Hermann Bauer
Nestroy-Jux
Ein Wiener Kaffeehauskrimi
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hochland / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3922-3
Für das Café Fichtl und die New Generation
Ich hör schon das Gras wachsen, in welches ich beißen werd.« (Nestroy: Die Papiere des Teufels)
Zwei Männer saßen im Dämmerlicht des Wiener Zwölfapostelkellers und tranken Wein. Die wenigen Worte, die sie dabei miteinander wechselten, ohne ihre Stimmen allzu sehr zu erheben, ließen sich kaum aus der allgemeinen Geräuschkulisse herausfiltern. Es schien sich aber um eine wichtige Angelegenheit zu handeln, die sie besprachen.
»Warum?«, fragte der jüngere.
»Weil nicht mehr viel Zeit bleibt«, belehrte ihn der ältere.
»Und weshalb ich?«
Der ältere lächelte müde. »Weil jede erbrachte Leistung eine Gegenleistung erfordert«, erwiderte er. »Das versteht sich doch von selbst.«
»Was ist, wenn ich es nicht tue?«, wollte der jüngere nach kurzem Nachdenken wissen.
»Das wäre unklug. Muss ich dich daran erinnern, dass du auf meine Großzügigkeit angewiesen bist?«
»Es ist ein kurioses und ungewöhnliches Anliegen«, meinte der jüngere kopfschüttelnd.
»Das zu beurteilen steht dir nicht zu«, vermeldete der ältere knapp. Dabei lächelte er sein Gegenüber mit einer Mischung aus Bestimmtheit und Überlegenheitsgefühl an. Offensichtlich genoss er die Situation.
Stickig und schwül hing die Luft in dem alten Gemäuer zwischen den beiden und bildete eine unsichtbare Barriere. Was zu sagen war, war gesagt. Es gab nichts Persönliches, was sie einander noch mitteilen wollten. Der jüngere nippte bedächtig an den letzten Resten in seinem Glas. Er wollte hinaus an die frische Luft, in den lauen Juniabend. Aber er wartete geduldig, bis der ältere ausgetrunken hatte. Der bestellte dann allerdings noch ein Viertel Wein.
»Ich fühle mich wohl in diesem Gewölbe«, versuchte er zu erklären. »Ich mag das düstere Licht, es tut meinen Augen gut. Ich mag die abgestandene Luft, die sich hier gefangen hat. Es ist ein Ort, der mich vergessen lässt, was auf der Welt geschieht und an dem ich mich sicher fühle. Die alten Mauern halten noch etwas aus. Hier hat man Schutz, selbst wenn oben alles zusammenbricht. Aber ich möchte dich nicht aufhalten. Ich sehe, du hast es eilig, wieder hinauf zu kommen.«
Der jüngere stand wortlos auf, drehte sich um und ging, ohne sich zu verabschieden. Bloß weg, ehe ich ersticke, dachte er.
»Auch der minder Gebildete kann alle Tag’ Sachen genug bemerken, welche deutlich beweisen, dass die Welt nicht lang mehr steht.« (Nestroy: Lumpazivagabundus)
Thomas Korber, Lehrer für Deutsch und Englisch am Floridsdorfer Gymnasium, saß seinem Direktor Marksteiner mit keinem guten Gefühl gegenüber. Die Sekretärin, Frau Pohanka, hatte ihn mit leisem Hüsteln und so unauffällig, dass alle seine Kollegen es bemerken mussten, aus dem Konferenzzimmer zu dieser Besprechung geholt. Das bedeutete: Vorsicht!
»Schön, dass Sie sich Zeit nehmen konnten«, begrüßte Marksteiner ihn. »Ich will auch nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich habe mir die Schularbeitsstatistiken in Deutsch angesehen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Ihre 6B bei der letzten Arbeit ganz schlechte Ergebnisse erzielt hat, weit unter dem Durchschnitt der gesamten Schule.«
Aha, daher wehte also der Wind. Der Direktor war mit seinen Noten nicht zufrieden. Korber hatte schon befürchtet, dass Marksteiner wieder einmal eine Unregelmäßigkeit in seinem Lebenswandel beanstanden wollte. »Die Klasse weist derzeit auch ein mehr als bescheidenes Niveau in Deutsch auf«, verteidigte er sich.
