
Sie begann zu weinen. »Sie sagen, sie werden mich umbringen, wenn du ihnen nicht das Geld gibst. Bitte, Karsten, ich will hier raus, ich will zu dir zurück.« Es folgte ein dumpfes Geräusch, als ob jemand mit einem Hammer auf eine Melone schlagen würde. Nazaré schrie auf.
Georg Wilsberg freut sich seines Lebens als windelnwechselnder Hausmann und Vater. Er erledigt nur noch gelegentliche Routinejobs für eine Detektei. Telefonate mit Entführern, gescheiterte Geldübergaben, Nächte voller Alkohol und Kopfschmerz – all das glaubt Wilsberg hinter sich gelassen zu haben, bis ihn sein alter Kumpel Willi plötzlich um Hilfe bittet.
Jürgen Kehrer
Bären und Bullen
Kriminalroman
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© 2013 by GRAFIT Verlag GmbH
Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung
des Kriminalromans Jürgen Kehrer: Bären und Bullen
© 1996 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
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E-Mail:info@grafit.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagzeichnung: Peter Bucker
eISBN 978-3-89425-891-7
Jürgen Kehrer, geboren 1956 in Essen, lebt in Münster. Er ist der geistige Vater des Buch- und Fernsehdetektivs Georg Wilsberg. Neben bisher achtzehn Wilsberg-Krimis (zuletzt zus. mit Petra Würth: Todeszauber), verfasste er mehrere Wilsberg-Drehbücher, veröffentlichte historische Kriminalromane, Sachbücher zu realen Verbrechen, den Thriller Fürchte dich nicht! sowie zahlreiche Kurzgeschichten mit und ohne Wilsberg, von denen viele in Wilsbergs Welt nachzulesen sind.
www.juergen-kehrer.de
»Ach, wie gerne wäre
Ich im Klub der Millionäre.
Doch da kommt man nicht so einfach rein,
Da muss man schon Erfinder oder Schwerverbrecher sein.«
(Udo Lindenberg)
Diese Geschichte ist erfunden. Oder doch zumindest so wenig Abbildung der Wirklichkeit, dass niemand das Recht hat, sie für seine eigenen Verbrechen zu reklamieren.
Nazaré und Karsten hatten noch nicht die Gewohnheit aufgegeben, gemeinsam zu frühstücken. Allerdings hatten sich, seit den stürmischen Anfängen ihrer Beziehung, ein paar Veränderungen eingestellt. Sie versenkten ihre Blicke nicht mehr sekundenlang ineinander, nutzten auch nicht mehr den Griff zur Margarinedose für eine flüchtige Berührung des Gegenübers. Vielmehr las Karsten die Tageszeitung, mit Vorliebe den Wirtschaftsteil, während Nazaré in Gedanken einen Tagesplan aufstellte, von dem sie einige Punkte für sich behielt und andere Karsten mitteilte, wenn er mit einem energischen Ruck die Zeitung zusammenfaltete.
So war es auch an diesem Morgen, jedenfalls bis zu dem Moment, als Nazaré gegen die schräg nach oben gestellte Zeitung sagte: »Meine Mutter hat gestern angerufen.«
»Und?«, fragte Karsten, den Blick auf die Veränderungen der Börsenkurse gerichtet.
»Sie wollte wissen, wann wir heiraten.«
Karsten stöhnte und senkte die Zeitung so weit ab, dass Nazarés volles braunes Gesicht mit dem wild wuchernden Kraushaar am oberen Rand auftauchte. »Wir haben das doch schon ein Dutzend Mal besprochen. In ein paar Wochen habe ich genug Geld zusammen. Dann fahren wir nach Holland, fliegen nach Brasilien und heiraten. Es soll ein großes Fest werden. Ich möchte nicht auf jede Mark gucken.«
»Wie viele Wochen?« Nazaré schob die Oberlippe ein wenig vor.
»Fünf, sechs.«
»Das ist lang.«
»Ich tue mein Bestes. Gerade im Moment habe ich ein paar gute Kunden an der Angel. Da springen saftige Provisionen für mich heraus. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Nazaré widmete ihre volle Aufmerksamkeit einem mit halbrahmstufigen Frischkäse bestrichenen Toast.
Begleitet von einem erneuten Stöhnen legte Karsten die Zeitung beiseite. »Was hast du heute vor?«, fragte er in der Hoffnung, dass der vorgezogene Programmpunkt die unselige Heiratsdiskussion beenden würde.
