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Ebook Edition

»Komm, geh mit angeln,
sagt der Fischer zum Wurm.«

Bertolt Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder

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Stephan Hebel, langjähriger Redakteur der Frankfurter Rundschau und politischer Autor, ist seit zwei Jahrzehnten Leitartikler und Kommentator. Er schreibt unter anderem auch für die Berliner Zeitung sowie für Deutschlandradio, Freitag, Publik Forum und weitere Medien. Er ist zudem regelmäßiger Gast im »Presseclub« der ARD und ständiges Mitglied in der Jury für das »Unwort des Jahres«.

Stephan Hebel

MUTTER BLAMAGE

Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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ISBN 978-3-86489-021-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: ullstein bild – Boness/IPON

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

Merkels Märchen

Die Fassadenmalerin

Reine Leere: Prinzipienlosigkeit als Prinzip

Nützlicher Irrtum: Die Krise und das Märchen von der Inhaltslosigkeit

Starker Auftritt: Die Frau ohne Nerven

Technik der Macht: Rücksichtslos nach allen Seiten

Mit falscher Münze: Merkel und der Euro

Harte Währung auf weichem Grund

Die Schulden der anderen

Merkel, die märkische Marktfrau

Leere Versprechungen

Schneller in die nächste Krise

Bankenrettung zum Sonderpreis

Wer hat, dem wird gegeben

Atomausstieg: Wende ohne Energie

Wirtschaft: Geschenke erhalten die Freundschaft

Arbeit: Die Jobwunder-Lüge

Rente und Co.: Rückwärts zur Reform

Wir Untertanen

Sicherheit: Bürger unter Verdacht

Asyl und Integration: Guter Fremder, böser Fremder

Außenpolitik: Missbrauchte Menschenrechte

Demokratie: Immer schön volksam

Die andere Mehrheit

Alternative ohne Chance?

Reformbündnis Rot-Grün-Rot

Ein neuer Weg zur neuen Regierung

Anmerkungen

Vorwort

Wenn der Grieche wackelt und der Euro wankt, geht es uns allen ein bisschen schlecht. Nicht, dass wir gleich ärmer würden, jedenfalls nicht jeder – Deutschland steht ja, wie es scheint, so mies gar nicht da! Aber mulmig wird einem schon, wenn ein EU-Gipfel den nächsten jagt und kein Mensch mehr versteht, wer all die teuren Rettungspakete bezahlt. Oft höre ich dann von Freunden und Bekannten ein erleichtertes Seufzen: »Die Merkel, die macht das doch gar nicht so schlecht.«

Einerseits: Ich verstehe, was gemeint ist. Wir in Deutschland kommen noch ganz gut über die Runden, und wenn nicht, dann ist es wenigstens nicht so schlimm wie in Griechenland. Im Fernsehen spricht zu uns eine persönlich bescheidene Frau, und sie sagt: Fürchtet euch nicht, ich halte den deutschen Laden schon zusammen.

Andererseits: Die Inszenierungen, die uns »Tagesschau« und »heute« jeden Abend zeigen, wirken auf mich zunehmend verlogen – auch und gerade, wenn es um die Kanzlerin geht. Als Journalist habe ich das Glück, mich hauptberuflich mit Politik zu befassen. Ich tue das nicht von Berlin aus, sondern von Frankfurt am Main. Ich habe noch nie im Kanzleramt Rotwein getrunken. Ich nehme nicht an den Hintergrundkreisen teil, in denen Politiker mal »ganz offen« reden – vorausgesetzt, die anwesenden Journalisten behalten das Gehörte für sich.

Ich meide den von Politikern und Medienkollegen bevölkerten Kontakthof, in dem die Inszenierungen des politischen Geschehens entstehen, weil mich die Distanzlosigkeit abschreckt, mit der sie einander oft begegnen. Ich versuche zu betrachten und zu bewerten, was Politiker tatsächlich tun, und vor allem, was es für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet. Und je länger ich das tue, desto stärker wird mein Eindruck: Das Bild, das sie von sich verbreiten und verbreiten lassen, hat mit ihrem Handeln wenig zu tun.