»Seltsam. In ihr sitzen, im Vergleich zu anderen Klassen, sogar weniger Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache!«
»Das mag sein, aber es ist nicht das Kriterium. Es ist die schlampige Arbeitsweise. Schüler, die mit Deutsch aufgewachsen sind, glauben eben, es könne ihnen bei einem Aufsatz nicht viel passieren. Dann kommt es zu ungenauer Rechtschreibung und Grammatikfehlern, ganz zu schweigen von den Defiziten dabei, die eigene Meinung zu formulieren oder ein Problem von verschiedenen Seiten zu betrachten. In der 6B sind diese Schwächen ganz besonders stark ausgeprägt.«
»Nun ja, auf jeden Fall stehen jetzt bald die Jahresnoten fest«, betonte Marksteiner. »Lassen sich schon Ergebnisse vorhersagen?« Trotz seiner Ruhe und Sachlichkeit merkte man, dass ihm die Angelegenheit äußerst wichtig war.
»Die Schüler mit negativen Noten absolvieren derzeit ihre entscheidenden Prüfungen«, gab Korber Auskunft. »Es ist in solchen Fällen immer schwierig, Prognosen zu stellen, aber ich fürchte, dass sich nicht alle ihr Nicht Genügend ausbessern werden können.«
»Korber!« Marksteiner erhob seine Stimme für einen Augenblick zu einer für ihn ungewöhnlichen Lautstärke, senkte sie aber sofort wieder. »Haben Sie vergessen, was wir in der Eingangskonferenz besprochen haben? Wir müssen flexibler werden, was unsere Notengebung angeht, und sämtliche vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen. Sie wissen, die Bildung ist uns allen ein Anliegen. Die Noten sind es natürlich auch. Es geht schließlich um die Behaltequote.«
Natürlich, die Behaltequote, das neue Lieblingswort von Direktor Marksteiner! Da hätte Korber gleich draufkommen können, dass es ihm darum zu tun war. Ziel war demnach, möglichst wenige Schüler durchfallen zu lassen. Dadurch würden diese in den Klassen ›behalten‹, es gäbe nur wenige Wiederholer oder gar Schulabbrecher, das Floridsdorfer Gymnasium würde attraktiver, und die Arbeitsplätze der Lehrer wären gesichert.
»Man muss sich nicht durch Noten Autorität und Respekt verschaffen, das erkläre ich immer wieder«, fuhr Marksteiner auch schon fort. »Oft wirken eine Ermahnung, ein Gespräch mit den Eltern, ein gezielter Hinweis auf die Schwachstellen Wunder. Ein Schüler der sechsten Klasse erkennt dann mit 16 Jahren schon, dass er in der siebenten mehr leisten muss. Wir dürfen den entsprechenden Eifer und die nötigen Kenntnisse ja durchaus verlangen, aber mit Fingerspitzengefühl, Korber, mit Fingerspitzengefühl!«
Mit Fingerspitzengefühl! Dabei stand die Zentralmatura ins Haus, die von oberster Stelle an allen höheren Schulen gleich verordnete schriftliche Reifeprüfung unter absoluter Geheimhaltung der Themen. Da war es dann nicht mehr möglich, dezente Hinweise auf mögliche Fragestellungen zu geben oder beim Korrigieren das eine oder andere Auge zuzudrücken. Da mussten die Kandidaten wirklich eine solide Grundausbildung besitzen. Also war es nur recht und billig, im Vorfeld zu sondieren, wer bereit und in der Lage war, diesen Weg gleich zu gehen, und wer noch ein wenig warten musste. Mit Marksteiners frommen Worten kam man da nicht weit.
»Herr Direktor …«, versuchte Korber einen Einwand.
»Lassen Sie mich ausreden, Korber«, zeigte Marksteiner keinerlei Lust, unterbrochen zu werden. »Wir tragen alle eine Verantwortung: den Schülern, den Eltern, aber vor allem unserer Schule und unseren Kollegen gegenüber. Es gibt heute mehr Gymnasien und neue Mittelschulen im Bezirk und im weiteren Umkreis, als uns lieb sein kann. Die Schüler können aufgrund der guten Verkehrsverbindungen nach Belieben ausweichen. Es spricht sich sehr schnell herum, wenn bei uns viele Schüler wiederholen müssen, schon gar, wenn das Fach Deutsch davon betroffen ist. Darum sage ich noch einmal: Die Behaltequote ist entscheidend. Wir wollen keine Schüler und damit auch Lehrerposten unnötig verlieren. Motivation statt Notendruck lautet das Zauberwort. Sie arbeiten doch weiß Gott schon lange genug in diesem Beruf, um mich zu verstehen, Korber. Und habe ich mich Ihnen gegenüber nicht immer fair verhalten?«
Dieser kleine, beinahe erpresserische Wink hatte gerade noch gefehlt. Aber er hatte ja kommen müssen. Korber hatte im Zuge seines Hangs zu komplizierten Liaisonen mit dem anderen Geschlecht auch einmal ein Pantscherl mit einer seiner Schülerinnen gehabt. Marksteiner hatte die Sache damals auf sehr gütige Art geregelt. Jetzt nahm er Korber mit dieser Anspielung den letzten Wind aus den Segeln. »Ja, Herr Direktor, das werde ich auch immer respektieren«, musste Korber kleinlaut zugeben.
