Susanne Kronenberg
Edelsüß
Norma Tanns vierter Fall
WINZERSTERBEN Lutz Tann will die Villa Tann – das langjährige Wiesbadener Domizil der Familie – verkaufen und sucht im Rheingau nach einem kleinen Weingut. Er bittet seine Schwiegertochter, Privatdetektivin Norma Tann, ihn in den Wiesbadener Stadtteil Schierstein zu begleiten. Er will dort ein ehemaliges Weingut besichtigen. Dessen Betrieb wurde infolge des Glykolwein-Skandals Ende der 1980er-Jahre aufgegeben. Bei der Besichtigung lernt Norma Angela Bennefeld kennen, die auf dem Nachbarweingut aufgewachsen ist und auf dem Gelände wohnt. Tage später wird Angelas Leiche aus dem Schiersteiner Hafen geborgen. Die Polizei schließt Fremdverschulden aus. Man weiß, dass Angela, die Staatsanwältin mit dem Knick in der Karriere, Alkoholikerin war, und geht von einem Unfall aus. Angelas Stiefmutter glaubt etwas anderes. In Angelas Haus befinden sich wichtige Unterlagen über den Glykolwein-Skandal und die Prozesse gegen die Weinpanscher. Privatdetektivin Norma Tann muss Licht ins Dunkel bringen.
Susanne Kronenberg, geboren in Hameln und seit Jahren im Taunus heimisch, entdeckte während des Studiums der Innenarchitektur ihr Faible für das Bauhaus mit all seinen Facetten und seiner Geschichte. Den Wunsch, die Architektur mit dem Schreiben zu verbinden, verwirklichte sie zunächst als Redakteurin für eine Bauzeitschrift. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt die Autorin Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des »Syndikats« und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe »Dostojewskis Erben«.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Tod am Bauhaus (2019)
Rosentot (2018)
Hundswut (2017)
Totengruft (2014)
Edelsüß (2012)
Kunstgriff (2010)
Rheingrund (2008)
Weinrache (2007)
Kultopfer (2006)
Flammenpferd (2005)
Pferdemörder (2005)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
3. Auflage 2019
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,
unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Reimer - Fotolia.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3966-7
Sonntag, der 10. Juli
Verflixt! Benni hatte ein Messer! Ein Springmesser. Blitzschnell schoss die Klinge heraus.
»Lass mich in Ruhe, Schlampe!«, stammelte er. »Ich hab’ nix mit euch zu schaffen!«
Norma ging drei Schritte zurück. Vom Schiersteiner Hafen wehte Popmusik herüber. In die Klänge hinein zählte der Sprecher das nächste Rennen an. Mit dem Startschuss setzten die Trommelschläge ein, dumpf und rhythmisch. Die Trommler steigerten sich zu einem ungezügelten Stakkato, angefeuert von den Zuschauern rund um das Hafenbecken. Für einen Moment wünschte sie sich hinüber an den Kai, mitten in den Kreis friedfertiger Hafenfestbesucher.
»Ich mach dich fertig, Schlampe!«, fauchte der Junge und stach mit dem Messer Löcher in die Luft.
Er war betrunken. Jedoch nicht besoffen genug, um ausnahmslos daneben zu treffen. Sie wagte einen flinken Blick über die Schulter. Die Leute hoch oben auf der Fußgängerbrücke, die den Kanal zwischen Hafenbecken und Rhein überspannte, hatten nur Augen für die Endrunde der Drachenbootrennen und bekamen nichts mit von dem kleinen Drama, das sich darunter auf der abgelegenen Rheinwiese abspielte. Zum Glück hielt sich das Mädchen ein Stück abseits. Stocksteif drückte Chrissi den kleinen Lennox an sich.
Dessen Vater glotzte hinüber und brüllte: »Mach dich weg, du Schlampe!«
Norma blieb ruhig. »Der Kleine ist Ihr Sohn, Benni.«
Sein Blick wurde unstet und wanderte hin und her zwischen ihr und dem Mädchen. »Der is’ nich’ von mir! Den will se mir anhängen. Die Schlampe treibt’s mit jedem!«
Ziemlich sparsam, seine Wortwahl. Gern hätte sie ihm ein paar Nettigkeiten um die Ohren gepfeffert. Ihre Geduld ging dem Ende zu. Selbst schuld! Warum hatte sie sich auf den Streit eingelassen, der ihr nichts außer Ärger einbringen würde? Chrissi war zu ihr gekommen, weil Benni sich vor der Verantwortung drückte. Offensichtlich hatte sich Normas Großzügigkeit unter jungen, alleinerziehenden Müttern herumgesprochen. Auch Chrissi hatte sie ihre Hilfe nicht abschlagen wollen, zumal sich das Mädchen gewissenhaft und liebevoll um den Kleinen kümmerte. Chrissi lebte von Hartz IV und hätte sich niemals eine Privatdetektivin leisten können. Den jungen Vater hatte Norma schnell aufgetrieben. Als ehemalige Kriminalhauptkommissarin hatte sie gute Kontakte zum Wiesbadener Polizeipräsidium. Dort war Benni kein unbeschriebenes Blatt. Einbrüche in Kioske und Autoaufbrüche standen in seiner Akte. Dass er gewalttätig werden könnte, hatte niemand vorhergesagt. Auch nicht der Bewährungshelfer, der ihm Arbeit bei einem Rheingauer Winzer vermitteln konnte. Am Freitag hatte sie Benni zum Feierabend abgefangen. Im nüchternen Zustand hatte er sich halbwegs besonnen und einsichtig gegeben und das Treffen selbst vorgeschlagen. Am Sonntag sei Hafenfest in Schierstein, da könne man ja mal miteinander reden. Nachdem Norma ihn mit Chrissis Hilfe zwischen Achterbahn und Verkaufsständen an einer Bierbude aufgestöbert hatte, waren alle drei zum Rheinufer gegangen, um abseits vom Trubel ungestört zu sein.
»Es gab einen Vaterschaftstest, Benni. Das Ergebnis haben Sie anerkannt. Sie erinnern sich?«
»Die Schlampe will mich reinlegen!«
Er warf das Messer von einer Hand in die andere und demonstrierte eine, gemessen am Alkoholpegel, beachtliche Fingerfertigkeit.
