Dietmar Dath
Pulsarnacht
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Copyright © 2012 by Dietmar Dath
Copyright © 2012 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-08693-0
www.heyne.de
Die Ältesten in Rom wurden gefragt: Wenn Er an den Götzen keinen Gefallen hat, warum vernichtet Er sie nicht? Sie sagten zu ihnen: Wenn sie einer Sache dienen würden, deren die Welt nicht bedarf, so würde Er sie vernichten. Doch siehe, sie dienen der Sonne und dem Mond, den Fixsternen und den Wandelsternen. Soll er denn der Narren wegen Seine Welt zugrunde richten?
Talmud: Mischna Awoda Sara IV, 7
I think about a world to come
Where the books were found by the golden ones
David Bowie
Für Georg Fülberth
Erster Teil
Gesetzlose Dunkelheit
1
Hitze brannte in der elektrisierten Atemluft.
Flimmernd waberte sie über kalter, scharf riechender, metallisch schmeckender Flüssigkeit. Die Soldatin versuchte, nicht unterzugehen. Erstmals seit Beginn der Mission fürchtete sie um ihr Leben. Nahebei rührten sich Schatten, Flecken, vor ihr, hinter ihr, auch unter ihr. Das konnten Nachbilder der Angriffe von eben sein, Effekte der Memristorkatastrophe, die in der ersten Kammer die Waffenmeisterin getötet hatte, andererseits auch Überlebende aus der Crew, genauso gut unsichtbare Feinde.
Oder etwas wirklich Schlimmes.
Hitze, Kälte: Das erste schien flirrende Restwärme auf der Haut, von Flammenspießen in dem Raum, aus dem sie eben mit Armand und Sylvia geflohen war. Das zweite konnte Täuschung sein: Vielleicht war das nasse, schwappende Zeug in Wirklichkeit eher lauwarm und kam denen, die hineingesprungen waren, nur eisig vor, weil sie gerade beinahe verbrannt wären. Lauwarm – aber wahrscheinlich giftig, strahlend oder anders tödlich, etwa von Biomarcha durchwimmelt. Wenn Valentina daran dachte, kam es ihr vor, als könnte sie Geißelchen und Pseudopodien überall auf der Haut spüren.
Woher wollte sie überhaupt wissen, dass es sich bei der Flüssigkeit nicht um ein Lebewesen handelte, ein intelligentes womöglich? Sie befand sich ja nicht auf einem gewöhnlichen, trägen Himmelskörper. War die Suppe ein extremophiler Raumbewohner, eine Art besonders hässlicher Medea?
Zwei Stunden nachdem sie sich zusammen mit den anderen Bewaffneten Zugang zu der künstlichen, abgeschlossenen Welt verschafft hatte, in der das letzte gesuchte physische Attribut der flüchtigen Admiralin versteckt war, schwamm Valentina Elisabeta Bahareth ohne Schutzanzug im eisigen Schwappen.
Sie suchte nach einem Ausweg, einem Durchgang, bevor Arme und Beine zu müde wurden und sie sich aufgeben musste, versinken, ertrinken. Sie kam sich nackt vor, mit nichts als der hautengen goldenen Thermowäsche und ein paar Gurten am Leib.
Natürlich wusste sie, dass das eine alberne Panikattacke war. Genauso gut, wie man denken konnte: »Nackt – außer der Thermowäsche und den paar Gurten«, konnte man denken: »Tot – außer Herzschlag, Blutkreislauf und Atem.«
Valentina hatte die alten Lektionen nicht vergessen.
Was sie als Soldatin wusste, vom Drill bis zu den Parolen (»Wir fürchten nichts, schon gar nicht die Armeen aus dem Norden«), war jedoch bloßes Oberflächenwissen, etwas Andressiertes. Deshalb aktivierte sie auch ihre twiSicht nicht, auf die sie doch hätte setzen können, wenn ihr das Dunkel wirklich eine Last gewesen wäre und sie die Schatten naher bewegter Körper hätte durchschauen wollen.
Für den Verzicht auf die twiSicht gab es indes vernünftige Gründe: Nicht ausschließen konnte sie, dass es hier Sensoren gab, die auf die twiSignatur angesprochen und Valentina so als Zielscheibe erkannt hätten.
Keine technischen Hilfsmittel, dachte die Soldatin, solange Muskelkraft und Verstand reichen. So rief sie nichts auf, das vom Tlalok, der wertvollsten Marcha in ihr, versiegelt an der bestgeschützten Stelle tief im Schädel, gesteuert wurde.
