Karl-Josef Kuschel

Festmahl am Himmelstisch

Wie Mahl feiern Juden, Christen und Muslime verbindet

Patmos Verlag

INHALT

Geleitwort von Rabbiner Walter Homolka

I.  DIE GEGENWART DES JE ANDEREN MITDENKEN

1. Ostern, Pessach feiern mit dem Rücken zum je Anderen?

2. Toleranz ist zu wenig: Goethes Mahnung

3. Vom Dialog zum Trialog

4. Trilateral denken lernen im Geiste Abrahams

5. Ein Ethos der Geschwisterlichkeit

6. Das Ziel: eine wechselseitige Erinnerungskultur

II. WAS FEIERN JUDEN AM PESSACHFEST?

1. Ein »uraltes, wunderbares Fest«: Pessach, wie Heine es beschreibt

2. Der Ursprung: ein Blutritus zur Abwehr von Unheil

3. Ein Wallfahrtsfest zum zentralen Heiligtum: Jerusalem

4. Die Einbettung in eine Familien- und Hausgemeinschaft

5. Haus und Tempel: der doppelte Ort des Festes

6. Was an Pessach erinnert wird

7. Die Entstehung der Pessach-Haggada: der »Seder«

8. Wie man zu Jesu Zeit Pessach gefeiert haben könnte

9. Die Erwartung eines Mahls am Tisch des Messias

III. HAT JESUS PESSACH GEFEIERT?

1. Anweisung zum Pessachmahl

2. Jesu Passafrömmigkeit

3. Aufstände zum Fest der Befreiung

4. Säuberung des Tempels – ein Exodus-Zeichen

5. Jesus als »Brot vom Himmel«

6. Ein Festmahl im Reich Gottes

7. Ein Abschiedsmahl vor dem Passafest

IV. JESU LETZTES MAHL: KEIN PESSACHMAHL

1. Die Chronologie des Johannes und die Folgen

2. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. positioniert sich

3. Pascha nicht gefeiert und doch gefeiert?

4. Die Konsequenz: Entjudaisierung des Abendmahls

V. DAS ABENDMAHL ALS PESSACHMAHL

1. Das Pessachfest steht vor der Tür

2. Der Unterschied: Pessachmahl – »Herrenmahl«

3. Die Verklammerung von Pessachmahl und Herrenmahl

4. Elemente eines Seder noch erkennbar

5. Jesus deutet seinen Tod im Rahmen des Passamahls

6. Tischgemeinschaft im Reich Gottes

7. Chaos in Korinth und ein »Herrenwort«

8. Das Mahl stiftet Gemeinschaft

9. In Treue zu Jesus

10. Pessachmahl und Abendmahl gehören zusammen

VI. DAS ABENDMAHL JESU IM KORAN? ZU SURE 5,112–115

1. Der Koran über Jesu Anfang und Ende

2. Der Koran über Jesu Wundertaten

3. Eine kleine Summe des koranischen Jesusbildes

4. Gottes Sendung eines Himmelstisches: Was klar ist

5. Der Himmelstisch: unterschiedliche Deutungen

6. Der Himmelstisch und der »Tisch des Herrn«

7. Ein Fest am Himmelstisch

VII. FÜR EINE WECHSELSEITIGE ERINNERUNGSKULTUR

1. Konsequenzen für Christen

2. Konsequenzen für Juden

3. Konsequenzen für Muslime

4. »Vergesst die Gastfreundschaft nicht«!

