Christian Gude
Kammerspiel
Der fünfte Fall für Rünz
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: René Stein
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Big City Lights – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3972-8
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
den Vorhang zu und alle Fragen offen.
Bertolt Brecht
Rünz steckte sich eine Roth-Händle in den Mundwinkel und zog die Streichhölzer aus der Hosentasche.
»Nichtraucherzone«, knurrte der Filialleiter missmutig, ohne von seinen Unterlagen aufzublicken. Dann schaute er Rünz vorwurfsvoll an. »Sie haben in den vier Wochen, die Sie bei uns sind, keinen einzigen Ladendieb dingfest gemacht.«
»In Ihrem Laden wird halt nicht geklaut, seien Sie doch froh«, nuschelte Rünz mit dem kalten Stängel zwischen den Lippen.
»In meinem Baumarkt wird alles geklaut, was nicht festgeschweißt ist. Wir mussten bei der letzten Inventur fünf Prozent ungeklärte Abgänge verbuchen.«
»Tja, sieht so aus, als hätte mein Vorgänger die Lage nicht im Griff gehabt«, konterte Rünz.
»Ihr Vorgänger hat im Schnitt pro Tag anderthalb Ladendiebe gefasst. Sie keinen einzigen. Wie erklären Sie sich das?«
»Der Typ hatte offensichtlich keine abschreckende Wirkung. Prävention ist alles. Wenn die Kunden mich sehen, traut sich keiner mehr, sich was in die Hosentaschen zu stecken.«
»Die Kunden, die Sie mit Ihrem Trenchcoat, dem hochgestellten Kragen, der Sonnenbrille und diesem dämlichen Hut sehen, vergessen vor Lachen das Einkaufen. Ich könnte genauso gut Oliver Pocher im Bikini als Ladendetektiv hinstellen, der würde nicht weniger auffallen. Ich hatte schon zwei Anfragen von Leuten, die Sie für Betriebsfeste buchen wollten. Und gestern stand hier ein Vater mit seiner Tochter und beide haben Stein und Bein geschworen, in der Farbenabteilung würde ein Exhibitionist rumlaufen.«
»Ich halte den Trenchcoat grundsätzlich geschlossen,« widersprach Rünz entschieden.
Der Filialleiter schaute wieder auf seine Unterlagen und schüttelte resigniert den Kopf. »Nein, Herr Rünz, ich glaube, Ihre zwanzig Jahre Erfahrung in der Mordkommission helfen uns hier nicht weiter. Bitte, Ihre Papiere. Suchen Sie sich was anderes. Arbeiten Sie als Nachtwächter im Landesmuseum oder als Türsteher in einer Seniorendisco. Irgendwas werden Sie schon finden. Notfalls schreiben Sie einen Roman oder machen Sie eine Detektei auf, so was geht immer. Alles Gute für die Zukunft.«
Detektiv: Kann ich Ihnen etwas anbieten, Herr Lakan? Scotch? Bourbon? Pur oder on the rocks?
Klient: Ein Mineralwasser vielleicht, danke. Interessante Inneneinrichtung haben Sie. Passt zu Ihrem exklusiven Getränkeangebot. Ein wenig old-school, würde ich sagen. Ungewöhnlich für eine Detektei, finden Sie nicht?
Detektiv: Ich hoffe, es gefällt Ihnen! Ich bin ein Fan der Schwarzen Serie, dieser alten amerikanischen Detektivstreifen aus den Vierzigern und Fünfzigern. Deswegen auch der Ventilator, die Jalousien, das alte Telefon, die gusseiserne Schreibmaschine und das ganze Zeugs. Hat mich monatelange Flohmarkt-Recherche gekostet. Und ich hasse Flohmärkte. Ist doch für die Klienten mal was anderes als diese schmucklosen Buchhalter-Hinterzimmer. Hier, Ihr Mineralwasser. Stört es Sie, wenn ich rauche?
Klient: Danke. Nein, nur zu – aber sind Sie sicher, dass Ihnen das guttut? Ihr Husten klingt übel.
Detektiv: Sorry, habe erst vor ein paar Wochen angefangen mit der Qualmerei. Das mit den Lungenzügen macht mir noch ganz schön zu schaffen. Kostet ziemlich Überwindung.
Klient: Sie haben in Ihrem Alter angefangen zu rauchen? Mein Gott, Sie meinen es wirklich ernst mit Ihrem Bogart-Image. Jetzt verstehe ich natürlich auch Ihr Firmenschild ›Private Investigations‹.
