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Michael Boenke

Nonnenfürzle

Kriminalroman

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: Michael Boenke

ISBN 978-3-8392-3932-2

 

 

 

 

Danke für unermüdliche Geduld und Hilfe – Kathrin

Danke für die Aufmerksamkeit – Charlotte

Danke für die Ratschläge und so schöne Worte wie »Größenselbst« und »Insuffizienzgefühle« – Dr. Christoph Schwannecke

 

 

 

Milch aufs Feuer

Butter fein

etwas Salz in Topf hinein

Mehl dazu

rühre glatt ohne Ruh

Eier viel zum Teige geben

Natrium und Sauersalz

ein Messerspitzle eben

erweckt den Teig zum Leben

kräftig nun beim Kneten schwitzen

Fett erhitzen

Teig reinspritzen

etwas vom Vanille G’würzle

goldgelb lacht das Nonnenfürzle

1
Kopflos

 

O Haupt voll Blut und Wunden

 

O edles Angesichte,

davor das Reich der Welt

erschrickt und wird zunichte,

wie bist du so entstellt,

wie bist du so erbleichet!

Wer hat dein Augenlicht,

dem sonst kein Licht mehr gleichet,

so schmachvoll zugericht’t?

Paul Gerhardt (16071676) und Johann Crüger

(15981662)

 

Schwester Immaculata-Flora tat das, was sie jeden Tag nach dem gemeinschaftlichen Abendessen in ihrer raren Freizeit tat. Zur Ehre des Herrn und seiner wunderbaren Schöpfung und zum Lobe einer guten Verdauung nahm sie ihre Luxus-Nordic-Walking-Stäbe aus hochfestem Aluminium und entfloh strammen Schrittes dem mächtigen Kloster. Wie immer lief sie zuerst in nordwestliche Richtung entlang am verschneiten Wald, um dann im leichten Knick bergab nach Wagenhausen zur Sießener Säge zu gelangen. Der Weiher lag zugefroren vor ihr, und da es schon dunkel war, befand sich niemand auf dem tragfähigen Eis, das knackend frostige Selbstgespräche führte. Immaculata-Flora nahm mit dampfendem Atem den Pfad zum Strandbad und drang nun, den temperaturbedingt verwaisten Badestrand hinter sich lassend, in den düsteren Wald ein. Den schmalen, ansteigenden Weg leuchtete ihre Stirnlampe, die sie über ihrem Schleier mit einem Elastikband befestigt hatte, leidlich aus. Immer wieder rutschten die Wanderschuhe auf der eisigen Strecke unter ihrem zarten Gewicht weg. Schwester Immaculata-Flora war Ordensfrau im Kloster der Franziskanerinnen und mit ihren 25 Jahren in bester körperlicher Verfassung. Trotzdem verschnaufte sie am höchsten Punkt des Anstieges längs des Weihers. Sie lehnte sich kurz mit beiden Händen an das Holzgeländer, die schwarzen, weiten Ärmel ihrer Tracht wurden von den Schlaufen der Walking-Stecken nach oben geschoben. Mit der Stirnlampe leuchtete sie auf die kleinen Forellenteiche hinunter, die zur Zucht selbiger entlang des Weihers von geschäftstüchtigen Land- und Wasserwirten angelegt waren. Im Sommer, als es zu ihrer Laufzeit noch hell war, vertrieb sie mit einem energischen Schlag der Aluminiumstecken gegeneinander die Reiher, die zum Leidwesen der Forellenzüchter hier reiche Beute machten. Sie schob die Ärmel ihrer Tracht über die fröstelnden Arme nach unten und schon bald befand sie sich wieder in einem meditativen, gottgefälligen Walkingrhythmus. Der Lichtkegel der Stirnlampe warf bizarre Schatten auf Weg, blattlose Bäume und Sträucher. Fröhlich, die kurze Abwärtsstrecke genießend, sang weißer Atem mit hoher Vibrato-Kopfstimme aus dem Mund der gottesfürchtigen Jung-Franziskanerin:

 

»Herr, du weißt, wie arm wir wandern

durch die Gassen dieser Welt,

wenn der Glanz von einer andern

nicht auf unsre Schritte fällt.

Leuchte du mit deinem Schein

in die dunkle Welt hinein.«

 

Ein Wald bewohnendes Tier, den jungfräulichen Gesang missverstehend, brach jäh im düsteren Forst durch das Gehölz. Mit forciertem Crescendo sang die fromme Sportlerin zur eigenen Beruhigung die zweite Strophe des erbaulichen Liedes mit nun leicht brechendem Vibrato in der Stimme und beschleunigte die langberockten Schritte:

 

»Herr, du weißt, wie leicht wir sinken

auf den Wegstein müd und schwach,

wenn nicht deine Sterne blinken

und uns sagen: Du bist wach!

Leuchte drum mit deinem Schein

in die dunkle Welt hinein.«

 

Kurz bevor sie den tiefsten Punkt hinter der provisorischen Schranke erreicht hatte, hörte sie das Schlagen zweier Autotüren, dann das nervöse, eigenartige Klacken eines Anlassers und schließlich, als der marode Starter doch noch seinen Dienst verrichtete, den jaulenden Versuch, ein Auto auf dem vereisten und verschneiten Waldweg schleunigst wegzufahren. Die hinterste Freud’sche Schublade ihres ansonsten frommen Unterbewusstseins meldete ihr dieses Startgeräusch als bekannt.