Norma griff in die Hosentasche und schleuderte ihr Handy in Chrissis Richtung. »Bleib, wo du bist! Ruf die Polizei!«
Weil sie nicht wusste, wie viel sie von dem Mädchen erwarten durfte, sagte sie ihr die Nummer des Notrufs. Das hätte sie sich sparen können.
Chrissi ignorierte die Bitte, kümmerte sich nicht um das Telefon, sondern tastete sich Schritt für Schritt heran. »Mach keinen Scheiß, Benni! Du bist auf Bewährung. Riskier’ nicht deinen Job!«
So naiv war sie gar nicht, die Chrissi! Im Knast kein Job. Ohne Job kein Lohn. Ohne Lohn kein Cent Unterhalt. Norma konnte nicht auf Chrissis Beistand bauen. Sie musste allein klarkommen. Benni präsentierte ungerührt seine Messerakrobatik. Der Wind trug die Trommelschläge des nächsten Rennens heran. Von der Dyckerhoff-Brücke kam begeistertes Klatschten. Norma stand der Schweiß auf der Stirn. Die Sonne knallte ihr ins Gesicht. Lennox meldete sich zu Wort. Maunzend wie eine junge Katze zappelte er in den Armen der Mutter, die Mühe hatte, ihn festzuhalten. Dann brüllte er los. Das Sirenengeheul seines Sohnes irritierte Benni. Die Waffe glitt ihm aus den verschwitzten Händen, und als er das Messer aus dem Gras fischen wollte, war Norma mit einem Satz über ihm. Ihr kräftiger Stoß und der Alkohol in seinen Adern brachten den Jungen ins Straucheln. Auf dem Boden liegend schlug er um sich. Norma holte zum zweiten Mal aus, trat ihn in die Seite und warf sich auf ihn. Mit geübtem Griff drehte sie ihm den Arm auf den Rücken und presste ein Knie in sein Kreuz, bis er aufhörte, sich zu wehren.
»Wie viel Geld hast du bei dir?«
Er gab ein empörtes Glucksen von sich, hielt aber still, als Norma ihren Griff verstärkte, und murmelte etwas von »Hosentasche«. Das Mädchen setzte den brüllenden Lennox ins Gras, was ihn auf der Stelle verstummen ließ, und zog Bennis Geldbörse aus der Jeans.
Ihr kleiner Sohn schaute neugierig zu, als sie die Scheine zählte und das Ergebnis verkündete: »Wahnsinn! 125 Euro! Woher hat der so viel Kohle?«
»Das steckst du dir ein!«, forderte Norma das Mädchen auf.
Chrissi nahm ihren Rucksack herunter und schob das Geld in ein Seitenfach. Sie untersuchte das Portemonnaie. »Da sind jede Menge Münzen drin.«
»Das Kleingeld behält er. Schreib ihm eine Quittung. Mit Datum und Summe.«
»Worauf denn?«
»Auf was du findest. Hast du einen Stift?«
Chrissi wühlte im Rucksack, bis sie einen Kugelschreiber fand, und bekritzelte einen abgestempelten Busfahrschein.
»Hast du Papiertaschentücher dabei?«, fragte Norma.
Das Mädchen zog ein Päckchen aus dem Rucksack.
»Nimm das Messer damit hoch«, befahl Norma. »Aber fass es nicht mit den Fingern an, hörst du?«
Als Chrissi das Messer in die Taschentücher gewickelt hatte, lockerte Norma den Griff. »Ich lasse dich jetzt los, Benni. Ab sofort zahlst du jeden Monat! Chrissi hält mich auf dem Laufenden. Wenn du unsere Vereinbarung brichst, gibt es eine Anzeige wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Hast du das kapiert?«
Täuschte sie sich oder weinte der Junge? Tatsächlich, der coole Schlampenhasser jammerte wie ein Schulkind. Das Messer habe ihn einen halben Monatslohn gekostet, hörte sie aus dem Schluchzen heraus. Ob er es nicht behalten dürfe.
»Das bleibt bei mir als Beweismittel. Deine Fingerabdrücke sind darauf. Ich lasse dich jetzt los, und du benimmst dich, verstanden?«
Wie benommen rappelte er sich auf. Norma übernahm das Messer, und Chrissi hob ihren Sohn hoch. Benni starrte das Kind an, der Kleine bestaunte den ihm fremden Mann.
»Du bist ein solcher Idiot, Benni«, sagte Chrissi liebevoll.
Benni antwortete nicht, glotzte weiterhin stumm auf das Kind.
Vom Fuß der Brücke kam ein Mann angerannt. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Was ist los? Kann ich helfen?«
Norma bedankte sich mit einem Lächeln. »Eine Familienangelegenheit. Alles geregelt.«
Dienstag, der 12. Juli
Sie erwachte mit den nebulösen Bildern eines Traums, in dem Benni sich auf sie geworfen und ihr die Luft abgedrückt hatte. Die Last auf dem Bauch entpuppte sich als Kater, der die Krallen in die Bettdecke schlug. Sie vergrub die Finger im stahlgrauen Fell und hörte seinem Schnurren zu, bis sie sich zu ihrem täglichen Yogaprogramm aufraffte und die Matte vor dem Bett ausrollte. Jeden Morgen der Kampf gegen die Bequemlichkeit. Leopold robbte zur Bettkante vor und angelte, gnädigerweise mit eingezogenen Krallen, nach ihren Waden, solange sie rücklings die Beine zur Zimmerdecke streckte. So richtig wollten die Asanas heute nicht gelingen. Sie fühlte sich angeschlagen, und die Blutergüsse an Schultern und Oberarmen schmerzten. In der Morgensonne, die hell und freundlich durchs Dachfenster leuchtete, erschien ihr die Auseinandersetzung eher peinlich. Wenigstens hatte Chrissi ihr Geld bekommen.