»Einkaufen«, antwortete Nazaré mürrisch.
»Und was?«
»Lebensmittel. Wir haben kaum noch Vorräte im Haus. Und dann das schwarze Kleid.«
»Welches schwarze Kleid?«
Sie zog die Augenbrauen tadelnd zusammen. »Das schwarze Kleid, das ich dir neulich gezeigt habe.«
»Ach, das schwarze Kleid«, spielte er Erinnerung vor. »Eine gute Idee. Hast du genug Geld?«
»Ich glaube schon.«
»Hier!« Er zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und legte einen Hunderter auf den Tisch. »Für alle Fälle.«
Nazaré schob den Hunderter unter ihre Kaffeetasse, als wäre er ein feindliches Insekt. Doch aus der Tatsache, dass sie ihn nicht ablehnte, schloss Karsten beruhigt, dass sich ihre Laune ein wenig gebessert hatte.
Als Karsten am frühen Abend zurückkam, war Nazaré nicht da. Was ihn erstaunte, weil sie nie länger ausblieb, ohne es ihm vorher zu sagen. Ergebnislos suchte er die kleine Zweizimmerwohnung nach einer Nachricht ab. Etwas ratlos setzte er sich schließlich auf seinen Lieblingsplatz im Wohnzimmer, die Sofaecke, die den geradesten Blick auf den Fernseher gestattete. Er kannte Nazarés Freundinnen in der Stadt. Sie ließen sich an zwei Fingern abzählen. Aber sollte er wie ein eifersüchtiger Vater hinter ihr hertelefonieren? Hatte er das Frühstücksgespräch völlig falsch eingeschätzt?
Plötzlich kam ihm eine Idee. Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Einige kümmerliche Käsereste warteten auf ihr baldiges Ende. Nazaré hatte also nicht eingekauft. Karstens Gedanken begannen schneller zu kreisen, als das Telefon klingelte. Vor dem dritten Klingeln hatte er den Hörer in der Hand.
Es war nicht Nazaré. Eine Männerstimme sagte: »Wenn du sie zurückhaben willst, musst du zahlen.«
»Was?«
»Du hast richtig gehört. Für zweihunderttausend Mark erhältst du deine Freundin unversehrt zurück.« Der Anrufer kicherte. »Oder fast unversehrt.«
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«
»Frag lieber, was wir mit ihr machen werden, falls du nicht zahlst.«
»Ich habe nicht so viel Geld.«
»Dann treib es auf! Sie ist ein nettes Mädchen, weißt du. Es wäre schade, wenn sie so jung sterben müsste, wirklich schade.«
»Nein«, schrie Karsten. Und er wusste gleichzeitig, dass dies kein Argument war, nicht einmal der Hauch eines Argumentes, um den Mann auf der anderen Seite von seinem Plan abzubringen.
»Ach, übrigens«, sagte der Mann kalt, »das gleiche gilt für den Fall, dass du die Polizei einschaltest. Also lass es lieber!«
Dann war die Leitung tot, und Karsten hielt etwa zwanzig Sekunden lang den Hörer umklammert. Er hoffte verzweifelt, dass das alles nur ein Scherz war, ein gemeiner, hirnrissiger, makaberer, idiotischer Scherz. Und doch wusste er, dass der Anrufer die Wahrheit gesagt hatte. Nazaré war entführt worden. Ausgerechnet Nazaré.
Als er wieder denken konnte, wählte Karsten eine Telefonnummer.
So jedenfalls hat Karsten die Geschichte später erzählt.
Sarah lag, während ich sie wickelte, auf einer wertvollen Kirschbaumkommode aus dem neunzehnten Jahrhundert. Natürlich nicht direkt, sondern geschützt durch eine weiche, wasserundurchlässige Wickelunterlage. Die Kommode stammte, wie das meiste Mobiliar in unserer Wohnung, von Imkes Tante, die im vorigen Jahr, hochbetagt und kinderlos, die Welt der Lebenden verlassen und ihrer Vorzugsnichte eine komplette Villeneinrichtung hinterlassen hatte. Einige schöne Stücke hatten wir zu Geld gemacht, der Rest bevölkerte jetzt unsere geräumige Vierzimmeraltbauwohnung im Kreuzviertel. Auch wenn wir gehaltsmäßig nicht an die über und unter uns wohnenden Studienräte, Oberärztinnen und Rechtsanwälte heranreichten, einrichtungsmäßig waren wir voll akzeptierte Mitglieder des Akademikergettos.
