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Bernd Franzinger

Todesnetz

Tannenbergs zwölfter Fall

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Kirill Kedrinski – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3962-9

 

 

 

 

You must kill the spider

to get rid of the cobweb.

 

Maltesisches Sprichwort

Prolog

 

»Lebst du noch?«, krächzt eine Frauenstimme.

Ich kann nicht sprechen.

Sehen kann ich auch nichts.

Bin ich blind?

Aua, mein Kopf tut so weh.

Wer bist du?

Was ist geschehen?

Wo bin ich?

Wasser läuft mir in den Mund.

Oh Gott, ich werde ertrinken!

Aber es ist kein Wasser.

Es schmeckt nach … Blut.

Blut?

Was ist das für ein Geräusch?

Schritte?

Ja, schwere Schritte.

Also ein Mann.

Kommt er, um mich zu töten?

Die Schritte entfernen sich wieder.

Gott sei Dank!

Eine Tür schlägt zu.

Noch mal Glück gehabt.

Welch ein bescheuerter Albtraum!

Hoffentlich ist die Nacht bald vorüber.

»Lebst du noch?«, fragt die Stimme.

1

 

Einige Tage vorher

 

Familie Tannenberg war auf dem Weg zum Dürkheimer Wurstmarkt.

»Ach, Marieke, ich bin ja so froh, dass du schwanger bist«, stieß Wolfram Tannenberg begeistert aus. »Das ist wirklich herrlich, fantastisch – einfach wunderbar!«

Seine Nichte lächelte in den Rückspiegel. »Schön, dass du dich über meinen dicken Bauch so wahnsinnig freust.«

»Vor allem freue ich mich darüber, dass wir nicht in einem versifften Zug oder Reisebus zum Wurstmarkt fahren müssen.« Tannenberg grinste breit. »Schwangere dürfen ja bekanntlich keinen Alkohol trinken.«

»Also daher weht der Wind«, sagte Marieke und schüttelte schmunzelnd den Kopf.

Dr. Schönthaler legte der Fahrerin eine Hand auf die Schulter. »Mach dir nichts draus. Du weißt doch, dass dein Onkel den Charme einer Kettensäge besitzt.«

Marieke nickte und seufzte tief. »Ja, das ist mir durchaus bekannt. Deshalb verstehe ich auch überhaupt nicht, weshalb solch eine tolle Frau wie Johanna dieses Scheusal nicht schon längst in die Wüste geschickt hat.«

»In der Pfalz gibt es keine Wüste«, knurrte Tannenberg.

»Korrigiere«, grinste Marieke: »Wieso sie dich nicht schon längst verlassen hat.«

»Aber das hat sie doch. Schließlich ist sie freiwillig nach Hamburg zu diesem Historikerkongress abgedüst«, tönte Heiner, der auf der Rückbank seines Vans zwischen dem Rechtsmediziner und seinem Bruder eingeklemmt war. »Dort werden ihr bestimmt Dutzende junger, attraktiver, kultivierter und charmanter Männer den Hof machen.«

»Ja, mein liebes Wölfchen, stell dir doch mal bildlich vor, welche fleischlichen Verlockungen Hanne im Wellnessbereich ihres Hotels geboten bekommt«, frotzelte Dr. Schönthaler. Er senkte die Tonlage seiner Stimme und schwärmte: »Gut aussehende, gut gelaunte und gut gebaute Männer mit Astralkörpern und Waschbrettbäuchen. Nicht wie zu Hause in der Beethovenstraße ein altes Wrack mit chronisch schlechter Laune, ekligen Krampfadern, tiefen Falten, schlaffem Hintern und schwabbelndem Waschbärbauch.«

»Es reicht, Rainer«, schimpfte Tannenberg. »Hiermit ist es dir wieder einmal gelungen, mir die Stimmung zu vermiesen.«

»Jedem so, wie er’s verdient«, konterte sein Freund.

»Ruf doch Hanne einfach an und sag ihr etwas Nettes, vielleicht kannst du damit gerade noch verhindern, dass sie sich von irgendeinem Adonis angraben lässt«, schlug Max, Mariekes Ehemann, in dieselbe Kerbe.

Tannenberg ächzte wie eine alte Dampflokomotive. »Wenn man solch eine Familie …«, ein scharfer Seitenblick auf den Pathologen, »und Freunde hat, braucht man wirklich keine Feinde mehr.«

»Nicht den Plural gebrauchen, Wolf«, erwiderte Dr. Schönthaler.

»He?«, fragte sein Freund mit geschürzten Lippen.

»In deinem Falle reicht der Singular bei Weitem aus: Freund statt Freunde. Außer deiner bemitleidenswerten Familie bin ich ja wohl der einzige Mensch weit und breit, der dir immer noch die Stange hält, oder?«

Wolfram Tannenberg grunzte wie der alte Keiler im Betzenberger Wildpark. Er spreizte die Finger und streckte sie in die Höhe. »Ich habe mindestens fünf sehr gute Freunde«, behauptete er.

»Und wem bitte schön sollte diese höchst zweifelhafte Ehre zuteilwerden?«, spottete der Rechtsmediziner. »Namen bitte.«

»Die kannst du haben. Sie heißen: Rainer …«

»Na, so weit waren wir ja schon.«

»Die anderen heißen: Rainer, Rainer, Rainer, Rainer.«

»Sag ich doch, du monogamer, kontaktgestörter einsamer Wolf.«

»Wenn ich die Herren kurz unterbrechen dürfte«, mischte sich Marieke ein. »Zur allseitigen Information: Wir haben gerade das Ortsschild von Bad Dürkheim passiert. Wo soll ich denn hier parken? Die Straßen sind doch jetzt schon verstopft.«

»Fahr weiter bis zum Festplatz«, forderte Tannenberg. »Die Kollegen haben eine Präsenzwache eingerichtet. Direkt davor dürfen wir unser Auto abstellen.«

Marieke reagierte skeptisch. »Bist du dir da sicher?«

»Klar, die Erlaubnis hab ich mir gestern höchstpersönlich beim Dürkheimer Polizeichef eingeholt. Im Gegensatz zu diesem unsympathischen Leichenschinder neben mir ist der liebe Eugen nämlich ein richtig netter Kerl.«

»Ach, der liebe Eugen«, wiederholte Dr. Schönthaler mit angespitzten Lippen. »Das ist ja so ein schnuckeliges Kerlchen.«

Tannenberg huschte ein süffisantes Lächeln übers Gesicht. »Weiß du, Marieke, ich habe nur einen einzigen Satz gebraucht, um ihn von der Brisanz unserer Notlage zu überzeugen. Willst du wissen, welchen?«

»Ich kann es wirklich kaum erwarten«, entgegnete Marieke.