Immaculata-Flora lächelte verschämt, hier hatte sie schon zweimal im letzten Sommer, als sie noch Novizin war, Liebespärchen im Auto überrascht. Der heiligen Gottesmutter Maria sei Dank hatte sie heute laut gesungen, so hatten die Unkeuschen Zeit, sich unerkannt aus dem Staub zu machen. Es war ihr fürchterlich peinlich gewesen, als sie an einem auffallend kühlen Sommerabend zu dem kleinen Auto kam, aus dem sie das verzweifelte Stöhnen eines Menschen hörte. Die Scheiben des Wagens waren beschlagen und sie riss in Sorgeum den verletzten, leidenden Menschen, den sie im Auto wähnte, die Tür auf. Gleich einer Samariter in hätte sie dem Notleidenden Schutz und Hilfe angeboten. Wie war sie erschrocken, als sie sah, dass zwei junge Menschen Unzucht miteinander trieben. Deshalb wartete sie heute bis der Wagen sich mit singenden Reifen aus seiner schlüpfrigen Situation befreit hatte und dachte, sich bekreuzigend, ganz kurz an das weiße, haarige Gesäß und die weit gespreizten haarlosen Beine, die auf dem Armaturenbrett lagen. Singend schritt sie zögerlich weiter, als sie hörte, dass das Auto die geteerte Straße nach Sießen erreicht hatte und mit kreischendem Motor beschleunigte.

 

»Ach lass die Wollust dieser Welt,

Pracht, Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld dir

länger nicht gebieten!

Schau an die große Sicherheit, die falsche Welt und

böse Zeit, zusamt des Teufels Wüten.«

 

Als sie den locus cupido, den Begierde-Platz, wie sie ihn seither in Gedanken nannte, erreichte, sah sie die Spur des Wagens. Der Geruch von Benzin und der Dampf des Auspuffs lagen immer noch in der kristallenen Luft. Und auf dem Boden lag ein lederner Handschuh. Sie bückte sich nach ihm, er war auffallend schwer.

Dann sah sie den gesplitterten Knochen. Mit einem gehauchten Seufzer ließ sie das, was sie für einen Handschuh gehalten hatte, eine abgetrennte Hand, auf den gefrorenen Waldboden fallen. Das Geräusch war lauter, als sie gedacht hatte.

»Oh gnadenreiche Maria, was ist denn das?«

Sie streifte die Handriemen ihrer Stecken ab und riss sich die Stirnleuchte vom beschleierten Kopf. Zitternd leuchtete sie rundum. Eine Schleifspur führte durch den Schnee vom Weg in den ansteigenden Wald hinein – zu einem blauen Plastiksack. Sie hob einen ihrer Aluminium-Stecken wieder auf, stapfte wenige Meter steil hangaufwärts zum ausgebeulten, blauen Müllsack und fummelte aus vorsichtiger Distanz mit der Spitze des Walking-Werkzeuges in die Öffnung des blauen Beutels.

Immaculata-Floras Atem gefror zu stummen Wölkchen.

Da der Sack mit der Öffnung bergabwärts lag, kullerte ihr ein schwarz behaarter Kopf am steilen Gelände entgegen. Sie schrie auf und versuchte, das gemächlich rollende Haupt zu stoppen, bevor es ihre Füße erreichte. Panisch stieß sie zu. Der Abwärtsdrang des körperlosen Hauptes war vehement gestoppt. Die Spitze des Nordic-Walking-Gerätes steckte in der Nase des unbeleibten Wehrlosen. Wie zwei Tischtennisbälle mit dunklen Öffnungen glotzten sie zwei Augen an.

Kopflos rannte Immaculata-Flora los. Richtung Mutterhaus. All ihre irdischen Schätze, sogar ihren Namen Roswitha Breuchhammer, aber auch ihr Handy hatte sie vor der ewigen Profess abgegeben, kurzfristig bereute sie es.

Dann, nach wenigen Minuten tauchten die Mauern des schützenden Klosters hoch und dunkel vor ihr auf. Sie stoppte kurz, stützte sich mit beiden Händen keuchend auf den Oberschenkeln ab, um wieder ruhiger atmen zu können. Und dann fiel ihr blitzlichtartig ein, warum sie der Kopf so erschreckt hatte:

Es war nicht nur die Tatsache, dass ihr während ihrer Walking-Meditation ein menschliches Haupt vor die Füße gerollt war, es war das Aussehen des abgetrennten Körperteils. Das Gesicht. Und jetzt tauchten auch die Bilder in ihrem Kopf auf und sie ordneten sich mittels einer mentalen Automatik. Solche Gesichter hatte sie schon einmal gesehen und es hatte sie abgestoßen. Es waren die Bilder von toten Gesichtern und toten Leibern. Es waren die Gesichter, die dieser Gottlose herstellte. Der mit seinem schwarzen Hut. Der, der schon selbst wie ein schlechtes Plastinat aussah, dieser Gunther von Hagens. Genau, man nannte ihn den Plastinator! Und exakt wie dessen perverse Produkte sah dieses Gesicht, das ihr entgegenrollte, aus. Es war gehäutet, nur die Haare mit ihrer Kopfhaut bedeckten noch den Schädel. Schlagartig wurde ihr retrospektiv übel.

2
Hirschtreffen

 

O Heilger Geist, kehr bei uns ein

 

Du Quell, draus alle Weisheit fließt,

die sich in fromme Seelen gießt,

lass deinen Trost uns hören,

dass wir in Glaubenseinigkeit

auch können alle Christenheit

dein wahres Zeugnis lehren.

Höre, lehre, dass wir können

Herz und Sinnen dir ergeben,

dir zum Lob und uns zum Leben.

Michael Schirmer (16061673)

 

»Bönle, Augenblick mal!«, hörte ich eine Stimme dicht hinter und über mir.

Ich erkannte sie, es war die schöne Sopranstimme meines Rektors, und sie unterbrach das starke Bedürfnis meiner Beine, den Ausgang der Gewerblichen Schule Bad Saulgau zu durchschreiten.

»So eilig haben Sie’s beim Kommen nie! Sie waren heute Morgen drei Minuten zu spät! Ich habe Sie gesehen!«

Ich drehte mich um und blickte hoch zur Halbglatze meines mächtigen Rektors Karl Maria Saitling. Sofort ging er zwei Schritte tänzerisch anmutig zurück, um den Kopf-zu-Kopf-Winkel deutlich abzuflachen. Seine Fliege, die für diese närrischen Tage ein aufregendes konfettiartiges Muster präsentierte, krönte seinen Adamsapfel perfekt wie immer. Der dunkelbraune Anzug saß wie maßgeschneidert und changierte samten im februarlichtdurchfluteten Forum wie der sonnenbeschienene Panzer eines Hirschkäfermännchens.

