Jürgen Manemann

Wie wir gut zusammen leben

11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik

Patmos Verlag

Für Birgit

INHALT

Vorwort

I.
Politik setzt die Fähigkeit des Zuhörens voraus.

II.
Kultur ist der neue Name für Politik.

III.
Politik ist keine Klientelpolitik.

IV.
Politik wurzelt in der Verschiedenheit der Menschen.

V.
Die Ethik der Machtpolitik ist die Ordnung.

VI.
Die Ethik der Bürgerpolitik ist die Veränderung.

VII.
Gerechtigkeit ist das Fundament der Politik.

VIII.
Leidempfindlichkeit ist die Bedingung aller Politik.

IX.
Krieg ist kein Mittel der Politik.

X.
Politik braucht demütige Politiker.

XI.
Politik ist die Kunst des Unmöglichen.

Nachwort

Bibliografie

Vorwort

Wir erleben gegenwärtig eine Rückkehr der Politik. Diese Rückkehr irritiert, hatte man sie doch nicht mehr für möglich gehalten.

Seit den 1980er-Jahren macht der Begriff der Politikverdrossenheit die Runde. Die Diagnose der Politikverdrossenheit bezieht sich nicht auf die Politiker, sondern wird von Politikern auf den Souverän der Verfassung bezogen, auf das Volk, genauer auf einen Teil des Volkes, nämlich auf die Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht mehr an Wahlen beteiligen und sich nicht mehr für Politik interessieren. Und in der Tat: Die Politikverdrossenheit wächst. Die Zahl der Nichtwähler nimmt von Wahl zu Wahl zu. Dennoch beginnt sich etwas zu ändern, und das nicht unter der Oberfläche, versteckt, sondern vor unseren Augen: Die überraschende Bürgerbewegung »Stuttgart 21«, der Erfolg der Piraten-Partei und die Occupy-Bewegung sind erste Anzeichen dafür, dass der Souverän sich zurückmeldet und die ihm aus der Hand genommene Macht zurückverlangt. Selbst wenn es sich hierbei um vorübergehende Erscheinungen handeln sollte, so ist das politische Signal, das von ihnen ausgegangen ist, nicht mehr zu leugnen.

Es gibt ein neues Interesse an Politik. Und das hat Folgen: für die Politiker und für die Politik. Aus Wahlbürgern werden Aktivbürger. Im Zuge dieser Veränderungen verkehrt sich die Situation: Aus den Anklägern von einst, den Politikern, werden die Angeklagten von heute. Die Debatte über die Politikverdrossenheit kippt um in eine Debatte über Politikerverdrossenheit. Im Wahlvolk nehmen der Frust und der Zorn über seine Repräsentanten zu, Vertrauen schwindet. Es gibt also ein neues Interesse an Politik. Aber gibt es auch eine neue Politik?

Dieses Buch will dazu anregen, sich innerhalb dieser politischen Umbrüche auch mit neuen Ideen von Politik einzubringen. Es richtet sich an eine Leserschaft, die politisch interessiert und engagiert ist und Lust hat, neue Wege zu gehen und diese auch zu reflektieren.

Um der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit willen wurde auf einen Anmerkungsapparat verzichtet. Bibliografische Informationen zu den angeführten Autorinnen und Autoren sind am Ende des Buches aufgeführt.

Jürgen Manemann

I.

Politik setzt die Fähigkeit des Zuhörens voraus.

Wenn wir heute von der Rückkehr der Politik sprechen, dann darf diese nicht verwechselt werden mit der Rückkehr eines schon Bekannten. Die Politik von heute ist nicht identisch mit der Politik von gestern. Viele Zeitgenossen, insbesondere Vertreter und Anhänger der Piraten-Partei, sehen die neue Herausforderung der Politik in einem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Jürgen Habermas). Die Netzgemeinde ist für sie der Ort, an dem Politik betrieben und entschieden wird. Die Revolutionierung der Politik besteht für sie in der Digitalisierung der Politik. Schaut man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass die gegenwärtige Rückkehr der Politik zwar durchaus von diesen neuen Formen der Kommunikation unterstützt, teilweise sogar durch sie digital initiiert wird. Aber trotz dieser Formen der Digitalisierung ist Politik alles andere als virtuell. Das verkennen die Piraten. Mit ihrer Konzentration auf die neuen Kommunikationstechniken nehmen sie das Entscheidende in den politischen Prozessen nicht wahr. Das Neue an der Politik ist nämlich etwas sehr Altes. Warum?