Der Kater hatte sich längst über das Dach davongestohlen, als sie nach dem Frühstück hinunter ins Büro gehen wollte. Auf der mittleren Etage fielen ihr Evas Pflanzen ein, die einen Schuss Wasser vertragen könnten. Ihre Vermieterin Eva Vogtländer, eine Lehrerin, verbrachte wie jeden Sommer die Ferien bei ihrem Kölner Freund, und Norma hatte sich angeboten, den Kater und das Grünzeug zu versorgen. Leopold fühlte sich bei ihr ebenso zu Hause wie bei seiner Besitzerin, und die Pflanzen gaben sich mit wenig Aufmerksamkeit zufrieden. Sie flitzte nach oben, um den Schlüssel zu holen. Die Grünlilie im Bad ließ die Blätter hängen, aber Norma wusste aus Erfahrung, wie schnell sich das Gewächs berappeln konnte. Nach der Trennung von ihrem Mann Arthur war sie in dieses Haus gezogen. Sie mochte den unscheinbaren Altbau, und sie liebte das Leben in Biebrich, diesem lebendigen Wiesbadener Stadtteil, der bis ans Rheinufer heranreicht. Von der Haustür ins Büro waren es nur fünf Schritte entlang der Fassade. An den improvisierten Arbeitsraum im ehemaligen Blumenladen erinnerte nichts mehr, seit sie die Wände in einem satten Terrakottaton gestrichen und die abgenutzten Regale gegen neue Möbel getauscht hatte. Aktenordner und Papiere standen und lagen nicht mehr offen herum, sondern waren hinter Schranktüren verschwunden, die ihr halfen, Ordnung zu halten. Für die Klienten gab es eine nette Sitzecke am Fenster. Einmal entschlossen, hatte sie sich aufgemacht und an einem einzigen Samstag sämtliche Möbel ausgewählt. Nur die Suche nach der Jalousie, die neugierige Blicke durch die Schaufensterscheibe verhindern sollte, hatte sich als langwierig und scheinbar aussichtslos erwiesen, bis sie schließlich in einem Biebricher Laden einen apart gemusterten Lamellenvorhang entdeckte. Nun war sie sehr zufrieden mit dem Ergebnis, das genügend Seriosität ausstrahlte, um den Klienten wie ihr selbst den Eindruck zu vermitteln, Norma Tann habe sich als Private Ermittlerin etabliert.
Ihr derzeitiger Auftraggeber war ein Wiesbadener Versicherungsdetektiv, für den sie das Internet nach Adressen durchstöberte. Eine stupide Schreibtischarbeit mit dem Vorzug, passabel bezahlt zu werden. Norma steckte mitten in den Recherchen, als sich durch die Jalousie die Silhouette einer Limousine abzeichnete. Sie stand auf und öffnete die Tür. Auf der Gasse wartete Lutz Tann, Arthurs Vater. Arthurs Tod hatte ihre Freundschaft vertieft. Seit Weihnachten ließ Lutz sich von der fixen Idee treiben, die 100 Jahre alte Villa der Familie zu verkaufen und aus dem Wiesbadener Nerotal wegzuziehen. Ein neues Domizil am Rhein schwebte ihm vor; vielleicht in Schierstein oder einem Winzerort im Rheingau. Der Landstrich am Rhein mit seinen wunderschönen Orten und geschichtsträchtigen Städtchen begann unmittelbar hinter Wiesbadens westlicher Stadtgrenze. In den vergangenen Wochen hatten sie gemeinsam mehrere Häuser besichtigt. Das Traumhaus ließ bisher auf sich warten. Norma war von den Plänen weniger überzeugt. Lutz liebte seine Gewohnheiten. Frühmorgens spazierte er durch die Taunusstraße in die Innenstadt und frühstückte im ›Maldaner‹ oder einem anderen Lieblingscafé, um sich danach um den Verlag zu kümmern. Für den Rückweg nahm er sich gern die Zeit für einen Umweg und schlenderte über die Wilhelmstraße und am Kurhaus entlang. Sie war sicher, das wäre nichts für ihn: Täglich mit dem Bus, dem Taxi oder dem eigenen Wagen in die Stadt zu fahren. Sein Daimler, ein Oldtimer, ins Heute gerettet aus dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, schonte sich die meiste Zeit in der Garage und kam nur zu besonderen Ausfahrten ans Tageslicht. Dieser Vormittag bot offenbar eine solche Gelegenheit.
Galant zog Lutz die Beifahrertür auf. »Zum Weingut Adebar, Madame!«
»Adebar wie Storch?«, wunderte sie sich.
»Vermutlich hat man es nach all den Störchen benannt.«
»Demnach geht es nach Schierstein?«
Das einstige Winzer- und Fischerstädtchen war bekannt für die wachsende Zahl an Storchenpaaren, die dort jeden Sommer brüteten und ihre Küken aufzogen.
Er schaute schwärmerisch. »Ich sehe mich schon mit Undine in einem der hübschen Restaurants am Hafen sitzen. Und mit dir natürlich.«
Er stutzte und musterte ihre langen Blusenärmeln, ohne die blauen Flecken darunter zu erahnen. »So warm angezogen bei der Hitze? Du hast dich hoffentlich nicht erkältet?«
»Alles in Ordnung«, entgegnete sie unbekümmert. »Eigentlich müsste ich arbeiten.«
»Das Exposé klingt viel versprechend. Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest, Norma.«
Der Versicherungsauftrag konnte eine Stunde warten. Sie sperrte das Büro ab. Im Wagen roch es nach Holzwachs und Lederpflegemittel. Sie sank mit einer gewissen Ehrfurcht auf den Sitz nieder.
»Willst du vom Verleger zum Winzer umschulen?«, fragte sie scherzhaft, als Lutz eingestiegen war.