»Na also! Ich nehme an, dass Ihnen etwas einfallen wird, um in der 6B eine größere Katastrophe in Deutsch zu verhindern«, zeigte Marksteiner sich zufrieden. Im Grunde genommen mochte er Korber und er war auch kein Freund strenger Maßnahmen seinen Lehrern gegenüber. Aber er war immer noch der Meinung, dass an einer Schule, die er leitete, seine pädagogische Meinung vorzuherrschen habe, und die größte Freude bereitete es ihm, seinen Lehrkörper in solchen Gesprächen davon zu überzeugen.
»Sagen Sie, Korber, Sie stehen ja schon voll in den Proben für das diesjährige Theaterstück«, wechselte Marksteiner das Thema. »Wie geht die Sache denn voran?«
»Danke, gut«, antwortete Korber. Er wirkte nun bereits das dritte Mal beim ›Hochlöblichen Floridsdorfer Welttheater‹ mit, einer Gruppe von Amateurschauspielern, die vor einigen Jahren von einem gewissen Freddie Glomser aus der Taufe gehoben worden war. Glomser war ein in die Jahre gekommener Enthusiast, der vorher an zahlreichen Wiener Bühnen immer wieder in Nebenrollen mitwirken hatte dürfen. Jetzt hatte er sich den Traum einer eigenen Schauspieltruppe erfüllt. Einmal im Jahr wurde an den zwei Wochenenden vor Beginn der Sommerferien im Floridsdorfer ›Haus der Begegnung‹ ein Stück aufgeführt.
Diese Aufführungen waren eine willkommene Abwechslung im Kulturleben des Bezirkes. Allerdings stellte der hohe Altersdurchschnitt der Schauspieler – Bekannte oder ehemalige Weggefährten Glomsers – von Anfang an ein Problem dar. Wie die Rolle eines jugendlichen Liebhabers, wie die der von ihm Angebeteten besetzen? Außerdem zeigten einige der Mimen nur wenig Ausdauer und verabschiedeten sich bereits nach zwei Saisonen. Die ehrgeizigen Pläne Glomsers waren also schon bald auf eine harte Probe gestellt.
Da sprang das Floridsdorfer Gymnasium ein und bot seine Mithilfe an. Die dortigen Schüler sollten für die notwendige Auffrischung sorgen und dabei erleben, wie es war, auf den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹ zu stehen. Damit waren einerseits die Besetzungsprobleme aus dem Wege geräumt, und den Schülern wurde andererseits die Möglichkeit gegeben, ihr schauspielerisches Talent zu beweisen. Zusätzlich sorgte das Gymnasium durch gezielte Werbemaßnahmen für eine beinahe 100%ige Auslastung der Vorstellungen. Mit Hilfe des Schulbudgets konnte das finanzielle Risiko gering gehalten und in diesem Jahr auch erstmals ein professioneller Regisseur engagiert werden. Alles, was Direktor Marksteiner als Gegenleistung verlangte, war der Zusatz ›mit freundlicher und tatkräftiger Unterstützung des Floridsdorfer Gymnasiums‹ in den Programmheften und auf sämtlichen Plakaten. Klar, dass ihn der Fortgang der Proben interessierte.
Heuer war der 150. Todestag von Johann Nepomuk Nestroy, der von vielen immer noch als der Wiener Klassiker des Theaters angesehen wird, obwohl Franz Grillparzer zur selben Zeit Dramen schrieb, die dem klassischen Ideal weit näher kamen. Aber Grillparzers Helden waren irgendwo angesiedelt, im klassischen Griechenland oder in Spanien, und wenn schon in Österreich, dann abgehoben am Hof der Habsburger. Nestroys Charaktere hingegen entsprangen direkt der Seele des Wiener Volkes. Sie verkörperten dessen ganze Schläue, Dummheit, Falschheit und Schicksalsgläubigkeit. Sie waren so beliebt, weil der Wiener sich in ihnen wiedererkannte. Sie lachten und sangen, tranken und prassten und vergaßen dabei die Welt, und mit den meisten von ihnen hätte es wohl ein schlechtes Ende genommen, wenn nicht eine Glücksfee im letzten Moment ihr Füllhorn über ihnen ausgeleert hätte. Dass man ein bisschen Glück im Leben braucht, darin waren sich Nestroy und die Wiener einig. Und so endeten seine Stücke in Wohlgefallen und waren allseits beliebt – bis zum heutigen Tag.