Detektiv: Von nichts kommt nichts. Im Polizeipräsidium hatte ich diesen schneidigen Sven Hoven als Vorgesetzten, der mir immer einhämmerte, ich solle konsequent meine Unique Selling Points herausarbeiten und auf stimmiges Corporate Design achten. Nun – ich denke, ein wenig davon ist bei mir hängen geblieben.
Klient: Sie waren Polizist?
Detektiv: Ermittler. Mordkommission, um genau zu sein. Ich habe die Ermittlungsgruppe Darmstadt City geleitet. Dreiundzwanzig Jahre lang.
Klient: Dann ist diese Detektei Ihr Zeitvertreib für den dritten Lebensabschnitt? So wie sich andere Pensionäre Ihren Modelleisenbahnen, Schrebergärten und Bierbäuchen widmen?
Detektiv: Nicht ganz. Das Präsidium hat mich in den Vorruhestand geschickt. Ich will es mal so ausdrücken: Zwischen meinem Vorgesetzten und mir existierten unüberbrückbare Differenzen, was die Ausgestaltung der Ermittlungsarbeit anging. Und dann war da noch ein unangenehmer Zwischenfall mit einem guten Freund und Kollegen. Was amüsiert Sie so?
Klient: Na ja, ich denke gerade an diese alten Detektivfilme. Kommt da nicht immer gleich am Anfang eine mysteriöse, schöne Blondine ins Büro, reicht einen Umschlag mit Geld über den Tisch und gibt dem abgehalfterten Schnüffler einen Auftrag, an dem er sich so richtig die Finger verbrennt?
Detektiv: Sie haben recht. Als Femme fatale gehen Sie natürlich nicht durch, aber das mit dem Umschlag wäre doch schon ein prima Einstieg! Und Ihr Auftrag, ist der wirklich so heiß?
Klient: Sicher nicht für einen Mann mit Ihrer Erfahrung. Wo soll ich anfangen? Nun, ich arbeite als Psychoanalytiker hier in Darmstadt. Was ist los, Sie schauen so seltsam, habe ich etwas Falsches gesagt?
Detektiv: Nein, überhaupt nicht, entschuldigen Sie. Es ist nur so: meine Erfahrungen mit Seelenärzten sind eher durchwachsen.
Klient: Sie haben selbst eine Psychoanalyse hinter sich?
Detektiv: Nein, eine Paartherapie. Mit meiner Frau.
Klient: Und? War sie nicht erfolgreich?
Detektiv: Wie man’s nimmt. Die Scheidung läuft.
Klient: Nun, ohne die Arbeit meines Kollegen – oder meiner Kollegin – schönreden zu wollen: Das muss kein Misserfolg sein! Aber ich kann Sie beruhigen, ich habe völlig andere Schwerpunkte. Ich arbeite mit Menschen, die eine Transplantation hinter sich haben. Menschen, die mit Organen Verstorbener leben. Den meisten meiner Patienten geht es physisch gut, sie können ein annähernd normales Leben führen. Aber der Gedanke an eine fremde Niere oder gar ein fremdes Herz in ihrem Körper belastet sie, bei manchen reicht das bis an die Grenze des Erträglichen. Eine psychische Abstoßungsreaktion, wenn Sie so wollen.
Detektiv: Es geht also um einen Ihrer Patienten?
Klient: Nennen wir ihn vorerst Patient X – so lange wir noch keine feste Vereinbarung getroffen haben. X ist 24 Jahre alt und lebt hier in Darmstadt. Er hatte vor vier Jahren eine irreversible chronische Herzinsuffizienz, Folge einer zu spät diagnostizierten Herzmuskelentzündung. Vor zwei Jahren wurde ihm an der Uniklinik in Frankfurt ein Spenderorgan implantiert, mit weitgehend komplikationsfreiem postoperativem Verlauf und guter Prognose. Er entwickelte allerdings recht bald nach der Operation manisch-depressive Symptome, litt unter massivem Steuerungsverlust, der die lebensnotwendige Dauermedikation gefährdete.
Detektiv: Seit wann ist er bei Ihnen in Behandlung?
Klient: Seit anderthalb Jahren. Anfangs kam er zweimal pro Woche. In den letzten sechs Monaten haben wir hochfrequent gearbeitet, mit vier Sitzungen wöchentlich.
Detektiv: Mein Gott, ein hoffnungsloser Fall …
Klient: Überhaupt nicht! Wir haben gute Fortschritte gemacht. Aber die Arbeit an der Seele hat ihr eigenes Tempo.
Detektiv: Wenn ich anderthalb Jahre lang gute Fortschritte machen würde, wäre ich Innenminister! Konnten Sie ihm helfen?