»›Lieber Eugen‹, habe ich gesagt, ›wir haben eine Hochschwangere dabei – und die kann nun mal nicht so weit laufen.‹« Tannenberg klatschte in die Hände. »Und schon hatten wir unseren Promi-Parkplatz.«

 

Zwei Stunden später hatte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission bereits drei Schoppen Rieslingschorle intus. Die Stimmung im Festzelt war auf dem Höhepunkt angelangt. Seine eigene ebenfalls, denn Johanna von Hohen­eck hatte gerade auf seine SMS geantwortet und ihm eidesstattlich versichert, dass sie nur ihn liebe – woran Tannenberg eh nicht gezweifelt hatte, schließlich war er ein toller Hecht, fand er jedenfalls.

Schmunzelnd steckte er das Handy weg, hakte sich bei Marieke ein und schunkelte wieder mit. Als eingefleischter Hardrockfan ignorierte Tannenberg für gewöhnlich jedes andere musikalische Genre. Denn nach seiner Meinung war die Rockmusik der 70er-Jahre einfach nicht zu toppen. Doch an diesem milden Septemberabend stimmte er in den Chor der weinseligen Festbesucher ein und grölte die Volkslieder lauthals mit.

»Ich muss mal kurz weg, Wolf«, übertönte Marieke die ohrenbetäubende Musik und klinkte sich aus seinem Arm aus.

Tannenberg schunkelte weiter. »Wohin denn?«, wollte er neugierig wissen.

»Auch ein schwangerer Hippie muss ab und an mal Pipi«, rief Marieke und tastete die Bank ab. Sie krauste die Stirn. »Wo ist denn meine Handtasche?«

»He?«, fragte Tannenberg.

»Meine Handtasche ist weg«, brüllte Marieke gegen den Lärm an.

Ihre Begleiter suchten unter dem Tisch und unter den Sitzbänken, befragten Gäste und Bedienungen, doch Mariekes kleine, schwarze Lederhandtasche blieb unauffindbar.

»Dann hat sie wohl irgend so ein Drecksack geklaut«, schimpfte Tannenberg. »Wir müssen den Diebstahl sofort melden.«

In der provisorischen Polizeiwache zeigte man sich nicht sonderlich überrascht. »Das ist nun schon der fünfte Handtaschendiebstahl heute«, stöhnte ein älterer Beamter und verdrehte die Augen. »Immer dieser blöde Schreibkram. Warum passt ihr Frauen denn auch nicht besser auf eure Sachen auf?«

»Jetzt mach aber mal halblang, Kollege«, pflaumte ihn Tannenberg an. »Meine Nichte hat sich ja nicht absichtlich die Handtasche klauen lassen.«

»Aber so sehen es die Versicherungen.«

»Wieso?«, fragte Max.

»Na ja, die berufen sich auf höchstrichterliche Grundsatzurteile. Und die besagen nun mal, dass es sich bei einem Handtaschendiebstahl, so wie Sie ihn mir geschildert haben, um grobe Fährlässigkeit handelt.« Der uniformierte Beamte hob die Schultern. »Und deshalb müssen die Versicherungen den Schaden nicht bezahlen.«

Marieke verstand die Welt nicht mehr. »Das gibt’s doch gar nicht«, empörte sie sich.

»Doch, leider ist es so. Aber vielleicht rückt Ihre Versicherung auf dem Kulanzweg ein paar Euro raus. Probieren würde ich es auf alle Fälle. Drohen Sie einfach mit dem Versicherungswechsel, das wirkt manchmal Wunder«, empfahl der Polizist, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. »Was war denn alles in Ihrer Handtasche?«, wollte er wissen.

»Mein Geldbeutel mit circa 50 Euro Bargeld, mein Personalausweis, die EC-Karte und mein Führerschein«, zählte Marieke auf. »Außerdem mein Handy, ein Schlüsselbund …«

»Mit Ihrem Autoschlüssel?«, warf der Beamte dazwischen.

»Nein, den habe ich in alter Gewohnheit an mich genommen«, erklärte Heiner. »Wir sind nämlich mit meinem Van hierher gefahren.«

»Da haben Sie aber Glück im Unglück gehabt, denn bei uns wurden heute bereits drei Autodiebstähle angezeigt.« Um dem nun Folgenden noch mehr Bedeutung zu verleihen, legte der Polizeibeamte eine kleine Pause ein. »Sie werden es nicht glauben, aber die Zündschlüssel dieser Autos befanden sich in den gestohlenen Handtaschen.«

»Die klauen also zuerst die Handtaschen und dann mit den Schlüsseln die Autos«, schlussfolgerte Max. Er grunzte höhnisch. »Eigentlich eine geniale Masche.«

 

Während Marieke in der provisorischen Polizeiwache die notwendigen Formalitäten erledigte, ließ Max die EC-Karte und das Handy seiner Ehefrau sperren. Anschließend fuhren die Wurstmarkbesucher zurück nach Kaiserslautern. Die Stimmung war sehr gedrückt. Alle schwiegen betreten vor sich hin und malten sich in Gedanken die möglichen Konsequenzen des Handtaschendiebstahls aus.

Die Parkstraße, in der Marieke mit ihrer jungen Familie im Dachgeschoss ihres Elternhauses wohnte, war wie ausgestorben. Noch nicht einmal die neugierige Schleicherin war unterwegs. Und das, obwohl sie mit ihrem übergewichtigen Hund stets um diese Uhrzeit eine letzte Inspektionsrunde durchs Musikerviertel drehte. Normalerweise konnte man die Uhr nach den beiden stellen.