Aus Anlass des Todestages machte man sich von Seiten des ›Floridsdorfer Welttheaters‹ daran, Nestroys Posse ›Einen Jux will er sich machen‹ aufzuführen, ein wildes Verwirrspiel ganz in der Tradition des Wiener Volksstückes: Der Gewürzkrämer Zangler fährt in die Stadt, um einige Dinge, vor allem seine bevorstehende Vermählung mit Madame Knorr, zu regeln. Das Geschäft überlässt er seinem Angestellten Weinberl und dem Lehrbuben Christopherl. Die beschließen allerdings, auch einmal ›verfluchte Kerle‹ zu sein, ebenfalls in die Stadt zu fahren und sich dort einen Jux zu machen – selbstredend ohne Geld. Bald kommt es zu den turbulentesten Verwechslungen. Natürlich verliebt sich Weinberl in Frau von Fischer, Madame Knorrs Freundin, und wird durch einen missglückten Scherz für deren Mann gehalten. Zanglers Mündel Marie ist gleichzeitig mit ihrem Geliebten Sonders auf der Flucht vor ihrem Onkel und Vormund. Später taucht Zangler mit seinem leicht vertrottelten Hausknecht Melchior auf der Szene auf. Eine wilde Verfolgungsjagd beginnt, ehe sich am Schluss doch alles in Wohlgefallen auflöst.
»Wer von unserer Schule spielt denn nun heuer mit?«, erkundigte Marksteiner sich.
»Die Kollegin Ilona Patzak gibt das Fräulein Blumenblatt, die Anette Riedl aus der siebenten Klasse das Mündel Marie, und Toni Haslinger aus der fünften Klasse den Christopherl«, gab Korber bereitwillig Auskunft.
»Der Haslinger ist auch dabei?«, zeigte sich Marksteiner überrascht. »Er hat doch ziemliche Schwierigkeiten in der Schule, und was seine Disziplin anbelangt …«
»Ich weiß«, gab Korber zu. »Aber wir dachten, dass ihm das Theaterspielen gut tun und einen neuen Auftrieb geben könnte. Bis jetzt nimmt er seine Aufgabe jedenfalls ernst, und die Rolle ist beinahe maßgeschneidert für ihn.«
»Na schön. Hoffen wir, dass er das Jahr trotzdem zu einem guten Ende bringt. Und Sie, Korber? Wen spielen Sie?«
»Den August Sonders, Herr Direktor.«
»Aha! Das ist der Liebhaber des Mündels, sofern ich mich recht erinnere«, konstatierte Marksteiner. Dann legte sich seine Stirn in Sorgenfalten. »Passen Sie mir auf und machen Sie keinen Unfug, Korber. Das Mädchen ist hübsch, ich weiß es. Tun Sie mit dem Ding ja nichts, was über die Rolle hinausgeht«, warnte er. »Ihr Ruf ist in dieser Hinsicht leider nicht der beste. Sind Sie eigentlich derzeit so etwas wie vergeben?«
Korber schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Direktor«, bekannte er wehmütig. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als ob sich eine Verbindung zwischen ihm und seiner ehemaligen Schülerin Geli Bauer anbahnen würde. Als er eine andere ehemalige Schülerin für ein paar Tage bei ihm einquartierte, kam es jedoch zum Bruch. Man versöhnte sich zwar wieder einigermaßen, aber jetzt saß Geli in der Geschäftsfiliale ihrer Firma in Salzburg, weit weg. Der Kontakt war auf Anrufe und E-Mails beschränkt. Ein Neuanfang der Beziehung musste warten.
