterhaltungswert«, erkläre ich und zeige stolz darauf. » Wir fangen mit Westminster Abbey an, wo Chaucer, Hardy, Tennyson und Kipling beigesetzt sind, und dann geht’s zum Highgate Cemetery, um George Eliot, Karl Marx und Douglas Adams zu besuchen. Wir arbeiten uns chronologisch durch tote Schriftsteller.« Ich habe unser Sommerspaß-Flussdiagramm auf London konzentriert, weil es hier vor Ort kaum mehr gibt als eine Rollschuhbahn und ein Mühlenmuseum, und sosehr ich Rollen an den Füßen und Brot auch liebe, hatten wir doch beide Optionen schon lange vor dem Ende der Grundschulzeit voll ausgereizt.
»Das Charles-Dickens-Museum?«, liest Nat langsam.»Glasbläser in Leathermarket? Die Schlüsselzeremonie im Tower of London?«
Sie ist beeindruckt. Das verrät mir die Tatsache, dass sie ganz still geworden ist und keinen Blickkontakt sucht.
»Toll, oder? An den Skulpturen des Parthenon im British Museum haben sie gerade Spuren uralter blauer Farbe entdeckt, wissenschaftlicher Beweis dafür, dass das antike Griechenland aussah wie Disneyland. Wir können hingehen und uns die neue Ausstellung ansehen!«
Nat nickt ein paarmal und kratzt sich am Hals. »Mhm.«
Plötzlich geht mir auf, wie egoistisch sich das anhört. » Nat«, sage ich schnell, »da ist auch ganz viel für dich dabei. Im Victoria and Albert Museum ist eine Ausstellung über Ballkleider und Wilbur kann uns sicher Karten für die Abschluss-Modeschau des London College of Fashion besorgen.«
Toby nickt wissend.»Wusstet ihr, dass das Victoria and Albert Museum jeden Sommer einen Falken beschäftigt, um die Tauben von den Gärten fernzuhalten?«
»Und heute Abend … dachte ich, könnten wir damit feiern!« Ich hole zwei DVDs aus meiner Schultasche, Der Teufel trägt Prada und David Attenboroughs Dokumentarfilm über Afrika. »Und damit!« Ich ziehe glitzernden lilafarbenen Nagellack und Zehentrenner sowie einen Packen Game of Thrones-Spielkarten heraus. »Und … warte mal … damit!« Hervor kommen eine Tüte Null-Kalorien-Karamell-Popcorn und ein riesiger Schokomuffin.