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Bernd Köstering

Goethesturm

Hendrik Wilmuts dritter Fall

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Martina Berg – Fotolia.com und

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ISBN 978-3-8392-3980-3

 

 

»Geliebt von den Ersten des Königreichs! Geehrt durch meine Wissenschaften, meinen Rang! … Hinauf! Hinauf! Und da kostet’s Mühe und List. Man braucht seinen ganzen Kopf, und die Weiber, die Weiber! Man vertändelt gar zu viel Zeit mit Ihnen.«

Clavigo (im gleichnamigen Schauspiel von Johann Wolfgang von Goethe)

Prolog

 

Bis zu den Ereignissen dieser Herbsttage hatte ich ganz selbstverständlich angenommen, Freundschaft sei etwas Alltägliches. Etwas, das einfach da ist und keine besondere Beachtung verdient. Seit meiner Jugendzeit waren mir viele Klassenkameraden, Studien- und Arbeitskollegen begegnet, die ich als Freunde hätte bezeichnen können. Die längste und intensivste Freundschaft verband mich mit meinem Cousin Benno Kessler. Aber noch nie zuvor war mir der Gedanke gekommen, eine Freundschaft könne etwas Entscheidendes sein. Etwas, das ein ganzes Leben lang hält – vielleicht sogar noch länger.

1. Weimar, Theater-Café

 

Alles begann an einem Mittwoch. Es war der 24. Oktober 2007, der Tag der Wiedereröffnung des frisch renovierten Rokokosaals der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Ganz Deutschland und viele Kulturinteressierte aus aller Welt hatten auf diesen Tag gewartet, nachdem der Brand drei Jahre zuvor große Anteilnahme ausgelöst hatte.

Hanna und ich waren stolz, an den Feierlichkeiten teilnehmen zu dürfen. Als wir im Foyer des Grünen Schlosses – wie Anna Amalia es genannt hatte – zwischen all den Ehrengästen standen und voller Vorfreude auf die Eröffnung warteten, ahnten wir noch nichts von den Ereignissen am Abend dieses Tages. Und wir hatten keine Vorstellung vom Innenleben des Reinhardt Liebrich.

Mitten im Gedränge des Sektempfangs kamen Benno Kessler und seine Ehefrau Sophie auf uns zu. Mein Cousin Benno hatte als Weimarer Stadtrat für Kultur und Bildung erheblich am Wiederaufbau des Grünen Schlosses mitgewirkt. Die beiden Frauen begrüßten sich mit einer Umarmung. Sophies kinnlange, dunkle Haare und Hannas Blondschopf bildeten dabei einen attraktiven Gegensatz. Die beiden waren schon seit vielen Jahren befreundet. Somit hatte Sophie den Slalom der Liebe zwischen Hanna und mir jederzeit mitbekommen. 1998 hatten wir unsere Jugendliebe wiederentdeckt. Vor drei Jahren, nach einem fatalen Missverständnis und unserer anschließenden persönlichen Wiedervereinigung, hatten wir schließlich geheiratet. Es war ein schönes Gefühl, in einer Ehe verbunden zu sein, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, auch ein wenig Stolz war dabei – und Freude. Freude an einem Leben zu zweit.

Unser Gespräch wurde von einem grauhaarigen Mann unterbrochen, der statt des Sektkelches ein Rotweinglas in der Hand hielt. Benno stellte ihn als Hubertus von Wengler vor, den neuen Generalintendanten des Weimarer Nationaltheaters. Das Auffälligste an seiner Erscheinung waren die buschigen Augenbrauen, die mich unwillkürlich an den ehemaligen Finanzminister Theo Waigel erinnerten. Herr von Wengler war kein Zauderer. Er kam sofort zum Punkt: »Ich freue mich, Sie heute Abend zur Generalprobe des ›Clavigo‹ einladen zu dürfen. Anschließend findet ein Gedankenaustausch im Theater-Café statt. Ich würde mich über einige fundierte Meinungen zu Goethes Theaterstück freuen, besser gesagt, zu unserer speziellen Inszenierung, und der Kulturdezernent sowie ein bekannter Goetheexperte sind da die ideale Besetzung.« Er lächelte. Mit einem Blick zu Hanna und Sophie ergänzte er: »Aufgrund des Clavigo-Themas bin ich sehr gespannt, wie die Damenwelt darauf reagiert. Möglicherweise kommt sogar einer meiner Schauspieler hinzu.«

Nach einer kurzen ehelichen Doppelabstimmung sagten wir zu und Hubertus von Wengler zog weiter zur nächsten Stehparty.