Ein Wort des Dankes

Dank an Walter Homolka

In memoriam Manfred Görg

Anmerkungen

Bibliografie

Geleitwort von Rabbiner Walter Homolka

Einer der großen Denker des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert, Abraham Geiger, hat 1832 die Haltung eingenommen, die Beschäftigung mit dem Islam sei ihm liebevolle Neigung, die Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie aber nur lästige und apologetische Pflicht. Abraham Geiger, der auch einer der Begründer der modernen Koranforschung gewesen ist, kam zu dieser Aussage, weil er damals mit einer protestantischen Vorstellung des »Christlichen Staates« konfrontiert war, die Juden die Teilhabe an der Gesamtgesellschaft vorenthalten wollte. Es hat mehr als hundert Jahre gedauert, bis Juden und Christen zu einem neuen Verhältnis gefunden haben: Zunächst musste sich die Verbindung von »Thron und Altar« lösen, darauf aufbauend konnte eine plurale Gleichstellung der Religionen in der Weimarer Reichsverfassung erreicht werden. Letztlich hat erst das Trauma des Holocaust den nötigen Bruch in den Kirchen herbeigeführt. Aus der Bankrotterklärung christlicher Ethik im »Dritten Reich« und aus dem Versagen der Kirchen vor der Aufgabe, die jüdischen Brüder und Schwestern wirksam vor der Ermordung zu schützen, ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise ein Ansatz für ein neues Miteinander von Christen und Juden. In Abraham Geigers Nachfolge bedeutet das den Mut zu schonungsloser Analyse, die aber Mut zum Handeln gibt. Und in der Tat: Die Alternativen zum Dialog sind wenig verlockend. Die drängende Frage aber ist: Was müssen wir tun?

Der Hinweis auf den Holocaust macht eine Einsicht besonders eindringlich: Die Wahrnehmung des Anderen im Judentum basiert nicht auf der Frage nach dem rechten Glauben, sondern einzig auf der Frage nach dem richtigen ethischen Verhalten. Die Grundlage davon ist die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Weil der Mensch im Angesicht Gottes geschaffen ist, hat er die Verantwortung und auch die Möglichkeit, die Vernunft als Mittel zur ethischen Vollendung zu verwenden. Dabei verweisen Juden auf Noah und seine sieben Gebote an die Menschheit: Die sechs Verbote des Götzendienstes, des Mordes, des Diebstahls, der sexuellen Promiskuität, der Gotteslästerung, der Tierquälerei und das Gebot einer gerechten Gesellschaft mit gerechten Gesetzen. Jeder Nichtjude, der diese Ge- und Verbote einhält, ist ein Gerechter unter den Völkern und von dem wird gesagt, er habe die gleiche geistige und moralische Stufe erreicht wie selbst der Hohepriester im Tempel (Talmud, Bava Kamma 38a).

Für mich ist dieses gegenseitige Eintreten gar nicht neu. Seit 1972 fand jedes Jahr in Bendorf am Rhein eine Begegnungswoche von Juden, Christen und Muslimen statt. Das Londoner Rabbinerseminar, das Leo Baeck College, war Mitorganisator und wir Studenten nahmen daran regelmäßig teil. Es gehörte sozusagen zu unserer Ausbildung, sich diesem Erlebnis des gemeinsamen Studierens, Essens und Betens auszusetzen – und ich bin froh um diese Erfahrung, mit dem anderen zu leben und mich auch in seinen religiösen Alltag hinein zu fühlen. Warum aber ist ein solches Zusammenleben für Juden und Muslime so bedeutsam? Ich möchte einen Blick in die Hebräische Bibel werfen. Dort finden wir den Grund, warum Juden und Muslime eben viel gemeinsam haben, so sehr sie auch manches unterscheidet. Alles begann mit der Geschichte von Isaak und Ismael im 1. Buch Mose Kap. 21. Ismael war Abrahams Sohn von Hagar, einer Sklavin der Sara. Da das Paar Abraham und Sara kinderlos zu bleiben scheint, schläft Abraham auf Bitten seiner Frau mit der ägyptischen Sklavin Hagar. Ein von Hagar geborenes Kind gilt nach damaliger Sitte als Sprössling der unfruchtbaren Herrin. Und Hagar wird schwanger und Ismael wird geboren. Dann aber geschieht das Wunder: Abrahams Frau Sara bekommt selbst noch einen Sohn: Isaak. Da wird Hagar von ihr buchstäblich in die Wüste geschickt und es erscheint ein Engel. Er zeigt Hagar und Ismael den rettenden Brunnen.

