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Christian Feldmann

Gottes sanfter Rebell

Christian Feldmann

Gottes sanfter Rebell

Joseph Kentenich
und seine Vision von einer neuen Welt

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Umschlaggestaltung:

Kluck, Höhr-Grenzhausen

Bearbeitung der Fotos:

Thomas Zehnder, Atelier Hostrup, Stuttgart

 

Hildegard Hug, Vallendar

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN 978-3-87620-402-4

Inhalt

Einführung

I DIE KRISE:
Eine Idee von Gott kann man nicht lieben

Breschnew und die Himmelfahrtsprozession

Die Madonna und der kleine Ausreißer

Eine „Bürgerinitiative“ von Missionaren

Beinahe hätte man ihn nicht zum Priester geweiht

„Selbstvernichtung“ als Programm und die große Krise

„Wir sind Hungerkünstler auf dem Gebiet der Liebe“

Der Glaube muss im Herzen wurzeln

II DIE IDEE:
Ein „Liebesbündnis“ soll die Herzen verwandeln

Lateinstunden und Zuchthausgottesdienste

„Wir müssen freie Charaktere sein!“

Eine Schülergruppe und eine langweilige Predigt

III DAS WERK:
In „kleinster Kleinarbeit“ den neuen Menschen formen

Eine blutjunge „wunderbare Mutter“

„Wir brauchen neue Heilige!“

Begeisterte Arbeit als Medizin

„Nicht ängstlich, aber vernünftig“: Pater Kentenich und die Frauen

IV DER TRAUM:
Eine neue Zeit braucht neue Formen von Kirche

„Werktagsheiligkeit“: Gott im ganz normalen Leben finden

Ein neues Bild von Kirche

„Oasen“ als Vorgriff auf die neue Welt

V DER MENSCH:
Vor Gott gibt es nur Geschwister

Wie man den KZ-Bunker übersteht

Er bluffte, ohne rot zu werden

„Auf einmal war er ein junger Mann“

Ein Weihnachtsmann in Milwaukee

Lernfähiger Menschenführer

VI DIE VISION:
Das Christentum als Seele einer neuen Weltkultur

„Eine alte Welt ist am Verbrennen“

Mutig die äußeren Bastionen schleifen

„Ich bin Gottes Lieblingsbeschäftigung“

Glaube verlangt den „Todessprung“

Bankersprache am Heiligtum – und die Poesie eines Verliebten

Maria, Gottes „konkretes Du“

VII DIE PRÜFUNG:
Wie man die Hölle von Dachau zum Himmel macht

Gründungen wie am Fließband

„Hitler kann man nicht taufen“

„Ich will mich nicht drücken“

KZ-Häftling Nummer 29392

Ein Stück Menschenwürde in der Hölle

Die „Schönstatt-Internationale“: „Unser Herz gehört allen Nationen“

Eine Torte voller Briefe und ein Gedicht mit 5870 Strophen

VIII DAS EXIL:
Verbannt, weil unverstanden

Gott und der amerikanische Kapitalismus

„Ich will die Bischöfe reizen!“

Das Verbannungsurteil stand schon fest

„Als habe er Gott selbst erlebt“

„Ohne das Konzil wären Sie nie verstanden worden!“

Kirche in der „Pubertätskrise“

IX DAS ERBE:
Hundert kleine „Schönstatts“, um Kirche und Welt zu retten

Die Sehnsucht nach dem Unendlichen

Einführung

Ich bin kein Schönstätter.

Als ich Bücher über spirituelle Leitfiguren unserer Zeit schrieb, Frère Roger und Madeleine Delbrêl, Edith Stein oder Papst Johannes Paul II., stieß ich zwar immer wieder einmal auf Pater Kentenich, aber er hat mich nicht sonderlich interessiert.