Seit den Hochzeiten der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren sind die öffentlichen Plätze weitestgehend aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden – sieht man einmal von den Großdemontrationen der Anti-AKW-Bewegung ab. Gegenwärtig ist Politik jedoch wieder mit realen Orten verbunden, mit öffentlichen Plätzen. Bereits in der Polis, dem antiken Staat der Griechen, war der öffentliche Platz – die agora – der schlechthinnige Ort der Politik. Der New York Times-Journalist Michael Kimmelman vermerkt zu Recht, dass die politische Macht öffentlicher Plätze lange Zeit unterschätzt worden ist. Seit den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und im Zuccotti-Park in New York hat sich allerdings die Wahrnehmung verändert. Kimmelman interpretiert diesen Wandel als Rückkehr zum Ursprung der Politik. Er sieht sogar in den vielfältigen Kommunikationsformen im Zuccotti-Park eine Rückkehr zur Polis en miniature. Erinnern wir uns:

Im September 2011 wurde der Zuccoti-Park in New York okkupiert. Die Ortswahl war alles andere als beliebig. Der Zuccotti-Park gehört zu den Freiflächen, die Unternehmen in New York bereitstellen müssen, wenn sie ihr Gebäude in die Höhe aufstocken wollen. Benannt nach dem Vorstandsvorsitzenden der United Steel Corporation ist der Park zwar ein Park für die Bürger, aber er ist kein öffentlicher Park, für den städtische Verordnungen gelten. Ebenso wenig ist er ein Park, der bloßen Eigentümerrechten unterliegt. Während nun Kimmelman die Besetzung dieses Ortes beobachtete, musste er an den Philosophen denken, dem wir das Wort »Politik« verdanken: Aristoteles (384–322 v. Chr.). Dieser schrieb sein Buch »Politik« 350 v. Chr. Kimmelman fühlte sich an die griechischen Volksversammlungen erinnert, als er sah, wie die Demonstranten im Zuccotti-Park eine ihrer allgemeinen Versammlungen abhielten. Schon Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass die Größe einer idealen Polis durch die Möglichkeit begrenzt wird, den Schrei des Herolds zu vernehmen. Für Aristoteles war die menschliche Stimme direkt mit der zivilen Ordnung verbunden. Demgemäß erfordert eine aktive Bürgerschaft in einer echten Stadt eine Verständigung von Angesicht zu Angesicht. Sich an die Gedanken von Aristoteles erinnernd, avanciert der Zuccotti-Park für Kimmelman zu einer solchen Polis im Kleinen. Es ist vor allem die Praxis sogenannter mic checks, die diese Verbindung bei ihm aufblitzen lässt.

Nun, was hat man sich unter dieser Praxis vorzustellen? Kimmelman berichtet davon, dass die Polizei den Gebrauch von Megafon untersagt hatte. Alternativ erfanden die Protestler die mic checks. Mic checks steht gewöhnlich als Abkürzung für Mikrofonproben. Während der Besetzung des Parks bezeichnen mic checks die Verbreitung von Verlautbarungen. Darüber hinaus wurden mic checks zum Instrument des Konsenses. Verlautbarungen wurden dadurch unter das Volk gebracht, dass man wiederholte, was ein Redner vortrug, und zwar Phrase für Phrase. Es war, so hebt Kimmelman hervor, als sprächen alle mit einer Stimme. Die Wiederholungen waren akribisch genau und gingen sehr langsam vonstatten. Nun stellte sich während dieser lautverstärkenden Praxis eine besondere Erfahrung ein, denn die mic checks erforderten, dass man anderen sehr genau zuhört, weil man das Gesagte ja exakt wiederholen musste. In den Gesprächen mit jungen Demonstranten wurde Kimmelman bewusst, welche Bedeutung diese Praxis für sie jeweils persönlich hatte. Viele junge Menschen machten zum ersten Mal die Erfahrung, was es heißt, zuzuhören. Dadurch wurde ihnen bewusst, so fährt Kimmelman fort, dass sie eine Fähigkeit besitzen, die sie sich selbst schon gar nicht mehr zugetraut hatten, da sie ihnen immer wieder abgesprochen wurde: sich auf etwas konzentrieren zu können. Und noch etwas erfuhren die Demonstranten: was Verstehen heißt.