Der Hirschkäfer steht auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten in Deutschland. Gäbe es eine solche Liste für Rektoren, Saitling stünde darauf.

Fragend hob ich Kopf und Augenbrauen.

»Entschuldigung. Mein Auto ist nicht angesprungen, zu kalt. Ein Bauer musste mich mit dem Traktor anschleppen.«

»Bönle, wenn sich einer ein anständiges Auto leisten könnte, dann Sie, nicht jeder steigt mit A13 ein, und Ihre Eltern waren ja alles andere als arm, aber nein, Sie müssen ja mit so einem Auldteimer daherkommen!«

»Entschuldigung, Herr Oberstudiendirektor …«

»Lassen Sie das, Bönle, da gibt es nichts zu entschuldigen. Wie sieht das nun aus am Schmutzigen Donnerstag, oder wie man hier sagt, am Gompigen Donnerstag, klappt das nun mit den Musikern nächste Woche zur Schülerbefreiung, das wollten Sie doch zusammen mit dem Personalrat organisieren? Das war doch im Gespräch in der letzten Gesamtlehrerkonferenz …«

»Nein, Herr Saitling, da haben Sie mich missver…«

»Bönle, unterbrechen Sie mich nicht, das ist unhöflich. Wo war ich stehen geblieben? So jetzt sehen Sie, was Sie angerichtet haben … ahm, jetzt fällts mir wieder ein. Sie wissen ja, was man so munkelt, die Sauschwanzmusik überlegt sich, ob sie dieses Jahr überhaupt noch kommen soll, das hat ja im letzten Jahr nicht so richtig geklappt. Die Schüler, wie soll ich sagen … waren halt alle schon weg. Und wen soll die Musik dann vom Unterricht befreien, wenn niemand mehr im Hause ist? Das war dann peinlich, Bönle, mehr als peinlich. Die beste Fasnetsmusik Saulgaus, ach was, Oberschwabens, eigentlich des Südens … und dann eine leere Schule. Das wäre doch dann etwas für diese Lochdingens … das wäre doch ganz nett, wenn die Guggenmusik …, dass wenigstens irgendetwas hier am Berufsschulzentrum los ist. Wie heißen die noch mal, die sind ja ganz neu?«

»Löchligugger, aber ganz neu sind die auch nicht mehr, da spielen lediglich zwei Freunde von meinem Motorradclub mit. Ich selbst spiele bei den Bloosbrothers und die wiederum musizieren am Gompigen nicht, weil ein Teil von denen bei der Sauschwanzmusik mitmacht.«

Ich fragte mich, wie mein Rektor zu diesen halbwahren Informationen über seinen Religionslehrer gekommen war, da er ansonsten, immer bestens informiert, den unerschöpflichen Quell schulischer Weisheit repräsentierte.

»Ja, ist ja schon gut, Bönle, das ist mir zu kompliziert, egal ob Löchligugger oder Dingsbrassers … ach, Sie sind auch in einem Motorradverein? Sie scheinen viel Freizeit zu haben. Ich dachte immer, Sie fahren aaah … unorganisiert? Was tun Sie da so im Motorradclub?«

»Präsidieren.«

»Wie bitte?«

»Ich bin der Präsident.«

»Oh, Respekt, Herr Bönle, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Ich wusste gar nicht, dass solche Motorradvereine demokratisch-präsidial strukturiert sind.«

»Tolle Fliege übrigens, Herr Saitling, genau das Richtige für die närrische Zeit, schön anarchisch, so mit dem Konfetti als Deko.«

»Ja, ja, schon gut, Bönle, aber der Begriff anarchisch im Kontext Schule … Das soll kein Konfetti darstellen, das ist … schön, dass Ihr modischer Geschmack nun eher den Anforderungen unseres Hauses entspricht. Ich habe schon bemerkt, dass sich Ihre Garderobe im letzten halben Jahr positiv verändert hat. Brav, Bönle, das steht Ihnen. Es müsste zwar nicht nur schwarz-weiß sein. Aber Bönle, verstehen Sie mich nicht miss, nur so als Krönung. Wir haben auch Friseusen im Haus, und nicht die schlechtesten, die Frau Parelli würde Sie gern als Modell nehmen. Ich habe schon mit ihr gesprochen. Bei Ihnen lohnt sich das ja, mit den langen Haaren. Das würde Sie keinen Pfennig kosten! Und Ihre Gesamterscheinung wäre dann recht harmonisch. So sehen Sie halt schon ein bisschen wie ein ungarischer Geiger aus.«

»Friseurinnen und Cent.«

»Wie bitte?«

Um die Wichtigkeit seines Redens und seines pädagogischen Erfolges in Bezug auf das neue kleidungstechnische Erscheinungsbild seines Religionslehrers zu unterstreichen, hob er sanft seine Rechte mit dem straußeneigroßen Siegelring, ließ dankbar den Blick zur grauen Decke gleiten und bewegte die gleichsam erfreuten Augenlider in sanftem Stakkato.

Bevor das Gespräch noch einmal in eine Lobhudelei betreffs meiner modischen Neuorientierung ausartete, erreichte ich kurzfristig, indem ich mich bücklings zum freundlichen Abschied halbierte, die Kniehöhe meines Rektors und bewegte mich wieder aufgerichtet zu nicht gerade unrespektablen 1,86 Meter zum Ausgang. Wohlwollend scannte mich mein Rektor vom schulterlangen zart gegelten, schwarzen Haupthaar bis hin zu den Spitzen meiner gelackten Halbschuhe. Auch die neue Mitte musterte er noch einmal.

Auf das ständige Drängen meines schulischen Chefs hin hatte ich mich entschlossen, mein Lehreroutfit positiv zu verändern. Zumal es mich nichts kostete. Der geerbte Anzug, den mein Vater mit Stolz sonntags trug, war immer noch gut genug für die Schule. Und er unterstrich zudem meine ansehnliche Figur positiv. In Schwarz gehalten war er aus dem unverwüstlichen Material Strapatex und war nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf von mir – zum Entsetzen Cäcis – wachgeküsst worden. Die dunkle Anklippskrawatte, ebenfalls stylishes 60er-Jahre-Erbe meines Vaters, vervollständigte mit dem weißen Hochzeitshemd mein neues, attraktives Lehreroutfit. Auch bei den Schülern kam es vortrefflich an: Da fehlt nur noch die Sonnenbrille, dann sehen Sie aus wie Men in Black oder diese alten Blues Brothers!