Ein liebenswürdiger alter Mann mit einem mächtigen weißen Bart, einer schrecklich altmodischen Sprache und merkwürdigen Vorstellungen: Maria als „amtliche Schlangenzertreterin“, der man ein „Gnadenkapital“ aus Gebeten und frommen Werken zur Verfügung stellen soll, damit sie in einem Kapellchen am Rhein „ihren Thron aufschlägt“ und von hier aus die aus der Bahn geratene Welt wieder in die Balance bringt. Was sollte man heute damit anfangen?

Dann versuchte mich Pater Rudolf Ammann vom Patris Verlag für eine Biographie des Schönstatt-Gründers zu begeistern. Um mit einer überzeugenden Begründung ablehnen zu können, befasste ich mich zum ersten Mal näher mit Joseph Kentenich – und war zunehmend fasziniert.

Ich begegnete einem leidenschaftlich in den guten Gott und gleichzeitig in alle verzweifelten, enttäuschten, um sich selbst kreisenden Menschen verliebten Priester, der die müde Hoffnungslosigkeit der zeitgenössischen Christenheit einfach mit seiner stürmischen Begeisterung überrollte. Der sich nicht mit zaghaften Plänen für heute zufrieden gab, sondern gleich vom „Übermorgen“ träumte, von einer wieder jung gewordenen Kirche mit strahlendem Gesicht, von einem neuen Menschen und einer gerechten, friedlichen Weltgesellschaft.

Wie gelang es diesem nicht sehr robusten Priester, KZ und Dunkelhaft, die demütigende Verbannung durch römische Behörden und vierzehn Jahre im Exil ohne Verbitterung zu überstehen und immer nur lächelnd vom „Vorsehungsglauben“ zu reden? Wo nahm dieser alte Mann seine Kraft her?

Dies ist die atemberaubende Liebesgeschichte zwischen Gott und dem Menschen Joseph Kentenich.

I DIE KRISE:

Eine Idee von Gott kann man nicht lieben

„Von jetzt ab vergiss mich!“

Das Leben des Priesters Kentenich, der vielen als Paradebeispiel eines modernen Heiligen gilt, begann mit einem ganz alltäglichen Skandal: Sein Vater ließ die Mutter sitzen, als sie schwanger geworden war. Nach den spärlichen Überlieferungen ist er kein übler Zeitgenosse gewesen, Kleinbauer, Bienenzüchter, Gemeinderat und von solidem Lebenswandel: Im Wirtshaus trank er jedes Mal nur ein Gläschen Schnaps, und pünktlich um neun Uhr abends machte er sich auf den Heimweg.

Doch heiraten wollte Matthias Joseph Koep (44) die ebenfalls aus dem Kleineleutemilieu stammende Katharina Kentenich (22) nicht; vielleicht fühlte er sich – für damalige Begriffe – auch schon zu alt für eine Ehe. Katharina gab dem am 18. November 1885 im rheinischen Gymnich geborenen Söhnchen zwar in einer zärtlichen Anwandlung den zweiten Vornamen des feigen Herrn Papa, schlug sich aber tapfer alleine durch, als Haushaltshilfe in der Kölner Gegend und in Straßburg. Um den kleinen Peter Joseph kümmerten sich derweil ihre Eltern: herzensgute Leute, die zu ihren sechs eigenen Kindern ein bettelarmes Mädchen adoptiert hatten. Der Großvater starb allerdings, als Joseph erst drei Jahre alt war.

Breschnew und die Himmelfahrtsprozession

Gymnich, zwanzig Kilometer von Köln an der Erft gelegen und heute in der Großgemeinde Erftstadt aufgegangen, war damals ein kleines Dorf mit großer Geschichte: gegründet in der Römerzeit, benannt nach der dort stationierten Legio Gemina, ausgestattet mit einer hübschen Zwiebelturmkirche und einem Renaissanceschloss, in dem die Bonner Regierung ihre Staatsgäste einquartierte. Ganz in der Nähe, in Zülpich, besiegte der Merowinger Chlodwig 496 die Alemannen, worauf er sich zum Dank für himmlische Hilfe taufen ließ und das christliche Frankenreich gründete.