Hanna und Sophie sahen mich fragend an. Ich verstand nicht. Na, was es denn mit dem Clavigo-Thema auf sich habe, wollten sie wissen. Benno stieß mich mit dem Ellenbogen an: »Du bist ja schon ziemlich abgehoben, wenn du quasi voraussetzt, dass alle Menschen den ›Clavigo‹ kennen.«

Gut, gut, dachte ich, ein Freund durfte ab und zu die Wahrheit sagen, selbst wenn es wehtat. Ich entschuldigte mich und sammelte meine Gedanken für eine Kurzzusammenfassung. »Man stelle sich Madrid zu Goethes Zeiten vor. Clavigo ist ein Mann, der als Archivarius für den spanischen König arbeitet. Die Position des Archivarius war damals … na ja, wie soll man sagen … eine Mischung aus Politiker und Journalist, teilweise sogar Schriftsteller. Er ist mit der aus Frankreich emigrierten Marie Beaumarchais verlobt, doch sein Freund Carlos überzeugt ihn, die Verlobung zu lösen, um in eine reiche spanische Familie einzuheiraten und möglicherweise zum Minister aufzusteigen. Clavigo folgt dem Rat seines Freundes, womit er Marie in eine tiefe Depression stürzt. Um Maries Ehre zu retten, kommt ihr Bruder, im Stück einfach Beaumarchais genannt, aus Frankreich und zwingt Clavigo, ein ehrenrühriges Dokument zu unterschreiben, das ihm bei Veröffentlichung seine Karriere kosten würde. Clavigo bereut daraufhin sein Verhalten und kehrt zu Marie zurück, die er immer noch liebt. In einer Schlüsselszene redet Carlos so lange mit teils abstrusen, aber durchaus überzeugenden Argumenten auf den charakterschwachen Clavigo ein, bis dieser erneut seine Meinung ändert und Marie endgültig verlässt. Diese stirbt daraufhin an ›Seelenpein‹, wie man damals sagte. Am Ende ersticht Beaumarchais seinen Gegenspieler Clavigo an Maries Sarg.«

 

Wir verließen das Nationaltheater gegen 22 Uhr, direkt nach der Generalprobe. Es war kein angenehmer Tag, eher ein Tag, an dem man zu Hause blieb: feucht und kalt. Wir überquerten den Theatervorplatz. Hanna schloss den obersten Mantelknopf, ich schlug den Kragen hoch und legte den Arm um sie. Zum Glück waren es nur wenige Meter bis zum Theater-Café. Das bekannte Goethe- und Schillerdenkmal würdigten wir heute keines Blickes. Benno öffnete die Eingangstür, Sophie, Hanna und ich folgten ihm. Die Theaterleute waren noch nicht da, aber der Kellner erkannte den ›Herrn Stadtrat‹ sofort, nahm ihm seine Lederjacke ab und fragte, ob er mit an den Theatertisch wolle. Benno bejahte dies und erklärte mit einer umfassenden Handbewegung in unsere Richtung, dass wir ebenso dazugehörten. Hanna lächelte mich an. Es war ein schönes Gefühl, dazuzugehören.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, brachte der aufmerksame Kellner sofort die Weinkarte.

»Was möchtest du trinken, Hanna?«, fragte ich.

»Wie immer, einen trockenen Riesling, das weißt du doch …«, antwortete sie und strich mir liebevoll über den Arm.

Ich zwinkerte ihr zu. »Ja, ja, ich weiß, wollte nur mal probieren, ob ich dich nicht endlich zu einem Rotwein überreden kann.«

»Keine Chance!«, sagte sie lachend und strich ihre blonden Haare hinters Ohr. Ich bestellte einen Nackenheimer Rothenberg und einen Rioja Reserva.

»Ich hätte gern ein Pils«, sagte Benno.

Der Kellner notierte alles.

»Benno, bestellst du mir auch etwas?«, fragte Sophie.

»Äh, ja, natürlich … wie immer?«

»Ja. Wie immer.«

»Einen Prosecco noch, bitte«, rief Benno in Richtung des Kellners. Im selben Moment näherte sich Generalintendant Hubertus von Wengler mit zwei weiteren Männern. Benno stand sofort auf. »Guten Abend, Herr von Wengler.«

»Guten Abend, Herr Kessler, schön, dass Sie gekommen sind!« Dann begrüßte er Sophie, Hanna und mich. Er stellte uns die beiden anderen Herren vor.

»Das ist unser Clavigo-Regisseur Martin Feinert …«, Händeschütteln, »und hier darf ich Ihnen den bekannten Kritiker Harry Hartung vorstellen, er hat bereits mehrere Theaterführer geschrieben.«

Hubertus von Wengler bestellte einen Bordeaux, Martin Feinert Kamillentee und Harry Hartung einen Cognac.

»Wir erwarten noch den Herrn Oberbürgermeister«, sagte der Generalintendant, »er kommt etwas später, ein wichtiges Telefonat, sowie Franziska Appelmann von der ›Thüringer Zeitung‹ und eine unserer Schauspielerinnen.«

Ich sah ihn neugierig an.