Tatsächlich fühlte ich mich in meiner Erbkleidung ein bisschen wie John Adam Belushi aus der kultigen Musikkomödie Blues Brothers.

»Nicht so eilig, Bönle, nicht so eilig, passen Sie auf, der neue Boden ist rutschig. Haben Sie es auch schon gehört? Als Theologe haben Sie ja gute Kontakte zum Kloster, Sie gehen ja regelmäßig mit Ihren Schülerinnen und Schülern dorthin. Die sind ja sehr weltoffen, die Frauen. Sind Sie nicht am kommenden Montag auch dort? Haben Sie noch nichts vom Verbrechen gehört? Sie sind doch sonst so gut informiert.«

»Nein, was ist passiert?«

»Na, die Sache mit dem Kopf. Ich war gestern auf d’Nacht mit Kommissar Härmle in der Mondschein-Sauna. Der musste sich die Leichengeschichte noch wegsaunieren, Sie verstehen schon, hier im ländlichen Raum erlebt man so eine Geschichte nicht alle Tage. Die Nachricht ist also brandneu, up to date! Der Vorfall war gestern Abend, darum steht heute noch gar nicht alles in der Zeitung.«

Stolz, dass er etwas wusste, was ich nicht wusste, wippte er auf seinen Zehenspitzen, um für flüchtige Lebensmomente wimpernschlaglang noch mächtiger zu erscheinen.

»Der Kopf, der gefundene …«

»Hat jemand den Kopf verloren?«

»Bönle, Sie sind doch manchmal …«

»Kopflos?«

»Bööönle, können Sie mir mal zuhören? Und unterbrechen Sie mich nicht fortwährend, das gehört sich nicht, das ist unhöflich.«

»Wenn Sie den Nagel auf den Kopf treffen …«

»Bönle, es reicht, mit so was macht man keine Späße, lassen Sie sich das einfach mal durch den Kopf gehen. Da kriegt die arme Schwester einen Riesenschreck, als der Kopf vor ihre Füße rollt, und Sie machen da pietätlose Scherze. Und das als Religionslehrer!«

Langsam verstand ich den in Rätsel Sprechenden.

»Herr Oberstudiendirektor, Sie wollen doch nicht andeuten, dass Ihre arme Schwester einen menschlichen Kopf gefunden hat?«

»Bööönle, doch nicht meine Schwester, außerdem ist die nicht arm! Nein, Schwester Immaculata-Flora, Sie wissen, die junge, die sportliche, schlanke Schwester vom Kloster Sießen, beim Abendspaziergang. Unten an der Sießener Säge, in einer Mülltüte, einen menschlichen Kopf und eine Hand. Beides abgehackt, beides gehäutet. Die Schwester hat den Täter wohl überrascht, als er die Körperteile im Wald verstecken oder entsorgen wollte. Die arme Frau hat sogar noch gehört, wie ein Auto davongerast ist. Wer weiß, was der armen Ordensfrau passiert wäre, wenn sie den Kerl beim Entsorgen der Leichenteile überrascht hätte, gar nicht auszudenken … eine Ordensfrau, eine Dienerin Gottes? Aber, pssst … eigentlich geht Sie das ja nichts an, ich weiß sowieso nicht, warum ich das ausgerechnet Ihnen erzähle! Na, nun gehen Sie, Ihre Frau wird schon auf Sie warten. Und denken Sie auch noch mal an die arme Ordensfrau, eine Braut Christi … und der rollt ein enthaupteter Kopf entgegen!«

Ich unterließ es, meinen spontan erfrommten Rektor aufzuklären, dass Cäci nicht meine Frau war und dass ich in Sünde mit ihr zusammenlebte. Mir war auch nicht ganz klar, wie man einen Kopf enthaupten konnte. Aber ich hatte mir, seit ich in der Schule war, vorgenommen, nicht mehr so viel nachzudenken. Vorsichtig bewegte ich meine Füße hoffnungsfroh zum Ausgang hin, wo einige türkischstämmige Schüler auf den Heizkörpern sitzend ihre Gesäße wärmten. Sie waren genetisch noch nicht auf strenge Winter programmiert und dieser Winter zeigte sich von seiner frostigsten Seite.

»Und haben Sie auch darauf geachtet, dass alle Fenster im Klassenzimmer geschlossen sind, es soll ja noch kälter werden. Sie wissen ja, dass die neue Heizung sehr sensibel reagiert. Und fragen Sie lieber doch noch bei Ihren Mopedfreunden nach, ob sie mit den Löchlesmusikern vorbeikommen, lieber doch zwei Musiken als am Ende gar keine, nicht wahr? Dass das halt mit der Musik klappt. Auch unsere Schüler haben ein Anrecht auf eine närrische, niveauvolle Schülerbefreiung, Sie verstehen, was ich meine, niveauvoll. Auf Wiedersehen, Bönle. Und pünktlich, das nächste Mal! Vorbildfunktion!«

Ich versuchte, die Gunst der redsamen Minuten meines Chefs noch ein bisschen zu nutzen und ihm Informationen über den Leichenteilefund zu entlocken:

»Woher weiß man, dass es ein Mann war, der die Körperteile verstecken wollte?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Bönle. Machen Sie doch nicht immer solche Gedankensprünge. Als Religionslehrer müssen Sie doch auch eine Ordnung im Kopf haben. Jesus war doch auch nicht so ein Wirrkopf!«

»Sie reden von Täter und Kerl.«

»Ach so, das weiß man natürlich nicht, das sagt man halt so. Und so etwas tut doch keine Frau, einen Kopf abschlagen, ihn häuten, also nur das Gesicht. Die Haare waren wohl noch dran, pfui. So etwas tut doch eine Frau nicht! Einem Mann den Kopf abschlagen! Das ist doch gar nicht ästhetisch. Oder können Sie sich eine Frau vorstellen, Bönle, die einem Mann den Kopf absägt und ihn dann noch so unappetitlich zurichtet?«

Spontan fielen mir die Kolleginnen Aphrodite Bernadette Zimsmeyer-Schlude, die Mathematik und Physik unterrichtet und vor allem durch die erkleckliche Summe ihrer Krankheitstage auffällt, die dralle, künstlerisch begabte Beatrice Hundt-Verwahl von Trächtingen, die eigentlich nur im Lehrerzimmer sitzt und Vesperbrote im XXL-Format auspackt, und die ätherische Veganerin Sibylle Kranenegger-Schäufele-Vrontmeyer, die Deutsch und Sport lehrt, ein, erwähnte sie aber nicht.