Das gilt ganz besonders für Angela Merkel. In mehr als zwei Jahrzehnten Politikbeobachtung habe ich niemals einen derart eklatanten Widerspruch erlebt zwischen dem Image einer politischen Persönlichkeit und ihrer tatsächlichen Politik. Nie ist es einem Politiker in Deutschland gelungen, derart konsequent auf Kosten der Mehrheit zu handeln und zugleich die Sympathie dieser Mehrheit zu gewinnen.

Dieses Buch möchte die öffentliche Selbstdarstellung von Angela Merkel mit ihrer Politik konfrontieren. Es möchte im Jahr der Bundestagswahl dem Image der Superkanzlerin sachliche Argumente entgegenstellen. Es möchte mit diesen Argumenten all jene bestärken, die sich schon jetzt unbehaglich fühlen angesichts der Schönrednerei, mit der uns die Kanzlerin und ihre Entourage in Wissenschaft oder Medien umgarnen. Es möchte für Alternativen werben zu einer Politik, die auf Dauer Deutschland ungerechter macht und die gemeinsame Zukunft Europas verspielt.

Bertolt Brecht schrieb sein Theaterstück Mutter Courage und ihre Kinder 1938/39 im schwedischen Exil. Es spielt im Jahre 1624, während des Dreißigjährigen Kriegs. Wie man sieht, hat all das mit Angela Merkel wenig zu tun. Aber Brechts Titelfigur Anna Fierling, genannt Mutter Courage, zeigt sich auf höchst aktuelle Weise immun gegen falsche Versprechungen. Der Werber, der ihren Sohn zum Militär und damit in den sicheren Tod locken soll, verspricht »eine schöne Kappe und Stulpenstiefel«. Die mutige Mutter aber durchschaut das Spiel und übersetzt die Versprechungen des Werbers in unmissverständlichen Klartext: »Komm, geh mit angeln, sagt der Fischer zum Wurm.«

Angela Merkel lockt uns nicht in den sicheren Tod, das nicht. Aber zu unserem Vorteil wird es nicht sein, wenn wir ihren Versprechungen glauben – und dabei den Wurm spielen, während sie mit uns angeln geht und uns vor aller Welt blamiert. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

Ich bedanke mich von ganzem Herzen bei meiner Frau Tanja Kokoska, die mich bei der Arbeit bestärkt, animiert, beraten und – noch viel wichtiger – mit unendlich liebevoller Zuwendung begleitet hat.

Ich danke meinem Sohn Jakob Raue, dessen freundlicher Blick auf mich und meine Arbeit mich immer wieder stärkt.

Ich danke meinen Eltern und Geschwistern für großes Interesse und wertvolle Hinweise.

Ich danke vielen Freundinnen und Freunden – ganz besonders Lia Venn, Thomas Stillbauer, Thomas Gebauer, Jörg Schindler, Karin Ceballos Betancur, Karin Deckenbach, Andreas Werner, Dieter Hummel und Jürgen Metkemeyer– für wundervolle und anregende Gespräche nicht nur über Angela Merkel.

Ich danke den zahllosen Kolleginnen und Kollegen, die die Redaktion der Frankfurter Rundschau für mich zum anregenden Umfeld und zur journalistischen Heimat gemacht haben – stellvertretend für alle den Chefredakteuren Wolfgang Storz und Arnd Festerling.

Sehr herzlich danke ich Rüdiger Grünhagen und dem ganzen Team vom Westend Verlag für die Begeisterung und das Engagement, mit denen sie mein kleines Projekt verwirklicht haben, und für ein hervorragendes Lektorat.

Frankfurt am Main, im Januar 2013

Stephan Hebel

Merkels Märchen

Blamage? Wieso Blamage? Angela Merkel war auch zu Beginn des Wahljahrs 2013 noch die beliebteste Politikerin Deutschlands. In vielen Medienberichten begegnet sie uns nach sieben Jahren Kanzlerschaft als wenig charismatische, kaum von Prinzipien geleitete, aber umsichtig und pragmatisch handelnde Mutter der Nation. Als nervenstarke Krisenmanagerin und Garantin einer maßvollen Reformpolitik für alle.