Diese Erfahrungen sind für die Fortdauer einer Demokratie von großer Bedeutung. Die modernen politischen Institutionen sind nämlich keine nach bloßen Regelwerken ablaufenden Apparate. Sie leben von dem kommunikativen In- und Output, den die Bürgerinnen und Bürger in sie stecken. Ohne diese Energien geht den demokratischen Institutionen der Atem aus. Motor der Kommunikation ist die immer wieder neue Infragestellung von eingefahrenen Prozeduren, Sicht- und Handlungsweisen. Darin besteht die Herausforderung der Demokratie.

Demokratische Gesellschaften gründen in Praktiken gegenseitiger Anerkennung. Die Protestler in der Occupy-Bewegung erfahren sich nicht als eine anonyme Masse − so wurden sie häufig in den Medien charakterisiert −, sie entdecken sich als eine eigene Menge, als Menschen mit ähnlichen Interessen. Praktiken gegenseitiger Anerkennung beruhen auf bestimmten Grundfähigkeiten. Die Philosophin Martha C. Nussmann nennt folgende:

»die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen, verschiedene soziale Kontakte zu pflegen; […] sich die Situation eines anderen Menschen vorzustellen und Mitleid zu empfinden; […] Gerechtigkeit zu üben und Freundschaften zu pflegen«.

Fehlen diese Grundfähigkeiten, ist Politik gefährdet.

II.

Kultur ist der neue Name für Politik.

Burn-out«, »Depression« – Begriffe, die mittlerweile fester Bestandteil unserer Alltagssprache sind. Jeder von uns kennt Menschen, die darunter leiden.

»Burn-out«, »Depression« – mit diesen Begriffen werden nicht bloß individuelle Leiden diagnostiziert. Es handelt sich um Begriffe, die gesellschaftsdiagnostische Relevanz besitzen.

Angesichts massenhafter Ermüdungs- und Lähmungserscheinungen müssen wir die Frage stellen, ob unsere Gesellschaft Menschen krank macht.

Immer mehr Menschen, vor allem junge, verlieren die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Die Folgen sind Depressionen und Suizide. Manch einer mag sich fragen, ob diese Diagnose nicht allzu pessimistisch sei, gebe es doch viele Hinweise dafür, dass die Jugendlichen leistungsbereit, ehrgeizig und optimistisch seien. Und in der Tat: Viele Jugendliche wollen etwas aus sich machen. Sie schätzen Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Optimismus. Solche Einstellungen stehen für ein erfolgsorientiertes Handeln. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Wenn aber Jugendliche nur noch diese von der Gesellschaft prämierten Vor- und Einstellungen widerspiegeln, dann läuft etwas falsch. Jugend steht für Zukunft, und Zukunft muss immer auch etwas anderes sein, als das, was die Gegenwart ist. Eine Jugend ohne Wünsche, ohne den Gedanken, es möge doch anders werden, ist eine Jugend, der der Gedanke der Zukunft abhandengekommen ist. Eine solche Jugend hat ihre Jugendlichkeit verloren. Dieser Verlust der Jugendlichkeit steht aber mitnichten für Reife, dafür, dass Jugendliche bereits erwachsen geworden sind. Im Gegenteil, es steht zu befürchten, dass die Jugendlichen im Kindsein stecken bleiben. Warum?