Klient: Dann säße ich wahrscheinlich nicht bei Ihnen. Die meisten Transplantierten lernen in der Therapie mühsam, das als fremd empfundene Organ als etwas Eigenes anzuerkennen. Doch Patient X war viel krasser und entschiedener in der Ablehnung seines neuen Herzens als alle anderen, die ich behandele oder jemals behandelt habe. Er empfand das Organ nicht nur als Fremdkörper, sondern als potenzielle Bedrohung. Als Kontaminationsquelle, als Beschmutzung und Besudelung seines Körpers. Sein emotionales Verhältnis zu seinem neuen Organ schwankte zwischen Hass und Ekel.
Detektiv: Kannte er vielleicht den Spender?
Klient: Absolut ausgeschlossen, so etwas gibt es nur bei Lebendspenden in Familien. Diese Transplantationen werden von ›InterTransplant‹ hundertprozentig anonym vermittelt. Ich hatte schon recht früh den Eindruck, dass eine neurotische Störung vorlag, die mit der Operation nichts zu tun hatte. Eine Neurose, die seine Ablehnung gegen das Herz weit über das normale Maß hinaus verstärkte. Um dieser Störung auf den Grund zu gehen, versuchte ich, ihn dazu zu bringen, in der Analyse frei zu assoziieren, über was auch immer ihm gerade einfiel. Nach einer Weile stellte er fest, dass er in mir einen ausdauernden Zuhörer gefunden hatte, ganz egal, worüber er sprach. Von Stunde zu Stunde redete er weniger über die Transplantation und sein neues Herz. Aber nicht, um sich mit seinem Leben und seinen Ängsten, seiner Kindheit und Jugend zu beschäftigen, wie die meisten meiner Patienten. Er begann, über Gesellschaft und Politik zu schwadronieren, räsonierte über Werte wie Treue, Mut und Kameradschaft, die Bedeutung von Nation und Vaterland, welchen Bedrohungen sie – angeblich – von innen und außen ausgesetzt sind.
Detektiv: Ein Nazi? Hat er Glatze und Springerstiefel?
Klient: Er trat äußerlich vollkommen unauffällig auf: halblange Haare, kariertes Hemd, verwaschene Jeans, Turnschuhe, der Allerweltslook, den Sie heute auf jedem Unicampus finden. Seine Äußerungen standen in gewissem Widerspruch zu diesem Auftreten, aber als Nazi hätte ich ihn in dieser Phase noch nicht bezeichnet. Sehr konservativ, ja. Aber kein Nazi. Doch irgendwann tauchten xenophobe Motive auf, und immer häufiger.
Detektiv: Xeno… was?
Klient: Ablehnende Haltungen gegenüber allem, was ihm fremd erschien. Hier mal eine abschätzige Bemerkung über den italienischen Pizzabäcker um die Ecke, dort eine kleine Schmähung seines türkischen Sachbearbeiters bei der Arbeitsagentur oder ein Seitenhieb auf schwule Politiker. Oft fielen diese Bemerkungen in Nebensätzen. Und immer machte er danach eine kleine Pause.
Detektiv: Er wollte Ihre Reaktion testen.
Klient: Genau.
Detektiv: Und. Haben Sie ihm widersprochen?
Klient: Natürlich nicht, ich bin Analytiker. Wenn ich seine Einstellung moralisch bewertet oder versucht hätte, ihn zu belehren, wäre die Analyse zum Scheitern verurteilt gewesen. Nein – durch diesen braunen Sermon musste ich waten, um zum Kern seines Problems vorzustoßen. Da ich ihm nicht widersprach, wurde er von Stunde zu Stunde mutiger, monologisierte endlos. Nach wenigen Sitzungen war mir klar, dass ich einen dogmatischen und fanatischen Neonazi vor mir auf der Couch liegen hatte. Manche Therapiestunden glichen fünfzigminütigen Hasstiraden, ich kam mir manchmal vor wie auf dem Reichsparteitag. Ich habe in den letzten Monaten unfreiwillig einen detaillierten Einblick in die gesamte paranoide rechtsradikale Vorstellungswelt bekommen, von der Verklärung des Dritten Reiches über die Leugnung des Holocaust bis zum umfangreichen Spektrum antisemitischer Stereotypen, Ressentiments und Wahnvorstellungen – von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung bis zu den Protokollen der Weisen von Zion.
Detektiv: Ich hoffe, er hat Sie nicht überzeugt, Herr Lakan.
Klient: Überzeugt? Ja. Davon, dass er und seine Gesinnungsgenossen wirklich kranke Menschen sind.