Die Rettung der beiden ist tröstlich, aber diese Geschichte ist auch voller Neid, Eifersucht und Furcht. Das Verhältnis von Sara und Hagar ist davon ebenso geprägt wie die Beziehung zwischen dem Erstgeborenen Ismael, der scheinbar durch Isaak um sein Recht gebracht wird, der Erste zu sein. So war es vorher schon Kain und Abel gegangen, so wird es wenig später in der Geschichte auch Esau und Jakob gehen. Am Ende unserer biblischen Geschichte gehen Ismael und Isaak getrennte Wege. Als aber Abraham stirbt, im 25. Kapitel, da begegnen sie einander, um ihn gemeinsam zu begraben, vielleicht auch ihre Eifersucht vor dem Herrn. »Und Ismael lebte im Angesicht all seiner Brüder«, sagt Vers 18 schließlich. Das Ende ist versöhnlich, man arrangiert sich, ein Nebeneinanderleben scheint möglich. Denn beide haben doch den gleichen Vater. Die Geschichte von Ismael und Isaak mahnt uns: als Brüder sollen wir uns erkennen. Vielleicht, um auch einmal im Angesicht des Bruders nebeneinander zu wohnen.

Im Islam wie im Judentum offenbart Gott seinen Willen in seinem Wort an die Menschen. »Wir haben die Tora hinabgesandt, in der Rechtleitung und Licht enthalten sind, damit die Propheten, die gottergeben waren, für die, die Juden sind, danach urteilen, und so auch die Rabbinen und Gelehrten, aufgrund dessen, was ihnen vom Buche Gottes anvertraut wurde und worüber sie Zeugen waren. … Und wir ließen nach ihnen Jesus, den Sohn Marias, folgen, damit er bestätige, was von der Tora vor ihm vorhanden war. Und wir ließen ihm das Evangelium zukommen, das Rechtleitung und Licht enthält und das bestätigt, was von der Tora vor ihm vorhanden war, und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen. … Und wir haben zu dir [Muhammad] das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt, damit es bestätige, was vom Buch vor ihm vorhanden war, und alles, was darin steht, fest in der Hand habe« (Sure 5 – Al-Maida, 44–48).

Nach Vorstellung des rabbinischen Judentums führt der Weg zu Gott nur über seine Offenbarung, Sie befindet sich aber »nicht im Himmel«, sondern wurde den Menschen als einzige Quelle ihrer Auslegung und ihres Weltverstehens gegeben. Diese Offenbarung schreitet voran durch die menschliche Auslegung, für Juden in der »mündlichen Thora«, für Christen und Muslime in Neuem Testament und Koran.

Judentum wie Islam suchen die Wege von Gottes Gerechtigkeit im religiösen Recht, (jüdisch die Halacha, wörtlich »die zu gehende Wegrichtung«). Die Halacha markiert hierbei nicht das Ziel, sondern einen Weg. Sie verlangt Handeln, die »Selbstheiligung« durch Gebotserfüllung, und nicht Glauben. Im Judentum wie im Islam ist der Mensch vor Gott für sein Tun verantwortlich, er hat den freien Willen, sich für das Gute zu entscheiden. »Wer der Rechtleitung folgt, folgt ihr zu seinem eigenen Vorteil. Und wer irregeht, der geht irre zu seinem eigenen Schaden. Und keine lasttragende Seele trägt die Last einer anderen« (Sure 17 – Al-Isra, 13ff).

Im Vordergrund stehen bei Judentum wie Islam das Leben mit Gott, das Studium seiner Schrift und die Einhaltung der Gebote Gottes. Gott ist für Juden wie Muslime ein rettender, beschützender, ein barmherziger Gott, der den Menschen ewige Treue und Liebe entgegenbringt. Muslime haben immer schon gewusst, dass hier derselbe Gott angesprochen wurde und wird. »Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist einer. Und wir sind ihm ergeben« (Sure 29 Al-Ankabut, 47).