Er lächelte versonnen. »Reizen würde es mich. Aber ich Schreibtischtäter im Weinberg? Die armen Reben! Abgesehen davon geht es nur um die Gebäude. Die Weinberge wurden Mitte der 1980er-Jahre verpachtet. Zu der Zeit, als viele Winzer aufgeben mussten.«
»Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Na, der Glykolskandal im Jahr 1985. Nachdem die Panscherei aufgeflogen war, wollte niemand mehr deutschen Wein kaufen. Was auch die ehrbaren Winzer schwer getroffen hat. Weißt du nicht mehr? Zum Wohl, Glykol! So hieß es damals.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass meine Heimat die norddeutsche Tiefebene ist? 1985 war ich zu jung für Wein und wusste soeben, dass es rote und weiße Trauben gibt.«
Sie war ein echtes Nordlicht, aufgewachsen in einem niedersächsischen Dorf an der Weser. Ihren Polizeidienst hatte sie in Bremen begonnen. Bei einer Schulung im Bundeskriminalamt verliebte sie sich in die Stadt Wiesbaden und ließ sich nach Hessen versetzen. So lautete die offizielle Version, die nicht geschwindelt war. Tatsächlich nahmen die Stadt und das Umland, der Rheingau und der Taunus, Norma auf Anhieb für sich ein. Das Beste am Umzug jedoch waren die 430 Kilometer, die sie fortan von Hauptkommissar Jan Petersen trennten, der ersten und schlimmsten Liebe ihres Lebens. Bei einem der ersten Wiesbadener Einsätze war sie Arthur begegnet, als in dessen Kunst- und Antiquitätengeschäft in der Taunusstraße eingebrochen worden war.
Lutz gab sich ebenfalls Erinnerungen hin. »Ein guter Freund von mir, ein angesehener Winzer, hat sich nach dem Weinskandal mit einem Jagdgewehr erschossen. In seinem Weinkeller. Weil er das Familienweingut nicht retten konnte.«
Norma legte den Gurt an. »Stichwort Familie! Du bist also fest entschlossen, die Villa Tann aufzugeben? Den ehrwürdigen Sitz der Verlegerdynastie Tann?«
Lutz ließ den Wagen an und schaute in den Außenspiegel. »Was nützt mir ein Familiensitz ohne Familie? Arthur, mein Sohn und Erbe, ist tot. Und du willst die Villa nicht übernehmen. Ich müsste so viel Geld hineinstecken. Fenster, Heizung, Elektrik. Und das für ein Haus, das mich traurig macht.«
Der Motor schnurrte los wie Leopold. Lutz steuerte den Daimler durch die Biebricher Gassen und bog in die Rheingaustraße ab, die den Blick auf den Strom freigab und auf das grüne Band der Rettbergsaue. Rechter Hand kam die filigrane Fassade des Biebricher Schlosses in Sicht. Die Sandsteinfiguren auf dem Dach der Rotunde erhoben sich in einen wolkenlosen blauen Himmel.
Lutz deutete auf die Ablage vor dem Beifahrersitz. »Sieh dir das Exposé an! Das Weingut Adebar, das hat was!«
Norma blätterte in den Unterlagen. »Stimmt, das Weingut hat was. Und zwar einen beträchtlichen Investitionsbedarf! Soweit ich das als Laie beurteilen kann.«
»Noch nichts kaputtsaniert, meint der Makler. Das Anwesen gehört einer älteren Dame, einer Winzerwitwe. Offenbar hat der einzige Sohn kein Interesse daran.«
Sie kurbelte die Scheibe hinunter und schnupperte in den Fahrtwind hinein. »Wie viele Jahre willst du auf einer Baustelle leben, Lutz?«
Mit knapp 60 sei er gewiss nicht zu alt für einen Neustart, erklärte er mit vorsichtiger Empörung und tuckerte in einer Bierruhe voran, die den nachfolgenden Fahrern den Schweiß auf die Stirn treiben musste.
»Die Villa Tann hieße konservieren. Das Weingut ist Aufbruch«, fügte er pathetisch hinzu.
»Was meint eigentlich Undine zu deinen Umzugsplänen?«
Seine Lebensgefährtin Undine Abendstern wohnte in einem Jugendstilhaus im Wiesbadener Dichterviertel. Norma konnte sich nicht vorstellen, dass die überkandidelte Galeristin ihre schicke Altbauwohnung verlassen würde, um an den Rhein zu ziehen.
Er zuckte ergeben mit den Schultern, beide Hände sicher am Lenkrad. »Ihr ist es gleich, wo ich wohne. Wir treffen uns sowieso meistens bei ihr. Sie will nicht mit mir zusammenziehen, selbst dann nicht, wenn Nina nach Paris gehen sollte.«
Hinsichtlich ihrer Extravaganz schenkten sich Mutter und Tochter nicht viel. Das Modestudium in Frankreich war Ninas Lebenstraum, und Undines Trauer über den Auszug der kapriziösen Tochter würde sich in Grenzen halten, vermutete Norma. Die Launen der Galeristin verlangten Lutz einigen Langmut ab. Was der ansonsten gescheite Verleger wie eine Naturgewalt abwetterte.
Die vier Kilometer entlang des Rheins zwischen Biebrich und Schierstein waren schnell zurückgelegt. Sie erreichten eine Seitengasse. Sorgsam auf genügend Abstand zum sich herandrängenden Mauerwerk bedacht, stoppte Lutz den Wagen vor einem mannshohen Holztor, dem ein neuer Anstrich gutgetan hätte. Wie aus dem Nichts war ein junger Mann zur Stelle und drückte die Flügel auf. Er winkte den Oldtimer hinein und zupfte nervös an seiner feuerroten Krawatte, einem Signalfleck inmitten des Anzuggraus.
Er empfing sie mit Handschlag und einer angedeuteten Verbeugung. »Philipp Faber vom Maklerbüro ›Traumhaus am Rhein‹. Bitte, schauen Sie sich um!«
Norma nahm ihn beim Wort. Zauberhaft, dachte sie. Sofern man sich nicht von dem heruntergekommenen Zustand abschrecken ließ. Eingeschossige Fachwerkbauten, vermutlich die Wirtschaftsgebäude, umschlossen einen geräumigen Innenhof. An der Stirnseite prangte ein Steinhaus: dreistöckig, mit hohem, spitzem Giebel und symmetrisch angeordneten Fenstern. Der doppelläufige Treppenaufgang verlieh dem Haus ein herrschaftliches Erscheinungsbild, das der von Säulen umrahmte Hauseingang verstärkte. Man brauchte allerdings ein gehöriges Quantum an Vorstellungskraft, um die vergrauten Außenwände und den bröckelnden Putz schön zu finden. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Schatten am Himmel wahr und erspähte im Aufschauen einen riesigen Vogel, der ohne einen Flügelschlag über den Innenhof segelte.