Detektiv: Aber da haben Sie doch die Gründe für sein gespaltenes Verhältnis zum Spenderherz. Er konnte ja nicht wissen, ob es rassisch von einwandfreier Herkunft war. Ob es nicht von einem Türken, einem Afrikaner oder gar einem Juden stammt.
Klient: Genau! Der schlagende Vorteil rechtsradikaler Gesinnung ist ja die beneidenswerte Fähigkeit, das Böse und Schlechte immer im anderen, doch nie in sich selbst zu sehen. Aber einem fremden Herzen in Ihrem Brustkorb können Sie nicht einfach das Asylgesuch ablehnen, es mit ein paar Tritten über die Grenze treiben oder ihm den Krieg erklären. Sie müssen sich mit ihm arrangieren.
Detektiv: Er muss wild darauf gewesen sein, die Identität des Spenders herauszufinden.
Klient: Er hat mir von seinen Bemühungen diesbezüglich wenig erzählt. Aber ich vermute, dass er alles dafür unternommen hat. Er hatte Phasen, in denen ich fürchtete, er würde in die Niederlande fahren und in der Zentrale von ›InterTransplant‹ eine Bombe zünden, weil sie ihm nicht weiterhalfen. Dann wieder, in seinen manischen Stimmungen, redete er sich ein, seine neue Pumpe funktioniere so prächtig – sie könne unmöglich von rassisch minderwertiger Herkunft sein. Er kam sich dann vor wie eine nordische Gottheit.
Detektiv: Warum lehnten Sie die weitere Behandlung nicht ab? Diagnose: nicht therapierbar.
Klient: Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Einerseits war ich abgestoßen und angeekelt von dieser Borniertheit, diesem Hass und dieser Unfähigkeit zur Selbstkritik. Andererseits: Wissen Sie, wie oft Sie in einem Berufsleben als Analytiker die Chance bekommen, mit einem Nazi zu arbeiten, der aufgrund seiner körperlichen Disposition gezwungen ist, sich mit den inneren, unbewussten Motiven seiner Weltanschauung auseinanderzusetzen?
Detektiv: Sie denken, Sie können ihn heilen? Das nenne ich Hybris. Sie sind heiß auf den Nobelpreis!
Klient: Ich gebe zu, auch ich bin ehrgeizig und eitel. Und ich halte einen Erfolg nach wie vor nicht für ausgeschlossen.
Detektiv: Und welche Rolle spiele ich in der künftigen Ménage-à-trois? Brauchen Sie Verstärkung? Einen zweiten Mann an der Couch als Leibwächter?
Klient: Er hat vor sechs Wochen die Analyse ohne Vorwarnung abgebrochen. Seitdem ist er weder telefonisch noch schriftlich oder per Mail zu erreichen. Ich habe seinen Hausarzt kontaktiert, der ihn an mich vermittelt hat. Er hat sich dort für zwei Monate im Voraus Rezepte für seine Medikamente ausstellen lassen.
Detektiv: Und jetzt wollen Sie, dass ich nach ihm suche? Sie beauftragen für jeden Patienten, der ohne Erklärung die Analyse abbricht und nicht erreichbar ist, einen Detektiv? Das können Sie mir nicht erzählen. Klingt zu sehr nach Arztserie. Nach dem aufopfernden Chefarzt, der neben dem Raucherbein auch noch die zerrüttete Ehe des Patienten rettet.
Klient: Natürlich nicht. Dieser Patient ist, wie gesagt, eine besondere professionelle Herausforderung für mich.
Detektiv: Und warum ich? Warum nicht die Polizei? Eine Vermisstenanzeige. Ist doch naheliegend. Und billiger für Sie!
Klient: Weil ich unter ärztlicher Schweigepflicht stehe. Weil ich all das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, der Polizei berichten müsste. Weil die Polizei nach einem Volljährigen erst dann fahndet, wenn begründeter Verdacht besteht, dass sein Verschwinden in irgendeinem Zusammenhang mit einer Straftat oder einem drohenden Suizid steht. Weil die Polizei ihm Fragen stellt, wenn sie ihn findet, anstatt mir einfach diskret Meldung zu erstatten. Aber was erzähle ich Ihnen, Sie waren ja Polizist. Reichen Ihnen diese Gründe nicht? Natürlich würde ich meine ärztliche Schweigepflicht selbst verletzen, sobald ich Ihnen seinen Namen verrate. Aber da Sie mir gegenüber zur Vertraulichkeit verpflichtet sind, bleibt der Kreis der Eingeweihten klein.
Detektiv: Was ist mit seinen Angehörigen? Eltern, Freunde? Vielleicht haben die längst die Polizei kontaktiert.