Das Erstaunliche ist, dass so viele Menschen diese Legende glauben. Dass sie die Politik der Kanzlerin für keineswegs blamabel halten, sondern für ausgewogen und klug. Dagegen wendet sich die zentrale These dieses Buches: Angela Merkel verdankt ihren Erfolg einem permanenten Betrugsmanöver. Sie hat, auch wenn es nicht so scheint, sehr wohl eine politische Agenda. Und die ist blamabel für Deutschland.

Blamierte Angela Merkel sich selbst, dann wäre das noch zu ertragen. Aber das tut sie nicht: Sie agiert souverän und zielstrebig wie kaum jemand sonst in der politischen Arena. Auch vor jenen, die an Politikern vor allem das Gespür für Macht bewundern, blamiert sie sich nicht. Und genauso wenig vor denen, in deren Interesse sie vor allem handelt: den Mächtigen in Finanzwirtschaft und Industrie. Angela Merkel blamiert »nur« das Land, das sie regiert. Denn hinter einer verschwurbelten Rhetorik der Richtungslosigkeit verbirgt sich eine gar nicht richtungslose Politik, die Deutschland und Europa auf Dauer schadet.

Das wichtigste Requisit dieser Kanzlerin ist die Tarnkappe. Es scheint, als ordne sie dem Machterhalt jede Überzeugung unter (Fans sprechen lieber von »Pragmatismus«). Hier macht ihr niemand etwas vor, sie ist eine brillante Handwerkerin der Macht. Was dem Machterhalt dient, wird dafür genutzt, ob es nun angemessen konservativ wirkt oder nicht: Hat sie nicht am Ende doch die Banken reguliert? Ist die Wehrpflicht nicht abgeschafft? Durfte Ursula von der Leyen als Familienministerin etwa nicht das Erziehungsgeld einführen, Vätermonate eingeschlossen? Redet die Kanzlerin nicht selbst vom Mindestlohn? Und wer, bitte, hat die Energiewende ausgerufen?

Auf den ersten Blick haben Kritiker wie Bewunderer zumindest in einer Hinsicht recht: Aus Merkels Worten irgendetwas Programmatisches abzuleiten, ist oft schwerer, als den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Sie ist Regisseurin und Hauptdarstellerin in einem »Für-jeden-etwas«-Theater der besonderen Art.

Auf den zweiten Blick aber zeigt sich: Sowohl die untertänigen Lobredner und -schreiber als auch die konservativen Kritiker (und erst recht diejenigen, die erst das eine waren und dann das andere) sind der Kanzlerin auf den Leim gegangen. Diese Frau betreibt sehr wohl ein politisches, von klaren ideologischen Wegweisern bestimmtes Projekt. Sie ist allerdings nicht die Kanzlerin für alle, wie ihre Rhetorik uns vorzugaukeln versucht. Sondern sie ist die Kanzlerin des Neoliberalismus. Eine Regierungschefin, die sich ihrerseits regieren lässt von den Interessen der Wirtschaft und des Finanzkapitals.

Diesen Interessen ordnet sie alles andere unter. Selbst ihre Zugeständnisse an Sozialreformer und Modernisierer dienen einzig dem Zweck, die Freiheit »der Märkte« und ihrer Akteure im Kern zu wahren. Die »sozialdemokratischen« und »grünen« Elemente Merkel’scher Politik erweisen sich als taktische Rückzüge mit dem Ziel, unter Vortäuschung falscher Tatsachen auch jenseits des konservativen Spektrums Mehrheiten zu gewinnen. An der generellen Richtung ändern sie nichts.

So erweist sich die Vorstellung, Merkel repräsentiere die Deutschen nach außen ganz gut und richte nach innen wenigstens keinen Schaden an, als gefährlicher Irrtum: Diese Frau hat Deutschland ihren Stempel aufgedrückt, und wir haben es nicht einmal gemerkt. Der Abdruck dieses Stempels ist es, der sie und ihre »Landeskinder« blamiert: Mit der angeblich »mächtigsten Frau der Welt« ist Deutschland aggressiver geworden, nach außen für Freund und Feind unberechenbarer denn je seit dem Zweiten Weltkrieg, nach innen ungerechter und reformunfähiger als sogar unter der bleischweren Regentschaft des Helmut Kohl.