Der Makler hob den Arm und zeigte in die Richtung, in der der Vogel verschwunden war. »Die Störche haben auf dem Scheunenfirst ein Nest gebaut. Keine Sorge, das stört überhaupt nicht«, fügte er hastig hinzu.
»Mich ganz bestimmt nicht«, wiegelte Lutz die Bedenken des jungen Mannes ab. »Aus welchem Jahr stammt das Haus?«
»Das Wohnhaus wurde 1884 im klassizistischen Stil gebaut«, erklärte Faber textsicher. »Außergewöhnlich für ein Weingut dieser Größe. Ein echter Schatz der Architektur. Warten Sie nur, bis Sie das Haus von innen sehen, Herr Tann!«
Norma deutete auf ein Fachwerkhäuschen, das, umrahmt von Wirtschaftsgebäuden, dem Haupthaus gegenüberlag und sich mit properer Fassade und einem heilen Dach schmückte.
»Da sehen Sie, was sich aus der Bausubstanz machen lässt«, begeisterte sich der Makler.
»Das wäre wunderbar, Norma!«, rief Lutz spontan. »Ein kleines Haus für dich allein.«
Die Gesichtsfarbe des Maklers machte schlagartig dem Rot der Krawatte Konkurrenz. »Ja, ähm… hat man Ihnen das im Büro nicht gesagt, Herr Tann?«
Lutz fuhr herum. »Bitte, was hätte man mir sagen sollen?«
Fabers Wangenrot wechselte ins Purpur. »Ähm … das Fachwerkhaus ist aus dem Ensemble ausgeschlossen. Es gehört … jemand anders.«
Damit war es raus! Der junge Mann lächelte erleichtert.
Lutz dagegen erblasste, ein Zeichen, dass er ungehalten wurde, was selten vorkam. »Soll das heißen, ich müsste mir den Innenhof mit einem weiteren Hausbesitzer teilen?«
»Mit einer Dame vom Gericht«, versuchte der Makler zu retten, was zu retten war. »Eine Staatsanwältin. Eine Frau Doktor. Alleinstehend. Sehr, sehr ruhig.«
Kaum ausgesprochen, erhob sich im Innern des Häuschens ein Wutgeheul. Hinter der verglasten Haustür sprang ein braun-weißes Bündel wie ein Ball auf und ab und wollte sich gar nicht beruhigen.
»Ein Jack-Russell-Terrier«, murmelte der Makler. »Ein entzückendes kleines Wesen. Ich weiß gar nicht, was er heute hat.«
Norma biss sich auf die Lippen. Das war eindeutig nicht Philipp Fabers Tag.
Lutz richtete einen strengen Blick auf den jungen Mann. »Herr Faber! Ob Dame oder nicht. Ob mit oder ohne Doktor, Hund oder Katze: Was kümmert mich das? Ich wünsche ein Haus ohne Mitbesitzer.«
»Möglicherweise wäre Frau Dr. Bennefeld vielleicht bereit zu verkaufen«, wandte der Makler hoffnungsvoll ein.
Ein ›eventuell‹ hätte der Satz noch verkraftet, dachte Norma belustigt.
Lutz schien nicht im Geringsten amüsiert. »Klären Sie das! Wir fahren, Norma!«
Sie nickte Faber, der glühte wie ein romantischer Sonnenuntergang, aufmunternd zu und folgte Lutz zum Wagen. Sie waren noch nicht am Parkplatz angelangt, als sich die Haustür des Haupthauses auftat. Eine Frau, nicht ganz so jung wie die saloppe Jeans und die feuerrote Frisur auf den ersten Blick vermuten ließen, stieg mit leichtem Schritt die Stufen hinunter. Ein weibliches Wesen unbeachtet zu lassen, wäre Lutz niemals in den Sinn gekommen. Er machte auf der Stelle kehrt. Faber schöpfte neue Hoffnung und stellte die Frau als Henriette Medzig vor, die Besitzerin des Anwesens.
Sie schüttelte Lutz und Norma die Hand. »Wie schön, dass Sie gekommen sind! Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Hat Herr Faber Sie bereits herumgeführt?«
Der Makler räusperte sich. »Es gibt ein Problem, Frau Medzig. Herr Tann hat Bedenken wegen der Besitzverhältnisse.«
»Haben Sie meinen Sohn getroffen?«, fragte sie.
»Das wird ja immer komplizierter«, zischelte Lutz.
»Es geht um das Haus der Staatsanwältin«, erklärte der Makler und errötete aufs Neue.
»Lassen Sie uns später darüber reden«, schlug Henriette Medzig vor. »Kommen Sie! Zuerst das Haus?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich dem Treppenaufgang zu. Lutz wechselte einen Blick mit Norma, verdrehte die Augen, und beide folgten der Hausherrin in die geräumige Diele, der genügend von der einstigen Pracht geblieben war, um Norma Staunen zu lassen. Doch, musste sie sich im Stillen eingestehen, das Haus hatte etwas! Es passte zu Lutz. Die Instandsetzung vorausgesetzt.
Sie wünsche sich, dass das Weingut in gute Hände komme, erzählte Henriette Medzig während des Rundgangs durch ihre Wohnung in der unteren Etage. Lutz war sehr angetan von der geräumigen Wohnküche.
»Sie sehen selbst«, sagte Henriette Medzig, »hier muss kräftig renoviert werden. Ich bin über 70 und dafür fehlt mir die Energie. Lieber möchte ich in eine hübsche, kleine Wohnung ziehen.«
Sie hatten die Diele wieder erreicht.
Lutz schaute sich nach allen Seiten um. »Das wäre der ideale Ort für meinen Kronleuchter. Und vor den Kamin kommt der lange Esstisch! Genügend Platz für alle meine Freunde.«
Früher hatte er regelmäßig zu großen Gesellschaften eingeladen. Nach Arthurs Tod war es still geworden in der Villa Tann.