»Glaubt ihr, die alte Tratschtante hat endlich ins Gras gebissen?«, versuchte Tannenberg einen Scherz zu landen. Doch niemand reagierte auf seine makabere Bemerkung.

Dr. Schönthaler verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu seinem nur einen Steinwurf entfernt in der Glockenstraße gelegenen Domizil. Tannenberg betrat das Haus seines Bruders, verließ es aber sogleich wieder durch den Hintereingang und nahm die Abkürzung über den gemeinsamen Innenhof. Dann betrat er das an die Beethovenstraße angrenzende Zweifamilienhaus, in dem er gemeinsam mit Johanna von Hoheneck das Obergeschoss bewohnte, während seine Eltern im Parterre residierten.

»Komm schnell, Wolf«, hörte er plötzlich Mariekes Stimme in seinem Rücken. Ruckartig drehte er sich um. Seine Nichte stand am Fenster und fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum. »Bei uns ist eingebrochen worden.«

»Wo ist Emma?«, brüllte Tannenberg zurück. Vor ein paar Jahren war der kleine Sonnenschein der Familie von einem Psychopathen entführt worden, der sich an dem Kommissariatsleiter hatte rächen wollen. Seitdem reagierte er hochsensibel auf alles, was auch nur annähernd mit Emma zu tun hatte.

»Sie schläft doch heute Nacht bei Oma und Opa«, erklärte Marieke.

»Bist du dir auch sicher, dass sie wirklich dort ist?«

»Emma schlummert tief und fest in unserem Ehebett«, sagte Jacob, den die lauten Stimmen seiner Familienmitglieder aus dem Tiefschlaf gerissen hatte, von seinem Schlafzimmerfenster aus

»Gott sei Dank«, seufzte Tannenberg erleichtert.

»Warum macht ihr denn mitten in der Nacht solch einen Höllenlärm? Seid ihr etwa alle besoffen, oder was?«, schimpfte der Senior.

»Nein, Opa, bei uns ist eingebrochen worden«, antwortete Marieke.

»Bin schon unterwegs«, gab der alte Tannenberg zurück.

Höchstens zwei Minuten später traf der als Sherlock Holmes aus der Beethovenstraße stadtbekannte Rentner in der Wohnung seiner Enkelin ein. Neben ihm trottete ein bärenartiger Mischlingshund, der auf den für eine Hündin ungewöhnlichen Namen ›Kurt‹ hörte und das genaue Gegenteil eines wachsamen, scharfen Polizeihundes war. Kurt ging zu Tannenberg, holte sich seine Streicheleinheiten ab und wich seinem Herrchen fortan nicht mehr von der Seite.

Jacob hatte seinen grauen Bademantel übergeworfen und sah ziemlich zerknittert und verschlafen aus. Doch geistig war er voll auf der Höhe. »Was wurde gestohlen?«, riss er sofort die Ermittlungen an sich.

»Nix da, Vater, halte dich zurück. Das ist mein Job«, bremste ihn Tannenberg aus. »Wer von uns beiden ist denn hier der Kriminalbeamte?«

»Du«, gestand Jacob ein. »Aber deiner Fahne nach zu urteilen hast du mindestens 1,5 Promille im Blut und bist somit nicht diensttauglich«, entschied er kurzerhand und klopfte sich auf die Brust. »Ich hingegen bin vollkommen nüchtern und folglich zu kriminalistischen Höchstleistungen fähig.«

Tannenberg schnaubte verächtlich, enthielt sich aber eines weiteren Kommentars.

Während sein Sohn die Spurensicherung benachrichtigte, inspizierte Jacob fachmännisch die Wohnungstür. Selbstverständlich ohne irgendetwas zu berühren, schließlich wollte er den Kriminaltechnikern nicht die Arbeit erschweren. »Keine erkennbaren Einbruchsspuren«, stellte der Hobby-Detektiv fest und zog eine naheliegende Schlussfolgerung: »Also hat der Täter die Tür mit einem Dietrich geöffnet.«

»Oder mit Mariekes Schlüssel«, bemerkte Max und informierte den Senior über den Handtaschendiebstahl.

Jacob knetete nachdenklich das unrasierte Kinn. »Das wirft natürlich ein ganz anderes Licht auf diese Sache. Dann ist der Einbrecher vom Dürkheimer Wurstmarkt hierher gefahren und hat mit Mariekes Schlüsselbund …«

»Woher soll er denn gewusst haben, wo Marieke wohnt?«, fiel ihm Tannenberg ins Wort.

»Hast du besoffener Dödel schon einmal den Begriff ›Personalausweis‹ gehört, he?«, schnauzte ihn Jacob an. »Da steht doch ihre Adresse drauf.«

Der Leiter des K 1 räusperte sich verlegen und wandte sich an Max: »Hast du inzwischen einen Überblick, was gestohlen wurde?«

»Ja, ich habe natürlich gleich nachgeschaut, ob irgendetwas fehlt. Auf alle Fälle sind unsere beiden Laptops weg.«

»Sonst noch was?«, fragte Heiner.

»Nee, auf den ersten Blick nicht«, antwortete Max. »Die Schränke und Schubladen hat der Typ offenbar nicht durchwühlt.« Er zog die Stirn in Falten. »Es ist schon komisch …« Ein langgezogenes Brummen.

»Was ist komisch?«, hakte Tannenberg nach.