Ähnlich hatte sie es schon auf der Akademie gehalten.
Dafür zog sie sich damals lange Erklärungen, Geschrei, harte Exerzierstrafen und Prügel zu.
»Typisch für Leute aus der Szewczyklinie!«, hatte ihr erster Marchatrainer ihr offen rassistisch ins Gesicht gebrüllt. »Dreckige, liederliche Bauern! Bei meinem Arsch, ich weiß nicht, wer euch Seuchenträger auf die Schulen lässt!«
Ein konzilianterer Kollege riet ihr: »Du lernst jetzt, wie du deinen Tlalok taktisch nutzt, oder ich verkaufe dich stückchenweise, Knochen für Knochen, Organ für Organ, an die Custai, dass sie wenigstens ein paar Läufer und Schlepper aus dir züchten!«
Valentinas immergleiche Erwiderung auf solche Vorhaltungen und Zurechtweisungen hatte gelautet: »Ich will meine Arbeit selber machen. Wenn der Tlalok alles regelt, ist er der Soldat, nicht ich.« Eine verhältnismäßig einfühlsame Lehrerin, am Ende von Valentinas Akademiezyklus, im entscheidenden Jahr, als die für den Einsatz in präsidialen Eliteeinheiten Rekrutierten lernen sollten, wie man schiffseigene sTlaloks mit dem eigenen Tlalok durch Ahtotüren und das Ahtomedium steuerte (»Tlalok ohne ›s‹ schlägt Tlalok mit«, hieß die Faustregel), hatte sie bei einem Grillfest am Rand der Föhrenwälder im autonomen Marginstaat auf Tamu ins Gebet genommen: »Mädchen, ich find’s ja charmant, dass jemand wie du, die offensichtlich den Tod nicht scheut, sich vor dem fürchtet, was im eigenen Kopf wohnt. Strohdummer Aberglaube ist es trotzdem.«
»Ich gebe einfach nicht gern die Kontrolle ab. An was anderes als mich. Was Fremdes.« Valentina suchte, wie so oft, nach den passenden Worten und fand keine, was nicht nur daran lag, dass der berühmte Margin-Himbeergeist ihre Zunge schwer und unbeweglich machte. Die weißhaarige Ausbilderin hatte mit den Lippen geschmatzt, den knochigen Kopf geschüttelt und leise widersprochen: »Was anderes als du … was Fremdes … den Tlalok so zu sehen, das ist, wie wenn man versucht, sich vom eigenen Hirn zu unterscheiden. Spaltungsirresein. Damit wirst du nicht weit kommen.«
Die anderen aus der damaligen dritten Klasse waren wahrscheinlich alle längst in irgendwelchen untergeordneten Sicherheitsjobs auf irgendwelchen Dreckklumpen im kartierten All der VL fett und langsam geworden – von wegen »die Besten der Besten«. Sie aber hatte sich in ehrgeiziger Dauerbereitschaft, auch die gefährlichsten Ausschreibungen mit Freiwilligenmeldung zu beantworten, das Privileg erkämpft, in diesem uneinnehmbaren, hinterhältigen, absolut tödlichen Sud zu ersaufen, erschossen zu werden, oder vom Stromschlag vernichtet.
Verbrannt, gefroren.
Gefressen.
Nicht weit kommen? Dieser Ausbilderin hatte sie es wirklich gezeigt.
Aus welcher Tiefe leuchtete das Silberweiß in der kühlen Brühe? Fünf Meter? Zehn? Sollte man das nicht doch per twiSicht messen? Kälte kroch wie eine Drohung mit Sehnenzerrung und Krampf unter die Haut. Valentinas blanker Kopf brannte und juckte eine Handbreit überm linken Ohr. Wahrscheinlich hatte sie einer der Flammenspieße doch berührt.
Es war stickig in der Höhle, dunstig, bedrückt. Bewegte sich da wieder was, dicht unter ihr? Gittertiere, oder jemand von der Crew?
Binturen waren gute Schwimmer, auch Taucher, obwohl sich das Fell eigentlich hätte vollsaugen und sie schwerfälliger machen sollen. Ein Fisch, ein Unterwasserwachhund, ein Raubtier, ein Monster aus lauter Zähnen?
Valentina hatte ihre Pistole in der Kammer oben zurückgelassen.
Sie lag auf irgendeinem Boden der komplizierten Architektur dieses lebensfeindlichen Ortes, wo jeder Boden im nächsten Moment eine Decke, jede Decke im nächsten Moment eine Wand sein konnte.