»Frau Pajak kommt.«

»Oh, Frau Pajak!« Ich war begeistert. Jolanta Pajak war sicher die profilierteste Schauspielerin bei dieser Aufführung.

Hubertus von Wengler lächelte. »Erfreulicherweise hat sie sich bereit erklärt, Ihnen heute Abend Rede und Antwort zu stehen. Sie ist zwar nur als Gastschauspielerin bei uns, arbeitet sonst hauptsächlich in Berlin, aber ich denke, sie fühlt sich recht wohl hier in Weimar und sucht den Kontakt zur Bevölkerung.« Seine Waigel’schen Augenbrauen wippten auf und nieder.

»Und heute hat sie eine beeindruckende Leistung geboten«, sagte ich.

»Das stimmt!«

»Absolut!«

»Ja, starke Leistung …«

»Fast schon zu gut für eine Generalprobe«, meinte Sophie, »hoffentlich kann sie das am Samstag auf der Premiere wiederholen.«

Alle stimmten dieser Einschätzung zu, sogar Harry Hartung, der Theaterkritiker, der inzwischen seinen zweiten Cognac vor sich stehen hatte. Dies war allerdings auch der einzige gemeinsame Nenner, den wir an diesem Abend mit ihm fanden.

»Hier muss ich gleich einschreiten«, sagte Hartung, »grundsätzlich bin ich ein Vertreter des konservativen Theaters, was nicht heißt, dass ich alle modernen Aufführungen ablehne, aber diese hier ist doch sehr aus dem Ruder gelaufen. Sie haben Goethes Stück von Spanien nach Deutschland verlegt, vom Umfeld des Madrider Hofs ins Frankfurter Bankenviertel, Clavigo ist kein Schriftsteller mehr, sondern ein karrieregeiler Banker, wie man heute sagt, zwei männliche Figuren haben Sie gleich ganz aus dem Stück gestrichen, was bleibt denn da noch von Goethe übrig?«

Alle blickten gespannt auf Hubertus von Wengler und seinen Kamillentee trinkenden Regisseur. Der Intendant wiegte bedächtig seinen grauhaarigen Kopf hin und her. »Wissen Sie, Herr Hartung, Sie haben nicht ganz unrecht, es ist schwer für den klassisch geprägten Theaterzuschauer, sich mit unserer Version zu identifizieren. Wir sind uns bewusst, dass wir diese Leute auf eine schwierige Reise mitnehmen. Aber die Reise lohnt sich, denn am Ende werden sie erkennen, dass Goethes Grundideen nach wie vor aktuell sind. Außerdem möchten wir mehr junge Menschen mit dieser Aufführung ansprechen und sie dazu bringen, ins Theater zu gehen.«

Harry Hartung hob beide Hände. »Und Sie meinen, die Jugendlichen gehen einfach so in ein Goethe-Stück, bei all den Angeboten an Kinos, Fernsehkanälen und Computerspielen?«

»Sicher nicht sofort«, antwortete Martin Feinert, »aber wir arbeiten daran. Auch mit unseren beiden Bühnen im e-werk gehen wir in diese Richtung. Alternative Spielstätten werden vom jungen Publikum gut angenommen.«

Benno strich sich durch seinen dunklen Vollbart. Das tat er immer, wenn er nachdachte. »Und warum sind Sie dann mit dem ›Clavigo‹ ins Große Haus gegangen statt ins e-werk?«

»Berechtigte Frage«, übernahm Hubertus von Wengler wieder. »Für solch ein Stück sind die Zuschauerkapazitäten im e-werk zu klein, wir müssen auch an unsere Finanzen denken. Im Übrigen, Herr Hartung, zu den beiden fehlenden Figuren: Wir haben Buenco und Saint George komplett herausgenommen, weil Goethes Original sehr auf die männlichen Rollen zugeschnitten ist, besonders Clavigo, Carlos und Beaumarchais. Die Rolle der Marie hingegen wird etwas in den Hintergrund gedrängt, obwohl es im gesamten Stück thematisch nur um sie geht. Will man eine gute Schauspielerin wie zum Beispiel Jolanta Pajak für die Rolle der Marie begeistern, muss man zu solch kleinen Tricks greifen.«

Das schien Harry Hartung zu verstehen. Er nickte und gab dem Kellner ein Handzeichen für den nächsten Cognac.