Norma deutete auf die elegant geschwungene Treppe ins Obergeschoss. »Können wir hinaufgehen?«
»Ähm«, räusperte sich der Makler. »Das müssen wir aufschieben. Der Bewohner hat die Zimmer abgeschlossen.«
Die Hausherrin entschuldigte sich. »Dort oben wohnt mein Sohn. Er ist nicht gegen den Verkauf, allerdings hat er andere Vorstellungen als ich. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Der Besitz gehört Oliver und mir gemeinsam, und wir werden uns bestimmt einig. Jetzt müssen Sie unbedingt den Weinkeller sehen. Kommen Sie, kommen Sie!«
Der Makler riss die Haustür auf.
Norma hielt Lutz zurück und flüsterte ihm ins Ohr: »Ein Sohn, der sich vermutlich rausklagen lassen wird, und eine Nachbarin, mit der du dich über jeden Geranienkübel einigen musst. Lohnt sich das, Lutz?«
»Das Haus hat Potenzial, daraus könnte man viel machen«, gab er leise zurück. »Was die Umstände betrifft, hast du mit deinen Bedenken recht. Draußen seilen wir uns ab!«
Auf dem Hof bedankte Lutz sich mit der unverbindlichen Bemerkung, für einen ersten Eindruck habe er genug gesehen. Die Hausherrin wollte ihn nicht gehen lassen. Er müsse unbedingt den Keller besichtigen, wiederholte sie. Ihrer herzlichen Einladung konnte er nur mit einem ergebenen Schulterzucken begegnen und folgte dem wieselflink vorauseilenden Makler über den Hof.
Henriette Medzig wartete auf Norma. »Ihr Herr Schwiegervater würde sich hier bestimmt sehr wohlfühlen. Werden Sie zu ihm ziehen?«
»Ich denke nicht«, antwortete Norma freundlich. »Mir gefällt meine Biebricher Wohnung. Und ich habe es nicht weit in mein Büro.«
»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
Norma stellte sich auf die übliche Verwunderung oder kühle Ablehnung ein. Die wenigsten Menschen reagierten auf ihren Beruf unvoreingenommen.
Henriette Medzig gehörte zu denen, die andächtig staunten. »Eine echte Privatdetektivin!«
Norma reichte ihr eine Visitenkarte. »Falls Sie einmal Hilfe brauchen.«
Mit einem Lächeln schob Henriette Medzig die Karte in die Hosentasche. »Man kann nie wissen! Ach, da ist Angela!«
Sie winkte einer Frau im dunklen Hosenanzug zu, die dem kleinen Trupp entgegenschritt. Das gescheckte Hündchen wuselte um ihre Beine herum. Die Frau stellte sich als Dr. Angela Bennefeld, Staatsanwältin am Wiesbadener Landgericht, vor und reichte erst Norma und Lutz, dann dem Makler die Hand.
Ihr gehöre ein geringer Teil des Anwesens, dieser jedoch schwarz auf weiß, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich bedaure sehr, dass Henriette fortziehen will. Ihre Gründe kann ich verstehen. Allerdings ist es mir nicht egal, was aus dem Weingut wird.« Sie wolle ihr Mitspracherecht in Anspruch nehmen und weder einem Hotel noch dem Umbau zu Eigentumswohnungen zustimmen. Sie sei in der Nachbarschaft aufgewachsen und ihr liege sehr viel an der historischen Bausubstanz.
Norma schnupperte verstohlen. Täuschte sie sich oder umwehte die Staatsanwältin am helllichten Vormittag ein Hauch von Alkohol?
Er suche etwas für sich privat, erklärte Lutz zurückhaltend. Und er denke nicht, hier das Passende gefunden zu haben. Der Makler schob den Anzugärmel hoch und schaute auf die Uhr, als hätte er mit diesem Termin bereits abgeschlossen.
»Aber der Keller!«, rief Henriette Medzig. »Sie dürfen nicht gehen, ohne den Keller gesehen zu haben.«
Allmählich wurde Norma richtig neugierig auf diesen Keller. Henriette Medzig zog einen Schlüssel aus der Hosentasche, und Philipp Faber half ihr, die schwergewichtige Holztür aufzustoßen. Die Staatsanwältin hatte den Terrier ins Haus gebracht und eilte hinterher. Im Gänsemarsch stiegen sie die Wendeltreppe hinunter. Norma tastete sich die letzten Schritte an der Wand entlang, weil das Licht immer schwächer wurde. Im Schatten machte sich Henriette Medzig an der Mauer zu schaffen, bis eine Lampe aufflackerte und ein weitgespanntes Gewölbe erkennbar wurde, unter dem sich mehrere Gänge im Dunkel verloren. Henriette Medzig schaltete im Hauptgang die Beleuchtung ein. Norma spähte hinein. Weinkisten und Gerümpel stapelten sich in einer Ecke. Vor den rauen Wänden reihte sich ein hölzernes Weinfass an das andere.
»Puh!«, machte Lutz. »Was für Ausmaße!«
Henriette Medzig lächelte selbstgefällig. »Was Sie hier sehen, ist nur ein Teil der Fläche. Kommen Sie!«
Weiter ging es, um Ecken, durch Gänge und unter Kreuzgewölbe hindurch: Kellerräume, so weit das Licht reichte, und dahinter öffneten sich weitere Kammern. Die Hausherrin wanderte zielstrebig vorweg, gefolgt von Lutz und Norma. Den Schluss bildeten die Staatsanwältin und der Makler. Der Keller wirkte einschüchternd in seinen Dimensionen.
»Die Kellerräume scheinen kein Ende zu nehmen«, staunte Lutz. »Wie viele Quadratmeter sind es insgesamt?«
»Um die 1.000«, verkündete die Hausherrin mit Besitzerstolz. »Der Keller reicht bis unter die angrenzenden Grundstücke. Ursprünglich gab es sogar einen Geheimgang zum Keller unserer Nachbarn, den Bennefelds.«
Die Staatsanwältin drängte sich an Norma vorbei. »Was sagst du, Henriette? Eine Verbindung zwischen unseren Kellern? Davon höre ich zum ersten Mal!« Sie wirkte mehr als verblüfft – beinahe bestürzt.