»Hat man nur Kopf und Hand gefunden?«

»Bis gestern Abend ja und das reicht ja eigentlich, heute soll noch der komplette Wald abgesucht werden, aber das geht Sie eigentlich gar nichts an. Ach ja, das war wohl etwas merkwürdig, meinte Härmle, bei den Leichenteilen fand man wohl zwei Nonnenfürzle, ein angebissenes. Aber das ist top sikrit! Verstehen Sie mich, top sikrit!«

»Nein, was? Nonnenfürzle, leidet die bedauernswerte Ordensfrau an flatulierender Inkontinenz? Und ich wusste gar nicht, dass man Fürze so einfach lokalisieren kann. Waren die materialisiert?«

»Ahh, Bönle, lassen Sie den Blödsinn, das ist doch unangemessen, Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sie kennen sich in Sachen Kulinaria bestens aus, man sagt, Sie seien Stammgast in der Kleber Post. So hat es mir eben der Kommissar Härmle vertraulich erzählt, zwei Nonnenfürzle, das fettgebackene Zeugs, das man gern um die Fasnetszeit herum isst. Ich mag es ja nicht. Aber vermutlich hat der Täter sie, als er von der Schwester gestört wurde, verloren.«

»Brandteig.«

»Wie bitte, Bönle? Sie sprechen mal wieder in Rätseln.«

»Nonnenfürzle werden aus Brandteig hergestellt, früher hat es die nur in Schwaben und im Allgäu gegeben.«

»Ja Bönle, da haben Sie recht, aber heutzutage wird ja alles globalisiert, bestimmt bekommt man das schmalzige, zuckrige Zeugs schon beim Karneval in Rio angeboten.«

Ich staunte über die fast schon militante Globalisierungskritik meines geliebten Rektors und fragte, die Gunst der Minute nutzend, sachte weiter:

»Wer isst schon Nonnenfürzle, wenn er Leichenteile entsorgt? Und der Kopf, war das wirklich ein Männerkopf?«

»So sind meine Informationen, aber wie gesagt, das geht Sie überhaupt nichts an.«

Zum zweiten Mal verabschiedete ich mich mit einem höflichen Diener von meinem Rektor. Mit einem zarten Kopfnicken entließ er mich.

 

Durch eine Ansammlung frierender, rauchender, lethargischer Berufsschüler bahnte ich mir einen Weg zum Parkplatz. Dort wartete geduldig zwischen Schneehaufen mein Alter auf mich. Kein digital versauter fahrender Computer der E-Klasse, sondern ein Mercedes W 110 mit angedeuteter Heckflosse, Baujahr 1963, in elegantem Weiß-Grau. Der Dieselmotor musste noch vorgeglüht werden, und als Minuten später zum Zeichen des Erfolges unter dem verchromten Lochdeckelchen der Anzeigedraht rotglühend aufleuchtete, erweckte ich mit dem Starterzug unter Rußausstoß und infernalischem Genagele den antiken Dieselmotor zu parkinsonschem Leben. Einige Schüler, kurzfristig aus scheintotem Zustand erwachend, applaudierten, da sie diesmal den Selbstzünder nicht anschieben mussten.

Ich verließ meine Arbeitsstadt Bad Saulgau in südlicher Richtung hin zu meinem Wohnort. In Bolstern bog ich nach links zum Golfplatz ab. Zugeschneit ruhte er unter hügeligem Weiß. Von dort ging es über wenige kleine, typisch oberschwäbische Ortschaften mit herausgeputzten Kirchen und verwaisten Gastwirtschaften direkt vor Riedhausen durch das winterstarre Wilhelmsdorfer-Burgweiler Ried. Weil der Ried-Name die Anrainer bedenklich an Lehrerinnen-Doppelnamen erinnerte, wurde das Feuchtgebiet im Volksmund nur Pfrunger Ried genannt.

Ich fände es auch schöner, wenn die Damen Aphrodite Bernadette Zimsmeyer-Schlude, Beatrice Hundt-Verwahl von Trächtingen und Sibylle Kranenegger-Schäufele-Vrontmeyer Pfrungen 1, Pfrungen 2, Pfrungen 3 genannt würden. Wobei man dem Ried damit Unrecht antun würde, da es erheblich feuchter, saftiger und humorfähiger ist als das Damen-Dreigestirn.

3
Charcutereskes

 

Hilf uns Herr in allen Dingen

 

Hilf uns, Herr, in allen Dingen,

Dass wir unser Amt und Werk

Wohl anfangen und vollbringen,

Gib uns Weisheit, Kraft und Stärk;

Ohne deine Segenshand

Ist verloren Stadt und Land.

Hilf uns, Herr, in allen Dingen,

Und lass alles wohl gelingen.

 

Hilf uns, Herr, auf allen Seiten

Im Glück und Unglück kämpfen,

Streiten und arbeiten

Wider Satans List und Tück,

Wider Fleisches Lust und Pracht,

Wider weltlich Ehr und Macht.

Hilf uns, Herr, in allen Dingen,

Und lass alles wohl gelingen.