Ich nutzte die dadurch entstandene kurze Pause. »Zu Beginn war der Handlungsort tatsächlich etwas ungewohnt für mich, aber nach dem ersten Akt hatte ich mich daran gewöhnt. Ich denke übrigens, dass viele Aussagen Goethes immer noch Gültigkeit haben und in unsere Zeit passen. Man muss sie nur an die heutigen Verhältnisse adaptieren und genau das haben Sie getan. Der karrierebewusste Mann, der sein Heiratsversprechen widerruft, war und ist eine interessante Figur. Mir hat es jedenfalls sehr gut gefallen!«

»Das Abwägen zwischen Beruf und Familie, so würde man es heute bezeichnen«, ergänzte Hanna. »Vor einigen Jahren gab es eine Fernsehshow mit dem Titel ›Geld oder Liebe‹, dieser Titel hätte auch gut zu Goethes ›Clavigo‹ gepasst.«

Während der Intendant und der Regisseur sich bedankten, tauchte plötzlich ein Mann neben Hanna auf. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, auf einmal stand er da, groß und gerade, wie aus dem Boden gewachsen. »Gnädige Frau, das haben Sie hinreißend gesagt. Ich bewundere Ihre Gabe, die Natur der Dinge mit wenigen Worten zu benennen!« Damit nahm er Hannas Hand und gab ihr einen angedeuteten Handkuss.

Übertriebene Eifersucht zählte sicher nicht zu meinen Eigenschaften als Ehemann, aber irgendwie gefiel mir diese Szene nicht. Und auch Hanna war das Getue um den Handkuss sichtlich unangenehm.

Der Unbekannte machte eine kleine Verbeugung. »Ich darf mich vorstellen: Reinhardt Liebrich. Ist es gestattet, dass ich mich zu Ihnen geselle?«

Benno sah ihn erstaunt an. »Herr Liebrich, was … ich meine, was machen Sie denn hier?«

»Nun, Verehrtester, ich vernahm zufällig vom Nebentisch Ihre interessante Diskussion und als Theatermensch kann ich mich dem natürlich nicht entziehen, ich bitte um Vergebung, falls ich ungelegen komme.«

Dabei sah er Hubertus von Wengler an. Dieser machte eine seltsame Handbewegung, irgendetwas zwischen Einladung und Abwehr. »Nun dann, Reinhardt, setz dich bitte!«

Direkt neben Benno war noch ein Stuhl frei. Der Eingeladene nahm Platz. Er hatte extrem kurz geschnittene grau melierte Haare und trug eine Nickelbrille. Sein Verhalten zeigte keinerlei Anzeichen von Unsicherheit.

»Ich darf Ihnen Reinhardt Liebrich vorstellen«, sagte von Wengler, »wir haben vor einigen Jahren in Leipzig zusammengearbeitet, er ist auch … er ist Theaterregisseur. Zuletzt hatte er ein Engagement am Frankfurter Schauspiel.«

Hanna und ich sahen uns kurz an. Etwas Unangenehmes lag in der Luft und sie schien es ebenso zu spüren wie ich. Während sich Liebrich und von Wengler über ihre gemeinsame Zeit in Leipzig unterhielten, stand ich auf, um zur Toilette zu gehen. Benno warf mir einen Blick zu. Wir trafen uns im Vorraum am Waschbecken.

»Was ist das denn für ein komischer Vogel?«, fragte ich.

Benno nahm seine Goldrandbrille ab und putzte sie ausführlich mit einem Papierhandtuch. »Du weißt doch, dass sich im Frühjahr fünf Leute auf den vakanten Posten des Generalintendanten beworben hatten. Liebrich ist einer der abgelehnten Bewerber.«

Ich pfiff leise durch die Zähne. »Donnerwetter!«

Benno nickte.

»Und jetzt setzt der sich einfach so mit an unseren Tisch?«, fragte ich.

»Na ja, immerhin scheint er von Wengler zu kennen, aber besonders glücklich finde ich das nicht. Zumal …«

Er zögerte. Ich bedeutete ihm mit einem Handzeichen, weiterzusprechen.

»Na ja, der Kultusminister als Vorsitzender des Theater-Aufsichtsrats hat versucht, massiven Druck auf die anderen Mitglieder auszuüben. Liebrich sei ja so erfahren, gerade mit Goethes Bühnenstücken und so weiter. Keine Ahnung, was da los war. Mich hat das sehr gestört, zumal mein Verhältnis zum Kultusminister sowieso angespannt ist.. Jedenfalls habe ich die anderen Aufsichtsratsmitglieder überzeugt, die Unabhängigkeit des Deutschen Nationaltheaters zu wahren.«

»Und daraufhin fiel er durch?«

»Richtig. Ich denke, das hat ihn sehr getroffen. Offensichtlich war er ziemlich sicher, den Posten zu bekommen, er war sogar schon mit seiner Lebensgefährtin von Frankfurt nach Weimar umgezogen, eine Frau Hartmannsberger oder so ähnlich, auch eine Theaterschauspielerin.«

»Redet der eigentlich immer so?«

»Liebrich?« Benno lächelte. »Ja, der redet immer so. Die meisten verspotten ihn deswegen. Auf manche übt es aber eine gewisse Faszination aus.«

Ich sah ihn fragend an.