Sarah machte das Wickeln großen Spaß. Sie juchzte in einem Ton, der entfernt an den Gesang von Buckelwalen erinnerte, und versuchte, mir einen Knopf vom Hemd zu reißen. Ich brabbelte meinerseits das Zeugs, das junge Väter auf der ganzen Welt brabbeln, und legte die braun gefärbte Pampers frei. Dann cremte ich den rosigen Kinderpopo ein und hob die strampelnden Beinchen an, um meinen kleinen Liebling für den nächsten Stuhlgang zu verpacken.
Genau in diesem Moment sandte Sarah einen kräftigen Strahl nach oben. Ich zuckte zurück, aber erstens zu spät und zweitens nicht weit genug, da ich sie gleichzeitig, einem archaischen Beschützerinstinkt folgend, mit einer Hand festhielt. Bogenförmig pladderte der Urin auf mein Hemd, und sofort spürte ich, wie die Feuchtigkeit bis zur Haut vordrang.
»Scheiße«, fluchte ich halblaut.
»Was ist los, Georg?« Imkes hypersensiblen Ohren entging nichts, was mit dem Kind zu tun hatte, und so stand sie zwei Sekunden später im Kinderzimmer.
»Sie hat mich vollgepinkelt«, sagte ich möglichst gefühlsneutral.
»Das macht sie doch nicht absichtlich«, sprang Imke ihrer Tochter zur Seite.
»Ich weiß, dass sie das nicht absichtlich macht«, antwortete ich ein wenig gereizt, »aber es ist schon das dritte Mal diese Woche. Bald habe ich keine fleckenfreien Hemden mehr.«
Die Tropfen ignorierend, die sich Richtung Bauchnabel abwärts bewegten, klappte ich mit strahlendem Gesicht die neue Pampers zu und stopfte Sarah in den Schlafanzug. Sie prustete entzückt, offensichtlich hatte sie von uns dreien die beste Laune.
»Sie machen das besonders gerne, wenn man ihnen die Windel abnimmt«, dozierte Imke. »Das ist ja auch verständlich, weil sie sich dann freier fühlen. Warum ziehst du keine Schürze über, so wie ich?«
»Weil ich Schürzen hasse. Kannst du sie mal einen Moment halten? Ich möchte mir was Trockenes anziehen.«
»Dann darfst du dich nicht beschweren, dass du keine Hemden mehr hast«, rief Imke mir nach. »Ich gebe ihr aber nicht das Fläschchen. Du bist dran.«
»Ich weiß«, rief ich zurück. »Außerdem bin ich gerade dabei, meine Einstellung gegenüber Schürzen zu überdenken.«
Imke war nach zwei Jahren Gefängnis entlassen worden. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft und wegen guter Führung hatte man ihr den Rest der fünfjährigen Haftstrafe erlassen. Insgesamt war sie recht glimpflich davongekommen, wenn man bedenkt, dass sie das Bistum Münster erpresst und den halben Turm der Lambertikirche in die Luft gesprengt hatte. In jenen Tagen hegten wir die ersten liebevollen Gefühle füreinander, auch wenn wir auf verschiedenen Seiten standen. Der Weihbischof hatte mich damals auserkoren, einer Erpresserbande die geforderten fünfhunderttausend Mark, wenngleich nur zum Schein, zu überbringen, während Imke als führendes Mitglied des Kommandos Jan van Leiden zu mir Kontakt hielt. Natürlich hatte ich versucht, sie von ihren unsinnigen Plänen abzubringen. Erfolglos, wie man sich denken kann. Aber bekanntlich leistet die Zeit die beste Überzeugungsarbeit. Inzwischen hielt Imke ihre antiklerikale Terrorphase für eine Jugendsünde, ohne deshalb in Versuchung zu kommen, die Sex- und Familienpolitik der katholischen Kirche für einen Akt der Menschenfreundlichkeit zu halten.