Klient: Seine Mutter lebt hier in Darmstadt, aber ich kenne weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer. Von anderen Angehörigen hat er nie gesprochen. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie sie kontaktieren, ich glaube, er hat ihr nie von der Transplantation erzählt.
Detektiv: Seine eigene Mutter weiß nichts von der Herztransplantation ihres Sohnes? Machen Sie Witze? Er muss vor der Operation monatelang schwerstkrank und bettlägerig gewesen sein, sonst wäre er niemals auf der Warteliste so weit nach vorn gerückt.
Klient: Fragen Sie mich nicht, wie er das gemacht hat. Mein Eindruck war, dass er niemandem in seinem sozialen Umfeld davon erzählt hat. Was seine körperliche Schwäche vor der Transplantation und die langen Klinikaufenthalte angeht, muss er sich irgendwelche Erklärungen ausgedacht haben. Vielleicht hat er seit Jahren keinen Kontakt zu seiner Mutter. Keine Ahnung, alles nur Vermutungen …
Detektiv: Sie erwähnten eben seinen Sachbearbeiter bei der Arbeitsagentur. Er ist also arbeitslos?
Klient: Exakt. Schön zu sehen, wie schnell Sie sich in die Materie hineindenken.
Detektiv: Ihnen ist klar, dass ich für meine Dienstleistungen Geld nehme? Und die Krankenkasse von Monsieur X wird meine Rechnungen ja wohl kaum übernehmen.
Klient: Ich schließe aus Ihrem Themenwechsel, dass Sie grundsätzlich an diesem Auftrag interessiert sind. Das freut mich. Welchen Tarif berechnen Sie denn üblicherweise?
Detektiv: 900 Euro Tagessatz. Plus Spesen.
Klient: Hmm. Ihr Tagesfixum entspricht sicher den Standards in der Schwarzen Serie. Aber es bietet natürlich keine gute Motivationsgrundlage für eine zeitnahe und erfolgsorientierte Bearbeitung des Auftrages.
Detektiv: Sie sind ganz sicher Psychoanalytiker? Das klingt eher nach Generation BWL. Ein wenig erinnern Sie mich gerade an meinen früheren Vorgesetzten.
Klient: Man muss die Dinge einfach trennen können. Mir schwebt da eher eine erfolgsbasierte Pauschale vor, sagen wir in Höhe von 3.000 Euro inklusive sonstiger Aufwendungen. Ist das für Sie akzeptabel? Ich darf Ihr Lächeln als Zustimmung interpretieren? Prima. Sein Name ist Gerd Welders. In diesem Umschlag finden Sie meine Telefonnummer und alle Informationen über ihn, die mir zur Verfügung stehen.
Detektiv: Sagen wir fünf. Plus Spesen.
Klient: Vier inklusive. Mein letztes Wort.
Detektiv: Handeln Sie mit Ihren Patienten auch so gnadenlos über Ihr Honorar? Aber gut, Vier inklusive. Ich rufe Sie an, wenn ich erste Ergebnisse habe.
Klient: Gerne! Lassen Sie uns nächstes Mal wieder in Ihrer Detektei zusammenkommen. Ich fühle mich wohl auf Ihrem kleinen Filmset. Die Atmosphäre verleiht meinem unspektakulären Auftrag Bedeutung und Dramatik. Ich werde mit dem Gefühl nach Hause gehen, fortan Teil eines aufregenden und gefährlichen Spiels zu sein. Etwas gewagt zu haben. Ach, übrigens: Als ich Ihr Büro betrat, vorn auf dem Firmenschild, da stand noch ein zweiter Name, wenn ich mich recht erinnere …
Detektiv: Sie meinen den Autor, Raoul Rockwell?
Klient: Richtig, Rockwell. Er nutzt dasselbe Büro wie Sie?
Detektiv: Nein, wir haben die Räume hier gemeinschaftlich angemietet. Er nur aus steuerlichen Gründen, aber verraten Sie das bitte nicht dem Finanzamt!
Klient: Rockwell. Nie gehört von diesem Autor. Was macht er? Belletristik? Sachbuch?
Detektiv: Thriller. Einen hat er erst geschrieben, um genau zu sein. ›Amok‹ ist der Titel. Spielt in Darmstadt. Wenn Sie Interesse haben, ich habe zufällig noch ein Exemplar in der Schublade. Ich glaube, er hat es sogar signiert.
Klient: Oh, danke! Das ist nett von Ihnen. Bin sehr gespannt. Der wird mir die Wartezeit bis zu unserem nächsten Treffen verkürzen.