Als im Mai 1978 der russische Staatschef Leonid Breschnew die Bundesrepublik besuchte und im Schloss Gymnich residierte, verlangte die Bundesregierung vom Gymnicher Stadtrat, die traditionelle Reiterprozession an Christi Himmelfahrt zu verschieben. Die selbstbewussten Gymnicher lehnten das mit der Begründung ab, sogar unter den Nazis habe der fromme Ritt immer pünktlich stattgefunden. Bonn musste klein beigeben, und Breschnew wurde auf einer holprigen Seitenstraße in das Schloss geleitet.

Von Josephs Mutter Katharina existiert eine einzige schlechte Fotografie, man weiß wenig von ihr. Aber für sein Leben, seine Spiritualität, seine stürmische Marienliebe war die Mutterbindung entscheidend – nicht nur im positiven Sinn. Sie bezeichnete ihn, als er schon Priester geworden war, als ihr „größtes Erdenglück“ und versprach ihm treuherzig: „Ich helfe Dir durch Gebet und gutes Betragen.“ Pater Kentenich wiederum vertraute einem Mitbruder an, die Mutter habe „wohl den größten Anteil an meinen seelsorgerlichen Erfolgen“.

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Es gibt die Theorie, gut katholische Mütter hätten ihre vergötterten Söhne früher gern in den Priesterberuf hineingedrängt, um die Kontrolle über das geliebte Kind nicht zu verlieren und – neben der fernen Gottesmutter – die einzige Frau in seinem Leben zu bleiben. Mag sein; bei Kentenich liegt die Sache nicht so einfach. Denn als vierzehnjähriger Gymnasiast kämpft er in einem zwangsläufig pubertär schwülstig formulierten Gedicht um seine Berufung – und mit „der Mutter Widerspruch“:

„Mögst meiner Mutter Sinn du lenken,
die ich nicht gerne möchte kränken,
auf dass sie mich gewähren lass.“

Die Madonna und der kleine Ausreißer

Die tröstende Geborgenheit in der Mutterliebe, die er als Kind erfahren, und die schmerzliche Suche nach der Nähe des Vaters, die er vermisst hat, wird sein ganzes Leben prägen. Als Katharina Kentenich ihren achtjährigen Liebling 1894 dem Waisenhaus St. Vinzenz in Oberhausen anvertraut, weil sie sich vor lauter Arbeit einfach nicht mehr um ihn kümmern kann und die Großmutter alt und müde geworden ist, hat Joseph vor der Marienstatue in der Kapelle des Waisenhauses ein Schlüsselerlebnis:

Seine Mutter hat eine Kostbarkeit aus ihren ärmlichen Habseligkeiten mitgebracht, ein goldenes Kettchen mit einem kleinen Kreuz, das ihr einst die Patin zur Erstkommunion geschenkt hat. Das hängt sie jetzt der Madonna, die das frische Gesicht einer Bauerntochter hat und ein freundlich die Ärmchen ausstreckendes Jesuskind präsentiert, um den Hals und bittet sie in schlichten Worten, von nun an die Erziehung ihres Söhnchens zu übernehmen. Irdische und himmlische Mutter treffen sich in der Sorge um den kleinen Mann, der sich an diesem Tag sehr wichtig, unendlich geliebt und doppelt behütet gefühlt haben muss – und gleichzeitig einen rasenden Trennungsschmerz erlebt: Mein Vater will nichts von mir wissen, und jetzt gibt mich auch noch die Mutter weg!

Das Waisenhaus, mitgegründet vom Kölner Pfarrer August Savels, Frau Kentenichs Beichtvater, genießt einen guten Ruf. Rund zweihundert Kinder wohnen hier, besuchen die integrierte zweiklassige Volksschule. Das Heim ist sauber, die Sitten sind streng, aber nicht unmenschlich: Schuhe trägt man nur am Sonntag, um das Leder zu schonen, und Fleisch gibt es auch nur am Sonntag – wie in vielen Familien, die sparen müssen.