Auch heute noch hören wir immer wieder unbestimmte Hinweise auf Kulturen im Kontext von Religion – auf eine jüdische, christliche oder islamische Kultur, wobei unterstellt wird, dass zwischen ihnen irgendeine Art von Widerspruch besteht –, dass diese sich gegenseitig ausschließen und notwendigerweise unvereinbar miteinander sind oder einander sogar feindlich gegenüberstehen. Der Historiker William Dalrymple macht uns darauf aufmerksam, »… das geistige Erwachen, das die Renaissance verkörperte, fast ebenso sehr dem Zusammenspiel von Orient und Okzident wie einem auf griechischen und römischen Wurzeln aufbauenden Prozess der Selbstfindung geschuldet war.«* Demnach verkörpert jeder der drei Glaubensweisen in ihrer ureigenen Form die potenziell zivilisatorische Kraft des Glaubens. Als jeweils universelle Religion lässt sich keine von ihnen zeitlich oder räumlich abgrenzen. Sie verkörpern unterschiedliche Ausdrucksformen der gleichen »zivilisatorischen« Werte; verschiedene Interpretationen des ewigen Bundes. Somit können sie ohne ein Risiko von Gegensätzen in ein und derselben Gesellschaft präsent sein – und in ein und derselben Welt, ohne dass dadurch zwangsläufig Konfrontationen ausgelöst werden. Im Kern geht es hier um eine Frage der Identität, und in diesem Bereich können Menschen mit gemeinsamer Erfahrung als religiöse Gemeinschaften einander behilflich sein, sich ohne Assimilation auf metaphysischer Ebene (bzw. ohne jede Aufgabe ihrer Loyalität gegenüber Gott) in vollem Umfang als loyale Mitglieder der Zivilgesellschaft einzubringen. Der Koran gemahnt uns, dass Verschiedenheit und Vielfalt als Bereicherung begrüßt werden sollten und voll und ganz unter die göttliche Vorsehung fallen.

Wir sollen uns nicht einbilden, wir seien Gott und könnten in einer Wahnvorstellung der eigenen Allmacht unseren Willen zum Gesetz erheben, obwohl wir das oft genug tun. Aber wir haben den Auftrag, Gottes Wahrheit durch unser Handeln in die Welt zu bringen, also in der Wahrheit zu leben. Das bedeutet auch: sich unangenehme Wahrheiten sagen zu können. Was aber bedeutet vor dem Hintergrund der Aufklärung: »in der Wahrheit leben«?

Juden und Christen sind heute einander so nahe, weil beiden die Erfahrung der Aufklärung gemeinsam ist – mit ihrem Primat von Rationalismus und Vernunft. Alle Religionen, auch das Christentum, hatte an den Herausforderungen der Moderne zu kauen, und manches ist bis heute unverdaut. Die Vereinbarkeit von Religion und Moderne entscheidet sich besonders an hermeneutischen Grundfragen: Im Schrift- und Traditionsverständnis werden die Weichen gestellt für die Dialog- und Reformfähigkeit von Religion. So mussten sich Judentum wie Christentum fragen, ob sie eine historisch-kritische Betrachtung von Heiligen Schriften und Tradition zulassen. Das europäische Judentum hat durch die Aufklärung eine Chance erhalten: die Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs, die kulturelle wie rechtliche Emanzipation und die Ausformung einer widerstandsfähigen Identität. Dies bedingte die Neubewertung unserer jüdischen Traditionen und Lehren. Die Teilhabe an einer sich pluralisierenden Gesellschaft lässt eben keinen unverändert. Und hier setzt meine Hoffnung an, dass auf der Basis gegenseitiger Anerkenntnis die muslimische Seite auch einen brüderlichen Rat entgegenzunehmen bereit ist. Vielleicht können wir Juden dem Islam mit unseren Erfahrungen auf brüderliche Weise Wege aufzeigen, wie man der Tradition gerecht wird und dennoch mit den Erträgen der Aufklärung zurechtkommt. Denn ein historisch-kritisches Hinterfragen der eigenen Tradition ist ein wichtiger Schritt hin zur Integration von Muslimen in die westliche Gesellschaft. Diese Wahrheit müssen wir – jeder für sich – in der Auseinandersetzung von Tradition und Moderne immer wieder finden. Das erfordert Disziplin. Und: wir müssen uns um diese Wahrheit mit unserem freien Willen und unserer Einsichtsfähigkeit bemühen und wir müssen damit fertig werden, dass es die eine Wahrheit nicht geben kann. In der Demut, die dieser Einsicht folgt, können Juden, Christen und Muslime zu einem gleichberechtigten Verhältnis finden. Ein solches Nebeneinander unter Brüdern setzt die Bereitschaft voraus, den anderen – wenn nötig zu verteidigen –, auf der Basis solcher Anerkennung als Bruder aber auch kritisieren zu dürfen. Um es mit den Worten von Imam Abu Ishaq al-Shatibi (gest. 1388) zu sagen: »Nu’adhem al-juwaame’ wa nahtarem al-furooq« – wir betonen die Gemeinsamkeiten und respektieren gleichzeitig die Unterschiede.