»Na ja, mitten auf dem Küchentisch lagen 400 Euro, die ich heute Nachmittag aus dem Geldautomaten gezogen habe. Nicht in einem Kuvert, sondern ganz offen. Warum hat er die liegen gelassen?«

»Vielleicht war der Einbrecher gar nicht in eurer Küche«, spekulierte Jacob. »Der Kerl war bestimmt total in Hektik, schließlich musste er damit rechnen, dass ihr bald nach Hause kommt. Oder er wurde gestört.«

»Von wem denn? Von unserem verpennten Riesenhund garantiert nicht«, entgegnete sein jüngster Sohn und kraulte Kurt hinter den Schlappohren. Der bedankte sich mit einem wohligen Knurren. »Hier in Heiners Haus war niemand. Und du und Mutter habt nichts von einem Einbruch mitbekommen«, rekapitulierte Wolfram Tannenberg. Nach wie vor war er von Jacobs Hypothese alles andere als überzeugt. Er schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Wenn sich einer die Mühe macht, eine Handtasche zu stehlen und danach 30 Kilometer zur Wohnung des Opfers zu fahren …«

»Dann wird er sich auch die Zeit nehmen, die Wohnung gründlich nach Wertgegenständen zu durchsuchen«, ergänzte Heiner.

Sein jüngerer Bruder nickte. »Zumal er die nötige Zeit hatte, denn wir mussten ja zuerst den Diebstahl bemerken, ihn anzeigen und nach Kaiserslautern zurückfahren.«

»Aber das würde ja bedeuten, dass es dieser Kerl womöglich nur auf unsere beiden Laptops abgesehen hat. Weshalb sollte er das tun?«, fragte Marieke. Sie saß auf einem Stuhl und streichelte ihren kugelrunden Bauch. »Was will er denn damit?«

Sie erhielt nur Schulterzucken zur Antwort.

 

Als erste Amtshandlung verscheuchte Karl Mertel, der Chef der kriminaltechnischen Abteilung, alle aus der Wohnung. Gemeinsam mit seinen Kollegen sicherte er Fingerabdrücke an der Eingangstür, an den Fenstern, Zimmertüren, Schränken und Tischen. Um fremde Fingerspuren identifizieren zu können, nahm einer seiner Mitarbeiter von allen Mitgliedern der Familie Tannenberg Vergleichsabdrücke. Nur die im Schlafzimmer ihrer Großeltern friedlich schlummernde kleine Emma blieb von dieser Prozedur verschont.

Eine halbe Stunde später erschien Mertel in der gemütlichen Wohnküche der alten Tannenbergs, wo ihn Margot mit einer Henkeltasse frischgebrühten Kaffees empfing. »Bitte schön, mein lieber Karl, diese Stärkung hast du dir wirklich verdient. Du Armer, musst mitten in der Nacht arbeiten. Komm, setz dich zu den anderen und bedien dich. Den Hefezopf habe ich heute Nachmittag frisch gebacken.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Tannenberg«, bedankte sich der Spurenexperte und machte sich über den Hefekuchen her. »Ihr müsst natürlich so schnell wie möglich alle Schlösser austauschen, sonst könnte dieser Mistkerl ja noch einmal bei euch einsteigen«, empfahl er schmatzend. »Von beiden Häusern selbstverständlich«, ergänzte er und wandte sich an Marieke. »Ich gehe davon aus, dass dir nicht nur der Schlüssel für deine eigene Wohnung geklaut wurde, oder?«

Marieke seufzte tief. »Nein, leider sind alle meine Schlüssel für unsere beiden Häuser weg.«

»Ich habe leider nur zwei Schließzylinder dabei. Die baue ich euch natürlich nachher ein. Am besten in die beiden Haustüren. Dann kommt keiner mehr rein.« Er fixierte den Leiter des K 1, der ihm direkt gegenübersaß, mit einem fordernden Blick. »Die brauche ich natürlich so schnell wie möglich wieder, Wolf.«

»Klar, ich besorge gleich morgen früh neue Zylinder.«

»Nee, mein Junge, das mache ich«, mischte sich sein Vater ein. »Du gehst zur Arbeit. Schließlich bin ich hier der Rentner, und nicht du! Hoffentlich kriegst du einen richtig schönen Brummschädel, du alter Suffkopp!«

»Jacob, hör endlich auf, den armen Wolfi immer so zu ärgern. Er hat’s schwer genug«, zeterte Margot.

»Warum? Dieser Schmalspur-Kriminalist ist doch schuld an dem ganzen Schlamassel.«

»Wieso denn das?«, fragte Tannenberg gereizt. Sein Gesicht gefror zu einer zornigen Maske.

Wie ein Dirigent mit seinem Taktstock stach der Senior mit dem Zeigefinger auf seinen Sohn ein. »Du hast versagt. Als Polizist hättest du wachsamer sein müssen. Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte niemand unbemerkt Mariekes Handtasche stehlen können.«

Tannenberg hatte keine Lust auf eine Kabbelei mit seinem streitsüchtigen Vater. Außerdem war er hundemüde und seine Kopfschmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Gähnend stemmte er sich über die Ellbogen in die Höhe. »Leute, ich muss dringend ins Bett«, verkündete er und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »In sechs Stunden ist die Nacht zu Ende und ich habe morgen einen anstrengenden Tag.«

Jacobs Augen blitzten geradezu vor Neugierde. »Wieso? Hast du etwa einen neuen Mordfall zu bearbeiten, von dem ich noch nichts weiß?«

Der Kriminalbeamte zuckte teilnahmslos mit den Schultern und schlurfte aus der Küche. Am elterlichen Schlafzimmer drückte er sanft die Klinke herunter und lugte durch den Türspalt. Die Flurbeleuchtung warf einen Lichtschein auf die kleine Emma, die eingerahmt von ihren Lieblingsstofftieren im Bett lag.

Oh Gott, wenn dich dieser verfluchte Einbrecher entführt hätte … Das würde ich nicht überleben, dachte er und zog vorsichtig die Tür ins Schloss.

2

 

»Guten Appetit, mein liebes Flöckchen«, säuselte Tannenberg in das Vorzimmer des K 1 hinein. »Und einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich dir noch obendrauf«, schob er nach.

»Vielen Dank, Chef«, erwiderte die mit einer bunten Bluse und einem dunkelblauen Rock bekleidete Sekretärin. Irritiert zog sie das Kinn zum Hals. »Wieso sind Sie denn so gut gelaunt? Es ist doch Montagmorgen.«

»Ach, Flocke, weißt du, manchmal sind auch Montage wunderbare Tage«, flötete ihr Chef weiter.