Angela Merkel hinterlässt – sollte sie 2013 endlich abgewählt werden – ein Land im Reformstau. Ein Land, das sich auf Kosten anderer in kleinkariert nationaler Interessenpolitik ergeht und sich damit selbst schadet. Ein Land, in dem die Ungerechtigkeit wächst und die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet. Ein Land, das Millionen seiner Bürger in die Armut treibt, mit Arbeit oder ohne. Ein Land, das wichtig tut und ständig an Gewicht verliert. Ein Land, in dem der Souverän – das Volk und »sein« Parlament – systematisch entmachtet wird. Ein Land, in dem die Politik sich selbst zur Erfüllungsgehilfin ökonomischer Interessen degradiert.

Die Fassadenmalerin

Ihren eigentlichen Zielen gibt Angela Merkel, die Unverbindliche, in der Regel weder Namen noch Gesicht, und deshalb glaubt ganz Deutschland, eine Agenda gäbe es nicht. Die einen freuen sich, weil die Chamäleon-Kanzlerin immer mal wieder die Farbe annimmt, die ihnen gefällt. Die anderen ärgern sich, weil sie es gern noch ein bisschen konservativer oder wirtschaftsliberaler hätten oder jedenfalls irgendwie programmatisch und schon gar nicht mit diesem gelegentlichen Anflug »sozialdemokratischer« Neigungen.

Für Linke und Anhänger der Sozialdemokraten gibt es – zum Ärger der traditionell Konservativen – ein paar Worte über die eventuell vorhandene Notwendigkeit von Mindestlöhnen, und Ursula von der Leyen darf, nun als Arbeitsministerin, so tun, als sei sie die Retterin der armen Rentner. Grüne und Ökologen bekommen etwas, das den Namen »Energiewende« trägt – wiederum zum Ärger der Altkonservativen, die die Kehrtwende der Ex-Atomfreundin nicht verstehen. Zum Ausgleich darf sich jeder CDU-Parteitag nach alter konservativer Sitte gegen allzu viele Rechte für Homosexuelle sowie gegen Datenschützer und Liberalität in der Strafverfolgung positionieren.

Allerdings: Hinter der vermeintlich unideologischen, pragmatischen Attitüde versteckt sich der wahre Kern des Merkel’schen Programms. Es ist ein »Wirtschaftsliberalismus light«. »Light« nicht in seinem ideologischen Kern – der ist eher hart –, sondern nur in seiner Geschmeidigkeit, wenn es um die Durchsetzung der wichtigsten Ziele geht, zum Beispiel die Sicherung der deutschen Vorherrschaft in Europa oder den Abbau der solidarischen Sozialsysteme. Dieses Programm kennt keine ideologischen, sondern nur taktische Grenzen: Nach außen verkauft die »Kanzlerin aller Deutschen« ihr Handeln als »Politik für alle« und sich selbst als Inkarnation der bürgerlichliberalen »Mitte«. Doch hinter dieser Fassade folgt sie weitgehend dem Programm der Banken und Konzerne. Die vielbeschworene »Modernisierung« der CDU erfüllt kaum mehr als den Zweck, diese Abhängigkeit zu kaschieren.

»Modern« wird die Partei entweder dort, wo auch die Wirtschaft inzwischen nach Modernisierung ruft – zum Beispiel bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Oder sie macht Zugeständnisse dort, wo der gesellschaftliche Druck die Macht zu gefährden beginnt – zum Beispiel bei der Energiewende oder beim Mindestlohn. Dann allerdings tut sie nur das, was unbedingt notwendig ist, um die Konkurrenz in Schach und den Druck auf die Wirtschaft so gering wie möglich zu halten: Wenn schon die Forderung nach Mindestlöhnen zu populär ist, um sie zu ignorieren, dann werden die Unternehmen lieber Merkels Light-Version1 akzeptieren als ein echtes gesetzliches Minimum unter einem Kanzler von der SPD. Und wenn schon Energiewende, dann lieber mit milliardenschwerer Entlastung der stromfressenden Industrie als ein Umstieg mit fairer Verteilung der Lasten.