»Schauen Sie dazu, es müsste doch etwas zu machen sein. Sie sind noch keine 40, Korber, sehen gut aus. Aber die Riedl lassen Sie mir in Ruhe, wenn ich bitten darf.« Marksteiner stand während dieser väterlich gemeinten Ratschläge auf, wobei deutlich zu erkennen war, dass er in den letzten Monaten einige Kilos zugenommen hatte. Er schüttelte Korber die Hand. »Also dann – vergessen Sie mir die Behaltequote nicht, und sonst viel Spaß bei den Proben.«
Korber bedankte sich und verließ die Direktionskanzlei. Nein, mit Anette Riedl würde es zu keinen intimeren Kontakten kommen, dessen war er sich sicher. Aber was den Spaß bei den Proben anging: Daran mochte er nicht so recht glauben. Dazu war Herwig Walters, der neue Regisseur, ein viel zu ernsthafter und finsterer Mensch.
*
Der Sommer ist keine gute Saison für das Kaffeehaus. Besonders um die Mittagszeit drückt die Hitze auf die Stimmung der wenigen Gäste, die in ihren gepolsterten Sitzen meinen, die Luft sei zu einem endgültigen Stillstand gekommen. Der Duft von Kaffee und Rauch, sonst eine angenehme Begleiterscheinung des Aufenthaltes, wird nun als besonders störend empfunden. Die Aktivitäten sind auf dem Nullpunkt angelangt. Kaum jemand rafft sich zu einer Billardpartie auf, bei der einem das kurzärmelige Hemd am Leibe kleben bleiben könnte. Auch das Kartenspiel erscheint mit einem Male viel zu anstrengend. Ständig sind die Hände beschäftigt und vollführen schweißtreibende Bewegungen: ausspielen, stechen, Stiche einsammeln, zählen, zahlen oder einkassieren. Alles ist viel zu mühsam, auch das Zeitunglesen, Kaffeetrinken, Denken und Reden. Deshalb verharren die Menschen zu Hause in ihren Schlupflöchern, bis die Dämmerung herabsinkt und für erträgliche Temperaturen sorgt. Aber selbst dann sitzen sie lieber in einem lauschigen Gastgarten oder beim Heurigen als im Kaffeehaus.
Leopold, seines Zeichens Oberkellner im Floridsdorfer Café Heller, konnte ein Lied von allen derartigen Unbilden der heißen Jahreszeit singen. Auch heuer hatte sie wieder einmal beinahe überfallsartig eingesetzt. Aber was sollte man tun? Zusperren würde ein Sakrileg bedeuten. Ebenso unmöglich erschien es ihm, und Gott sei Dank auch Herrn und Frau Heller, einfach ein paar Tische und Sessel auf den Gehsteig zu stellen und damit einen sogenannten Schanigarten aufzubauen. Das war die ordinäre Antwort der Wirtshäuser, Eisdielen und Tschocherln auf die allgemeine Wetterlage. Ein Haus mit Niveau, das von seiner inneren Ausstrahlung lebte, hatte das nicht notwendig. Das Geschäft lief irgendwie auch so weiter, an wolkenverhangenen Tagen sogar überraschend gut.
Man musste sich halt so einiges anhören, denn wenn dem Wiener heiß ist, dann grantelt er gerne. Die meisten Gäste vergaßen über ihrem Unmut, dass hohe Temperaturen für diese Jahreszeit etwas völlig Normales waren. »Bei dieser Hitze schmeckt einem ja nicht einmal mehr der Kaffee«, murrte ein Gast kopfschüttelnd.
»In der Zeitung steht auch nichts Gescheites«, feixte ein anderer. »Sauregurkenzeit! Nichts tut sich! Da muss man sich fragen, ob es überhaupt Sinn macht, ins Kaffeehaus zu gehen, nur um sich mit journalistischem Schwachsinn herumzuärgern.«
»Leopold, warum ist denn heute der Herr Bendl nicht da?«, erkundigte sich wiederum ein anderer.
»Vermutlich, weil er gestern da war, und Sie nicht da gewesen sind«, antwortete Leopold dienstbeflissen.
»Seltsam. Und wann kommt er wieder?«
Leopold zuckte die Achseln. »Wenn Sie wieder kommen, hat er gesagt. Mehr weiß ich auch nicht.