Nun hören wir Juden von christlicher Seite immer wieder, der jüdisch-christliche Dialog sei mit der Beziehung zu den Muslimen gar nicht zu vergleichen. Juden und Christen teilten sich die gleiche Heilige Schrift und hätten das gleiche Gottesbild. Als Jude macht mich das stutzig. Denn über viele Jahrhunderte hinweg wurden Juden von Christen auf das Grausamste verfolgt, ausgegrenzt, verhöhnt und ermordet. Die Scham über das große Versagen beider Kirchen während des »Dritten Reichs« war die Grundlage von sechzig Jahren intensiver Annäherung des Christentums an das Judentum, mit teilweise grotesken Phasen des Philosemitismus. Kann das aber Jahrhunderte der guten Nachbarschaft zwischen Juden und Muslimen aufwiegen? Nein. Denn beide wissen sich einig in einem gemeinsamen Gottesbild und einig in ihrer Kritik an der Trinitätslehre als Abschwächung des Monotheismus. Christen müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Trinitätslehre dem Judentum ferner liegt als die Lehre des Islam und dass Juden und Muslime lange Phasen gemeinsamer Erfahrungen verbinden, etwa die der Kreuzzüge oder der Reconquista; Juden müssen sich daran erinnern, dass die vorherrschende jüdische Philosophie im Mittelalter im islamischen Raum und in arabischer Sprache entstanden ist und dass die Festschreibung unserer Glaubensgrundsätze durch den mittelalterlichen Rechtsgelehrten und Religionsphilosophen Maimonides im 12. Jahrhundert dem Beispiel Mohammeds folgt. »Gott ist einer und einzig, und Moses ist sein Prophet« entspricht der Formel, die jeder Muslim als Glaubensbekenntnis kennt: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.« Gott, unverfügbar, Schöpfer, Richter, Offenbarer.

Und wie steht es um das muslimisch-christliche Verhältnis? Besonders die kirchlichen Akademien haben sich seit den späten neunziger Jahren als Orte der Begegnung Christen, Muslimen und Juden verdient gemacht. Was damals Normalität war, steht heute jedoch unter christlich-lehramtlicher Kritik. Mit Vehemenz treten die Kirchen von Aussagen zurück, die für Christen und Juden eine gemeinsame Gottesvorstellung festgestellt hatten. So formulierte die katholische Seite im Zweiten Vatikanischen Konzil 1964 in »Lumen gentium 16«: »Die Heilsabsicht (Gottes) umfasst aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich zum Festhalten am Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einzigen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird.« Im Schlussdokument von Cartigny zog 1969 der Weltrat der Kirchen nach: »Judentum, Christentum und Islam gehören nicht nur historisch zusammen, sie sprechen von demselben Gott, Schöpfer, Offenbarer und Richter.«

Ich als Jude, der sich im Dialog mit dem Christentum engagiert, habe mich deshalb entschlossen, auf die Spurensuche nach den Gemeinsamkeiten meiner Religion mit denen des Islam zu gehen. Das heißt, ich sehe die Herausforderung, mich mit dem Islam so auseinanderzusetzen, dass ich ihn ebenso gut verteidigen könnte. Das heute in Deutschland zu tun, setzt – wie meine Erfahrungen zeigen – einen enormen Konfliktwillen voraus.