Sie hatte auch ihr Studium wieder aufgenommen und befand sich gerade mitten im Lernstress der Magisterprüfung. Das und unsere sechs Monate alte Tochter knabberten an dem schmalen Zeitbudget, das wir füreinander hatten. Viele schöne Dinge, die zwei Erwachsene miteinander treiben können – ich rede hier nicht nur vom Sex, sondern auch von so etwas Profanem wie einem Kino- oder Theaterbesuch –, verloren an Bedeutung. Dafür rammten sich andere Begriffe, die ich bis dahin nie benutzt hatte, wie Pfähle in meinen Tagesablauf. Sie lauteten: Fläschchen, Bäuerchen, Wickeln. Jede zweite Nacht war ich an der Reihe, mich aus der von klagendem Geheul perforierten Tiefschlafphase zu reißen, in die Küche zu wanken und, das halbwegs beruhigte Kind auf dem Arm, den nicht zu kalten und nicht zu heißen – bei Strafe weiteren Geschreis – Fläschcheninhalt in das liebliche Saugmaul zu befördern.
Nicht, dass Sarah kein Quell ständiger Freude für mich gewesen wäre. Nein, Sarah entschädigte mich für vieles, das mir in dieser Zeit möglicherweise entging. Doch manchen Tag verbrachte ich im bleiernen Dämmerzustand chronischen Schlafmangels.
Denn ganz nebenbei versuchte ich, ein bisschen zu arbeiten. Zwar half uns Imkes Vater mit einem großzügigen monatlichen Zuschuss, trotzdem waren wir auf Verdienste aus meiner detektivischen Tätigkeit angewiesen, um über die Runden zu kommen. Allerdings hatte ich mein Detektivbüro aufgeben müssen. Mit einem schreienden Kind auf dem Arm Zielpersonen zu beschatten, wäre auf die Dauer wenig effektiv gewesen. Vor allem aber: Wo sollte ich, wenn ich in meinem Auto vor einem tristen Reihenhaus oder einer muffigen Kneipe hockte, alle zwei bis drei Stunden ein warmes Fläschchen herbekommen? Denn die glasklare Vereinbarung zwischen Imke und mir lautete, dass ich Sarah übernahm, sobald Imke zur Uni ging. Und das tat sie fast jeden Tag.
Also brauchte ich einen Job, bei dem ich mir die Arbeit einteilen konnte und der nicht das Risiko plötzlicher Einsätze oder Überstunden mit sich brachte. Gefunden hatte ich ihn bei Sigi, meiner ehemaligen Sekretärin aus den Zeiten, in denen ich die Detektei am Prinzipalmarkt noch meine eigene nannte, und heutigen Alleingesellschafterin der Security Check GmbH. Bei der Sec Check, wie wir einfachen Angestellten den Laden unserer Chefin nannten, fielen eine Menge Routineaufträge an, Überprüfung von Warn- und Sicherheitssystemen, prophylaktisches Verhaltenstraining im Hinblick auf Raubüberfälle und so weiter. Inzwischen war ich Experte für derlei Sachen geworden, ich hatte meinen festen Klientenstamm, den ich regelmäßig abklapperte. Gelegentlich hielt ich auch Vorträge vor Kaufmannsvereinen, mittelständischen Vereinigungen oder Nachbarschaftsgruppen, wobei neben dem stattlichen Honorar in den meisten Fällen auch eine warme Mahlzeit für mich abfiel.
Ich hatte Sarah ins Bett gebracht, sie gestreichelt und besungen, und schließlich war sie glücklich eingeschlafen. Einigermaßen groggy ließ ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen und grapschte nach der Fernbedienung. Es war ein langer Tag gewesen. Gegen sechs Uhr hatte Sarah angefangen zu krähen, und ich hatte sie zu mir ins Bett geholt, in der Hoffnung, noch ein bisschen vor mich hindämmern zu können. Sarah war dieser Hoffnung durch eine kleine rechte Gerade auf mein linkes Auge zuvorgekommen. Anschließend versuchte sie herauszufinden, wie weit man meine Nase verbiegen kann.
Von da an war der Tag wie viele andere zuvor verlaufen. Zwischen Einkäufen mit Kinderwagen und Kinderwagenspazierfahrten ohne Einkäufe war ich mal kurz zu einem Uhrengeschäft auf der Salzstraße gehuscht, hatte die Elektronik der Sicherungssysteme gecheckt und ein Pläuschchen mit dem Filialleiter gehalten. Und das war’s dann auch schon, abgesehen von Fläschchen, Bäuerchen und Wickeln.