Martin Rinckart (15861649)

 

Wenige Kilometer vor meiner oberschwäbischen Wahlheimat Riedhagen gab ich meinem automobilen Monstrum die Anweisung, einen Umweg zu fahren. Hatte nicht Cäci angedroht, sie würde kochen? Ein Umweg über Ostrach wäre da ratsam, auch um den Freuden ländlicher Kommunikation zu frönen und nicht zuletzt wegen Cäcis Einkaufszettel, der mir just im Augenblick des Erschreckens über Cäcis Ankündigung einfiel. Und so hielt ich noch rasche Einkehr in der Metzgerei meines Vertrauens im kleinststädtischen Ostrach.

Freudig stellte sich Monika Magen, die wohlgenährte, zartrosawangige Fleischereifachverkäuferin in Position. Von allen regionalen Fleischereifachverkäuferinnenfräuleins war sie mir die drallste, die liebste. Vor ihr lag in der blitzeblank sauberen, dezent gekühlten, mit Gemüse ausgeschmückten Fleischschautheke inmitten eines herrlichen Charcuterie-Arrangements ein Schweinskopf. Es hätten Geschwister sein können.

»Ja Griaßgottle, Herr Benle, au mol wieder do? Des Schwarz-Weiß stoht Ihna ibrigens ganz guat, a wengale besser als ihre Rockerklamotta mit dena alberne Kauboischtiefl! Obwohls schon a bissle altbacka aussieht.«

»Ja danke, finde ich auch. Das nennt man Retro- oder Oldschool-Look.«

»S Ibliche?«

»Ja. Das Übliche.«

»An Efcekawe?«

»Ja, ein FCKW.«

»Hoiß?«

»Ja. Heiß.«

Mit geschickter Hand bereitete mir die feiste Fleischereifachverkäuferin Monika meinen Individual-FCKW, einen Fleischkäswecken mit fein geschnittenen Cornichons zu. Fleisch gewordene Lust, quasi.

»Ond sonscht, wia gohts au emmer?«

»Gut, und Ihnen?«

»Schon recht. Send Se eigentlich emmer no it verheirotet?«

»Hmm.«

Sie drehte sich vom rötlich schimmernden Fleischkässolarium zu mir um, in ihren Augen blitzte Hoffnung.

»Jo ond, send Se solo zurzeit?«

»Hmm.«

»Schad.«

»Wieder a Essiggirkle druf?«

Die Frage gehörte zu unserem festen Kommunikationsritual. Nun musste ich sagen:

»Immer ein Cornichon, Fräulein Monika, sonst wäre es ja kein FCKW.«

Die folgende Frage kam jedoch völlig überraschend und verließ das eingefahrene, nach festen Regeln verlaufende Kommunikationsschema.

»Oins messet Se mir aber etzt mol verrota, warom saget Se eigentlich emmr Groschino ond it Essiggirkle?«

»Cor…ni…chon. Und wie würde sich denn das anhören, ein FEKW bitte. FCKW, das ist der Witz. Die Assoziation, das Surreale.«

»Jo schon, aber den Witz verschtand i trotzdem it, des messet Se mir mol erklära.«

»FCKW, Fluorchlorkohlenwasserstoff.«

»Häää, jo isch des do drenna?«

»Nein, aber man sagt ja auch LKW zu Leberkäswecken, und es ist ja kein Lastkraftwagen drauf oder drin oder dran oder fährt drumherum oder kann de…«

»Jo, isch jo guat, aber etzt verschtand I gar nix meh, ond des C kommt jo vorm K… des wär jo dann an Floischcornichonskäswecka… mit oder ohne Senf?«

Die Floskel ›mit oder ohne Senf‹ entsprach wieder dem Ritual.

»Wie immer, Monika, nie Cornichons und Senf kombinieren, zu viel Säure, und der Fruchtgeschmack der Cornichons geht verloren. Und wenn es Ihnen lieber ist, sage ich das nächste Mal, bitte ein Fleisch-Cornichon-Käs-Weckle. Ich glaube, ich muss Sie mal für eine Fortbildung anmelden. Der Fleischkäswecken und sein Bezug zur Onthogenese fleischlicher Ritualisierung.«

»Schpenner! Außerdem bin i demnächscht auf einer Fortpiltung!«

Energisch und stolz, den hochdeutschen und global nachhaltigen Charakter des letzten Wortes unterstreichend, warf sie den Kopf in den faltenbildenden Schweinenacken.

»Wie bitte?«

»Nix, an Guata! Zwoifufzg!«

»Anschreiben bitte, ich habe kein Geld dabei.«

»Schon wiedr, i glaub, mir messat für Se mol sammla.«

Sie reichte mir mit ihren rosafarbenen Schweinspfötchen das Objekt meiner Begierde, das es mir erleichterte, Cäcis Kochvorhaben zu verdrängen. Ich stellte mich an eines der weißen Stehtischchen mit den blauweißen bajuwarischen Tischdeckchen. Bestimmt haben Metzgereien in Bayern Stehtischchen mit selbst geklöppelten Tischdeckchen in den badenwürttembergischen Landesfarben. Mit Stolz biss ich in meinen FCKW und achtete darauf, dass meine alberne Lehrerkrawatte nicht ständig zwischen FCKW und Mund kam.

Die barock proportionierte Monika tat, als ob sie Arbeit an der Schau- und Sautheke hätte, und staubte mit einem rot-weiß karierten Tuch die herrlichen Leber- und Blutwürste ab, die in fleischlicher Eintracht nebeneinander lagen. Aus abgesenkter Position beobachtete sie mich ohne Unterlass aus ferkelblauen, blondbewimperten Äuglein.

»Wellet Se a Walder dazu?«

Mit ihrem einer Weißwurst nicht unähnlichen Zeigefinger deutete sie auf eine verlockende Flaschenkompanie Walder Bräu naturtrüb hell, die im Kühlregal strammstand.

Ich nickte. Ich konnte Satans List und Tücke in Ausgestaltung der drallen Monika Magen nicht widerstehen. Das Fleisch war schwach und die Rundliche spurtete im Schweinsgalopp.

»Zum Wohl! Schmeckt’s? Kaa Ihra Freindin guat kocha?«

Ich verschluckte mich und nickte, ich musste husten. Tränen kamen aus meinen Augenwinkeln. Die Realität hatte mich wieder eingeholt. Ich dachte an das letzte Brandopfer, das Cäci produziert hatte.