Als Muslime, Juden und Christen unterliegen wir alle dem gemeinsamen Erbe des spirituellen Dienstes unter ein und demselben Gott. Leider teilen wir auch die Sünde der Abweichung. Ironischerweise untergraben viele Personen in dem Bemühen, die Traditionen und Sitten unserer gemeinsamen Zivilisation zu bewahren, die Grundfesten, auf denen sie aufgebaut wurde. Seit den tragischen Ereignissen vom 11. September 2001 und den nachfolgenden Schrecken ist die Welt für Muslime ein sehr viel weniger einladender Platz geworden. Die bloße Verurteilung eines solchen verabscheuungswürdigen und unislamischen Verhaltens reicht nicht aus. Vielmehr liegt es an den Muslimen, wie Großmufti Mustafa Ceric 2006 in seiner bemerkenswert weitsichtigen und sachbezogenen Erklärung der europäischen Muslime deutlich gemacht hat, und ich zitiere: »… der ganzen Welt den nicht gewalttätigen Charakter ihres Glaubens vor Augen zu führen und ihre Kinder zu lehren, dass der richtige Weg zum Erfolg in dieser Welt und zur Errettung im Jenseits nicht das Argument der Gewalt, sondern die Gewalt der friedlichen Argumentation ist«.

Spätestens seit diesem 11. September 2001 ist die christliche Seite wieder von Furcht geplagt. Groß ist ihre Furcht, das »Christliche Abendland« sei in Gefahr. Einst die Türken vor Wien, heute der Islamismus, und mit der Türkei klopfe er direkt an unsere Haustüre.

Ich möchte dazu sagen: der Traum vom »Christlichen Abendland« war für Juden meist gefährlich. Deshalb lohnt sich ein zweiter Blick aus jüdischer Sicht: und da sehen wir: die »Hohe Pforte« gewährte Freiheiten und Rechte, die im christlichen Abendland für Juden keineswegs selbstverständlich gewesen sind. Rabbiner Isaak Zarfati lud 1470 alle deutschsprachigen jüdischen Gemeinden ein, sich im Osmanischen Reich anzusiedeln. 1492 schickte Sultan Bayezid II. sogar Schiffe und nahm viele Juden aus Spanien auf, die vor der Kirche fliehen mussten. Und in jüngerer Zeit? Yad Vashem in Israel ehrte Botschafter Selahattin Ülkümen als »Gerechten unter den Völkern«, weil er Juden auf Rhodos unter Lebensgefahr zur Flucht verholfen hatte. Atatürk ermöglichte vielen jüdischen Professoren aus Nazideutschland, in der Türkei weiterzuarbeiten. Mehr als siebzehn »Raoul Wallenbergs« gab es unter den Diplomaten der Türkei, die in Europas dunkelster Zeit Mut zur Menschlichkeit bewiesen. So den Botschafter in Marseille, Behiç Erkin. Er verlieh 18000 Juden die türkische Staatsbürgerschaft und rettete sie so vor der Vernichtung.

Man kann also sagen: in Schlüsselsituationen der europäischen Geschichte wusste die Türkei als islamisches Land – regiert vom Kalifen – moralische Werte zu verteidigen, von denen Europa heute träumt. Ein Europa, in dem das Osmanische Reich über Jahrhunderte eine bedeutende Rolle gespielt hat: als Handelspartner, geistiges Zentrum und islamische Großmacht. Diese Wahrheit haben Christen lange nicht sehen wollen. Aber für uns Juden blieb diese Verbundenheit unvergesslich.

Wollen Juden, Christen und Muslime gemeinsam zum Festmahl am Himmelstisch sitzen, sind Einfühlungsvermögen von uns gefordert und die Fähigkeit, nicht nur hin-, sondern auch zuzuhören. Wir alle haben – weiß Gott – genug Monologe über den Dialog ertragen.