»Bitte lass den Fernseher aus!«, sagte Imke. »Ich muss lernen.«
Sie saß mir schräg gegenüber, umringt von einem Dutzend Bücher. Ich legte die Fernbedienung wieder beiseite. Ohnehin wollte ich nur mal kurz durch die Kanäle zappen, und das konnte ich fast genauso gut mit einem Blick in die Fernsehzeitschrift.
Es klingelte.
Imke schaute auf. »Erwartest du Besuch?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich auch nicht.«
Also ging ich zur Tür und öffnete. Es war Willi. Ich hatte ihn seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr gesehen, sein Bauchumfang imitierte Marlon Brando, und die spärlichen Haare versuchten vergeblich, die Kopfhaut zu bedecken, aber es war unverkennbar Willi.
»Hi!«, sagte Willi.
»Mensch, Willi!«, begrüßte ich meinen alten Kumpel, Schmieresteher und Geschäftspartner. »Das ist aber eine Überraschung. Komm rein!«
Imke raffte sich zu einem gefrorenen Lächeln auf und ihre Bücher zusammen. »Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich mich in mein Zimmer zurückziehe? Ich muss lernen.«
»Sie hat in zwei Wochen Prüfung«, erklärte ich den Abgang meiner Angetrauten. »Willst du was trinken? Ich habe allerdings nichts Alkoholisches im Haus.«
»Wie das?«, staunte Willi. »Du hast doch früher nicht ins Bier gespuckt.«
»Ich habe es eimerweise in mich hineingeschüttet und einiges Hochprozentiges obendrein. Irgendwann bleibt dir nur die Wahl zwischen völligem Suff oder totaler Trockenheit. Glücklicherweise habe ich mich für das Letzte entschieden. Sonst würde ich mein heutiges Leben mit einer sechs Monate alten Tochter nicht durchstehen.«
»Frau, Kind, teure Möbel. Georg, du bist ja richtig bürgerlich geworden.«
»Das da«, ich wies mit dem Kinn auf einen Mahagonischrank, »haben wir geerbt. Genauer gesagt, Imke hat es geerbt.«
»Sag mal, Imke ist das nicht die ... Ich hab’s in der Zeitung gelesen.«
»Dieselbe«, bestätigte ich.
Wir schwiegen einen Moment.
»Bist du nur gekommen ...« begann ich, während er gleichzeitig sagte: »Ich wollte wirklich nicht ...«
Wir lachten.
Imke steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Seid bitte leise! Ich möchte nicht, dass Sarah aufwacht.«
»Was hältst du davon, wenn wir in eine Kneipe gehen?«, schlug ich vor. »Dann können wir uns in Ruhe unterhalten, und du brauchst nicht an einem Wasserglas zu nippen.«
Willi grinste. »Um ehrlich zu sein, ziehe ich ein kühles Pils vor. Auch wenn ich«, er klopfte sich auf den Bauch, »die Rache der Bierindustrie mit mir herumschleppen muss.«
Ein Feuerteufel hatte der Cantina Argentina zu frisch verputzten Wänden und einer neuen Inneneinrichtung verholfen, die Steaks dagegen waren genauso zäh wie früher.
Willi und ich ergatterten die letzten freien Hocker am Ende der Theke. Willi bestellte ein Bier und ich einen Apfelsaft.
»Was machste denn jetzt so?«, fragte Willi. »Aus dem Detektivgeschäft bist du raus, oder?«
»Nicht ganz«, korrigierte ich. »Hauptberuflich bin ich Hausmann, nebenberuflich jobbe ich für Sigi.«
»Sigi Bach.« Willi spitzte anerkennend die Lippen. »Hat sich echt gemacht, die Frau.«
»Ja«, bestätigte ich nicht ohne Bitterkeit. »Inzwischen hat sie Filialen in Coesfeld, Burgsteinfurt und Borken.«
»Das könnte dein Laden sein, weißt du das?«
Ich lächelte gequält. »Besser als jeder andere. Es ist halt dumm gelaufen, wie die Fußballer sagen.« Gespräche über meine berufliche Vergangenheit brachten mich an den Rand des Trübsinns. »Und du?«, schaltete ich auf fröhlich. »Was treibst du so?« Es war mir nicht entgangen, dass das gute alte Secondhandkaufhaus, in dem Willi anfänglich als mein Geschäftsführer und dann als Besitzer gewirkt hatte, einem schicken neuen Parkhaus gewichen war.