»Trostlos«, erwiderte der Gast. »Wenn der Herr Bendl nicht da ist, mit wem soll ich denn dann diskutieren? Warum bin ich überhaupt da? Ich glaube, es ist besser, ich bleibe die nächsten Tage zu Hause.«
So ging es ständig, und Leopold war froh, dass die meisten Stammgäste ihre Drohungen nur in gemäßigter Form wahrmachten. Ein einziger Mensch stand jeden Tag ab etwa 13 Uhr an der Theke und trank sein Viertel Weißwein, ohne sich um die sommerlichen Temperaturen oder die stickige Luft zu kümmern. Er war allen bekannt als ›der Herr Otto‹. Ehemals Beamter im Wiener Rathaus, war er vor etwas über einem Jahr in Pension gegangen. Nun tauchte er mit derselben Regelmäßigkeit, mit der er früher Akten geordnet hatte, in den Lokalen rund um die Alte Donau und den Floridsdorfer Spitz auf. Seine Tour begann um neun Uhr vormittags und dauerte bis etwa sieben Uhr abends. Um diese Zeit wandte er sich dann, die nötige Bettschwere im Kopf und in den Gliedern, heimwärts. Kein Mensch hatte ihn in diesem Jahr woanders als in einer Gaststätte oder auf dem Weg dorthin gesehen. Die Route variierte aufgrund diverser Ruhetage, aber das war auch schon alles. So hatte sein Leben die Beständigkeit aus den Berufstagen beibehalten, wenngleich nicht unbedingt zu seinem Vorteil.
»Noch ein Vierterl, Herr Otto?«, ermunterte ihn Leopold wie gewohnt, die übliche Menge nicht zu unterschreiten.
Mit einem Blick, der die Ferne der hinteren Kaffeehauswand fokussierte, während er den Rauch seiner Zigarette tief in sich einsog, deutete Herr Otto mit dem Finger in Richtung seines Glases und zeigte damit, dass er für eine Nachfüllung bereit war. »Eigentlich ist es ja völlig egal, ob ich noch eines trinke oder nicht«, sinnierte er. »Aber schaden tut es auf keinen Fall.«
»Ich verstehe, der Herr Otto haben heute wieder seinen nachdenklichen Tag«, bemerkte Leopold diskret.
»Es ist im Prinzip auch egal, ob ich nachdenke oder nicht«, fuhr Herr Otto fort. »Bald ist überhaupt alles egal. Es kommt nämlich der Komet.«
»Der Komet! Natürlich, Herr Otto!« Leopold kannte die Geschichte, die jetzt kommen würde, bereits in- und auswendig, aber im Augenblick war nicht viel los, also hörte er geduldig zu.
»Ja, der Komet. Es kann natürlich auch ein anderer Himmelskörper sein, Leopold, etwa der Nibiru. Irgendein Ding kracht auf unsere Erde, und dann ist es aus.«
»So richtig ganz aus, meinen Sie?«
»Selbstverständlich! Bedenke doch nur, Leopold, welche katastrophalen Folgen ein kleiner Riss am Grunde des Ozeans hat: Seebeben, Tsunami, mörderische Flutwellen und so weiter. Seit den letzten Unglücksfällen dreht sich unsere Erde auch schneller, zwar nur um den Bruchteil einer Sekunde, aber immerhin. Was glaubst du, was da erst los ist, wenn ein gewaltiger Himmelskörper mit unserem Planeten kollidiert.«
»Das wird einen ziemlichen Kracher geben.«
»Was heißt Kracher! Das ist die Vernichtung, Leopold, die absolute Vernichtung! Das mit den Dinosauriern vor ein paar Millionen Jahren war ein Dreck dagegen. Es bedeutet den Weltuntergang, kein Mensch wird überleben. Und was das Schlimmste ist: Dieser Untergang steht unmittelbar bevor!«
»Haben Sie Beweise?«, fragte Leopold, während er Gläser, Schalen und Häferln auf ihren Platz stellte und überhaupt schaute, dass alles seine rechte Ordnung hatte.
»Beweise?« Herr Otto lachte heiser in sich hinein. »Hast du schon einmal beobachtet, wie viele Himmelskörper sich da oben im All herumbewegen? Hier erlischt ein Stern, da entsteht ein neuer. Aber was da so blinkt und leuchtet zieht eben nur scheinbar regelmäßig seine Kreise oder Ellipsen. Eine winzige Abweichung, schon gerät so ein Ding aus dem Gleichgewicht und die Katastrophe ist fertig. Ist alles eine Sache von Masse und Schwerkraft. Es kann ständig passieren, nur sind wir uns unserer Lage nicht bewusst. Warum bilden wir uns bloß ein, wir könnten auf immer und ewig von einer Kollision verschont bleiben? Die Mayas waren da anders! Sie haben ihren Kalender am 21. Dezember dieses Jahres enden lassen. Eine seherische Leistung ersten Ranges und für mich ein sicheres Zeichen.«
»Ah ja!« Leopold räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine.