Um es mit den Worten des früheren Erzbischofs von Canterbury, Dr. Rowan Williams, zu sagen: »Wir alle wachsen durch unsere Begegnung mit dem Gegenüber. Ganz besonders wachsen wir durch die Begegnung mit jenem göttlichen Gegenüber, das uns anspricht, bewegt, beurteilt, herausfordert und heilt. Doch wir wachsen auch in der Begegnung mit jenen menschlichen Gegenübern, die uns auf verschiedene Weise etwas von Gott nahe bringen, das Türen in unserem innersten Selbst öffnet, deren wir uns anders nicht bewusst geworden wären.«**

Zu diesen Gegenübern zähle ich auch Karl-Josef Kuschel. Er hat für mein Denken stets Türen zu öffnen vermocht. Dafür meinen herzlichen Dank.

Rabbiner Prof. Dr. Walter Homolka

I. DIE GEGENWART DES JE ANDEREN MITDENKEN

Acht Tage feiern Juden in aller Welt Pessach, eines ihrer großen Feste und zwar im Monat Nisan, dem ersten ihres religiösen Kalenders. Pessach wird vom 15. bis 22. Nisan begangen. Dazu gehört, dass am Vorabend des Festes (hebräisch: Erew Pessach), am 14. Nisan, eine häusliche Feier im Kreise der Familie stattfindet, der sogenannte »Seder« und die ganze Woche über nur ungesäuertes Brot, sogenannte »Mazzen«, verzehrt werden darf. Pessach wird deshalb auch entsprechend den Anweisungen der Tora das »Fest der ungesäuerten Brote« genannt: »Im ersten Monat, am 14. Tag des Monats, zur Abenddämmerung, ist Pascha zur Ehre des Herrn. Am 15. Tag dieses Monats ist das Fest der Ungesäuerten Brote zur Ehre des Herrn. Sieben Tage sollt ihr Ungesäuertes Brot essen. Am ersten Tag habt ihr heilige Versammlung; ihr dürft keine schwere Arbeit verrichten. Sieben Tage hindurch sollt ihr ein Feueropfer für den Herrn darbringen. Am siebten Tag ist heilige Versammlung; da dürft ihr keine schwere Arbeit verrichten« (Lev 23,5f.; vgl. Num 28,16–25).

Das uns vertraute Kalendarium fügte es, dass sich im Jahr 2012 Pessach mit der christlichen Karwoche und dem Osterfest überschnitt. Der 14. Nisan fiel auf den 7. April, auf den Tag, an dem Christen den »Karsamstag« begingen, den Tag also, der zwischen dem Sterben Jesu (»Karfreitag«) und dem Ostersonntag liegt, dem Tag der Auferweckung Jesu aus dem Tod. Im Jahr 2013 überschneidet sich der 14. Nisan mit dem Montag der Karwoche, dem 25. März. Somit läuft die gesamte Karwoche einschließlich Ostersonntag und Ostermontag parallel zum Pessachfest, das mit dem 22. Nisan, dem christlichen Osterdienstag, am 2. April endet. Es ist fast so wie zu Jesu Zeiten. Denn was immer an Datierungen und Deutungen im Einzelnen umstritten ist (wir werden davon Genaueres hören), eines ist klar: Nach maßgebenden Quellen, die wir haben, vollzog sich Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen im Zeichen des jüdischen Pessachfestes!

1. Ostern, Pessach feiern mit dem Rücken zum je Anderen?

Wird an diese in den neutestamentlichen Urkunden verbürgte Verbindung von Pessach (im Deutschen auch »Pascha«, »Passah« oder »Passa« geschrieben) als großem Fest des Judentums und Passion/Ostern als zentralem Fest der Christenheit in den jeweiligen Gottesdiensten erinnert? Ist insbesondere in einem Jahr wie 2012, in dem der Bezug schon kalendarisch gegeben war, in Gründonnerstags-, Karfreitags- und Osterliturgien christlicher Kirchen oder in Pessachgottesdiensten jüdischer Synagogen darauf hingewiesen worden? Wird es 2013 der Fall sein?