»Ich habe völlig umgesattelt. Die Kleiderbranche kotzte mich an. Der andere Kram auch.«
»Meine Briefmarken«, warf ich ein.
»Tote Hose, absolut tote Hose«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wer kauft heutzutage noch Briefmarken? Und dann diese Typen, die uns für die Kleiderkammer des Roten Kreuzes hielten. Belaberten die Verkäuferinnen eine halbe Stunde lang, ihnen ein Zwanzig-Mark-Jackett für fünfzehn zu überlassen. Wo bleibt da der Profit? Glaub mir, es macht keinen Spaß, wenn deine Kundschaft aus Leuten besteht, die vom Arbeitsleben dreimal durchgekaut und wieder ausgespuckt worden sind. Das blanke Elend. Ich war drauf und dran, beim Arbeitsamt eine ABM-Stelle für einen Psychologen zu beantragen, der mit den fertigsten Figuren im Nebenraum einen Schnellkurs in Überlebenstraining absolviert.«
Willi nahm einen tiefen Schluck. »Zum Schluss haben wir alles kiloweise verramscht. Totalausverkauf. Und finito.« Sein linkes Auge zuckte. Ein Tick, den ich bei ihm früher nicht bemerkt hatte.
»Aber jetzt«, er bleckte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen, »rollt der Rubel. Ich bin ins Investmentgeschäft eingestiegen. Anlageberatung und so. Top-Kundschaft. Die reichen zehn-, zwanzig- oder fünfzigtausend Mark rüber, ohne mit der Wimper zu zucken.«
Ich schielte auf seinen mindestens tausend Mark teuren Boss-Anzug. »Du bist also aus dem Schneider?«
»Sozusagen.« Willi seufzte. »Georg, ich bin nicht ganz zufällig vorbeigekommen.«
Ich nickte. »Hab ich mir gedacht.«
»Es geht nicht um mich. Ein Angestellter von mir, aus der Cominvest ...«
»Deine Anlageberatungsfirma.«
»Richtig. Also, um es kurz zu sagen, seine Freundin ist entführt worden.«
»Und er will nicht zur Polizei gehen, weil die Entführer gesagt haben, sie würden sie sonst umbringen.«
»Auch richtig.«
»Kalter Kaffee. Das sagen sie immer, schon weil sie es im Fernsehen so gehört haben. Tatsächlich ist es das Sinnvollste, die Bullen einzuschalten. Die haben das technische Gerät und das nötige Personal, um die Typen zu schnappen und die Frau zu befreien. Ich kenne da einen guten Mann im Polizeipräsidium ...«
»Warte mal!«, unterbrach mich Willi. »Es gibt nämlich noch ein anderes Problem. Die Frau ist illegal hier. Brasilianerin. Kam mit einem Touristenvisum, das längst abgelaufen ist.«
»Warum haben die beiden nicht geheiratet?«
»Wollten sie ja, aber irgendetwas kam immer dazwischen. Frag mich nicht. Auf jeden Fall möchte er die Sache ohne Polizei durchziehen, und er hat mich gebeten, ihm das geforderte Lösegeld zu leihen. Was soll ich machen? Ich kann ihn ja nicht einfach hängen lassen. Meine einzige Bedingung war, dass wir dich hinzuziehen, als Berater im Hintergrund. Georg, du musst uns helfen. In Münster kenne ich sonst niemanden, dem ich vertrauen kann. Gegen cash, natürlich. Ich bezahle dein normales Honorar.«
»Dreihundert Mark pro Tag, plus Spesen«, sagte ich.
Er zuckte nicht einmal zusammen. »Geht in Ordnung.«
Ich schaute auf meine Armbanduhr. »Ich bin kein Entführungsexperte, sieht man mal davon ab, dass ich selbst ein paar Mal gekidnappt worden bin. Also los, lass uns keine Zeit verlieren!«
Karsten Eichinger machte einen relativ gefassten Eindruck. Er rannte nicht kopflos durch die Wohnung, und er hatte sich auch nicht sinnlos betrunken, zwei gute Voraussetzungen, die Nacht ohne Kreislaufzusammenbruch und Notarzt über die Bühne zu bringen.
Ich bat ihn, mir chronologisch alles zu erzählen, was an diesem Tag geschehen war.