Ob aus Freiheitsdrang oder Heimweh: Joseph reißt zweimal aus. Bei einem dieser Fluchtversuche wird er von der Polizei an seiner Schuluniform erkannt und ins Waisenhaus zurückgebracht; natürlich schämt er sich schrecklich. Er scheint überhaupt ein erfrischend normaler Bengel gewesen zu sein. Das Lernen machte ihm Spaß und fiel ihm leicht (neunmal „sehr gut“ und viermal „gut“ im Abschlusszeugnis der Volksschule), aber den damals üblichen Drill mit Auswendiglernen und ständigem Stillsitzen hasste er.

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Aus seinen Gymnicher Kindertagen ist die Geschichte überliefert, wie er eines Tages mit ein paar Freunden heimlich den Kirchturm zum Glockenstuhl hochstieg. Der Pfarrer bemerkte die ungebetenen Gäste im Glockenturm und verschloss ebenso heimlich das Türchen, um ihnen beim Herunterklettern eine Lektion zu erteilen. Doch als die Jungs die Turmtür versperrt fanden, liefen sie kurzentschlossen über den Speicher des Kirchenschiffs zum Chor, wo sich über dem Altar eine kreisrunde Öffnung befand. An den Altarsäulen ließen sie sich dann wie Feuerwehrleute auf den Altartisch herunter und gelangten unbemerkt ins Freie.

Solche Geschichten klingen überzeugender als die unvermeidlichen Heiligenlegenden von dem kleinen Engel, den eine Ordensschwester zur Strafe für zehn Minuten ins Badezimmer sperrte: Als sie die Tür wieder öffnete, fand sie das Kind angeblich bewegungslos kniend und im Gebet versunken. Und natürlich überstand das kleine Josephchen alle möglichen Unglücksfälle wie den Sturz in einen Brunnen oder den Angriff einer wildgewordenen Kuh ohne ernsthafte Blessuren.

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Dass er Priester werden will, weiß Joseph Peter Kentenich jedenfalls schon als Elfjähriger; bei seiner Erstkommunion 1897 im Waisenhaus spricht er zum ersten Mal davon. Um so etwas zu wissen, muss man kein Engel sein.

Auf dem Erstkommunionfoto bemüht sich der kurzgeschorene und mit einem Sträußchen auf der Brust geschmückte Joseph stattdessen, wie ein großer Herr auszusehen. Der Blick geht nach innen, wo er über seine Zukunft sinniert. Pfarrer Savels hat ihm von den Pallottinern erzählt, die interessieren ihn.

Eine „Bürgerinitiative“ von Missionaren

Als der römische Priester Vinzenz Pallotti, eine unbekümmerte Mischung aus Mystiker, Sozialarbeiter und Seelsorgspionier, in den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ausgerechnet in Hörweite des Vatikans die Laien für ein missionarisches Engagement zu begeistern suchte, bekam er Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten: Die kirchliche Zensurbehörde, die offenbar um die Führungsrolle des Klerus fürchtete, sorgte dafür, dass Pallottis Denkschriften und Aufrufe nur in kleinen Auflagen gedruckt und verbreitet wurden.

Ein paar Menschenalter später hatten sich – wie es bei Heiligen und Propheten häufig so geht – Kurienbeamte und Päpste Pallottis einst so verdächtige Ideen zu eigen gemacht. Während des Zweiten Vatikanischen Konzils, dessen pastorale Grundgedanken von ihm hätten stammen können, sprach ihn der gute Papst Johannes 1963 heilig. Mit seiner Vereinigung des Katholischen Apostolates hat Vinzenz Pallotti ein bahnbrechendes Modell moderner Seelsorgsarbeit geschaffen.