Reine Leere: Prinzipienlosigkeit als Prinzip

Vor allem aus dem konservativen Lager kommt Kritik an dieser Geschmeidigkeit. Da heißt es, die CDU-Vorsitzende habe ihren Kompass verloren, und voller Trauer wird erinnert an die Zeit, als sie noch – etwa 2003 auf dem berühmten Leipziger Parteitag oder im Wahlkampf 2005 – das neoliberale Programm in Reinkultur predigte. Melancholisch wird der »Mut« beschworen, mit dem Merkel sich an die neoliberale »Modernisierung« der Republik gemacht habe. Und mit nostalgischem Unterton werden Sätze zitiert wie dieser aus dem Beschluss des Leipziger Parteitags von 2003: »Immer wieder hat die CDU in der Geschichte der Bundesrepublik den Mut gehabt, die Weichen auch gegen Widerstände neu zu stellen, weil sie die Herausforderungen der Zeit angenommen hat. Zu dieser Verantwortung bekennt sich die CDU auch jetzt.«2

Ganz mutig beschloss Merkels Partei damals »den Befreiungsschlag«, von dem die Vorsitzende bei ihrer Leipziger Parteitagsrede sprach.3 Die CDU forderte die Umstellung der Krankenversicherung auf eine »Kopfprämie«, die nicht mehr mit dem Einkommen steigen, sondern für alle gleich sein sollte4 – also den Anfang vom Ende des Solidarprinzips in der Sozialversicherung. Sie beschloss ein neues Steuersystem mit nur noch drei Sätzen von 12, 24 und 36 Prozent5, womit sie Gerhard Schröders fatale Entlastungspolitik für Spitzenverdiener noch unterbot (Rot-Grün senkte Anfang 2005 den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent). Und sie beschloss, das umlagefinanzierte Rentensystem »wo immer möglich durch ein kapitalstockgestütztes System zu ergänzen«6 – also eine Strategie, die die Auslieferung künftiger Rentner an die Finanzmärkte zum Prinzip erhob.

Die CDU-Vorsitzende gab bei diesem Parteitag ein schönes Beispiel für die geistige, ja sogar sprachliche Hegemonie des blühenden Neoliberalismus: »Wer (…) so viel verspricht und so wenig hält wie Rot-Grün, der zerstört jede Glaubwürdigkeit«, sagte sie. »Die Bürger müssen vielmehr die Perspektive haben, dass das, was ihnen an Reformen vom Staat zugemutet wird, sich für sie auch auszahlt. Nicht unbedingt schon heute oder morgen. Aber am Ende des Weges.«7 Vor dem Siegeszug des Neoliberalismus verstand man unter »Reform« ein Projekt, das die Lebenssituation möglichst vieler Menschen verbessert. Nun stand »Reform« für Verschlechterungen, die den Menschen »zugemutet« werden – mit dem vagen Versprechen, dass sich das Ganze »auch auszahlt«, und zwar irgendwann »am Ende des Weges«. Es gehört zu den herausragenden Erfolgen des Marktfundamentalismus und seiner publizistischen Hilfstruppen von Bild und Zeit bis zu Hans-Werner Sinn, diese Ideologie bis in den allgemeinen Sprachgebrauch hinein verbreitet zu haben. Angela Merkel war – beim Parteitag 2003 und dann im Wahlkampf 2005 – eine der begeisterten Anhängerinnen dieser Ideologie. Und dieses eine Mal in ihrer politischen Karriere, diesen einen Wahlkampf lang, bekannte sie sich sogar dazu.

Das hat sich, zum Leidwesen der konservativen Kritiker, seitdem geändert. CDU und CSU schafften es 2005 mit der radikalen Variante neoliberaler Politik nicht zum erwarteten großen Sieg, sondern landeten in der großen Koalition. Das Ergebnis der Union war mit 35,2 Prozent enttäuschend ausgefallen, auch wenn es Merkel ins Kanzleramt brachte. Die SPD, obwohl zerrissen durch die neoliberale Agendapolitik ihres Kanzlers Gerhard Schröder, landete nur einen Punkt dahinter. Das muss der Moment gewesen sein, in dem die CDU-Vorsitzende beschloss, ihren ideologischen Kompass künftig hinter einer in milden Farben getünchten Fassade zu verbergen. Damit begann die Chamäleonisierung der neuen Kanzlerin. Genauer: ihrer Rhetorik. Von nun an tat Angela Merkel alles, um sich als »Kanzlerin für alle«, als über den Parteien schwebende Instanz zu inszenieren, bei der auch für sozialdemokratisch oder grün gesinnte Wähler mal etwas abfallen konnte.