Bis 1986 habe das Nachbarweingut der Familie Bennefeld gehört, erklärte Henriette Medzig, an Lutz und Norma gewandt, bevor sie der Staatsanwältin antwortete: »Ich wusste selbst lange nichts davon. Über die Generationen ist der Gang in Vergessenheit geraten. Bis Harry die Öffnung zufällig beim Aufräumen entdeckt hat. Der Zugang lag versteckt hinter Brettern und Regalen.«
Die Staatsanwältin spitzte die Lippen. »Ausgerechnet Harry!«
»Harry ist Ihr Sohn?«, fragte Norma, mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.
Henriette Medzig zuckte zurück. »Wie bitte? Nein, nein, Harry war unser Lehrling. Später arbeitete er ein paar Jahre als unser Geschäftsführer. Inzwischen ist er ein berühmter Weinkenner. Manchmal sieht man ihn sogar im Fernsehen.« Bestimmt hätten sie von Ulf-Harald Halvard gehört.
Lutz nickte. »Der ›Weinpapst‹, natürlich! Das Tagblatt hat neulich erst ein Porträt über ihn gebracht.«
Auch Norma erinnerte sich an den Zeitungsartikel aus der Reihe ›Erfolgreiche Persönlichkeiten der Region‹. Ulf-Harald Halvard, der als Weinjournalist von sich reden machte, war der Sohn des Kommunalpolitikers Onno Halvard, dem Gründer und Vorsitzenden der ZfWi, der Partei ›Zukunft für Wiesbaden‹. Dass der ›Löwe von Wiesbaden‹, der seinen Spitznamen der einstmals weizenblonden und zwischenzeitlich weißen Haarpracht verdankte, sein höchstes Ziel – das Amt des Oberbürgermeisters – niemals erreicht hatte, schadete der Beliebtheit des eloquenten Politikers kaum. Die nächste Kommunalwahl stand in Kürze bevor, und seinem Alter zum Trotz führte der 77-Jährige seine Partei im Wahlkampf an.
Die Staatsanwältin griff nach dem Arm der Nachbarin. »In welchem Jahr hat Harry den Verbindungsgang entdeckt?«
Henriette Medzig schüttelte die Hand energisch ab. »Ich erinnere mich nicht. Ach, hätte ich besser gar nicht davon angefangen.«
»Bitte weich nicht aus, Henriette. Wann ist Harry auf die Verbindung gestoßen? Vor oder nach Ewalds Tod?«
»Was hat Ewald damit zu tun?«, fragte die Winzerin zunehmend aufgeregt. »Warum willst du das so genau wissen?«
»Vor oder nach Ewalds Verschwinden?«, wiederholte die Staatsanwältin hartnäckig.
Henriette Medzig schüttelte energisch den Kopf. »Ich weiß es nicht, glaub mir das!«
Norma horchte auf. Vermisstenfälle gingen ihr zu Herzen. Auch Arthur war damals über Nacht verschwunden. Quälende Tage und Nächte folgten, bis man seinen toten Körper fand. Auf ihre behutsame Nachfrage erzählte Henriette Medzig, ihr Mann sei in den Freitod gegangen. Seine Leiche sei nie gefunden worden und liege vermutlich in einem unzugänglichen Dickicht auf der Hallgarter Zange, einer Bergkuppe oberhalb von Hallgarten im Rheingau.
»Im Wald dort ist er am liebsten spazieren gegangen. Es tut weh, wenn man den eigenen Mann nicht beerdigen kann.«
»Darf ich fragen, seit wann ihr Mann verschollen ist?«
Das sei 1985 geschehen, lautete die Antwort.
»Im Jahr des Glykolskandals«, warf Lutz ein.
Henriette Medzig legte mit einer schnellen Geste die Hände an die Wangen. »Hören Sie mir auf mit diesem entsetzlichen Jahr. Es war der Anfang vom Ende unseres Weinguts. Gehen wir zurück?«
Sie bog in einen weiteren Gang ein. Norma schaute sich zur Staatsanwältin um, die mit großem Abstand folgte. Endlich erreichten sie wieder den Hauptgang.
Der Makler, der sich während der Erkundung mit Bemerkungen zurückgehalten hatte, meldete sich zu Wort. Mit ausgestreckter Hand deutete er hinauf zum Deckengewölbe. »Das hält ewig. Wir haben die Statik prüfen lassen.«
»Kommst du bitte mal!« Lutz zupfte Norma am Ärmel und zog sie in einen kürzeren Seitengang hinein. Vor der Stirnwand stand ein mannshohes Weinfass.
»Das ist Zeitverschwendung. Lass uns fahren!«, bat sie.
»Wieso denn?«, gab er flüsternd zurück. Seine Augen glitzerten voller Entzücken. »Der Keller ist der Wahnsinn.«
»Hier unten brauchst du den Faden der Ariadne! Was willst du mit so viel Kellerraum anfangen?«
»Oh, mir fallen die unterschiedlichsten Verwendungen ein. Konzerte. Kunstausstellungen. Undine wird hin und weg sein.«
»Warum nicht gleich eine Geisterbahn?«
Er lächelte beglückt. »Der Keller ist ein Traum, Norma.«
»Wohl eher ein Albtraum!«
Er legte die Hände auf das schwärzliche Holzfass, das ihm bis zur Stirn reichte. Er wandte sich um und rief in den Gang hinein: »Ist noch Wein in diesem Fass?«
»Nein, nein, die Fässer sind alle leer«, klang Henriette Medzigs Stimme herüber.
Norma bemerkte eine kleine Tür an der Frontseite.