Die letzte Waffe, die sie bei sich hatte, war ihr Messer, ans linke Bein gebunden mit einem straff gezogenen Ledergurt, der noch ein paar andere Geräte festhielt. Es war ein sehr gutes Messer, Vollstahlkonstruktion, rutschsicherer Griff mit drei Löchern, die das Gesamtgewicht gegenüber herkömmlichen Kampfmessern entscheidend reduzierten, und einer Oberflächenbeschichtung aus diamantartigem Kohlenstoff. In der Ausbildung hatte sie keine Waffe lieber benutzt: robust war sie und gegen Störangriffe elektromagnetischer, chemischer und biologischer Art völlig unempfindlich. Sollte sie danach greifen?
Introspektiver Systemcheck: Der Juckreiz überm Ohr war irritierend, aber nicht bedrohlich, ihr Atem ging etwas zu flach, das Herz schlug einen Tick zu schnell.
Idiotische Reflexe: Sie brauchte eigentlich gar nicht zu atmen. Ein Befehl an den Tlalok genügte, und sie konnte bis zu zweihundertfünfzig Stunden von der C-Feldspeisung leben. Auch die Feuchtigkeit und Kälte hätte sie nicht auf sich einwirken lassen müssen. Im vom Tlalok auf Kommando ausgeworfenen Hautgitter überlebten Soldaten mitunter tagelang ohne irgendeinen Schutz nackt in Eisgräben, im Vakuum oder in Hochofenhitze. Im zweiten Linienkrieg sollten sogar Leute durch äußere Sternatmosphären geschleudert worden sein, deren Schiffe und Schutzanzüge zerstört worden waren, und dort für Sekunden, ja Minuten bis zum Wiederaustritt aus der Plasmahölle den ungeheuerlichsten Temperaturen widerstanden haben.
»Kinder, ich fürchte, jetzt wird gestorben«, sagte sie zu niemand Bestimmten, um noch einmal eine menschliche Stimme zu hören, bevor das Unvermeidliche geschah.
Dieses Kammerwetter, dachte sie, macht mich dumm. Wenn ich nicht bald aus der Suppe steige, vergesse ich, wer ich bin und was ich hier mache.
Schatten, jetzt schlank, paarweise, etwa anderthalb Menschen tief unter ihr. Doch der Bintur? Wie war der hier reingekommen, aus der STENELLA? Warum war er nicht tot? Valentina zog die Beine an, Knie auf die Brust.
Dann stabilisierte sie sich mit vorsichtigen Armruderbewegungen und machte sich bereit, nach dem Messer zu greifen.
»Mistviecher.« Die Stimme war rau, hallte trocken, dünn verzerrt, »bescheuerte Binturen gehören nicht in … unsere … Kommandos«, eine Art Glucksen folgte, zerhacktes Gurgeln.
»Armand?«, rief Valentina, die glaubte, die Stimme erkannt zu haben, und erschrak darüber, wie zaghaft ihre eigene klang. Platschen, Zischen war die Antwort.
»Armand? Comte, bist du das? Antworte, Soldat!« Das letzte Wort, im Befehlston, stärker und strenger als die Frage zuvor, kam ihr anmaßend vor, aber wenn sie nicht völlig falsch lag, war Kuroda tot, was sie selbst zur Ranghöchsten im Restverband machte.
»Antworte! Ich bin deine Vorgesetzte, ist dir das klar? Das ist keine Polizeioperation, das ist Krieg! Soldat!«, wiederholte sie. Es klang nicht mehr autoritär, nur von Schrecken gepresst. Immer noch ließ sie das Messer am Bein, trat jetzt auch wieder gestreckt durch – sie wusste, wenn sie das Werkzeug erst in der Hand hatte, waren ihre Schwimmbewegungen behindert.
Fliehen war meistens gescheiter als Kämpfen, wenn man einen Auftrag hatte.
Armand Mazurier, wenn er’s denn gewesen war, antwortete nicht.
Auch vom vermeintlichen Binturenschatten war nichts mehr zu sehen. Rechts von Valentina plumpsten zwei dicke Tropfen in die Flüssigkeit. Die kurze Aufregung verebbte, das Licht unter ihr nahm ab, verschleierte sich. Weil sie außer Wassertreten nichts zu tun hatte, rief Valentina Bahareth sich in Erinnerung, wie sie überhaupt in ihre heikle Lage geraten war.