»An Maa mit soma Honger braucht a guate Kechin em Haus.«

Ich nickte heftig, sie hatte ja recht.

»Wia könnat Se eigentlich ihr Figürle halta, Se send jo an guata Esser und an flotta Trenker?«

Sie deutete voller Respekt auf das nahezu trockengelegte grüne Fläschchen.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Bei mir setzt jedes Kilo a, mir kennt ma d Wuuscht uf d Hifta nagla. Aber d Mennr megats so.«

Fragend grinste sie mich an.

»Das passt doch zu Ihnen, Fräulein Magen, jedes Pfund an der richtigen Stelle.«

Die Notlüge nötigte mich, das grüne Fläschchen mit einem letzten Zug zu leeren.

»De Ihrig isch jo räächt dürr. Guck, so muss a Mädle ausseha.«

Sie hob eine wulstige Blutwurst im Naturdarm hoch und winkte mir mit ihr.

»Aber a Negere briichts it sei.«

Ich musste tatsächlich lachen.

»Gell, s goht nix iber an gsonda Humor, bei mir hettat Se ällas. Ond fromm bin i au no, i ka viel Kirchalieder auswendig: Kib uns Weisheit, Kraft und Stärk; Ohne teine Sägenshand ischt verloren Schtadt und Lant. Hilf uns, Herr, in allen Tingen; Und lass alles wohl kelingen.«

Ja, der Text passte. Eigentlich hatte sie recht, bei Monika würde ich nie verhungern und hätte ständig etwas zu lachen. Und trotzdem zweifelte ich grundlos daran, dass sie die richtige Partie für mich wäre.

»Aber Se denkat beschtemmt, i wär z domm für Se. Aber oins sage Ihna, i lös jeds Kreizworträtsel, aber a jeds!«

Zum Beweis wedelte sie mit der Blutwurst neben ihrem teewurstfarbigem Gesicht. Ich hatte meine Entscheidung gefällt:

»Monika, ich will Zwillinge von Ihnen. Wir nennen sie dann Schwarten und Sau.«

Monika Magen kam kreischend mit der Blutwurst auf mich zu.

»Jo, du Schofseckel… oh, tschuldigong, Siiie Schofseckel, dann hoißat dia jo Schwarta Maga ond Sau Maga.«

Ich hob als Geste des Nichtangriffs beide Arme, der Rest des FCKW steckte in meinem Mund. Es war nicht ganz einfach, das üppig belegte Brötchen im lachenden Mund zu halten. Monika drehte wieder ab, schwenkte aber immer noch dräuend die fette Wurstspezialität. Ich wollte gerade gehen, da rief mich Monika zurück:

»Heit koin Eikauf?«

Mir fiel Cäcis Wunschzettel ein.

»150 Gramm Mailänder Salami geschnitten.«

»Defsabisslemehsei, außertem?«

»Ja, 150 Gramm Lyoner, geschnitten.«

»Defsabisslemehsei, außertem?«

»Ja, 200 Gramm Fasnetswurst, auch geschnitten.«

»Hääää?«

»Riedblätzle-Wurst, geschnitten.«

»Achso, Defsabisslemehsei, außertem?«

»Alles.«

»Tanke!«

Mit einer überdimensionalen zweizinkigen Fleischergabel spießte sie gekonnt ein Rädchen Riedblätzle-Wurst, einer saisonalen Hausspezialität mit stilisiertem Riedblätzlegesicht, auf und hielt es mir hin. Ich grinste sie an:

»Darfs ein bisschen mehr sein?«

»Jo, sonscht no was, mir messat au läba, vom Wuuschtverschenka wird ma it reicher! Soll i des au aschreiba?«

»Richtig, ich habe immer noch kein Geld.«

»Wisset Se en Sulga schon, wer den Kopf ombrocht hot?«

Ob des spontanen Themenwechsels, kombiniert mit feinster Fleischereifachverkäuferinnen-Rhetorik, war ich Sekundenbruchteile ratlos.

»Nein, aber was redet man in Ostrach?«

Monika beugte sich weit nach vorn, geheimnisverräterisch spitzte sie ihr Rüsselchen und flüsterte:

»Jo, do kennt i schon einiges saga, i kenn da Kommissar Härmle guat, vo der Fasnet. Mir warat em Bus zamma ghockat, wo mr vo dr Freinacht komma send. Aber jetzt hot ers jo am Maga.«

»Ja, und was spricht der Herr Kommissar?«

Neugierig und anerkennend nickend, blickte ich Monika tief in die hellen Augen, um an die Geheimnisse zu gelangen:

»Fräulein Monika, Sie sind die am besten informierte Wurstverkäuferin des Südens … und die netteste.«

Sie schätzte mein aufrichtiges, direktes Kompliment und fing an, mit spitzmaulnashornähnlichem Mund in feinstem Fleischereifachverkäuferinnen-Hochdeutsch zu reden, um Wichtigkeit und Vertraulichkeit des Gesagten zu unterstreichen:

»Ter Kommissar Härmle hat gesait, tass tie Leiche noch nicht indifiziert sei, aper man kenne tavon auskehen, tass ter Täter aus ter Rekion kommen täte. Tie Schpurenlake sei einteutik. Man könne auch tavon auskehen, tass ter Täter männlich sei.«

Das half mir doch schon ein bisschen weiter.

»Und haben Sie sonst noch etwas erfahren?«

»Tas kenükt toch wohl!«

Monika Magens Hochdeutsch war ausgezeichnet, ich lobte sie auch deswegen. Sie errötete sogar ein bisschen und verabschiedete sich mit einem:

»Ma sieht sich beschtemmt schpäteschtens uf dr Fasnet. Ihra Freindin isch jo koi so an Fasnetsfänn?«

Sie deutete auf mein sinnentleertes Bierfläschchen:

»Nomol oins?«

Ich nickte, ich würde es auf den letzten Kilometern nach Hause genießen:

»Oder wellet Se mol an Bio-Hafer-Edelstoff probiera?«

»Auch ein Walder?«

»Na klar, des messet Se mol versuacha. Des ischt leicht süßlich em Antrunk ond a bissle trocka em Abgang – sagat se.«

»Gern, ich trinke es aber nicht hier, ich muss ja noch fahren.«

»Awa, en dem Fläschle isch doch kaum ebbes dren, des goht bei Ihrer Größe en an hohla Zahn!«

Ich nahm das kühle 0,33-Fläschchen entgegen und nickte dankbar.