Lutz bückte sich und ruckelte an der Verriegelung, bis sich das Türchen einen Spaltbreit öffnen ließ. »Das nennt man ein Mannloch. Gelegentlich muss so ein Fass gereinigt werden.«
Henriette Medzig eilte herbei, mit dem Makler auf den Fersen. »Wir produzieren seit Langem keinen Wein mehr. Nachdem mein Mann für tot erklärt wurde und kurz darauf auch noch Harry kündigte, habe ich die Weinberge abgegeben. Der Keller wird seitdem nicht mehr genutzt.«
»Und ihr Sohn?«, fragte Lutz. »Wollte er das Weingut nicht weiterführen?«
»Als Ewald starb, steckte Oliver mitten in der Winzerlehre. Er hätte vielleicht gewollt, war leider zu jung dafür. Später nahm er eine Stelle in der Sektkellerei an und arbeitet dort bis heute.«
Lutz wandte sich wieder dem Weinfass zu. »Beeindruckend! Verkaufen Sie es mir?«
Henriette Medzig drehte sich mit ausgestrecktem Arm im Kreis. »Hier können Sie kaufen, was Sie wollen. Aber warum nehmen Sie nicht gleich das gesamte Anwesen?«
Durch den Hauptgang polterten Schritte und eine aufgebrachte Männerstimme hallte von den Mauern wider.
Henriette hielt abrupt inne. »Mein Sohn Oliver! Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«
Während sie davonhastete, tauchte die Staatsanwältin in eine dunkle Nische ab. Der Makler tat, als fesselte ihn die Lichtelektrik im Deckengewölbe.
»Was willst du mit dem Fass, Lutz?«, flüsterte Norma.
»Geteilt gibt es zwei prima Tauchbecken für die Sauna!«
Eine eigene Sauna war seit Langem sein Wunsch. Aber ausgerechnet jetzt? »Du willst die Villa Tann doch verkaufen!«
»Die Sauna soll nicht in die Villa. Sie kommt ins Verlagshaus.« Eine Sauna für ihn allein, fügte er hinzu, bedeute Verschwendung. Im Keller des Verlagshauses hätten seine Mitarbeiter und die Mieter ebenfalls etwas davon.
Philipp Faber näherte sich unsicher und wurde von der Staatsanwältin ausgebremst, die ihn mit straffen Schritten überholte. Eine Schnapsfahne stieg Norma in die Nase. Hatte Frau Dr. die Gelegenheit zum Nachtanken genutzt? Auf jeden Fall besaß sie ein gutes Gehör.
»Ein Weinfass als Tauchbecken? Gute Idee!«, sagte sie und musterte das Fass kritisch. »Sofern es dicht ist.«
»Das lässt sich überprüfen!« Lutz bückte sich, um das Türchen weiter aufzuziehen.
»Hände weg!«, rief Oliver Medzig und stapfte ärgerlich den Gang entlang. »Lassen Sie das!«
Lutz richtete sich auf. »Was soll passieren? Das Fass ist leer!«
»Daran haben Sie trotzdem nicht rumzufummeln!«
Im Lichtschein schimmerte der schmale, helle Haarkranz, der dem Mann geblieben war. Henriette Medzig tätschelte den Arm ihres Sohnes.
Der Mann ließ sich nicht besänftigen. »Was sollen diese Leute hier, Mutter? Hatte ich nicht gesagt: keine weiteren Besichtigungen?«
Erstaunlich energisch riss der Makler die Hand in die Höhe. »Augenblick bitte, heißt das, Sie haben bereits …«
Oliver Medzig fiel ihm ins Wort: »Mehrere ernsthafte Interessenten, jawohl! Leute mit richtig Kohle. Das gibt gutes Geld, und wir müssen nicht länger Schulden machen für die maroden Gebäude. Ich kann mir keine Gefühlsduselei leisten.«
Seine Mutter widersprach ärgerlich: »Bloß nicht dieser Investor! Willst du unser Weingut in Eigentumswohnungen zerstückeln lassen?«
»Warum nicht? Vielleicht wird sogar ein Hotel daraus«, entgegnete der Sohn selbstgefällig. »Mit dem Keller als neuem Eventzentrum für Wiesbaden und den gesamten Rheingau.«
Die Staatsanwältin schnappte nach Luft. »Eigentumswohnungen? Hotel? Das kommt überhaupt nicht infrage! Nicht, solange ich hier wohne.«
»Die Leute haben Geld wie Heu, die zahlen dich aus«, zischte Oliver Medzig. »Dann bist du hier weg.«
Angela Bennefeld lachte auf. »Nein, Oliver, das ist ein Denkfehler. Du gehst fort. Ich bleibe!«
Die Mittagssonne hatte einige der älteren Herrschaften vor den Haupteingang gelockt. Stumm harrten sie auf Bänken oder im Rollstuhl aus und drückten ungeachtet der sommerlichen Wärme eine Wolldecke fest auf die Knie. Angela senkte den Kopf und eilte vorüber. Kein Wort fiel. Kein Blick schien ihr zu folgen. Nur der Mann im Jogginganzug, der zu jeder Tageszeit vor der Tür stand und rauchte, grüßte sie mit gleichmütigem Nicken wie eine gute Bekannte. Im Haus steuerte sie als Erstes die Gästetoilette an und lehnte sich mit dem Rücken gegen die verriegelte Tür. Ein Griff in die Handtasche brachte das hübsche Silbergefäß zum Vorschein, das nicht mehr Platz beanspruchte als ein Päckchen Taschentücher. Für diese Unauffälligkeit nahm sie in Kauf, des Öfteren nachfüllen zu müssen. Ungeduldig schraubte sie den Deckel auf und leerte den Flachmann zur Hälfte. Vor dem Spiegel fuhr sie sich mit den Fingerspitzen durchs Haar. Die Lippen nachzuziehen könnte nicht schaden. Ihre Finger zitterten, als sie in der Handtasche nach dem Lippenstift wühlte. Wo war das Ding? Ach was, für ihn sollte es genügen. Er würde sie sowieso kaum wahrnehmen. Ihre Finger stießen an das kühle Metall. Lieber noch einen Schluck nehmen. Oder alles. Dass in den Flachmann so wenig reinging! Zurück zum Wagen? Das hieße, aufs Neue am Rollstuhlspalier vorbei. Außerdem – sie hatte alles unter Kontrolle. Sie hauchte gegen die Handfläche und spülte sich den Mund mit Wasser aus. Die Traubenzuckerbonbons waren ihr ausgegangen, der Garant gegen eine Alkoholfahne, wie die Werbung versprach. Die Pillen bezog sie schön anonym über das Internet.