Vinzenz war ein waschechter Römer. Hier wurde er 1795 geboren, hier ließ er sich 1818 zum Priester weihen. Seine leidenschaftliche Liebe und Sorge galt von Anfang an den Elenden, an den Rand Gedrängten. Er ging in die „Slums“ der Ewigen Stadt, kümmerte sich um arbeitslose junge Leute, übernahm die Leitung eines Waisenhauses. Dabei machte er immer wieder die Erfahrung, wie gleichgültig viele Christen der Not in ihrer Nachbarschaft begegneten. Vinzenz Pallotti suchte nach Wegen, der Kirche wieder etwas vom Feuer des Evangeliums zurückzubringen.

Unmittelbarer Anlass zu seiner bedeutsamen Gründung war eine verhältnismäßig kleine missionarische Aktion: Um Geld für den Druck eines Gebetbuchs in arabischer Sprache zu sammeln, schart Vinzenz eine Gruppe von Laien um sich, Männer und Frauen, und ließ sein Unternehmen von der kirchlichen Behörde genehmigen. Wichtig war die doppelte Zielsetzung: Es ging nicht nur um die Verbreitung des Glaubens unter den Nichtchristen, sondern auch um die Verlebendigung von Glaube und Liebe unter den Katholiken selbst. Missionarisches Wirken als Aktivierung der eigenen Kräfte.

Was in diesem kleinen Freundeskreis begann, drängte nach außen, führte zur Gründung der genannten Vereinigung, die 1835 vom Papst gutgeheißen wurde. Zweck der Gesellschaft, so schwebte es Vinzenz vor, sollte die „unendliche Ehre Gottes“ und das „ewige Heil des Nächsten“ sein; von Anfang an also die Einheit von Gottesliebe und Weltzuwendung, die Pallottis Gemeinschaften bis heute prägt. Drei Gruppen suchte er für seine Werke zu gewinnen, aktive „Arbeiter“, engagierte Beter mehr im Verborgenen und finanzielle Förderer. Das Ziel war für alle dasselbe: missionarisches Engagement aller Christen auf breiter Front. Solidarisches Zusammenwirken von Priestern und Laien. Enge Bindung des einzelnen an Gott ohne privatistischen Rückzug auf die eigene Seele. „Menschen fangen“ wollen Pallottis Freunde wie die Apostel.

Heute wirken rund zweitausendfünfhundert Pallottiner in ganz Europa, den USA, Kanada, Brasilien, Argentien, Ruanda, Indien, Australien. Es komme vor allem darauf an, „Zellen apostolischen Lebens und Wirkens“ zu schaffen, „die inspiratorisch in die Kirche und in die Welt hineinwirken“, stellte die XV. Generalversammlung der Gesellschaft 1983 klar. Besser hätte es Vinzenz auch nicht sagen können.

Beinahe hätte man ihn nicht zum Priester geweiht

Damals, als der kleine Joseph Kentenich zum ersten Mal von ihm hörte, war Vinzenz Pallotti noch kein Heiliger; seine Seligsprechung erfolgte erst 1950, die Heiligsprechung 1963. Und die Pallottiner hatten sich erst vor wenigen Jahren in Deutschland niederlassen können, 1892 in Limburg. Während des sogenannten Kulturkampfs unter Bismarck, der den von Rom „fremdgesteuerten“ katholischen Organisationen und Machtzentren misstraute, waren die katholischen Orden (außer den in der Krankenpflege tätigen) aus Preußen ausgewiesen und natürlich auch keine neuen Klöster gegründet worden.

Andererseits öffnete sich mit der Großmachtpolitik von Kaiser Wilhelm I. in den Jahren darauf für pfiffige katholische Ordensleute ein Hintertürchen: Das deutsche Kaiserreich bemühte sich eifrig um Kolonien in Übersee, um mit den anderen europäischen Großmächten Schritt halten zu können. 1884 erwarb man Kamerun an der afrikanischen Westküste, und die Berliner Regierung hatte keine Einwände dagegen, dass die Pallottiner den schwarzen Reichsuntertanen nach den sonstigen Segnungen der westlichen Zivilisation auch das Christentum bringen wollten. In Ehrenbreitstein, gegenüber von Koblenz auf der anderen Seite des Rheins gelegen, durften sie ein Gynasium mit „Kleinem Seminar“ errichten, um Missionare für Kamerun auszubilden.