Als er mit seinem Bericht fertig war, fragte ich: »Es gab nur diesen einen Anruf?«
»Ja.«
»Und der Entführer hat nicht gesagt, wann er sich wieder meldet?«
»Nein.«
Ich überlegte. »Herr Eichinger ...«
»Karsten.«
»Okay, Karsten. Ich muss dich jetzt etwas fragen, was dich möglicherweise wütend machen wird. Trotzdem möchte ich dich bitten, in aller Ruhe darüber nachzudenken.«
»Frag!«
»Wäre es denkbar, dass Nazaré die Entführung selbst inszeniert hat? Zum Beispiel, weil sie darüber enttäuscht ist, dass du sie noch nicht geheiratet hast. Die Geldforderung könnte dann eine Art Rache sein.«
Seine Pupillen verengten sich, und die schmalen Wangen wurden weißlich fahl. Dann lächelte er verkrampft. »Du kennst Nazaré nicht. Entschuldige, einen Moment lang wollte ich dir tatsächlich eine runterhauen. Aber du hast recht. Theoretisch gibt es diese Möglichkeit, nur praktisch nicht. Nazaré würde so etwas nie tun.«
»Gut. Schließen wir das Denkmodell vorläufig aus. Das Wichtigste ist jetzt, dass wir ein Lebenszeichen von Nazaré bekommen. Beim nächsten Anruf des Entführers verlangst du, mit ihr zu sprechen. Falls er dich abwimmeln will oder droht, bleibst du hart. Ohne zu wissen, dass ...«, ich stockte, »... es ihr gut geht, gibt’s kein Geld.«
Er nickte. »Kapiert. Du meinst, sie könnte bereits tot sein.«
Karsten hatte mich durchschaut. »Leider kommt es manchmal vor, dass der oder die Täter sich erst im Nachhinein überlegen, es wie eine Entführung aussehen zu lassen. Sinnvoll ist es in jedem Fall. Die Entführer müssen akzeptieren, dass sie nur dann Geld sehen, wenn Nazaré am Leben bleibt.«
Er dachte nach. »Das gilt allerdings nur bis zur Geldübergabe.«
Das war der kritische Punkt. »Stimmt. Deshalb solltest du nicht zu allem Ja sagen, was die Entführer verlangen. Vor allem dürfen wir ihnen nicht das Szenario der Übergabe überlassen. Am besten, wir machen daraus ein Schritt-für-Schritt-Geschäft. Das heißt, das Geld wird erst hinterlegt, wenn du Nazaré siehst, noch besser, wenn sie bei dir ist.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die sich darauf einlassen. Sie werden vermuten, dass wir sie mit alten Zeitungen abspeisen wollen.«
»Durchaus denkbar«, gab ich zu. »Aber auch nicht tragisch. Wenn wir sie auf der Schiene haben, mit uns über den Modus zu verhandeln, kann ein halbwegs sicherer Kompromiss dabei herausspringen. Etwa so: Das Geld wird an einem beleuchteten, überschaubaren Platz abgestellt. Einer der Entführer kommt und prüft die Summe. Er muss denken, dass wir ihn im Visier haben, sodass er nicht einfach den Koffer nehmen und abhauen kann. Nachdem er sich davon überzeugt hat, dass wir ihn nicht übers Ohr hauen wollen, zieht er sich wieder zurück. Beim nächsten Mal hat er Nazaré dabei. Er schnappt sich den Koffer, und sie rennt los. Ende der Aktion.«
Karsten seufzte. »Hoffentlich klappt’s. Du hättest den Typen hören sollen. Ein absolut fieses Arschloch.«
»Rein statistisch gesehen sind die meisten Kidnapper absolut fiese Arschlöcher. Aber sie wollen etwas, was wir haben, nämlich Geld. Und das ist unser Druckmittel.«
Sein Unterkiefer begann zu zucken. Er rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht«, presste er hervor, »ob ich das schaffe. Wenn die sagen, dass sie Nazaré umbringen, kann ich doch nicht ... Ich meine, ich bring das nicht, den Coolen zu spielen.«
»Dann lass mich mit ihnen reden«, schlug ich vor.
»Nein, nein«, sagte er hastig. »Sie könnten dich für einen Bullen halten.«
Ich schaute Willi an, aber Willi zuckte nur mit den Schultern.