»Etwa weil Johanna zurückkommt?«, fragte Petra Flockerzie mit einem verschmitzten Lächeln.

Tannenberg trat an ihren Schreibtisch heran und stemmte herausfordernd die Hände in die Hüften. »Woher weißt du denn das schon wieder?«

»Bestimmte Dinge weiß man eben«, orakelte Petra Flockerzie. Ihr dezentes Schmunzeln verwandelte sich in ein triumphales Grinsen. »Eine gute Chefsekretärin hat überall ihre Informanten sitzen.« Abrupt verdüsterte sich ihre Miene. »Deshalb weiß ich auch, dass irgendein Verbrecher Mariekes Handtasche gestohlen hat und danach mit ihrem Schlüssel in ihre Wohnung eingebrochen ist.«

»Das hast du bestimmt von Karl erfahren. Diese alte Tratschtante«, schimpfte ihr Vorgesetzter.

Die korpulente Mittfünfzigerin machte eine entschuldigende Geste. »Sie werden sicherlich verstehen, dass ich unter keinen Umständen meine Informanten preisgeben kann. Informantenschutz geht mir über alles.«

Tannenberg gab sich geschlagen. »Okay, okay.« Er befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze und seufzte. »Ja, Flocke, beides ist richtig«, bestätigte er. »Hanne kehrt heute aus Hamburg zurück und Sonntagnacht wurde in Mariekes Wohnung eingebrochen.«

Sein Blick hakte sich an einer roten Brotbox fest, die aufgeklappt neben der Computertastatur stand. »Sag mal, was hast du denn heute Morgen für ein tolles Frühstück dabei?« Schelmisch grinste er über beide Backen. »Meine Mutter hat mir leider nur frischgebackenen Hefezopf eingepackt. Dick mit Butter bestrichen, versteht sich.«

»Hefezopf mit Butter«, stöhnte die Sekretärin und begann zu schmatzen. Resigniert ließ sie die Schultern hängen. »Und ich muss mich mit 200 Gramm Karotten begnügen.«

Tannenberg zog einen Mundwinkel nach oben. »Karotten sollen ja sehr gesund sein«, kommentierte er.

»Das stimmt schon, Chef, aber …« Den Rest ließ sie unausgesprochen. Mit leidendem Blick starrte sie auf die Plastikbox.

»Was ist es denn diesmal für eine Diät?«, fragte Tannenberg einfühlsam nach.

Ein Ruck ging durch Petra Flockerzies Körper. Sie straffte die Schultern und dozierte: »Ich habe gestern die ebenso einfache, wie geniale Volumetrics-Diät entdeckt.«

»Was für ’n Ding?«

»Die Volumetrics-Diät«, wiederholte die korpulente Sekretärin, wobei sie die Worte in die einzelnen Silben zerlegte. »Sie wurde in den USA entwickelt und lässt sich auf folgende Kurzformel bringen: sich satt essen«, sie streckte den Zeigefinger in die Höhe, »und dabei abnehmen.«

»Das hört sich eindeutig nach einer Wunderdiät an.«

»Ist sie ja auch«, behauptete Petra Flockerzie. »Dieses revolutionäre neue Diät-Konzept setzt auf Lebensmittel mit geringer Energiedichte.«

Wolfram Tannenberg kratzte sich hinterm Ohr und brummte dabei skeptisch.

»Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel, Chef«, fuhr die Sekretärin, jetzt ganz in ihrem Element, fort. »200 Gramm Schokolade haben viel, viel mehr Kalorien als 200 Gramm Möhren. Das ist doch jedem sonnenklar, oder?«

Der Leiter des K 1 nickte. »Ja, sogar mir.«

»Stellen Sie sich jetzt bitte zwei Tafeln Schokolade neben meinem Karottenberg vor. Was fällt Ihnen sofort ins Auge?«

»Die Karotten sind rot, die Schokolade ist braun.«

Petra Flockerzie zog mürrisch die gezupften Brauen zusammen. »Aber das meine ich doch nicht, Chef«, protestierte sie und wies auf ihre Brotbox. »Man sieht auf den ersten Blick, dass Karotten bei gleichem Gewicht mehr Volumen haben als Schokolade. Mit anderen Worten: Ihre Energiedichte ist geringer.«

»Jo, das leuchtet mir ein.«

Die Sekretärin hielt demonstrativ eine Karotte in die Höhe. »Aufgepasst, Chef: Eine amerikanische Ernährungswissenschaftlerin hat die Essgewohnheiten von schlanken und übergewichtigen Menschen miteinander verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass diese Gruppen zwar unterschiedliche Kalorienmengen zu sich nahmen, aber das Gewicht ihrer Tagesportionen in etwa gleich war. Frauen zum Beispiel aßen etwa drei Pfund pro Tag.«

Tannenberg unterdrückte ein Gähnen. »Und wo ist nun die Pointe dieser angeblichen Diät-Revolution?«

»Die liegt doch auf der Hand, Chef: Zum Abnehmen muss man einfach nur möglichst viele Lebensmittel mit geringer Energiedichte essen.«

»Also drei Pfund Karotten am Tag.«

»Nein, Chef«, kam es gedehnt zurück, »natürlich darf man nicht nur Karotten essen, sondern auch anderes Gemüse, Obst oder Suppen.«

»Aber keinen frischgebackenen Butter-Hefezopf, oder?«

Petra Flockerzie lief das Wasser im Mund zusammen. Sie seufzte und wiegte den Kopf sanft hin und her. »Nein«, ächzte sie. Das lärmende Telefon riss sie abrupt aus ihren abschweifenden Gedanken.

»Das ist garantiert ein Bauer, der dir zwei Zentner Karotten verkaufen will«, spottete ihr Vorgesetzter.