Im September 1899 passierte hier auch der dreizehnjährige Joseph Peter Kentenich ein; im Aufnahmeformular notierte er seinen Berufswunsch: „Ich möchte gern an der Bekehrung der Heiden arbeiten.“ In den folgenden Jahren bekam er durchweg gute Noten. Die tadelnde Bemerkung „Der Schüler zeigte öfter ein hochmütiges und eingebildetes Wesen“ findet sich nur in einem einzigen Zeugnis, was darauf hindeuten könnte, dass irgendein Klassenvorstand Probleme mit Josephs Drang nach geistiger Freiheit und Unabhängigkeit hatte.

Einen braven, aber hölzernen und nicht sehr beweglichen Mathematiklehrer brachte er jedenfalls zur Verzweiflung. Jedes Mal, wenn der Mathematiker ein neues Thema erklärt hatte und ein Beispiel streng nach Lehrbuch an die Tafel gemalt hatte, streckte der Schüler Kentenich – die anderen warteten schon darauf – die Hand empor, und jedes Mal stellte er voller Unschuld dieselbe Frage: „Aber kann man es nicht auch anders rechnen?“ Meistens konnte man. „Ich sah wohl, dass ich den Lehrer verlegen machte“, stellte Kentenich Jahrzehnte später in einem Anflug von schlechtem Gewissen fest. „Aber der Drang in mir, nach Begründungen und Alternativen zu suchen, war unwiderstehlich.“

Im September 1904 wechselte Joseph, mittlerweile achtzehn Jahre alt, als Novize ins Mutterhaus der deutschen Pallottiner in Limburg an der Lahn. Das war damals ein beschauliches Städtchen von wenigen tausend Einwohnern. Aber das Studium war ziemlich fortschrittlich angelegt: Zur herkömmlichen Theologie und Philosophie kam eine gründliche Ausbildung in Missionswissenschaft und Sprachen, und es gab auch ein ganz neumodisches Fach mit dem Namen „Sozialwissenschaft“. In Kentenichs Nachlass findet sich aus dieser Zeit eine Vorlesungsmitschrift mit soliden Informationen über Hegel, Marx, die Sozialdemokratie und „unsere eigenen Fehler“, wie er schreibt, das heißt, die Versäumnisse der Kirche im Umgang mit dem sozialen Elend.

„Seine Fortschritte sind des allerhöchsten Lobes wert“, stand nach den ersten zwei Semestern in Kentenichs Zeugnis. Dass er in einer öffentlichen Disputation einem Dozenten hartnäckig widersprach, steht der Wertschätzung nicht entgegen, die Lehrer und Ordensvorgesetzte seinen Talenten zollten. Ob er freilich die überaus strengen Anforderungen erfüllen würde, die in der noch nicht sehr dialogfreudigen Kirche des beginnenden 20. Jahrhunderts an Linientreue, Disziplin und Gehorsam eines Priesters gestellt wurden, schien fraglich.

Deshalb hätte man ihn beinahe nicht zur ewigen Profess – die lebenslange Bindung an die Ordensgemeinschaft – zugelassen. Schon die Erneuerung der zeitlich begrenzten Gelübde wäre nach dem zweiten Studienjahr fast an seinem schlechten Gesundheitszustand gescheitert. Als nun am 29. Juli 1909 über seine Zulassung zur ewigen Profess entschieden werden sollte, sprachen sich drei Mitglieder der Provinzleitung dagegen und nur zwei dafür aus! „Er ist auf einem gefährlichen Weg“, hatte einer seiner Professoren gewarnt.