»Ond von dem dirfat se oins omasonscht mitnemma, a Nonnafürzle! Au jo, schiergar hett es vergessa: Nonnafürzla hot ma gfonda. Wahrscheinlich vom Täter.«

Sie deutete auf eine Schale neben der Kasse, in der das Kultgebäck goldgelb lockte. Ich nahm mir vier Nonnenfürzle heraus und steckte sie in die Tasche meine Jacketts. Monika schüttelte ihren rosaroten Kopf:

»Lehrer!«

Gleichermaßen intellektuell wie körperlich gestärkt verließ ich, beglückt durch eine weitere freundliche Verabschiedung seitens Monika Magen, den Friedhof der Speisetiere, mit Wurstspezialitäten, einem kleinen Fläschchen Bier und vier Nonnenfürzlen beladen, und trat die Weiterfahrt mit meinem widerborstigen Gefährt nach Riedhagen an.

4
Angebrannt

 

Maria, dich lieben ist allzeit mein Sinn

 

Maria dich lieben, ist allzeit mein Sinn;

dir wurde die Fülle der Gnaden verliehn:

du Jungfrau, auf dich hat der Geist sich gesenkt;

du Mutter hast uns den Erlöser geschenkt.

 

Dein Herz war der Liebe des Höchsten geweiht;

du warst für die Botschaft des Engels bereit.

Du sprachst: Mir geschehe, wie du es gesagt.

Dem Herr will ich dienen, ich bin deine Magd.

 

Du Frau aus dem Volke, von Gott ausersehn.

dem Heiland auf Erden zur Seite zu stehn,

kennst Arbeit und Sorge ums tägliche Brot,

die Mühsal des Lebens in Armut und Not.

Friedrich Dörr (19081993)

 

Schon bald tauchte durch die Panorama-Windschutzscheibe meines Fahrfossils, vor der stolz das halb geleerte Bierfläschchen in meinem selbst gebastelten Bierhalter schwankte, am südlichen Ende des Rieds die weißglacierte, kältestarre Heimat Riedhagen auf. Bevor ich die hanglagige Einfahrt zu meinem Domizil anvisierte, leerte ich noch geschwind das neckische Fläschchen mit dem edlen Stoff. Stolz und glücklich befuhr ich mein Anwesen.

Hier lebte ich in dem Haus, in dem ich das Laufen gelernt hatte, vielleicht auch noch ein paar andere Dinge. Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich in Ermangelung einer Arbeit und eines standesgemäßen Heimes Haus und Geld gern als Erbe angenommen. Kaum waren Haus und Geld da, kam auch die Arbeit. Zuerst war ich in Riedhagen ein Diener der Kirche für niedrige Tätigkeiten. Als studierter Geografie- und Religionslehrer für das Lehramt an Gymnasien nahm ich danach dankbar den Ruf der Gewerblichen Schule Bad Saulgau an und unterrichtete mittlerweile mit einem halben Lehrauftrag Friseurinnen, Mechatroniker – was immer das auch sein mochte – und Fotografen im Fach katholische Religionslehre. Dazu war ich noch in einer Klasse, die das lange Kürzel 2BFME2 hatte. Kürzel sowie der angestrebte Abschluss waren mir bis jetzt ein Rätsel. Vermutlich Zweifache-Bäckereifachverkäufer-Metall-Einzelhandel-Schüler, die zwei Jahre lang an der Schule blieben. Irgendwie war es mir auch egal, Hauptsache, sie bekamen einen guten Religionsunterricht.

Cäci wartete schon auf mich in meinem Erbheim. Obwohl ich frühmorgens nicht ganz uneigennützig den Wunsch geäußert hatte, das Kochen selbst zu übernehmen, duftete es sehr befremdlich im Haus. Als Wirtstochter versuchte sie sich leider immer wieder daran, ihre rudimentär entwickelten Kochkünste zu verfeinern, um die kulinarischen Kompetenzen ihrer Mutter zu erreichen, die in Riedhagen in Personalunion den Goldenen Ochsen oligarchierte.

»Überraschung! Rate mal, was es giiibt?«, flötete es mir auffallend beschwingt aus der Küche entgegen.

Meine Nase war mit dem Konglomerat der Gerüche eindeutig überfordert. Am dominantesten meldeten die sensiblen Rezeptoren in der Nase meinem Gehirn Angebranntes, danach folgte Säuerliches, dann Fleischiges und Gemüsiges.

»Ich komme nicht darauf, gib mir einen Tipp!«, rief ich in die Küche hinein, als ich meine spitzen, schwarz gelackten Halbschuhe, die meinen Vater zur Hochzeit getragen hatten, von den Füßen schälte.

Sorgfältig stellte ich sie in feierlichem Parallelismus auf eine Kokosmatte, die einzig und allein diesem Zwecke diente. Es waren schließlich keine Penny-Markt-Luden-Halbschuhe.

»Dein Lieblingsessen!«

Ich war erschüttert, so konnte mein Lieblingsessen gar nicht riechen. Nicht einmal worstcasemäßig.

Cäci lächelte mich mit ungewöhnlich roten Wangen an und fragte:

»Und, hat man in der Schule auch schon was vom Leichenfund erzählt? Sag mal, hast du ein Bier getrunken?«

»Nein, zwei. Aaah, toll, mein Lieblingsessen, was ist es denn? Und die Leichensache bitte erst danach, ich möchte mir den Appetit nicht noch mehr verderben lassen.«

»Wieso noch mehr? Außerdem riecht man doch, was es gibt, und du wirst doch wohl noch wissen, was dein Leibgericht ist!«

»Ich habs vergessen.«

»Die Wurst hast du bestimmt auch wieder vergessen?«