»Haha«, konterte die Sekretärin und griff zum Telefonhörer. Während sie lauschte, legte sie ihre Hand auf die Hörmuschel. »Nein, Chef, es ist Ihr werter Herr Vater. Er wünscht Sie dringend zu sprechen«, sagte sie in ungewohnt gestelzter Form. »Ich lege das Gespräch in Ihr Büro.«

»Danke, Flocke«, erwiderte Tannenberg. Grinsend schnappte er sich eine Karotte, biss ein großes Stück ab und verschwand in seinem Dienstzimmer.

Der Kommissariatsleiter fläzte sich in seinen Ledersessel und nahm den Hörer ab. Sein Blick verfolgte eine Mücke, die sich gerade auf seiner Schreibtischunterlage niedergelassen hatte. »Was willst du alte Nervensäge denn schon wieder von mir?«, fragte er, wobei der freundliche Unterton in seiner Stimme nicht zu überhören war. »Hast du etwa schon unseren Einbrecher gefasst?«

»So gut wie«, tönte der Senior. »Ich habe nämlich einen sensationellen Ermittlungsdurchbruch zu vermelden.«

»Einen sensationellen Ermittlungsdurchbruch? Meinen aufrichtigen Respekt, Sherlock Holmes.«

Jacob ließ sich von dieser spöttischen Bemerkung nicht aus dem Konzept bringen. »Ich komme gerade aus der Stadt«, verkündete er. »Im Tchibo stand einer aus Erfenbach am Nebentisch …«

»Und?«, fragte Tannenberg in die absichtlich gesetzte Pause hinein.

»Und dem seine Tochter studiert in Mainz. Achtung, jetzt kommt’s. Hast du schon die Hände zum Applaus-Klatschen bereit?«

»Jo.«

»Also: Dieser Studentin ist genau dasselbe passiert wie unserer Marieke. Der wurde in einer Kneipe die Handtasche geklaut. Und als sie später nach Hause kam, war ihre Wohnung ausgeräumt.«

»Na ja, Vater, besonders spektakulär ist diese Information nun wirklich nicht. Solche Einbrüche passieren leider überall im Bundesgebiet. Und zwar häufiger, als man denkt.«

»Natürlich, aber im Gegensatz zu euch Schnarchnasen sind die Schutzleute in anderen Städten ganz anders auf Zack. Die Kripo in Mainz hat nämlich die Täter bereits kurz nach dem Einbruch geschnappt. Die Einbrecher gehörten zu einer osteuropäischen Bande, die in ganz Deutschland zugeschlagen hat.« Seine Stimme überschlug sich. »Auch schon hier bei uns in der Pfalz! Ist das nicht der Hammer?«

Tannenberg verdrehte die Augen. »Vater, wie sollen diese Leute denn in Heiners Haus eingebrochen sein, wenn sie von den Mainzer Kollegen verhaftet und inhaftiert wurden?«

»Du Quatschkopp«, fauchte es durch den Hörer. »Bist du so naiv, oder tust du nur so, he? Diese Verbrecher sind doch mafiamäßig organisiert. Es ist wie bei diesem Schlangen-Ungeheuer in der griechischen Sage: Schlägt man ihr einen Kopf ab, wachsen sofort mehrere nach. Bei diesen Verbrechern ist es doch genauso: Werden von denen welche gekascht, ruft der Boss kurz zu Hause an und ruckzuck kommt mit dem nächsten Transitbus krimineller Nachschub.«

»Okay, Sherlock Holmes, ich leite deine brandheißen Tchibo-Tipps gleich an die Kollegen vom Einbruchsdezernat weiter. Ich muss jetzt Schluss machen. In fünf Minuten beginnt die Frühbesprechung. Tschüss.«

Tannenberg legte auf und schnaufte erst ein paarmal kräftig durch. Anschließend las er den Abschlussbericht seines letzten Falls, den er noch heute der Staatsanwaltschaft vorlegen sollte.

»Che-ef«, quäkte es aus der Gegensprechanlage, »die Zentrale für Sie. Ein toter Jogger zwischen dem Gelterswoog und Queidersbach. Übernehmen Sie bitte?«

»Klar, Flocke, stell durch.«

 

Tannenberg gabelte Dr. Schönthaler in der Spaethstraße auf, wo der Rechtsmediziner in den tristen Katakomben des Westpfalzklinikums seine Arbeit verrichtete. Eine knappe Viertelstunde später trafen sie an einem Waldparkplatz in der Nähe des Queidersbacher Fußballplatzes ein. Die Streifenwagenbesatzung hatte den Leichenfundort weiträumig abtrassiert, und die Kriminaltechniker begannen gerade mit der Sicherung vermeintlicher Tatortspuren.

»Mensch, Karl, lass bloß deine Schweißpropeller von dem armen Mann!«, blökte Dr. Schönthaler an Mertel adressiert, der sich neben dem Toten niedergekniet hatte. »Vielleicht lebt die Leiche ja noch und erleidet einen tödlichen Schock, wenn sie deine gemeine Zuhälter-­Visage sieht«, demonstrierte der Rechtsmediziner seinen berühmt-berüchtigten Pathologenhumor.

Der altgediente Spurenexperte zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, sondern schob unbeeindruckt die rechte Hand des Toten in eine Plastiktüte.

»Habt ihr seine Identität schon klären können?«, fragte Tannenberg einen jungen Uniformierten.

»Nein, Herr Hauptkommissar. Der Tote hatte weder Ausweispapiere noch Schlüssel, noch ein Handy bei sich. Und ein Auto haben wir hier in der näheren Umgebung auch nicht entdeckt. Womöglich wohnt das Opfer in Queidersbach und ist von dort aus zu seinem Waldlauf aufgebrochen. Mein Kollege ist nach Queidersbach reingefahren und fragt mal rum.«

»Gute Idee«, lobte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission. Anschließend ging er zu Dr. Schönthaler, der inzwischen mit Mertels Hilfe den Leichnam auf den Rücken gedreht hatte.

Eingerahmt von Farnwedeln lag der Jogger in einem Berg bunten Herbstlaubes. Dem Anschein nach war er circa 25 Jahre alt, etwa einen Meter 85 groß und von sportlicher Statur. Die hellblaue, ballonseidene Jacke seines Trainingsanzuges war im Bauch- und Brustbereich von Blut durchtränkt.