Eine Katastrophe für den dreiundzwanzigjährigen Novizen. Ein solches Veto bedeutete damals, dass ihn keine andere Ordensgemeinschaft, kein „weltliches“ Priesterseminar aufgenommen hätte. „Laientheologen“ gab es noch nicht, und etwas anderes als Theologie hatte er nicht gelernt. Joseph Kentenich stand vor dem Nichts.

Dass er die Schreckensnachricht ziemlich ruhig und souverän aufnahm, beeindruckte den Rektor des Limburger Missionshauses, Pater Michael Kolb. Der Rektor, er hatte bei der Abstimmung mit „Ja“ votiert, erreichte eine neue Beratung einen Monat später. In der Zwischenzeit bekniete er seine Mitbrüder, dem hochbegabten jungen Mann doch noch zu einer Zukunft als Ordenspriester zu verhelfen. Ergebnis der neuen Abstimmung am 24. August: Drei Voten dafür, zwei dagegen, allerdings mit der schmerzlichen Auflage, Kentenich dürfe nach Abschluss des Studiums nicht zur Promotion an eine deutsche Universität geschickt werden.

„Selbstvernichtung“ als Programm und die große Krise

Was die Herren über Kentenichs Schicksal bei dieser lebenswichtigen Abstimmung nicht ahnen: Der Novize befindet sich tatsächlich auf einem „gefährlichen Weg“. Er steckt in einer tiefen existenziellen Krise, die vielleicht nicht seinen Berufswunsch, seine intellektuelle und pädagogische Begabung, aber seine Menschlichkeit, seine Offenheit für andere, seine liebevolle Beziehung zu Gott bedroht. Er weiß: „Gott ist mein Ziel – er muss auch der Leitstern meines Lebens, der Mittelpunkt aller Ideale sein. Alles vergeht, nur wir bleiben, er, mein Schöpfer, und ich, sein Geschöpf – beide bleiben in Ewigkeit: entweder miteinander vereinigt oder voneinander getrennt.“

So beginnt eine „Lebensordnung“, die er 1904, am Anfang seines Noviziats, für sich entworfen hat. Es geht darum, dauerhaft mit Gott auf dem Weg zu bleiben. Der zuverlässige Begleiter dabei ist Jesus Christus, der ihn einlädt – Kentenich zitiert ein Wort aus dem Evangelium –, sich selbst zu verleugnen, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Gemeint ist damit die Notwendigkeit, den eigenen falschen Wünschen und Gelüsten, der Versuchung zur Bequemlichkeit und Egomanie zu entsagen.

Das leuchtet ein. Doch der Novize macht in seinem Lebensprogramm daraus ein „Universalmittel“ namens „Selbstvernichtung“ und entfaltet das in exakt einhundertdrei Einzelvorsätzen. Ähnlich schlimm, was er am heiß ersehnten Tag seiner Priesterweihe zu einem Freund aus Gymnicher Kindertagen sagen wird: „Von jetzt ab vergiss mich!“

Dahinter steht die Zwangsvorstellung aller lebensfeindlichen religiösen Fundamentalisten: Man muss das eigene Ich auslöschen, um Gott zu finden. Man muss aus dem Menschen mit seinen Prägungen, Leidenschaften und Sehnsüchten einen frommen Roboter machen. Als ob er kriechende Wichte, gebrochene Persönlichkeiten nötig hätte, der kraftvolle Herr des Himmels und der Erde, der Stärke und Elan schenkt, der das Glück seiner Menschen will und sie zur Lebensfreude ermuntert! „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“, sagt Jesus.

Religiös etikettierte Erziehung zur Angst, zum schlechten Gewissen, zur Freudlosigkeit war damals freilich die Norm unter Christen. Vom Priesterseminaristen Angelo Roncalli, der später als Papst Johannes XXIII. eine gewinnende Menschlichkeit verkörperte, offen und fröhlich, sind Tagebuchaufzeichnungen erhalten, die sich ganz ähnlich wie Kentenichs Kampf gegen das eigene Ich lesen, voller Selbstvorwürfe und trauriger Grübelei, ein ausgeklügeltes Training, die Kanten und individuellen Facetten der Persönlichkeit abzuschleifen und alle möglicherweise verbotenen Lüste auszumerzen. Frauen gegenüber will er „auch die kleinste Vertraulichkeit meiden, die in irgendeiner Weise gefährlich oder verdächtig sein könnte“.