Er drehte sich um. »Wir sollten jetzt besser wieder hineingehen.«

Die Diskussion an unserem Tisch hatte sich inzwischen auf Frau Appelmann verlagert, die immer noch nicht erschienen war und – unter Berücksichtigung der Uhrzeit – wohl nicht mehr kommen würde. Wahrscheinlich hatte sie wichtigere Artikel zu schreiben.

»Nun, dann wird sie wohl nicht in den Genuss kommen, ihre Gedanken zu dieser hochlöblichen Generalprobe an die Öffentlichkeit zu bringen«, sagte Lieb­rich.

Benno sah ihn erstaunt an: »Das klingt ja so, als seien Sie auch bei der Generalprobe gewesen?«

»Selbstverständlich, Verehrtester!«

»Wie bist du da hineingekommen?«, fragte Hubertus von Wengler.

»Aber Hubertus, einem Freund des Generalintendanten kann doch niemand den Zugang verwehren. Es ist mir nicht darum zu tun, Vorteile aus dieser Sache zu ziehen, ich wollte mich nur dem reinen Kunstgenuss hingeben.«

Von Wengler lehnte sich zurück. »So, unser ›Clavigo‹ hat dir also gefallen.«

»Selbstredend. Mit solch einer Leistung muss euch in der neuen Theatersaison nicht bange sein, das wage ich hier und jetzt zu weissagen. Ein Clavigo, der durchdringt, der sein Zaudern zwischen Berühmtheit und edler Gesinnung spüren lässt. Eine Marie, deren Herz bebt, man möchte geradezu mit ihr zusammen aus der Fassung geraten. Und ein Beaumarchais, dessen treue Sorge um seine Schwester nicht aufgesetzt wirkt, nicht der Lächerlichkeit preisgegeben ist, nein, ehrlich zeigt er sich, für jedermann im Zuschauerraum erlebbar, man spürt das Blut gleichsam durch seine Adern rinnen, man möchte den Degen bald selbst in die Hand nehmen und zustechen. Meine Gratulation!«

Martin Feinerts Handy klingelte. Er nahm ab, hörte kurz zu und sagte: »Nein, noch nicht.« Danach legte er wieder auf. »Und Carlos?«, fragte er umgehend in Lieb­richs Richtung.

»Nun, ich in Person kann mich nur schwerlich in die Durchtriebenheit dieser Figur versetzen«, antwortete der Angesprochene. »Aber ohne Zweifel eine schätzenswerte Leistung.«

Die Lage hatte sich etwas entspannt. Ich bestellte einen Espresso, Harry Hartung seinen vierten Cognac.

Während der Kellner die Getränke servierte, klingelte erneut Feinerts Mobiltelefon. Diesmal wirkte er deutlich nervöser, als wäre etwas Unvorhergesehenes passiert. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, stieß sogar beinahe den Kamillentee um. Dann flüsterte er seinem Intendanten ein paar Worte ins Ohr, nahm seine Jacke und verließ das Café. Durch die Fenster sahen wir ihn in Richtung Bühneneingang des Theaters verschwinden. Wir versuchten, weiter über die Generalprobe zu diskutieren, doch auf seltsame Weise waren alle unkonzentriert. Ich merkte es selbst an mir, ich sprach, ohne mich wirklich auf das Gesagte zu fokussieren, sah ab und zu nach draußen und verlor meine Gesprächspartner immer häufiger aus dem Blick. Nach wenigen Minuten kam Feinert zurück, verweilte vor dem Café, erstaunt sah ich ihn dort mit Oberbürgermeister Peter Gärtner reden, den er wohl zufällig getroffen hatte, bis Hubertus von Wengler aufsprang und zu den beiden hinausging. Eine hitzige Debatte schien entstanden zu sein. Schließlich stürmte Martin Feinert herein und rief dem Kellner zu: »Der Chef zahlt!«, dann rannte er in Richtung Theater davon.

Hubertus von Wengler kam wieder an unseren Tisch zurück. Er ging sehr langsam, ich hatte sogar den Eindruck, er schwankte ein wenig. Hinter ihm erschien der Oberbürgermeister. Die Gespräche verstummten. Der Intendant setzte sich schwerfällig. Peter Gärtner nahm neben ihm Platz, dort, wo zuvor der Regisseur gesessen hatte. Alle starrten Hubertus von Wengler an. Er leerte sein Rotweinglas in einem Zug. Dann setzte er es vorsichtig ab, drehte es am Stil ein paarmal um die eigene Achse und sagte: »Frau Pajak wird wohl nicht mehr kommen. Sie ist spurlos verschwunden!«

Ich war überzeugt, dass im Moment keiner von uns wirklich verstand, was das bedeutete. »Herr von Wengler, was meinen Sie denn mit spurlos verschwunden

Der Intendant starrte auf sein Glas. »Sie hat das Theater nach der Generalprobe verlassen«, antwortete er. »Eigentlich wollte sie hierher ins Café kommen. Seitdem ist sie … weg. Unauffindbar. Verschollen.«

»Nun ja«, meinte Benno, »vielleicht hatte sie doch keine Lust mehr, mit uns zu reden, und ist direkt nach Hause gegangen. Könnte man ja verstehen.«

Hubertus von Wengler schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, ihr Ehemann hat die Suche ja überhaupt erst in Gang gesetzt, er wollte sie anrufen, aber ihr Handy war ausgeschaltet, was sehr ungewöhnlich ist. Sagt er jedenfalls. Dann hat er unseren Pförtner angerufen, der wiederum Herrn Feinert. Frau Pajak ist nicht zu Hause, sie ist auch nicht hier und nicht bei ihrer Freundin. Herr Feinert und zwei Kollegen suchen gerade das gesamte Theater ab. Ich weiß nicht …« Er stockte.

»Was meinen Sie?«

»Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, so als sei ihr … etwas zugestoßen.« Er fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Wir müssen die Polizei einschalten!«

»Herr von Wengler, ich bitte Sie …«, der Oberbürgermeister sprach ruhig und bedächtig. »Es muss ja nicht gleich etwas passiert sein. Außerdem sind erst zwei Stunden vergangen, da kann die Polizei noch nichts unternehmen. Das löst sich bestimmt bis morgen wieder auf.«

Der Intendant zog seine Augenbrauen hoch. »Aber wenn nicht, dann habe ich am Samstag keine Besetzung für die Marie. Und das bei meiner ersten Premiere in Weimar!«

»Gibt es denn keine Zweitbesetzung?«, fragte Hanna.

»In diesem Fall schon, nur … Frau Kirschnig ist leider erkrankt.« Er stockte.

»Hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Sophie. Offensichtlich wollte sie die Lücke ausfüllen, die von Wenglers Zögern hinterlassen hatte. Ich vermutete auch ein gewisses berufliches Interesse. Sophie arbeitete als Oberärztin im Weimarer Krankenhaus.

»Nein, nein«, antwortete der Generalintendant nachdenklich, »nichts Schwerwiegendes, eine Grippe. Sie muss aber liegen, die Premiere wird sie auf keinen Fall spielen können.«

Es blieb lange still.

Dann erklang eine Stimme aus der gegenüberliegenden Ecke, dort, wo Benno saß. Ich drehte mich um. Reinhardt Liebrich. »In dem Bemühen zu helfen, habe ich, auch wenn mein Seelenzustand angesichts des Verschwindens von Frau Pajak dies kaum zulässt, doch einen Vorschlag zu unterbreiten. Dana Hartmannsberger ist in der Stadt, sie hat die Marie durch Zufall soeben am Frankfurter Schauspiel gegeben. Sie könnte die Rolle noch am selbigen Tage übernehmen.«

2. Zu Hause

 

Wir bewohnten Hannas Elternhaus in der Humboldt­straße, ganz oben auf dem Berg, hinter dem Sender. Vor drei Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter, hatten wir es übernommen und stilgerecht renoviert. Ich liebte nicht nur Hanna, sondern auch dieses alte Haus, mit seinem steilen Dach, den geschwungenen Gauben und den beiden großen Tannen im Vorgarten. Ein wenig ähnelte es wohl dem Haus meiner Großeltern, nur ein paar Minuten entfernt, in dem ich zu DDR-Zeiten so oft meine Sommerferien verbracht hatte, und das nun leider nicht mehr in Familienbesitz war.

Am nächsten Morgen gegen 6.30 Uhr klingelte unser Telefon. Es war ein Donnerstag. An diesem Wochentag konnte ich eigentlich ausschlafen, da ich erst um 10 Uhr zur wöchentlichen Besprechung mit meinem Chef in der Anna Amalia Bibliothek sein musste. Hanna war schon im Bad, sie duschte und hörte das Telefon nicht. Selbst als ich die Decke über den Kopf zog, schellte es unbarmherzig weiter. Ich beschloss, uns endlich einen Anrufbeantworter zu kaufen. Der hätte sich jetzt automatisch eingeschaltet und gesagt: ›Hier sind Hanna und Hendrik, wir liegen noch im Bett und haben besseres zu tun, als ans Telefon zu gehen.‹

Ich schälte mich aus der Decke und tapste die Treppe hinunter. Die Stufen erschienen nur schemenhaft vor meinen verschlafenen Augen, glücklicherweise schaffte ich es, sturzfrei ins Erdgeschoss zu gelangen. Als ich den grünen Knopf drückte, ahnte ich, wer dran war.

»Was willst du so früh, Benno?«

»Guten Morgen, lieber Hendrik!«

»Nennst du das Freundschaft? Mich so früh anzurufen?«

»Natürlich, du willst doch sicher als Erster wissen, was diese Nacht passiert ist, oder?«

»Allerdings …«, mein Blick fiel durch die Küchentür. »Moment, bitte!« Ich ging, das Mobilteil zwischen Kinn und Schulter eingeklemmt, in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein und ließ mich auf die Eckbank fallen. »So, leg los!«

»Siggi hat den Fall übernommen.«

»Welchen Fall?«

»Na, den von Jolanta Pajak, sie ist vermutlich entführt worden.«

»Was?«

»Sagt jedenfalls Siggi. Man hat eine entsprechende Nachricht von ihr gefunden.«

»Aber von Wengler wollte doch gar nicht die Polizei einschalten, der OB hat ihm ja sogar abgeraten. War das ihr Mann?«

»Nein, es war Liebrich.«

»Liebrich?«

»Ja, er meinte, das sei sicherer, und er hätte kein Problem damit, der Polizei Dampf zu machen, schließlich geht es ja um einen Menschen und außerdem will er seinem Freund Hubertus helfen.«

»Mischt der sich jetzt überall ein?«

»Hör mal, Hendrik, es ist doch nett von ihm, sich darum zu kümmern, zumal er eigentlich sauer auf von Wengler sein müsste, weil der ihm den Job weggeschnappt hat. Das ist eben Freundschaft.«

Ich zögerte. Irgendetwas gefiel mir nicht an seinem letzten Satz. Aber ohne einen Espresso sah ich mich nicht in der Lage, darüber nachzudenken. »Also gut …«

»Ich treffe mich zum Mittagessen mit Siggi in der Brasserie am Rollplatz, vielleicht kann ich ihm ja irgendwie helfen. Kommst du mit?«

»Ich weiß nicht, Benno …«

»Möglicherweise kannst du ja etwas beitragen, so wie damals im Goetheruh-Fall.«

»Danke, kein Bedarf, seit meiner Untersuchungshaft vor drei Jahren habe ich genug von Kriminalfällen.«

Benno brummte etwas Unverständliches in den Hörer. »Also schön, dann erwarte aber nicht, dass ich dich weiter über alles informiere.«

»Nein, Benno, das erwarte ich nicht. Im Gegenteil. Es ist mir sogar sehr recht, wenn du es nicht tust.«

Er legte auf. Kurze Zeit später rann ein kräftiger, heißer Espresso meine Kehle hinunter. Als ich die Tasse absetzte, bemerkte ich, dass Hanna lächelnd in der Tür stand. Sie trug nichts außer einem Handtuch, das sie sich wie einen Turban um ihren Kopf geschlungen hatte.

»Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!«, murmelte ich, während ich sie umarmte.

Als wir endlich frühstückten, war es bereits kurz vor 8 Uhr.

»Ich hoffe, du kommst nicht zu spät?«, fragte ich.

Sie sah auf die Uhr. »Geht noch, ich habe zwei Termine im Weimarer Krankenhaus, da muss ich sowieso meistens warten. Außerdem habe ich eine gute Entschuldigung.«

Ich lächelte. »Na, na …!«

»Keine Sorge, ich rede nur über das erfolgreiche Diabetes-Präparat von Maropharm.«

»Läuft es gut?«

»Ja, danke.« Sie lächelte. »Es läuft sehr gut.«

Ich goss ihr Kaffee nach. »Triffst du auch Sophie?«

»Ja, heute Nachmittag.«

»Frag sie doch bitte, was es Neues im Fall Jolanta Pajak gibt.«

»Ich denke, das interessiert dich nicht?«

»Was mit Frau Pajak passiert und wer am Samstag die Premiere spielt, interessiert mich schon. Ich möchte nur nicht in den Fall hineingezogen werden. Deswegen der Umweg …«

Sie nickte. »Ich versuch’s mal.«

»Übrigens, Hanna, ich fand es toll, was du gestern Abend zur Generalprobe gesagt hast. Genau auf den Punkt.«

»Oh, danke. Und das von einem Literaturexperten …«

»Gute Gedanken sind gute Gedanken, egal von wem sie kommen.«

»Auch durch die rosa Brille des Ehemanns gesehen?«

»Das spielt keine Rolle«, sagte ich ernsthaft. Sie warf mir einen zärtlichen Blick zu.

»Und was hältst du von Liebrich?«, fragte ich.

»Schrecklicher Mensch. Diese geschraubte Ausdrucksweise und der schmierige Handkuss, nee … also wirklich!«

»Na, das war ja deutlich.«

»Ja. Sollte es auch sein. Im Übrigen …«

»Was meinst du?«

»Ich habe so ein Gefühl, dass uns dieser Kerl noch Ärger machen wird.«

»Du meinst uns beiden … persönlich?

»Ja.«

Ich dachte nach. Dass Liebrich seinem Freund Hubertus von Wengler Probleme bereiten konnte, oder Benno, vielleicht auch Siggi und seinen Kollegen – all das konnte ich mir vorstellen. Aber Hanna und mir? Das erschien mir recht unwahrscheinlich.

»Bauchgefühl?«

»Ja, Bauchgefühl.« Sie stand auf und räumte ein paar Sachen in den Kühlschrank.

»Lass nur stehen, ich räume das gleich weg, habe noch etwas Zeit.«

»Danke. Was hast du heute vor?«

»Die Teambesprechung in der Bibliothek um 10 Uhr, wie immer, dann muss ich meine Vorlesung am Montag in Frankfurt vorbereiten, morgen habe ich keine Zeit dazu, weil ich ins Archiv muss, einige Originalquellen für unser neues Projekt suchen, Albert Busche will mir dabei helfen.«

»Oh, der Rentner kann es doch nicht ganz lassen.«

»Ich kann auch nicht von dir ablassen …«, flüsterte ich und küsste ihren Nacken. »Am Wochenende soll es sonniges Herbstwetter geben, wir könnten in den Thüringer Wald fahren?«

Sie löste sich vorsichtig aus meiner Umarmung. »Bin dabei.« Augenblicke später saß sie in Ihrem Firmenwagen und brauste davon. Ich war stolz auf meine Frau.

3. Weimar, Marktplatz

 

In der Mittagspause beschloss ich, auf die Schnelle am Marktplatz eine Rostbratwurst zu essen. Ich verließ das Studienzentrum der Anna Amalia Bibliothek und trat hi­naus auf den Platz der Demokratie. Das Residenzschloss lag links von mir, das Grüne Schloss mit dem Rokokosaal halbrechts vor mir, das Bibliotheksarchiv unter mir. Ich ging rechts um die Ecke und stand vor dem Hotel Elephant am Rande des Marktplatzes. Das Wetter hatte sich gebessert, die Herbstsonne wärmte ein wenig das Gemüt. Es war kein offizieller Markttag, trotzdem belebten ein paar kleine Stände den Platz. Blumen, etwas Obst und Gemüse. Und natürlich die zwei Grillstände mit der von mir so heiß geliebten Thüringer Rostbratwurst. Unter den Weimarer Bürgern wurde lebhaft diskutiert, welcher der beiden die bessere Bratwurst bot. Schlussendlich bestand kein wirklicher Unterschied, dennoch wählte ich immer den nördlichen Stand vor dem Eiscafé Dolomiti. Der Südwärtige offerierte die Rostbratwurst auch als Currywurst, was von eingefleischten Fans beinahe als Verbrechen angesehen wurde.

Als ich den ersten Biss getan hatte, bemerkte ich im Eiscafé direkt hinter der Scheibe ein bekanntes Gesicht. Zunächst konnte ich den Mann nicht einordnen, doch als ich ein Teeglas in seiner Hand erblickte, klickte es in meinem Hirn: Martin Feinert, der Regisseur. Er saß neben einem anderen Mann und winkte mir freundlich zu. Ich versuchte, zurückzuwinken, verschluckte mich dabei an der Wurst. Daraufhin kam Feinert heraus und bat mich sehr freundlich an seinen Tisch. Ich wollte eigentlich warten, bis ich die Rostbratwurst gegessen hatte, jedoch meinte er, das sei kein Problem für Filippe, den Besitzer des Eiscafés. Also ging ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Brötchen und einer Wurst auf der Hand in ein italienisches Eiscafé. Filippe begrüßte mich sofort und nannte mich Enrico. Der Mann an Feinerts Tisch hieß Christoph Heckel und war Mitglied des Schauspielensembles am Deutschen Nationaltheater. Ich begrüßte ihn, gab ihm die linke Hand und aß mit der Rechten weiter meine Rostbratwurst. Irgendwie schien die gar nicht weniger zu werden. Martin Feinert berichtete, dass die beiden ein neues Stück besprachen, in dem Feinert Regie führen und Heckel die Hauptrolle spielen sollte. Als ich den letzten Rest des Brötchen verzehrt hatte – ich konnte im Café ja keine Reste in den Mülleimer werfen –, war ich endlich in der Lage, mich an der Unterhaltung zu beteiligen.

Christoph Heckel machte sofort einen angenehmen Eindruck auf mich. Er war durchaus redefreudig, konnte sich aber jederzeit zurücknehmen, wenn sein Gegenüber etwas sagte. Und er schien sich über seine Gesprächspartner Gedanken zu machen, ging auf sie ein. Das gefiel mir gut, denn ich fand es frustrierend, wenn zwei Menschen, eine Unterhaltung vortäuschend, aneinander vorbeiredeten wie zwei Monologisierende, die zufällig auf der gleichen Bühne stehen.

Martin Feinert überraschte mich positiv. Am Vorabend erschien er mir sehr zurückhaltend, beinahe menschenscheu. Das war allerdings ein falscher erster Eindruck. Er diskutierte lebhaft mit uns, ohne dabei seinen Kamillentee aus den Augen zu lassen.