»Wie du selbst aus diesen fünf Rissen im Stoff schlussfolgern kannst, kommen als Todesursache höchstwahrscheinlich mehrere Stichverletzungen in Betracht«, erklärte Dr. Schönthaler. Er zeigte auf den linken Brustbereich des Toten. »Ich vermute mal tollkühn, dass allein schon diese Stichverletzung hier gereicht hätte, um diesen Frischluftfanatiker in einen stickigen Sarg zu befördern.«

»Aber warum dann vier weitere Stiche, wenn schon dieser eine tödlich war?«, murmelte Tannenberg vor sich hin.

»Vielleicht wusste der Täter nicht so genau, wo sich bei einem vis-à-vis stehenden Menschen das Herz befindet. Schließlich ist es dann ja auf der anderen Seite. Vielleicht hat er deshalb ein wenig herumprobiert.«

»Blöde Theorie, Rainer«, rüffelte der Chef-Ermittler.

»Dann eben mal ernsthaft: Wir wissen, dass eine derartige Tatausführung auf eine hohe emotionale Erregung hinweist, die wiederum …«

»… häufig auf eine Beziehungstat schließen lässt«, vollendete sein Freund.

Der Rechtsmediziner stimmte mit einer Kopfbewegung zu. »Es sieht übrigens ganz danach aus, als ob sich unser Toter überhaupt nicht gewehrt hätte. Keine abgebrochenen Fingernägel oder …«

»Also ein Überraschungsangriff?«, schnitt ihm der Kriminalbeamte das Wort ab.

»Ja, die Tat könnte sich so abgespielt haben. Aber vielleicht entdecke ich ja doch noch den einen oder anderen Hautpartikel unter seinen Nägeln.« Dr. Schönthaler schnäuzte sich trompetenartig die Nase.

»Dann hätten wir die DNA des Täters.«

Sein Gegenüber nickte zufrieden und schmierte seine Lippen mit einem Fettstift ein. »Und dann hättest du endlich mal deinen einfachen, schnell zu lösenden Fall, von dem du schon so lange träumst.«

»So einen hätte ich mir durchaus auch mal verdient, nach all diesen mysteriösen Mordfällen, mit denen ich mich in den letzten Jahren herumzuplagen hatte.«

»Dann wollen wir mal das Beste für dich hoffen.«

»Herr Hauptkommissar«, rief der junge Streifenpolizist und wedelte aufgeregt mit seinem Handy. »Mein Kollege hat anscheinend die Mutter des Toten ausfindig gemacht.«

»Sehr gut«, kommentierte der Leiter des K 1.

»Er hat ihr das Aussehen des Mannes und seine Kleidung beschrieben. Danach handelt es sich bei dem Mordopfer um Dennis Richter, 24 Jahre alt, wohnhaft in der Hauptstraße 187. Er arbeitet bei Opel, hat aber gerade Urlaub.«

»Aha, also ein Opelaner«, murmelte Dr. Schönthaler, woraufhin ihm Tannenberg einen irritierten Blick zuwarf.

»Dieser Dennis Richter spielt beim FC Queidersbach Fußball«, ergänzte der diensteifrige Polizist. »Wegen eines Kreuzbandrisses befindet er sich zurzeit im Aufbautraining.« Er klatschte sich an die Stirn. »Deshalb ist er mir auch gleich so bekannt vorgekommen. Ich glaube, ich habe sogar schon gegen ihn gespielt. Das sind aber keine erfreulichen Erinnerungen, denn wir verlieren leider immer gegen die Queidersbacher.«

Wolfram Tannenberg hatte die letzten Sätze schon nicht mehr wahrgenommen, denn sein Gehirn beschäftigte sich mit dem, was ihm nun bevorstand. Der Besuch bei den Eltern, Geschwistern, Kindern oder Ehepartnern eines Mordopfers war für ihn das Allerschlimmste an seinem Job. Wie gerne hätte er diese Aufgabe einem seiner Mitarbeiter übertragen, am liebsten Sabrina Schauß. Aber seine junge Kollegin stand ihm gegenwärtig nicht zur Verfügung, denn sie nahm gemeinsam mit ihrem Ehemann Michael an einer Fortbildung in der Interpolzentrale in Lyon teil. Und Kriminalhauptmeister Geiger hatte sich letzte Woche krankgemeldet.

Aber dieser unangenehme Teil seines Berufes musste nun einmal schnellstmöglich erledigt werden. Die Angehörigen eines Mordopfers konnten oft wertvolle Informationen zur Ergreifung des Täters liefern. Und in diesem Fall war Eile geboten, schließlich lief ein gemeingefährlicher Messerstecher frei herum. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Mörder in einem psychischen Ausnahmezustand befand, der ihn möglicherweise zu einer tickenden Zeitbombe machte. Vielleicht hatte er ja auch noch weitere Opfer auf seiner Todesliste.

Eingedenk dieses Furcht einflößenden Szenarios brauste Tannenberg nach Queidersbach. Kurz hinter dem Ortsschild der Gemeinde begegnete ihm ein Streifenwagen. Als er seinen alten Freund Krummenacker hinter dem Steuer erkannte, betätigte er die Lichthupe und bedeutete ihm, anzuhalten. Der Kriminalhauptmeister fasste seine Erkenntnisse kurz zusammen und erklärte ihm den Weg.

Mit einem flauen Gefühl im Magen läutete Tannenberg an einem unscheinbaren Einfamilienhaus, das in der Hauptstraße direkt an die Nachbarhäuser angrenzte. Es dauerte eine Weile, bis Monika Richter die Haustür öffnete. Und es dauerte noch bedeutend länger, bis er von ihr endlich die benötigten Informationen eingesammelt hatte. Immer wieder von Weinkrämpfen übermannt berichtete die arbeitslose Endvierzigerin, dass ihr Sohn Dennis ein überaus beliebter, hilfsbereiter und freundlicher Zeitgenosse gewesen sei, der vor allem seine Arbeit und den Sport im Sinn hatte. Ihres Wissens hatte er noch nie mit irgendjemandem Streit gehabt. Es gab keine Drohungen, Anfeindungen, nichts, aber auch rein gar nichts, was auf irgendeinen Konflikt hingedeutet hätte.