Als die Kanzlerin 2006 auf dem Parteitag in Dresden das erste Jahr ihrer Regierungszeit mit der SPD bilanzierte, war von »Befreiungsschlag« keine Rede mehr. Geboren war Angela Merkel, die Rhetorikerin der Bescheidenheit: »Es gibt nicht die eine Großmaßnahme. Manchmal habe ich den Eindruck, manche warten auf eine Art Urknall, dann werde wieder alles gut. Das gibt es nicht, das ist Träumerei und hat mit realer Politik nichts zu tun.(…) Wir gehen viele kleine Schritte in die richtige Richtung.«8

Geboren war auch die Strategie der begrenzten gesellschaftlichen Modernisierung. Merkel hatte erkannt, dass die unterentwickelte öffentliche Kinderbetreuung in Deutschland auch für ihre Freunde in der Wirtschaft zum Problem zu werden begann, weil sie die Frauen nun bald auf dem Arbeitsmarkt benötigen würden. Also stimmte sie ihre Partei auf eine Relativierung des konservativen Familienbildes ein – wohl wissend, dass ihr die Aura der Modernisiererin bei künftigen Wahlen nur würde helfen können: »Es bleibt richtig: Die Familie ist und bleibt der beste Ort der Erziehung. Alle Betreuungs- und Bildungsangebote bleiben Angebote. Der Staat kann niemals die nahe und persönliche Aufmerksamkeit einer Familie ersetzen«, lautete das kleine Vorwort zur Beruhigung der Basis. Aber dann: »Ebenso richtig bleibt aber auch, dass nicht immer das Rezept gilt: Privat geht vor Staat. Der Staat muss sich heute (…) stärker engagieren. Daran führt kein Weg vorbei.«9 Und für alle, die nicht so schnell mitkamen beim Modernisieren, gab es am Ende noch ein Betreuungsgeld.

Die rhetorische Abkehr von der harten Variante des Neoliberalismus genügte, um die Fans der »Leipziger« Angela Merkel nachhaltig zu enttäuschen. Entsprechend fielen in den Jahren danach die Kritiken aus dieser Ecke aus. Die Publizistin Gertrud Höhler nutzte ihr auflagenträchtiges, wenn auch historisch nicht verbürgtes Label »ehemalige Kanzlerberaterin bei Helmut Kohl«, um ein dickes Buch über Merkel, die »Patin«, zu schreiben.10 Eine endlose Klage über die »Sozialdemokratisierung« der CDU11, über die Zerstörung der »christlichen« und »liberalen« (sprich: wirtschaftsliberalen) Werte der Partei durch eine Kanzlerin, die nichts im Kopf habe als Macht. Wobei sich Höhler nicht einmal scheut, Merkels Verhalten in eine direkte Linie zur SED-Diktatur zu stellen: »In der DDR hat sie studiert, dass die Selbstinszenierung der Macht jede Qualifikation überdeckt und ersetzt.«12 Das ist eine Gleichsetzung mit der Vorgehensweise eines diktatorischen Regimes, die selbst einer Angela Merkel nicht gerecht wird.

Noch schlimmer aber ist der geradezu antipolitische Ansatz dieser Art von Kanzlerinnenliteratur: Bei Gertrud Höhler wird die Politik, die die Vorsitzende mit ihrer Partei betreibt, zum ausschließlichen Ausdruck einer individuellen, persönlichen Biografie und des Charakters, der daraus entstand – das klassische Muster der Personalisierung und damit Trivialisierung von Politik.13 Dass hinter dem wütenden Blick auf die Person die ideologischen und politischen Linien des Merkel’schen Handelns gar nicht mehr auftauchen – ja, dass sogar deren Fehlen wortreich betrauert wird –, das dürfte die CDU-Vorsitzende sehr gefreut haben. Denn am Ende kommt auch diese Kritik noch ihrer Strategie entgegen, die Leitlinien ihrer Politik, die in Wahrheit keineswegs verschwunden sind, vor der breiten Öffentlichkeit zu verbergen.

