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»Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht, dass du einen Kapitalisten mit konservativer Gesinnung, arrogantem Benehmen und lächerlicher Föhnfrisur geheiratet hast. