"Hätte Sir Arthur Conan Doyle seinen Kollegen Jules Verne gebeten einen Roman mit Sherlock Holmes zu schreiben wäre sicherlich etwas Vergleichbares herausgekommen wie das vorliegende Buch. Ein fantastischer Krimi, der trotz seiner futuristischen Elemente die Atmosphäre des Originals erstaunlich gut einfängt.” (LITERRA)
Nach den Charakteren „Sherlock Holmes“ und „Dr. John H. Watson“
Geschaffen von Sir Arthur Conan Doyle
Umschlagbild: Peter Wall
Reihe Meisterdetektive herausgegeben von Alisha Bionda
© der Print-Ausgabe 2012 by Fabylon Verlag
© des eBooks 2012 by fabEbooks
ISBN: 978-3-943570-08-3
Hinweis: Die Printausgabe (ISBN 978-3-927071-76-6) enthält Illustrationen von Peter Wall.
Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
www.fabylon-verlag.de
Tobias Bachmann wurde 1977 in Erlangen geboren und veröffentlicht seit 1998 Erzählungen, Novellen und Romane; unter anderem der gemeinsam mit Markus K. Korb verfasste Episoden-Roman „Das Arkham-Sanatorium“ (2007, Atlantis Verlag) sowie der als bester deutschsprachige Horrorroman 2009 mit dem Vincent-Preis ausgezeichnete Roman „Dagons Erben“ (2009, Basilisk Verlag). Tobias Bachmann ist verheiratet und lebt mit seiner Familie im Fränkischen Seenland.
www.Tobias-Bachmann.de
Sören Prescher wurde am 9. August 1978 in Bautzen geboren, ist verheiratet und wohnt mit seiner Familie in Nürnberg. Neben seiner Arbeit für ein internationales Wirtschaftsunternehmen schreibt er Artikel für das Nürnberger Musik- und Kulturmagazin RCN. Seit 1995 verfasst er kürzere und längere Geschichten, seit 1996 auch Gedichte.
Nach „Der letzte Sommer“ (Lacrima Verlag) und dem Psycho-Drama „Superior“(Brendle-Verlag) erschien im Herbst 2010 sein dritter Roman „Der Fall Nemesis“ bei Voodoo Press. „Sherlock Holmes taucht ab“ ist die erste gemeinsame Veröffentlichung mit Tobias Bachmann, weitere Bücher sind in Planung. Zudem arbeitet Sören Prescher an einem Steampunk-Roman, der im Sommer 2013 im Fabylon Verlag veröffentlicht wird.
www.soeren-prescher.de
„Da sind Sie ja endlich“, rief Lestrade, kaum, dass wir die Droschke verlassen hatten. Ich benötigte einen Moment, um ihn in dem Wirrwarr aus uniformierten Polizisten und Schaulustigen am Straßenrand auszumachen. Das ohnehin bleiche Erscheinungsbild des Inspektors wirkte heute besonders blass, was in Anbetracht seiner Nachricht jedoch nicht weiter verwunderte.
Wie einen Bettler, der ihn im falschen Moment um Kleingeld gebeten hatte, ließ er einen rotlockigen Constable achtlos stehen. Auf dem Weg zu uns wedelte Lestrade mit den Händen, als würde er eine lästige Fliege verscheuchen. Vielleicht hatte es aber auch mit dem leicht gärenden Geruch zu tun, der jeden Zoll Luft dieser Straßenecke einnahm. Angewidert rümpfte ich die Nase und überlegte, ob es eine medizinische Erklärung für diese Ausdünstungen gab. Falls es so war, fiel mir auf die Schnelle keine ein.
Lestrade war da mit seiner Ursachenforschung weitaus erfolgreicher. Sein Blick fiel auf einen Abfallhaufen, den jemand direkt neben dem windschiefen Lattenzaun abgeladen hatte. Stirnrunzelnd wandte er sich ab. „Ich dachte schon, Sie kämen überhaupt nicht mehr. Wo haben Sie bloß so lange gesteckt?“
„Wir hatten unterwegs noch etwas zu klären. Außerdem liegt der Stadtteil Spitalfields nicht gerade um die Ecke.“ Holmes lächelte milde, während seine Adleraugen die Umgebung musterten. Sein Blick streifte auch den Müllhaufen. Holmes entschied aber nur eine Sekunde später, dass der Unrat nichts von Bedeutung enthielt, weil er nicht länger darauf verweilte. „Aber Sie haben uns an diesem heißen Spätaugusttag sicher nicht hergebeten, damit wir uns darüber unterhalten. Womit haben wir es hier zu tun, Inspektor? In Ihrer Nachricht schrieben Sie von einem weiteren Toten.“
Lestrade trat näher an uns heran und nickte kaum merklich. „Ich befürchte, wir haben es mit demselben Kerl zu tun, der auch die beiden anderen Männer umgebracht hat. Die gleiche brutale Vorgehensweise: Mehrere Stiche in den Bauchraum, anschließend wurde die Kehle durchtrennt. Diesmal sind es sogar fünf Stiche. Das spricht von einer unglaublichen Brutalität.“
Unweigerlich hatte ich das Bild des aufgeschlitzten Körpers in aller Deutlichkeit vor Augen. Ich bedauerte, dass wir es nicht wieder mit einem so unblutigen Kriminalfall wie dem von Leonard Whedon zu tun hatten, den wir erst wenige Wochen zuvor in Gads Hill gelöst hatten. Auch die unmittelbar zuvor gelöste Einbruchserie um den Langfinger Thomas Giffune schien mir nur noch eine Farce zu sein. Immerhin war diese Art von Ermittlung deutlich leichter zu verdauen als brutale Meuchelmorde, mit denen wir nunmehr konfrontiert wurden.
„Gibt es davon abgesehen weitere Gemeinsamkeiten?“, fragte Holmes.
„Leider nicht. Der erste Tote war ein Tagelöhner namens Nicolas Jameson, den wir vor ein paar Tagen unweit einer schmierigen Spelunke gefunden hatten. Das hielt ich ja noch für einen simplen Raubmord. Dann tauchte der zweite Leichnam mit den gleichen Verletzungen auf. Es handelte sich um den Dampfkutterkapitän Titus Wheeler, den wir aus der Themse gefischt haben. Und jetzt kommen wir zu dieser Leiche hier. Papiere trug der Mann keine bei sich. Aber einer der Anwohner hat ihn als holländischen Lagerarbeiter namens Sandro Houwing identifiziert. Er war verheiratet. Abgesehen von der gleichen Todesart erkenne ich nicht die kleinste Gemeinsamkeit. Für ein wenig Hilfe Ihres Spürsinns wäre ich daher durchaus dankbar. Ihnen genügen ja fünf Orangenkerne, um eine interkontinentale Verschwörung herzuleiten.“
„Ganz so ist es nicht“, sagte Holmes mit teils amüsierter, teils skeptischer Miene. „Ich untersuche lediglich alles genau, bevor ich mir ein Urteil erlaube. Hat denn auch ein Anwohner den Leichnam gefunden?“
„Nein, das war Constable Grant. Der Rotschopf da drüben. Ich glaube, er ist deswegen noch immer etwas aufgelöst.“
Besorgt blickte ich in Richtung des Uniformierten. Seinem bemüht ausdruckslosen Blick nach zu urteilen, gehörte das Auffinden von Leichen trotz des schäbigen Viertels nicht zu seiner täglichen Arbeit. Glücklicherweise auch nicht zu der von Holmes und mir. Die blutigen Wunden, die ich in meiner Arztpraxis in Paddington zu Gesicht bekam, deckten meinen Bedarf hinreichend. Ich vergewisserte mich, dass der Constable zumindest den Umständen entsprechend wohlauf war, und wandte mich wieder der Unterhaltung zu.
„Wurde die Leiche bewegt?“, fragte Holmes.
„Keinen Millimeter. Selbst mit der Durchsuchung haben wir gewartet, bis Sie am Tatort sind. Aber die Leute werden langsam unruhig. Die drückende Wärme macht es nicht unbedingt angenehmer.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“
Lestrade führte uns entlang des Lattenzauns zu einem Hinterhof mit steinernen Torbogen und heruntergekommenen Backsteinmauern. Der Erdboden dahinter war trocken wie eine Wüstenlandschaft. Halb verdeckt durch weitere Uniformierte erspähte ich eine schwarzhaarige Gestalt mit hängendem Kopf, die zusammengesunken mit dem Rücken gegen eine Hausmauer lehnte. Die abgetragenen Stiefelsohlen des Mannes bildeten ein breitbeiniges V.
Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Betrunkener, der seinen Rausch ausschlief. Als die Ermittler jedoch zur Seite traten, sah ich das blutüberströmte Hemd mit dem feucht glänzenden, tiefroten Kragen. Die Kehle war ihm durchgeschnitten worden, Teile des Halses lagen offen. Die Hände des Leichnams waren blutbesudelt.
Mir stockte der Atem. Lestrade hatte mit seiner Behauptung nicht übertrieben: Der Tote war mit unglaublicher Brutalität hingerichtet worden. Was immer das Motiv des Täters war – falls es sich um denselben handelte –, hier war er noch skrupelloser vorgegangen als bei den beiden anderen Morden. Welcher Unmensch war zu Derartigem fähig?
Hilfesuchend blickte ich zu Holmes. Er rümpfte nicht einmal die spitze Habichtnase, sondern betrachtete alles mit nahezu gleichgültiger Miene. Dass ihn dieses Verbrechen kalt ließ, glaubte ich nicht. Niemanden konnten derartige Gräuel ungerührt lassen.
Mein Freund umrundete das schätzungsweise vierzigjährige Opfer, um es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Anschließend untersuchte er dessen Hände, die Stiefelabsätze und die Yards rund um den Tatort. Lestrade beobachtete jeden seiner Schritte, hielt sich mit Kommentaren aber ebenso zurück wie ich. Wir wussten beide, dass der Meisterdetektiv beim Sammeln erster Eindrücke nicht gestört werden wollte. Geduldig warteten wir, bis er die Untersuchung abgeschlossen hatte. Selbst als Holmes den Oberkörper des Toten nach vorn zog, um etwas am Rücken und der Hauswand zu überprüfen, blieb ich stumm. Einzig den fragenden Blick zu Lestrade vermochte ich mir nicht zu verkneifen.
Nach einer kurzen Inspektion der Kleidung des Lagerarbeiters gesellte sich Holmes zu uns. „Die Tatwaffe dürfte, wie bei den anderen Morden auch, ein spitzes Messer mit langer Klinge gewesen sein. Einziger Unterschied: Das Opfer weist nicht nur Einstiche im Magen- und Halsbereich auf, die Nierengegend ist ebenfalls getroffen worden. Die Verletzung am Rücken lässt keinen Zweifel daran. Beinahe genauso interessant ist, dass der Mann nicht hier getötet, sondern vom Täter erst nach dem Mord hierher in den Hinterhof gezogen wurde. Die Schleifspuren am Boden und die Erde an den Stiefelabsätzen beweisen das deutlich. Abgesehen davon befindet sich um die Leiche herum kaum Blut. An der hinteren Wand beispielsweise klebt nicht ein Tropfen, was in Anbetracht der Verletzung unmöglich ist, hätte man ihn hier ermordet.“
Der Inspektor nickte, als wären ihm die Fakten ebenfalls bewusst. Sein Gesichtsausdruck hatte zuvor jedoch etwas Anderes gesagt. „Können Sie schon etwas über die Lebensweise des Toten sagen?“
„Er arbeitete im Hafen. Vorwiegend in den Nachtschichten. Falls er dadurch ein bisschen mehr Geld verdiente, landete ein Großteil davon in den Kneipen und beim Glücksspiel.“
„Aber ...“ Lestrade stockte. Der Blick seiner dunklen Augen suchte den Leichnam erneut von oben bis unten ab. „Reimen Sie sich da nicht zu viel zusammen? Sie haben Houwing doch bloß wenige Augenblicke lang überprüft.“
„Dennoch hege ich keinen Zweifel an der Richtigkeit meiner Angaben. Die Fakten liegen offen auf der Hand. Sie wollen mir doch nicht weismachen, Inspektor, dass Ihnen der Geruch und die Flecken von Maschinenöl an der Kleidung des Toten nicht aufgefallen sind?“
„Ja, schon, aber ...“
„Houwings Hautfarbe ist noch blasser als Ihre. Das legt nahe, dass er nicht viel Sonnenlicht abbekam. Zudem wirkt der Mann äußerst abgemagert, was bei Menschen mit ausreichendem Einkommen für gewöhnlich nicht der Fall ist.“
„In diesen Punkten stimme ich zu“, sagte ich und suchte den Leichnam noch einmal ab. Jetzt, da ich sie kannte, fielen mir die von Holmes erläuterten Indizien ebenfalls auf. Mehr allerdings nicht. „Doch wie um alles in der Welt kommen Sie auf Kneipenbesuche und Glücksspiele?“
Holmes schüttelte leicht den Kopf. „Gerade Sie als Mediziner sollten die Anzeichen von übermäßigem Alkoholgenuss auf den ersten Blick erkennen. Sind Ihnen nicht die geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen aufgefallen? Abgesehen davon zeigt sein Hemd einige ältere Flecken verschiedener Bier- und Whiskysorten. Ein Daheimtrinker geht in der Regel deutlich linearer vor. Was seine Spielleidenschaft betrifft: In der Innentasche seiner Jacke stecken ein handschriftlicher Wettschein und eine Zeitungsseite mit Sportergebnissen. Einige davon sind markiert.“
Überrascht hob ich die Brauen. „Meinen Sie, die Spielleidenschaft hat etwas mit seiner Ermordung zu tun? Möglicherweise konnte Houwing seine Schulden nicht begleichen und bekam deshalb Ärger mit seinem Buchmacher.“
„Ausschließen möchte ich momentan gar nichts. Allerdings wettet man in Spitalfields und Whitechapel nicht auf normalen Sport, sondern eher auf Hahnen- und Hundekämpfe. Davon abgesehen ist mir bisher nicht aufgefallen, dass sich auch die anderen beiden Opfer auf diese Art die Zeit und das Geld vertrieben haben.“
„Also stehen wir praktisch gesehen noch immer bei Null?“ Lestrade stemmte die Hände in die Hüften. „Drei Tote und keine Verbindung zwischen ihnen?“
„Werfen Sie die Flinte nicht voreilig ins Korn, Inspektor“, sagte Holmes. „Es gibt zweifellos einen Zusammenhang. Allerdings ist es noch zu früh, um sich darauf festzulegen. Geben Sie mir ein wenig Zeit, mich umzusehen und meine Ermittlungen anzustellen. Dann sehen wir weiter.“
„Von mir aus. Machen Sie nur wie Sie meinen. Mit dem Leichnam sind Sie fertig?“
Holmes nickte.
„Gut, dann lasse ich den fortschaffen, bevor sich die Gaffer die Füße in den Bauch stehen. Wenn Sie mich nun entschuldigen, das Gespräch mit der Witwe darf ich nicht länger aufschieben.“
Wir blickten dem Inspektor nach, wie er zwei uniformierten Polizisten einige Anweisungen gab und in Richtung Straße davonstapfte. Aus verständlichen Gründen wirkte er nicht besonders zufrieden.
Constable Grant stand an derselben Stelle wie bei unserer Ankunft und war in die Unterhaltung mit einigen Kollegen vertieft. Ein Teil seiner Gesichtsfarbe war inzwischen zurückgekehrt, dennoch machte er noch immer einen recht mitgenommenen Eindruck.
„Dürfen wir Ihnen einige Fragen stellen, Constable?“, fragte mein Freund und stellte uns vor.
Der Rotschopf riss verblüfft die Augen auf. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Mr Holmes. Natürlich auch Sie, Doktor Watson. Ich verfolge all Ihre Ermittlungen in den Gazetten. Wirklich beeindruckend, mit welch grandiosem Gespür Sie beide vorgehen.“
„Vielen Dank für das Kompliment, Constable Grant.“
„Bitte nennen Sie mich Charlie. Viel berichten kann ich Ihnen leider nicht. Wie üblich habe ich auch heute Morgen meinen Rundgang durch die Straßen und Gassen von Spitalfields und Whitechapel unternommen. Es war eher Zufall, dass ich in den Hinterhof geschaut habe. Zuerst dachte ich, ein Trunkenbold würde seinen Rausch ausschlafen. Ich wollte ihn fragen, ob er Hilfe benötige. Dann sah ich das Blut und erkannte, dass für ihn jegliche Hilfe zu spät kam.“
„Welche Route nehmen Sie für gewöhnlich während Ihrer Patrouille?“
„Eine richtige Routine habe ich da ehrlich gesagt nicht. Ich laufe absichtlich immer unterschiedliche Strecken, damit ich nicht zu berechenbar werde. Diese Viertel hier sind voller Halunken und Schlitzohren. Da schadet es nicht, sie ein wenig auf Trab zu halten.“
Holmes lächelte erfreut. „Ausgezeichnete Idee, Charlie. Welche Straßen haben Sie heute gewählt?“
„Entlang der Berner Street und am Mitre Square vorbei. Das ist meine östliche Route.“
„Haben Sie unterwegs etwas Auffälliges bemerkt? Jemand, der es besonders eilig hatte oder dergleichen?“
„Bedauerlicherweise nicht. Es waren lediglich die Leute auf dem Weg zur Arbeit oder zum Wochenmarkt. Nichts davon war in irgendeiner Weise ungewöhnlich.“
Es wäre wohl auch zu schön gewesen, hätte uns Charlie gleich einen entscheidenden Hinweis geliefert. Dennoch wirkte mein Freund und Partner bei der Verabschiedung nicht sonderlich betrübt. Er dankte dem Constable für seine Wachsamkeit und bat mich, ihm zu folgen.
Wir verließen den Hinterhof und folgten der Pflasterstraße in westlicher Richtung. Während Holmes jeden Zoll des Weges genauestens unter die Lupe nahm, blickte ich mich immer wieder nach allen Seiten um. Die vielen finsteren Hinterhöfe und schmalen Hauseingänge machten mich nervös. Die ganze Gegend war geradezu prädestiniert für einen Überfall. In einem Schmelztiegel der Kulturen und Gesinnungen wie es Whitechapel und Spitalfields waren, gehörte so etwas sicherlich zum normalen Alltag. Kurz bedauerte ich, nicht meinen alten Revolver vom Dachboden geholt zu haben. Mit ihm in der Tasche hätte ich mich gewiss deutlich sicherer gefühlt. Zum Glück waren wir noch nicht allzu weit von dem mit Polizisten bevölkerten Hinterhof entfernt. Wenn wir im Notfall um Hilfe schrien, würden wir sicherlich gehört werden.
An einer Schneiderei blieb Holmes kurz stehen und inspizierte aufmerksam die blassgraue Häuserecke. Ein dunkelroter Fleck in Kniehöhe schien es ihm besonders angetan zu haben. „Meinen Sie, das ist Blut, Holmes?“
„Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Und da es noch nicht vollständig eingetrocknet ist, liegt die Vermutung nahe, dass Mörder und Opfer an dieser Stelle entlangkamen.“
„Also hat Houwing zu diesem Zeitpunkt noch gelebt?“
„Nicht zwangsweise. Der Fleck kann auch vom Abtransport der Leiche stammen. Der Tatort liegt nicht einmal hundert Yards entfernt. Aber der Hinweis sagt uns zumindest, dass wir auf der richtigen Fährte sind. Folgen Sie mir.“
Wir kamen keine zwanzig Yards, bevor er erneut fündig wurde.
„Watson, sehen Sie diesen halb feuchten Schuhabdruck, hier, wo der Weg nicht richtig gepflastert ist?“, rief er und zeigte auf eine Stelle im Schatten. „Den Gleichen habe ich vorhin nahe der Leiche bemerkt. Da war ich mir noch nicht sicher, ob er nicht von einem der Bobbys stammte.“
„Und jetzt glauben Sie, dass er vom Täter ist?“
„Warum nicht? Von Houwings verschlissenen Stiefeln kommt er jedenfalls nicht. Schauen Sie, diese Punkte in der Sohle. Das sind Nagelspuren. Auch dieses Schuhwerk hat seine beste Zeit lange hinter sich.“
Ich betrachtete den Abdruck. Mehr als die Nagelpunkte interessierte mich allerdings die Richtung, in die die Sohle zeigte. Zur Schneiderei und zum Hinterhof. Ich kam allerdings nicht dazu, meinen Freund darauf hinzuweisen.
„Sehen Sie, hier sind noch mehr davon.“ Holmes eilte vorwärts, an einer brüchigen Backsteinmauer entlang. Wieder einmal blieb mir nichts Anderes übrig als hinterherzudackeln. „Und da ist auch ein weiterer Blutfleck. Wir sind definitiv auf der richtigen Spur.“
Der rote Fleck auf dem Gehweg vertrieb meine letzten Zweifel. Von einem Moment zum nächsten packte auch mich das Jagdfieber und ich war gespannt, wo die Spuren ihren Ursprung genommen hatten. Im Schatten eines Hauseingangs bemerkte ich eine dubios riechende Pfütze, die vermutlich für die Feuchtigkeit an der Schuhsohle des Mörders gesorgt hatte. Holmes nahm dies nickend zur Kenntnis, sagte aber kein Wort. In halb gebückter Haltung lief er unentwegt vorwärts, um nach weiteren Blut- und Schuhspuren zu suchen. Die zweifelnden Blicke der uns entgegenkommenden Passanten schienen ihm nicht einmal aufzufallen.
Knapp fünfzig Yards später blieb er wie angewurzelt vor den Treppenstufen einer verschlossenen Bäckerei stehen. In der Auslage blitzten mir zwei wurmstichige Regale entgegen. Holmes zeigte auf den Bordstein, wo mehrere verschmierte Schuhabdrücke unmissverständlich auf ein Handgemenge hinwiesen. Blutspuren an der Fensterscheibe, dem Mauersims und dem Boden bewiesen, dass es mehr als eine harmlose Rauferei gewesen war.
„Das ist der Tatort“, sagte Holmes, als er neben den Abdrücken in die Knie ging. „Hier befindet sich all das, was ich in dem Hinterhof nicht gefunden habe.“
Ich wollte erwidern, dass diese Spuren auch von einem völlig anderen Kampf stammen konnten, doch einer der Beteiligten hatte deutlich sichtbar Schuhe mit genagelter Sohle getragen. „Tatsächlich.“
Sofort sah ich auch die gesamte Ecke mit völlig anderen Augen und spielte im Kopf verschiedene Variationen des Kampfes durch. Es brauchte nicht viel Phantasie, um die passenden Schlüsse zu ziehen. „Es dürfte recht schnell gegangen sein. Vermutlich schlich sich der Täter von hinten an Houwing heran, stieß ihn gegen die Wand, wo er ihm das Messer in Bauch und Rücken rammte.“ Ich drehte mich mit dem Rücken zum Schaufenster und deutete die Bewegungen an, die der tote Lagerarbeiter meiner Meinung nach vollzogen hatte. „Doch damit nicht genug schlitzte er ihm im Anschluss die Kehle auf. Danach hatte Houwing wahrscheinlich nur noch wenige Sekunden zu leben.“ Meine Hände griffen zum Hals, um auch diese Verletzung zu demonstrieren.
Holmes erhob sich mit schmalem Lächeln. „Ausgezeichnet, Watson, langsam aber sicher entwickeln Sie das richtige Gespür. Bis auf eine Kleinigkeit stimme ich Ihrer Theorie zu.“
„Und die wäre?“
„Der Mörder hat sich nicht von hinten herangeschlichen, sondern sein Opfer verfolgt. Vermutlich war der Lagerarbeiter bereits einige Zeit auf der Flucht vor ihm. Die Länge der verwischten Spuren zeigt das deutlich. Hier aber verließen ihn die Kräfte. Als der Mörder ihn erreichte, jagte er Houwing das Messer zuerst in den Rücken, um die Flucht endgültig zu beenden. Danach stieß er ihn gegen die Wand, um seine Tat zu vollenden.“
„Dann war es folglich kein zufälliger Mord?“
„Haben Sie das tatsächlich angenommen? Nichts in diesem Fall geschah zufällig. Aus dem Grund dürfte es äußerst aufschlussreich sein zu erfahren, wie lange die Verfolgung dauerte. Und vor allem wo sie begann.“
Noch während er sprach, ging er die ersten Schritte weiter die Straße hinauf. Irritiert wechselte mein Blick zwischen ihm und der alten Bäckerei hin und her. „Aber was ist mit dem Tatort? Den können wir unmöglich unbeaufsichtigt lassen.“
Mein Freund winkte ab. „Seit der Tat sind mehrere Stunden vergangen. Wer weiß, wie viele Menschen inzwischen hier entlanggekommen sind. Eine Spurensuche ist zwecklos. Ich glaube auch nicht, dass sich Zeugen für die Tat finden lassen. In diesen Vierteln vergessen die Leute manchmal den eigenen Nachnamen. Aber keine Sorge, wir geben Lestrade später Bescheid, dass er einige Männer herschickt.“
So ganz beruhigten mich die Worte nicht, dennoch folgte ich Holmes. Eine weitere Frage brannte mir auf dem Herzen: „Warum hat der Mörder Houwing nicht einfach zurückgelassen? Der Hinterhof liegt doch bestimmt zweihundert Yards entfernt.“
„Weil er nicht wollte, dass die Leiche gleich gefunden wird. Hier liegt sie doch wie auf dem Präsentierteller.“
„Aber weshalb dann nicht einen Ort, der sich näher befindet?“
„Haben Sie sich die Straße mal genauer angeschaut? Hier folgt ein Hauseingang dem nächsten. Da gab es einfach keine Möglichkeit, den Ballast abzuwerfen. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass der Täter den Toten auf sich abgestützt hatte. So wirkte Houwing wie jemand, der einen über den Durst gekippt hat, und fiel im morgendlichen Dämmerlicht keinem zufälligen Passanten auf.“
„Dafür müsste der Mörder aber unglaublich abgebrüht sein.“
„Auch daran hege ich nicht den geringsten Zweifel. Moment, Watson, warten Sie!“ Plötzlich blieb Holmes erneut stehen. Diesmal war es ein Gebüsch neben einer ausgeblichenen Plakatwand, das seine Aufmerksamkeit erregte. Weder Blut noch Schuhabdrücke waren zu sehen. Dennoch sah Holmes aus, als wäre gerade dieser Fleck sehr wichtig. Nachdenklich schaute er vor und zurück, bevor er sich über die Zweige beugte und nach einem eckigen Gegenstand griff, der zwischen mehreren anderen Abfällen lag. „Was wollen Sie denn damit, Holmes? Untersuchen wir nun schon den Müll, um neue Spuren zu finden?“
„Wenn es die Sache wert ist. Hier sehen Sie, das ist nicht bloßer Unrat, sondern eine kleine Holzkiste. Die passt definitiv nicht zum sonstigen Kehricht. Ich glaube auch nicht, dass sie einer achtlos weggeworfen hat. Hier im Gestrüpp fällt sie nicht weiter auf.“
Ich schüttelte den Kopf. „Für mich klingt das alles arg an den Haaren herbeigezogen. Selbst wenn dies kein gewöhnlicher Abfall ist, bedeutet es noch lange nicht, dass es irgendetwas mit unserem Fall zu tun hat. Vorhin sagten Sie selbst, dass sicher viele Leute diesen Weg entlangkommen. Jeder von ihnen ...“
Ich hielt inne, als ich sah, was sich im Inneren der Box befand. Eine Art Kompass aus einem merkwürdig schimmernden Metall. Zuerst vermutete ich Eisen oder Messing, aber dafür war der Farbton zu dunkel. Das Metall glänzte beinahe bläulich.
„Was ist das?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Sehen Sie diese seltsamen Verzierungen. Die stammen von keiner mir bekannten Sprache.“
„Vielleicht ein Geheimcode.“
„Durchaus möglich. Umso mehr glaube ich, dass sich dieses Ding nicht zufällig hier befindet. Ich gebe auch Ihrem Einwand statt, dass der Gegenstand ebenso gut von einem anderen Besitzer stammen kann. Dennoch ist es ein großer Zufall, dass wir ihn ausgerechnet unweit der Stelle finden, an der kurz zuvor ein Mensch getötet wurde. Diese Angelegenheit bedarf auf jeden Fall weiterer Recherchen.“
Argwöhnisch betrachtete er das Gerät einige Sekunden lang von allen Seiten, klopfte und schnupperte daran; und reichte es anschließend mir. Meiner Meinung nach sah es noch immer wie ein handelsüblicher Kompass aus: Ein etwa handflächengroßes Metallgehäuse mit Verzierungen, in dessen Mitte sich eine gläserne Halbkugel befand, die genau wie die mir bekannten Richtungsweiser einen breiten Zeiger enthielt. Doch so sehr ich mich mit dem Gegenstand in der Hand auch bewegte, die Nadel zeigt kein einziges Mal nach Norden. Vielmehr schien sie in alle nur erdenkliche Richtungen zu zucken. In meinen Augen ein defektes Gerät, das jemand genau deswegen entsorgt hatte. Trotzdem zögerte mein Freund nicht, den Gegenstand zusammen mit der Holzbox in der Tasche zu verstauen.
Wir folgten der Pflasterstraße noch eine geschlagene Stunde, fanden aber trotz intensiver Suche keine weiteren Hinweise auf den Mörder oder sein Opfer. Auch der Ausgangsort der Verfolgungsjagd blieb im Dunkeln. Schweren Herzens winkte uns Holmes eine Kutsche heran, die uns zurück in die Baker Street brachte.
Während der Fahrt zu meiner ehemaligen Unterkunft dachte ich daran, wie ich am Morgen dort ankam, in der Annahme, mein früherer Mitbewohner und ich würden nach einem kurzen Abstecher nach Clerkenwell gemütlich frühstücken, um nebenbei in Ruhe den aktuellen Fall zu besprechen. Seit ich mit meiner Frau Mary in Paddington lebte und dort eine kleine Arztpraxis führte, sahen Holmes und ich uns nicht mehr so oft und ich genoss jedes unserer Treffen umso mehr. Doch dann war der Bote mit Lestrades Telegramm erschienen und hatte unsere Unterhaltung beendet, bevor sie begonnen hatte.
Gern hätte ich das Gespräch jetzt wieder aufgenommen und gefragt, was Holmes über die jüngsten Ereignisse dachte, doch mein Freund starrte schweigend vor sich hin. Mit seinen Gedanken schien er sich meilenweit entfernt zu befinden.
Gleich nach dem Betreten der Wohnung verzog er sich mit unserem Fundstück an den Schreibtisch im hinteren Teil des Raumes und inspizierte mit seiner Lupe eingängig den Kompass und seine Verpackung. Einige Male brummte er dabei Unverständliches, reagierte jedoch nicht auf mein Nachfragen.
Ich beschloss, das Beste aus der Situation zu machen und meine ehemalige Vermieterin um ein verfrühtes Mittagessen zu bitten. Doch es genügte ein Blick aus dem Fenster, um die Idee unverzüglich zu verwerfen. Gerade fuhr Inspektor Lestrade in einer Droschke vor. Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, sprang der kleine Mann hinaus und eilte zu unserem Eingang. Ich wies Holmes darauf hin und schaffte es, ihn so aus der Konzentration zu reißen. Binnen weniger Sekunden hatte er das Vergrößerungsglas zur Seite gelegt und den Kompass wieder in der Holzkiste verstaut. „Ich schlage vor, dass wir den Gegenstand dem Inspektor gegenüber erst einmal unerwähnt lassen. Zumindest, bis wir wissen, womit wir es zu tun haben.“
„Aber ist das nicht eine Unterschlagung von Beweismitteln?“
„Nicht unbedingt. Vermutlich sorgen wir auf diese Weise vielmehr dafür, dass Lestrade nicht vom Wesentlichen abgelenkt wird. Außerdem wird er Ihre Meinung teilen und dem Fundstück keine größere Aufmerksamkeit schenken. Nicht, wenn auf den Straßen Londons ein brutaler Mörder unterwegs ist.“
Inzwischen hörte man Lestrade gedämpft mit Mrs Hudson reden und mit schweren Schritten zu unserer Wohnung heraufstapfen. Vorsorglich öffnete ich die Tür und ließ ihn eintreten. Ein kurzes Lächeln erschien auf seinem Nagetiergesicht, verschwand jedoch beinahe auf der Stelle. „Vielen Dank, Doktor Watson“, sagte er und steuerte direkt auf meinen am Schreibtisch sitzenden Freund zu. „Mr Holmes, wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen? Haben Sie etwas herausgefunden?“
Ich runzelte die Stirn. Unser letztes Treffen lag noch keine drei Stunden zurück. Wie konnte er jetzt bereits Resultate fordern? Auch Holmes wirkte einigermaßen irritiert. „Nun, es war uns möglich, den eigentlichen Tatort auszumachen. Er befindet sich nur etwa zweihundert Yards vom Hinterhof entfernt, in einer Nebenstraße, direkt vor der alten Bäckerei in der Wanderley Street. Allerdings dürften bereits vor unserem Eintreffen unzählige Leute die Stelle passiert haben, was die Spurensuche erheblich einschränkt.“
„Ich werde dennoch umgehend einige Männer dorthin schicken, die alles unter die Lupe nehmen und die Nachbarschaft befragen. Vielleicht haben wir ja Glück und es kommt etwas dabei heraus. Haben Sie weitere Hinweise auf den Täter gefunden?“
„Nur, dass er seine Opfer nicht zufällig aussucht und er Houwing vor seinem Tod verfolgt hat. Der Lagerarbeiter ahnte offenbar, was ihm blühte. Darf ich fragen, was das Gespräch mit der Witwe ergeben hat?“
„Selbstverständlich.“ Lestrade legte die Stirn in Falten. „Leider nicht viel. Sie hat bestätigt, dass ihr Mann nachts im Hafen arbeitete, allerdings nicht regelmäßig. Er half aus, wann immer irgendwo Not am Mann war. Die restlichen Abende verbrachte er gern in der Kneipe oder bei einem Buchmacher. Ich hatte den Eindruck, dass es ihr egal war, was genau ihr Gatte trieb, solang er nur genug Geld für Miete und Essen nach Hause brachte.“
„Eine wirklich wundervolle Ehe“, sagte ich und stellte mir vor, wie Mary wohl reagierte, wenn ich lediglich zum Essen und Schlafen nach Hause käme. Sicherlich wäre sie über ein derartiges Verhalten nicht sonderlich erfreut. „Von Verfolgern und Drohungen wusste sie vermutlich nichts?“
„Sie treffen den Nagel auf den Kopf, Doktor“, sagte Lestrade. Die Enttäuschung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Allerdings war da noch mehr.
„Sind Sie in Eile, Inspektor?“, sprach Holmes das aus, was auch mir durch den Kopf ging. „Sie treten nervös von einem Bein auf das andere. Gibt es etwas, das Sie uns berichten möchten?“
Lestrade seufzte. „Wir haben schon wieder eine Leiche gefunden. Ebenfalls Einstiche im Bauch und aufgeschlitzte Kehle. Diesmal in einer Wohnung in Hafennähe. In der Challenger Street, um genau zu sein. Weitere Details kenne ich noch nicht, da ich gerade auf dem Weg dorthin bin. Ich wollte fragen, ob Sie beide mich begleiten möchten. Besonders an Ihrer Meinung, Doktor Watson, wäre ich interessiert. Laut Aussage der Kollegen sind die Umstände dieses Verbrechens etwas kurios. Aus medizinischer Sicht.“
„Was genau meinen Sie damit?“
„Offenbar unterscheidet sich der Tote irgendwie von anderen Menschen. Von gewissen Abnormitäten war die Rede. Ich weiß, viel Sinn ergibt das nicht, doch mehr haben mir die Kollegen bislang nicht mitgeteilt.“
„Dann schlage ich vor, dass Sie den Inspektor umgehend begleiten“, schlug Holmes vor. Er erhob sich. Allerdings nicht, um sich zu uns zu gesellen, sondern um zum Aktenschrank neben dem Fenster zu gehen.
„Heißt das, dass Sie nicht mitkommen werden?“ Lestrade wirkte teils verunsichert, teils verärgert. Auch ich wusste nicht, was ich von Holmes’ Worten halten sollte. Der Detektiv nickte und hob eine Kiste mit Karteikarten aus dem Schrank. „Exakt das heißt es. Ich muss auf diesen Ausflug leider verzichten, da ich noch einige Nachforschungen über die bisherigen Todesfälle anstellen möchte. Außerdem beabsichtige ich ...“, er zog eine der Karteikarten heraus und überflog sie, „mich mit einem gewissen Buchmacher zu unterhalten.“
„Das heißt, Sie wissen, bei wem Houwing seine Wetten aufgab?“
„Noch nicht, aber sehr viele in Frage kommende Herren dieser Zunft gibt es nicht, die Belege ausstellen wie jenen, den wir bei dem toten Hafenarbeiter gefunden haben.“ Er steckte die Karte zurück und suchte nach der nächsten. „Ah, da ist es auch schon. Der Schein trug eindeutig die Handschrift von Samuel Churchward. Den kenne ich von einer früheren Gelegenheit.“
„Aber wie stellen Sie sich das vor?“, fragte ich und spürte, wie mein Mund trocken wurde. „Soll ich den Tatort mit dem Inspektor allein untersuchen? Ich weiß doch nicht, worauf ich achten muss.“
„Stellen Sie Ihr Licht nicht immer so unter den Scheffel, mein lieber Watson. Bei unserer Suche vorhin haben Sie schon gutes Gespür bewiesen. Außerdem ermitteln Sie nicht das erste Mal allein. Ich erinnere nur an unser Abenteuer in Devonshire vor fünf Jahren. Sie wissen also genau, worauf es ankommt. Außerdem ist der Inspektor die ganze Zeit über an Ihrer Seite. Sie beide schaffen das. Da hege ich nicht die geringsten Zweifel. Nachher treffen wir beide uns wieder hier und Sie berichten mir alles genauestens. Das ist dann beinahe so, als wäre ich selbst dabei gewesen.“
Eine Sekunde lang war ich davon überzeugt, er würde sich über mich lustig machen. Wie konnte Holmes ernsthaft behaupten, dass ich hinsichtlich seiner Beobachtungs- und Deduktionsgabe auch nur ansatzweise in seine Sphären gelangte? Niemandem gelang das.
„Von mir aus“, sagte Lestrade und strich sich über die Hände. „Dann begleiten Sie mich eben allein, Doktor Watson. Hauptsache ein Mediziner ist mit von der Partie. Mr Holmes wird schon wissen, was er tut.“
Unsicher blickte ich zuerst meinen Freund und anschließend den Inspektor an. Für beide schien die ganze Angelegenheit keine große Sache zu sein. Mir hingegen zitterten die Knie und raste der Puls. Einen Augenblick lang hoffte ich noch, Holmes würde sich umentscheiden. Als das nicht geschah, folgte ich Lestrade zögernd nach draußen.
Auf dem Weg zum Hafen legten wir einen kurzen Zwischenstopp bei Scotland Yard ein, wo ich zwei jungen Sergeants noch einmal von den Kampfspuren in der Wanderley Street berichtete. Kaum besaßen die beiden alle nötigen Informationen, jagte unsere Droschke weiter in Richtung Osten.
Dem Inspektor ging es dabei nicht schnell genug. Während der gesamten Fahrt rutschte er unruhig hin und her und schien sich mehrmals auf die Zunge beißen zu müssen, um dem Kutscher nicht ständig Druck zu machen.
Kaum erreichten wir unser Ziel, sprang er ähnlich eilig wie in der Baker Street aus der Droschke und steuerte auf eine heruntergekommene Mietskaserne mit windschiefem Giebel, halb verrotteten Schindeln und einem Holzbalkon zu, der bereits vor etlichen Jahren hätte saniert werden müssen. Unter dem Ächzen der alten Balken folgte ich Lestrade hinauf und fühlte mich mit jeder Sekunde nervöser. Ich verfluchte Holmes, mich diese – im wahrsten Sinne des Wortes – Bruchbude allein aufsuchen zu lassen. Bei jedem Schritt fürchtete ich, in die Tiefe zu stürzen. Wie der Inspektor so leichtfüßig zu der Wohnung eilen konnte, blieb mir ein Rätsel. Noch mehr Bedenken ereilten mich, als ich des Chaos im Inneren der Behausung gewahr wurde. Sämtliche Schranktüren und Schubladen standen in dem kleinen Wohn- und Schlafzimmer offen. Ein Wasserkrug, mehrere Teller und eine Obstschale waren vom Tisch gefegt worden und deckten zusammen mit Ausgaben der Gazette und des Star nahezu den kompletten Fußboden ab. Das Bettgestell lag umgeworfen auf der Seite. Wie um alles in der Welt sollte ich bei diesem Durcheinander wissen, welche Fakten relevant waren?