Im Prinzip spricht nichts dagegen, bei der Motivforschung auch biografische Sachverhalte einzubeziehen – zumal dann, wenn die Autorin wie hier einen personenbezogenen Ansatz wählt. Das hat zum Beispiel eine wesentlich frühere Biografin, Jacqueline Boysen, bereits 2001 getan – allerdings auf differenzierte und seriöse Weise. Sie ist anders als Gertrud Höhler der Versuchung entgangen, so zu tun, als entspringe öffentliches Wirken nur persönlichen Charaktereigenschaften und nicht Ideologien und Interessen.

Boysen kommt der schwer greifbaren, aber in ihren ideologischen Grundüberzeugungen unerschütterlichen Person Merkel wesentlich näher als Gertrud Höhler, wenn sie schreibt: »Die Seiteneinsteigerin ist grundsätzlich unabhängiger als andere, weil sie sich stets der totalen Integration in ein enges Lebensumfeld widersetzt hatte. (…) Seit ihrer Kindheit auf dem Waldhof in Templin ist Angela Merkel daran gewöhnt, immer ein wenig fremd zu bleiben, Distanz zu wahren oder wahren zu müssen. Sie ließ sich mitziehen, passte sich gegebenenfalls der Umwelt auch mit einem Teil Opportunismus an, aber immer erhielt sie sich sorgsam einen Rest von Eigenständigkeit. So schützte sich die Pastorentochter und so ›überwinterte‹ die Physikerin mit ihren Überzeugungen im staatlichen Elfenbeinturm der Akademie der Wissenschaften.«14

Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Boysen auch das irritierende Außenseitertum der Nachwendepolitikerin Merkel aus diesen Erfahrungen ableitet: »So wie sie sich jetzt präsentiert, steht Angela Merkel ihrer Partei vor, aber sie steht nicht in ihr.«15 Der Neueinsteigerin aus dem Osten ging und geht es nicht um »politische Heimat« in einer Partei, deren Werte sie teilt. Es geht um Formung und Nutzung dieser Partei für die Zwecke der Agenda Merkel.

Welche das ist? Auch hier war Biografin Boysen schon 2001 auf der Spur, die sich in den folgenden Jahren leider als die richtige erweisen sollte: »Wohl hatte sie sich einst mit der konservativen Position der Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen schwer getan, auch schien sie mit ihrem Vorstoß für eine Ökosteuer in die ›linke Ecke‹ der Union zu passen – aber dies waren ihr keine politischen Herzensangelegenheiten. Von einer ›Parteilinken‹ wäre nicht zuletzt ein sozialpolitisches Engagement zu erwarten gewesen, doch Angela Merkel ließ eher den Hang zur Liberalisierung der Sozialen Marktwirtschaft erkennen.«16

Angesichts dieser treffenden Beobachtung liegt eine weitere Vermutung nahe, die in der Merkologie bei Anhängern wie Kritikern bisher erstaunlich kurz gekommen ist: Nicht die in der Diktatur gelernten Anpassungs- und Vermeidungsmechanismen dürften für Merkel und andere prägend gewesen sein, jedenfalls nicht allein. Der Kapitalismus war für einen großen Teil der DDR-Bürger vor allem eine erstrebenswerte, jedenfalls aber die bessere Alternative. Der simple Zusammenhang zwischen Wirtschaftsfreiheit und Wohlstand, den der Marktliberalismus suggeriert, schien aus ihrer Perspektive im Westen Wirklichkeit geworden zu sein. Staatliche »Sozialpolitik« hatten sie in ihrem Land hingegen als allgegenwärtige Bevormundung erlebt, allenfalls als Mittel zur Ruhigstellung der Massen. Und die lauteste Kritik am Kapitalismus kam in der DDR genau von denjenigen, denen man wenn schon nicht Widerstand leistete, so doch ganz sicher auch keinen Glauben schenkte: von den Funktionären der herrschenden Parteidiktatur.