»Spotte nicht, Leopold!« Herr Otto hob warnend seinen Zeigefinger. »Das sind alles Tatsachen, furchtbare aber unbestreitbare Tatsachen. Ich bin jedenfalls gewappnet.« Seine kleinen Augen begannen jetzt seltsam zu funkeln, sei es, dass eine frühnachmittägliche Weinseligkeit von ihm Besitz ergriff, sei es, dass er eine Vision von der Apokalypse hatte.
»Sie haben diesbezüglich alles geregelt? Das Testament liegt beim Notar?«, warf Leopold gedankenlos ein.
»Du hast den Ernst der Sache wirklich nicht begriffen! Wer soll mich beerben? Es sind ja dann alle tot, alle! Man kann sein Geld höchstens noch hier und jetzt anbringen.«
»Also auf ins Kasino!«
Herr Otto schüttelte missbilligend den Kopf. »Du willst mich einfach nicht verstehen, Leopold. Dabei gibt es durchaus noch sinnvolle Dinge, die man machen oder unterstützen kann. Komm, schenk mir noch ein Vierterl ein, ehe du weiteren Unsinn redest.«
Leopold tat, wie ihm geheißen. Währenddessen kam Frau Heller aus ihrer kleinen Küche und betrachtete kurz mit fachmännischem Blick die gesamte Szene. Bei den Billardtischen in der Mitte des Lokals war nichts los, bei den Kartentischen hinten auch nicht. Im vorderen Lese-, Plauder- und Rauchbereich konnte man die Gäste an den Fingern einer Hand zählen. Die Brille rutschte ihr bis an die Spitze ihrer Nase hinunter. »Kommen Sie einen Augenblick, Leopold«, forderte sie. »Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« Sie zog ihn ein wenig auf die Seite. »Schauen Sie sich um, und sagen Sie mir dann, was Sie sehen«, bat sie ihn.
»Was soll ich schon sehen?« Leopold ließ seinen prüfenden Blick durchs Kaffeehaus schweifen. »Kartentische, wo keiner Karten spielt, und Billardtische, wo keiner Billard spielt. Drei Leute sitzen beim Fenster, einer in der Ecke links hinten. An der Theke steht der Herr Otto, und draußen scheint die Sonne.«
»Sehr gut beobachtet«, nickte Frau Heller beifällig. »Das Wesentliche haben Sie erkannt: Das Wetter ist schön, und uns fehlen die Gäste.«
»Na ja, jetzt, kurz nach Mittag, ist freilich nicht viel los«, versuchte Leopold zu relativieren. »Bis zum Abend wird das Geschäft schon besser, und Thomas Korber kommt sicher noch mit einigen Schauspielern nach der Theaterprobe vorbei.«
»Das ist leider mehr oder minder uninteressant. Jeden Sommer ist es dasselbe: Die Menschen setzen sich ans Wasser, in einen Biergarten oder zum Heurigen. Unsereiner als Kaffeehaus kommt dagegen nicht an.«
»Sie wollen doch nicht gar einen Schanigarten …«
»Papperlapapp, Schanigarten. Sie sind der Erste, der mir zu jammern beginnt, wenn Sie ständig hinauslaufen und die zwei Stufen hinauf- und hinuntersteigen müssen. Außerdem ändert das ja nichts. Es kommen keineswegs mehr Leute, nur sitzen alle draußen, und herinnen ist es ganz leer. Nein, Leopold, ich habe Größeres vor.«
Leopold kannte seine Chefin. Sie bekam jetzt dieses Leuchten in den Augen, das anzeigte, dass Gefahr drohte. »Ich habe beschlossen, dass wir im August einen Monat zusperren«, platzte es da auch schon aus ihr heraus.
»Zusperren?« Leopold verschlug es vor Schreck für einen Augenblick die Sprache.
»Jawohl! Um diese Zeit sind sowieso alle auf Urlaub. Und Sie können auch einmal wegfahren und ausspannen. Na, ist das nicht schön?«
»Wegfahren? Wo soll ich denn hin?«, fragte Leopold verzweifelt.
»An irgendeinen schönen Ort, das wird ja nicht so schwer sein. Dort rasten Sie sich einmal gründlich aus und lassen es sich so richtig gut gehen. In der Zwischenzeit werden wir das Kaffeehaus hier gründlich renovieren.«
Leopold sagte jetzt gar nichts mehr. Er hielt sich mit der Hand an einer Stuhllehne fest, damit er nicht gleich umfiel. Der Schock saß tief.