»Und warum wurde Ihr Sohn dann mit fünf Messerstichen getötet, wenn er so überaus beliebt, hilfsbereit und freundlich war?«, fragte Tannenberg, allerdings erst, als er wieder allein in seinem Dienstwagen saß und zurück zum Tatort fuhr.

Irgendwo wird sich doch wohl ein Motiv für solch einen brutalen Mord finden lassen. Zu jedem Mord gehört ein Motiv, nur welches?, fragte er sich. Vielleicht hat der junge Mann ja ein Doppelleben geführt, von dem seine Mutter nichts wusste. Oder er hatte ein Verhältnis mit irgendeiner verheirateten Frau, deren eifersüchtiger Ehemann ausgerastet ist. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an seine eigene Sturm- und Drangzeit dachte. Mutter hat damals auch das meiste von dem, was Heiner und ich so alles getrieben haben, nicht mitbekommen. Dem Himmel sei Dank!

 

Eine Stunde später huschte Wolfram Tannenberg durch den von Neonlicht gefluteten Klinikflur, der zum Totenreich des Rechtsmediziners führte. Immer, wenn er hier unten entlangeilte, packte ihn die kalte Angst im Genick und rüttelte ihn heftig durch, während sich ein Furcht erregender Albtraum in sein Bewusstsein drängte. In einer schwülen Sommernacht hatte er ihn zum ersten Mal aus dem Tiefschlaf gerissen. Seitdem begleitete ihn dieser Traum wie ein böser Fluch durch sein Leben.

Aus dienstlichen Gründen hat Dr. Schönthaler seinen Freund um einen Besuch in der Pathologie gebeten. Tannenberg trippelt die Treppen hinunter und hastet durch den Korridor. Plötzlich öffnen sich die Wände, menschliche Skelette treten in den Flur und versperren ihm den Weg. Die Knochenmänner strecken ihre Hände nach ihm aus und versuchen, ihn zu greifen. Er dreht sich um, will flüchten, doch er kann sich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Die klapprigen Gestalten kommen immer näher und umzingeln ihn. Unzählige dürre Fingerknochen tippen auf ihm herum. Der Kreis wird immer enger gezogen …

Bei dieser Vorstellung jagten Tannenberg eisige Schauer den Rücken hinunter und sein Puls raste in ähnliche Dimensionen wie früher bei einer sportlichen Höchstleistung. Er beschleunigte seine Schritte, rannte nun den Flur entlang.

»Rainer, wo steckst du denn«, schrie er gegen seine Panikattacke an.

»Wo schon?«, blaffte es aus dem Sektionsraum zurück.

Dr. Schönthaler ließ sich von dem hechelnden Ankömmling nicht stören. In aller Seelenruhe beugte er sich über den Edelstahltisch, inspizierte eingehend die Stichverletzungen des Toten und besprach dabei sein Diktiergerät.

Tannenberg ging in das Arbeitszimmer seines Freundes, das nur durch eine raumhohe Glasscheibe vom Sektionssaal getrennt war. Er trank einen Schluck Wasser und kehrte zu Dr. Schönthalers Arbeitsplatz zurück. Seine Probleme waren mit einem Mal wie weggeblasen. »Und, gibt’s was Neues, du alter Leichenschinder?«, frotzelte er.

»Das kann man wohl sagen«, entgegnete der Pathologe, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

»Und was?«, hakte sein Freund nach. »Lass dir doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen.«

Dr. Schönthaler richtete sich auf und deutete mit dem Diktiergerät auf ihn. »Erst das Vergnügen, dann die Arbeit.«

»He?«

»Schenk du uns zuerst mal zwei Bellis ein, danach werde ich dir vielleicht etwas sehr Interessantes zeigen.«

Der Kriminalbeamte schlurfte in Dr. Schönthalers Büro, wo zwei Flaschen selbstgebrannter Mirabellenschnaps im Kühlschrank lagerten. Ohne die mit Leichenteilen bestückten Behälter auch nur eines Blickes zu würdigen, griff er sich die angebrochene Flasche und schlug schnell die Tür wieder zu. Schnaubend erhob er sich, ging zu seinem Freund und schenkte zwei Schnapsgläser voll.

»Prost, Rainer, auf die beiden mit Abstand attraktivsten pfälzischen Männer«, tönte Tannenberg.

Dr. Schönthaler musterte ihn mit einem abschätzigen Blick und deutete auf sein Brustbein. »Also auf mich trifft diese Feststellung ja hundertprozentig zu, aber …«

»Laber nicht rum, sondern trink! Und dann zeigst du mir endlich deine spektakuläre Entdeckung.«

»Lass du zuerst noch mal die Luft aus unseren Gläsern raus.«

»Alter Suffkopp«, grummelte der Kriminalbeamte, während er nachschenkte.

»Selber«, konterte der Rechtsmediziner und erhob sein Glas. »Dann stoßen wir doch am besten auf deinen neuen Fall an. Der wird nun möglicherweise doch interessanter, als wir vor zwei Stunden noch angenommen haben.«

»Mach’s nicht so spannend, Mann«, schimpfte Tannenberg. »Ich muss gleich wieder weg.«

»Na, dann komm mal mit, du alte Schnapsdrossel«, forderte Dr. Schönthaler.

Er führte den Kriminalbeamten zur Edelstahlbahre, auf der das nackte Mordopfer rücklings lag. Der Pathologe stellte sich hinter den Kopf des Toten und beugte sich zu ihm hinunter. Doch urplötzlich schnellte sein Oberkörper wieder in die Höhe. Mit einem durchdringenden Blick musterte er seinen Freund von oben bis unten.

»Was ’n los?«, fragte der verdutzt.

»Wann hast du denn deine letzte Fangopackung erhalten?«

»He?«