Ähnlichkeiten zu Holmes’ Ordnungssinn drängten sich mir auf. Wenn er an einer seiner Recherchen arbeitete, sah es in seiner Wohnung nicht viel besser aus. Einmal hatte ich in meinem Pantoffel eine Dose Tabak gefunden, weil er der Meinung war, dass er dort am trockensten aufgehoben sei. Im Gegensatz zur Unordnung meines Freundes schien das Chaos hier jedoch durch einen Kampf verursacht worden zu sein. Blutstropfen auf Zeitung und Boden bewiesen das eindeutig.
Ein bleicher Constable mit Uniform und Schnauzbart trat zur Seite und ließ uns den winzigen Nebenraum in Augenschein nehmen. Offenbar handelte es sich um ein Badezimmer. Auch hier bemerkte ich Blutstropfen auf dem Boden. Ein weiterer Polizist wich zusammen mit einem kahlköpfigen Mittfünfziger zurück und zückte einen Notizblock.
Mein Blick folgte den Blutspuren bis zu einer verbeulten Badewanne in der hinteren rechten Ecke. Dabei war es selbstredend nicht die blutverschmierte Wanne, die meinen Magen verkrampfen ließ und meinen Herzschlag erhöhte, sondern die mit Anzughose und kurzärmeligem weißem Hemd bekleidete Gestalt mit leblosen Augen und weit aufgerissenem Mund. Etwa die Hälfte des Körpers lag dabei über und die andere Hälfte unter Wasser. Mit jedem weiteren Zoll, den ich mich der Leiche näherte, stieg mir zunehmend der bittere Leichengeruch in die Nase. Neben mir hielt sich Lestrade sein Stofftaschentuch vor seinen Zinken und eilte zum Fenster, um es zu öffnen.
„Laut Vermieter hieß der Mann Mark Harris“, las der Constable hinter mir von seinem Block ab. „Quartier bezogen hat er hier vor gut sechs Wochen.“
„Vor sechseinhalb“, korrigierte der Kahlkopf. „Mr Harris war immer freundlich und zuvorkommend. Einmal hat er mir die Kohleeimer zur Wohnung getragen, weil ich mir den Arm verrenkt hatte.“
„Haben Sie ihn gefunden?“, fragte Lestrade.
„Mir fiel der üble Geruch auf. Als ich nach dem Rechten sah, fand ich ihn in der Badewanne. Ich wollte schauen, ob er noch atmet, doch dann habe ich das viele Blut gesehen.“
„Die Unordnung im Nebenzimmer bestand also bereits?“
Der Vermieter nickte. „Ich habe nichts angerührt.“
Während ihm Lestrade weitere Fragen stellte, positionierte ich mich am Fuß der Badewanne und musterte den Toten eingehend. Es dauerte nicht lang, bis ich wusste, welche körperlichen Abnormitäten die Polizisten meinten: Da, wo die Haut des Toten unter Wasser lag, war sie extrem aufgedunsen und glich einem Schwamm, der sich voller Flüssigkeit gesogen hatte. Dies ging definitiv weit über den gewöhnlichen Grad an Aufweichung einer Wasserleiche hinaus. Im Gesicht und am Hals wiederum wirkte die Haut regelrecht pergamentartig. Als wäre sämtliche Feuchtigkeit aus ihr gesaugt worden. Oder in den unter Wasser befindlichen Teil des Körpers gewichen. Entsprechend blass und brüchig waren die Lippen. Selbst das kurze, dunkle Haar wirkte trocken und ausgeblichen. Wie das alles zusammenpasste, war mir ein Rätsel.
Doch noch war ich mit meiner Untersuchung nicht fertig. Ich versuchte, an all die Details zu denken, die Holmes in einem solchen Fall geprüft hätte, und betete inständig, dass ich nichts übersah, was sich später als relevant herausstellte.
Das Alter des Toten schätzte ich zwischen dreißig und fünfzig. Genauer ließ sich das aufgrund der starken Austrocknung nicht bestimmen. Nicht einmal bei der Körpergröße war ich mir sicher. Um mir einen besseren Eindruck zu verschaffen, kniete ich mich direkt neben dem Leichnam nieder. Seine Wunden waren mit einem dünnen, spitzen Gegenstand verübt worden. Ich zählte drei Einstiche im Oberkörper, von denen einer mit ziemlicher Sicherheit die Lunge durchbohrt hatte. Zweifellos wurde die gleiche Waffe wie auch bei den vorherigen Morden verwendet. Merkwürdig war dagegen das Blut des Toten. Täuschte ich mich, oder war es tatsächlich eine Spur dunkler als es normalerweise üblich war? In all den Jahren seit meinem Medizinstudium war mir nichts Derartiges untergekommen.
Gerade als ich mich abwenden wollte, fielen mir auf dem Oberarm des Toten, nur wenige Zoll über der Wasserkante, die Rückstände eines weißen Sekrets auf.
„Wie sieht es aus, Doktor? Haben Sie etwas gefunden?“
„Das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen“, antwortete ich, ohne den Blick von der dickflüssigen Masse zu wenden. „Reichen Sie mir bitte einen Löffel, ein Messer oder ein anderes Instrument, mit dem ich etwas von der Haut abstreifen kann.“