»Der hintere Teil mit den Kartentischen wird zu wenig genützt«, legte Frau Heller unbeirrt ihre Pläne dar. »Die Kartenspieler, die ohnedies gerne rauchen, setzen wir deshalb vorne in den Eingangsbereich und stellen die Billardtische nach hinten. Im mittleren Teil machen wir eine gemütliche Lounge für unsere jüngeren Gäste.«
Das Wort ›Lounge‹ sorgte für einen stechenden Schmerz in Leopolds Ohr. Es klang so nach Schalensitz und Flughafen.
»Natürlich wird alles neu tapeziert und auf Hochglanz gebracht«, fuhr Frau Heller fort. »Wir sind zwar ein altehrwürdiges Kaffeehaus, aber wir müssen mit der Zeit gehen. Von unserem Stammpublikum im gesetzten Alter alleine können wir nicht leben. Wir müssen neue Zielgruppen ansprechen, damit wir die Zukunft meistern!«
Leopolds Blick schweifte durch das Café Heller, durch die ihm vertraute und die Jahre hindurch so lieb gewonnene Ordnung. Blind konnte er hier hindurch gehen und würde nirgendwo anstreifen. Alles hatte seinen festgefügten Platz zugeteilt bekommen, den es in guten wie auch in schlechten Zeiten behauptet hatte: die Kartentische mit ihrer Auflage aus grünem Filz, die Billardtische, die runden Marmortischchen, die gepolsterten Bänke und Sessel, das Kästchen, auf dem täglich fein säuberlich in ihre Rahmen eingespannt die neuesten Zeitungen lagen und der Schrank mit seiner ganz persönlichen Lade, in der er seit jeher alles aufbewahrte, was ihm wichtig erschien. Hier sollte etwas verändert werden? Und ihn schaffte man bei dieser Gelegenheit mit der fadenscheinigen Begründung aus dem Haus, dass man jetzt zusperren musste und er seinen wohlverdienten Urlaub antreten konnte?
»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Frau Chefin«, sagte er deshalb mit ungewohnter Schärfe.
Frau Heller stutzte. »Sie wollen mir Befehle erteilen, Leopold?«, gab sie ebenso scharf zurück, obgleich sie die Unbeherrschtheit ihres Oberkellners in Wirklichkeit amüsierte.
»Nein, Frau Chefin, natürlich nicht«, zog Leopold die Notbremse. »Es gibt nur gewisse Konstellationen, unter denen man ein solches Unterfangen auf keinen Fall durchziehen sollte.«
»Meinen Sie etwa die Mondphasen? Da droht keine Gefahr, da kenn ich mich aus. Ich nenne sogar einen Mondkalender mein Eigen.«
»Der Mond ist das geringere Übel. Der ist der Erde zwar relativ nahe, bleibt jedoch immer im gleichen Abstand zu ihr. Aber sonst schwirren im Weltall Kometen und Sterne herum, von denen Sie überhaupt keine Ahnung haben. Einer davon wird demnächst in unsere Erde krachen, und dann ist es finster.«
»Jetzt verzapfen Sie aber einen gewaltigen Unsinn, Leopold. Wer redet Ihnen denn so etwas ein?« erwiderte Frau Heller verständnislos. In ihrem Kopf lief bereits detailgenau jener Plan ab, der zu einer glorreichen Wiederauferstehung des Café Heller führen sollte.
»Mir braucht niemand etwas einzureden. Das pfeifen ja die Spatzen von den Dächern. Werfen Sie Ihren Mondkalender weg und legen Sie sich einen Maya-Kalender zu, da drinnen steht alles genau verzeichnet«, klärte Leopold seine Chefin auf. »Heuer am 21. Dezember ist es soweit. Der Maya-Kalender hört auf, und unsere Welt auch. Weihnachten fällt diesmal leider flach. Ich würde also kein Geld in die Renovierung eines Lokals investieren, das in ein paar Wochen aussehen wird wie ein Bombentrichter. Wenn Sie die Marie schon anbringen wollen, dann machen Sie noch schnell eine Weltreise oder spenden Sie es für die Armen, damit die ein paar schöne letzte Tage haben.«
Frau Heller sah Leopold entgeistert an. »Tut Ihnen die Hitze vielleicht nicht gut?«, fragte sie vorsichtig.
»Nein, nein, der Leopold hat schon recht«, meldete sich da noch einmal Herr Otto von der Theke. »Der Weltuntergang steht unmittelbar bevor.«