Ähnlich wie Roncalli und andere Lichtgestalten seines Zeitalters schafft es Kentenich allerdings, sich aus dieser mindestens zehn Jahre dauernden Krise herauszuarbeiten und daran zu reifen. Als der Leidensdruck zu groß wird, beginnt er die bisherigen Leitlinien seiner Frömmigkeit in Frage zu stellen und an der biblischen Botschaft vom guten Gott zu überprüfen. Später wird er sich erinnern, er sei ein „geborener Skeptiker“ gewesen, ganz von abstrakten Ideen besessen – und menschlich unterentwickelt, einsam, unfähig, sich mitzuteilen.

„Wir sind Hungerkünstler auf dem Gebiet der Liebe“

„Von meinem Eintritt ins Noviziat bis zu meiner Priesterweihe und noch etwas darüber hinaus“, wird er einem Briefpartner anvertrauen, „hatte ich ständig die wahnsinnigsten Kämpfe zu bestehen. Von innerem Glück und Zufriedenheit keine Spur. (...) Das waren wahnsinnige innere und äußere, will sagen geistige und dazu noch körperliche Leiden.“ Ein „Kampf auf Leben und Tod um meine geistige Existenz“ sei es gewesen, „eine Art Zwangsnot, die Leib und Seele bis ins Mark erschütterte“ und ihn zeitweise fast um den Verstand gebracht habe.

Kentenich schafft es recht gut, seine Lebenskrise zu analysieren: „Wegen der Lösung meines Geistes und meiner Seele vom Erdhaften, vom echt Menschlichen, vom Diesseitigen“, so wird er 1955 die Ursachen schildern, „wurde der ganze Mensch von einem totalen Skeptizismus, von einem überspitzten Idealismus, von einem zersetzenden Individualismus und von einem einseitigen Supranaturalismus innerlich zerquält und hin- und hergeworfen.“

Eine „mechanistische Geistigkeit“ habe er sich damals angeeignet, „die die Idee vom Leben (Idealismus), die Person vom personalen Gegenüber (Individualismus) und das Übernatürliche von der natürlichen Ordnung trennt (Supernaturalismus).“ Mechanistisches Denken: Die Wirklichkeit wird zerrissen und in künstlich voneinander getrennte Bereiche zerstückelt, der Blick für organische Lebensprozesse geht verloren.

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Schämt er sich noch nach Jahrzehnten so für seinen Irrweg, dass er ihn hinter lauter Fremdwörtern versteckt? Es handelt sich um eine spröde, kalte Religiosität ohne viel Liebe, ohne Freundschaften und menschliche Beziehungen. Um eine einseitig vernunftbetonte Glaubenshaltung, die sich auf beweisbare „Wahrheiten“ stützt, auf Sätze, nicht auf die innere Erfahrung, auf die Vertrauensbeziehung zu einem geliebten Gott. Um eine Spiritualität, die ganz im Übernatürlichen beheimatet ist, in der jenseitigen Welt, voller Misstrauen gegenüber irdischen Werten und sinnenhaften Empfindungen. Um die tief eingewurzelte Scheu, andere an die eigene Person heranzulassen, sich zu öffnen. Menschliche Nähe als Bedrohung, nicht als Bereicherung. Kentenich im Rückblick: „Ich musste vollständig innerseelisch allein aufwachsen.“ Und: „Außergewöhnlich schroffe innere und äußere Unberührtheit.“ Zärtlichkeiten habe er sich niemals gestattet; „wollte z. B. meine alte, über achtzigjährige Großmutter mich küssen, so habe ich das schroff abgewiesen mit dem Hinweis: Ich bleibe unberührt, ich bin verschenkt.“