Wer als Christ der Passion Jesu gedenkt, wer Ostern feiert, sollte der oder die nicht zugleich um Pessach wissen: um das, was Juden seit Jahrhunderten mit diesem Fest verbinden? Wenn man als Christ der Passion und der Auferweckung Jesu Christi gedenkt, sollte man dann nicht zugleich auch der Verbindung gedenken, welche diese Ereignisse von Anfang an mit dem Judentum herstellen? Ostern feiern – mit dem Rücken zum Judentum? Das jüdische Fest ignorieren, als hätte es mit Jesus Christus nichts zu tun? Und umgekehrt: Wenn man als Jude Pessach feiert, sollte man dann völlig ignorieren, dass es einen Juden gegeben hat, dessen Tod in Jerusalem im Zeichen von Pessach Wirkungen auslöste, die das Antlitz dieser Erde veränderte? Ignorieren, dass – bei aller tiefen Ambivalenz der Geschichte – das Judentum bei aller Eigenständigkeit geschichtlich immer auch auf das Christentum bezogen bleibt?

Aber ist es 2012 in Kirchen und Synagogen anders gewesen? Wird es 2013 anders sein? Ist es zu solchen Verweisen, Bezügen, Erinnerungen gekommen? Wird das der Fall sein? Ausnahmen bestätigen die Regel. So veröffentlichte der damalige Erzbischof von Toronto (Kanada) und spätere Kardinal, GERALD EMMET CARTER, 1979 einen »Fastenhirtenbrief«. Er nutzte den zeitlichen Zusammenfall des Gründonnerstag mit dem Beginn des jüdischen Pessachfestes, um auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und auf die bleibende Verbindung zwischen Israel und der Kirche hinzuweisen: »Der Gründonnerstag fällt in diesem Jahr auf den ersten Tag des jüdischen Pessachfestes. Wenn wir das Grundgeheimnis unseres Glaubens, den Tod und die Auferstehung Jesu, begehen, gedenken unsere jüdischen Nachbarn des Auszugs aus Ägypten, des zentralen Ereignisses, das sie erst zu einem Volk machte. Es ist kein Zufall, dass das jüdische Pessachfest und das christliche Osterfest fast immer in den gleichen Zeitraum fallen; fand doch das Leben Jesu im Zusammenhang des großen jüdischen Festes sein Ende. Die Übereinstimmung der beiden Feste lädt uns in diesem Jahr dazu ein, ganz besonders über die jüdischen Wurzeln des Christentums und über die bleibende Verbindung zwischen beiden Religionen nachzudenken.«1

Ein Jahr später, 1980, veröffentlicht die Deutsche Katholische Bischofskonferenz erstmals seit der Shoa eine »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zum Judentum«. Sie beginnt programmatisch mit dem Satz »Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum« und kommt in den folgenden Kapiteln auch auf die jüdischen Feste, insbesondere das Pessachfest, zu sprechen: »Die jüdischen Feste sind Gedächtnisfeste: Israel gedenkt bei seinen Festen der Heilstaten Gottes an seinem Volk und vergegenwärtigt in seinen Festen diese Heilstaten für jede Generation. In keinem Fest wird das deutlicher als am Paschafest, das die Juden an die Nacht erinnert, in der sie befreit wurden, und das in ihnen zugleich die Hoffnung weckt auf die Nacht, in der sie endgültig befreit werden. In den jüdischen Festen herrscht so die Dreidimensionalität von Heilsvergangenheit, Heilsgegenwart und Heilszukunft. Ohne die Beachtung dieser Zusammenhänge versteht man auch die großen Feste des christlichen Kirchenjahres und speziell die Eucharistiefeier nicht. Auch in ihnen gehören Heilsvergangenheit, Heilsgegenwart und Heilszukunft wesenhaft zusammen; auch sie sind Gedächtnis seiner Wundertaten. Sie treten dabei nicht neben die Feste Israels, sie stehen in einem beziehungsreichen Zusammenhang mit ihnen.«2