So bildete sich bei politisch aktiven ehemaligen DDR-Bürgern gelegentlich ein Freiheitsbegriff heraus, der das eigene Erleben des bevormundenden und einengenden Staates auf die demokratischeren Verhältnisse des Westens übertrug: staatliche Regulierung, Umverteilung und Eingreifen in den Markt – all das stand unter Verdacht, zu all dem zu führen, wovon man gerade befreit worden war. Wer Bundespräsident Joachim Gauck von Freiheit reden hört, weiß, was gemeint ist – auch wenn der Präsident in Lernwille und Lernfähigkeit einer Angela Merkel haushoch überlegen zu sein scheint.

Die Kämpfe um mehr soziale Gerechtigkeit waren denjenigen, die gerade dem Diktat der angeblich totalen Gleichheit entkommen waren, fremd bis suspekt. Arbeitskämpfe und Rentendebatten müssen ihnen als Luxusproblem eines Systems erschienen sein, nach dem sie sich (ohne es genau zu kennen) oft ein Leben lang gesehnt hatten und in dem es ja in der Tat freier zuging als in der DDR. Dass Freiheit auch einen ermöglichenden Staat brauchen könnte, der die Teilhabe möglichst aller an dieser Freiheit gewährt, das war ihr Thema nicht. Und genau das einte sie mit den Strippenziehern des nach der Wende erst richtig aufblühenden Neoliberalismus – mögen ihre Gründe zunächst auch ganz andere gewesen sein.

Diese Anfälligkeit für die Agenda des Neoliberalismus eint ehemalige DDR-Bürger übrigens, erstaunlich genug, auch mit denjenigen Ex-Linken, die mit dem Aufstieg ins gutsituierte Bürgertum ihre früheren Überzeugungen vergaßen und verrieten. Zum Beispiel Cora Stephan, einst mit Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit Teil der Nach-68er-Spontiszene in Frankfurt am Main und bekannter als Krimiautorin unter dem Pseudonym Anne Chaplet. Sie hat sich inzwischen zu einer geradezu reaktionären Linkenhasserin verwandelt und fand sich unversehens in der Merkel’schen Fangemeinde wieder. »Ja, ich habe Angela Merkel gewählt, damals, 2005«17, bekennt Stephan in ihrem Buch Merkel. Ein Irrtum, denn: »Nicht nur ich hatte genug von (…) der stickigen Provinzialität grüner Rituale, von der verlogenen Romantik der ›sozialen Wärme‹, von der menschelnden Betroffenheitslyrik. Von dem gespreizten deutschen Selbsthass.«18 Also von allem, darf hinzugefügt werden, wofür die Autorin stand, bevor sie ihre persönliche Rechtswende zelebrierte. Da kam die Angela Merkel des Leipziger Parteitags gerade recht.

Aber wie bei Gertrud Höhler folgt auch bei Cora Stephan die Enttäuschung. Denn »dann war sie Kanzlerin. Und hat sich mehr und mehr als Frau entpuppt, deren Aufbruchswille irgendwo unterwegs verloren gegangen war. Wo waren Mut und Klarheit geblieben, der Geist und der Wille, neue Pfade einzuschlagen, die Kraft der Freiheit? Wo war die Frau, die (…) einen ›Befreiungsschlag‹ ankündigte?«19

Immerhin, einen Vorteil hat auch diese Tirade: Im national gefärbten und anti-sozialstaatlichen Furor gegen »deutschen Selbsthass« und »soziale Wärme« benennt Cora Stephan einige Elemente Merkel’scher Ideologie mit eben jener Klarheit, auf die die Kanzlerin so gern verzichtet. Und von deren Sieg sie sich 2005 so viel erwartet hatte.

Während Stephan und die anderen enttäuschten Rechten den Verlust dieser ideologischen Klarheit beklagen, zeigt sich die publizistische Fangemeinde genau darüber hoch erfreut – und fällt damit ihrerseits auf die Legende von der Kanzlerin der liberalen Mitte herein. Als Beispiel seien nur Autoren wie Matthias Geis und Bernd Ulrich genannt, die Woche für Woche im Politikressort der ZeitZeit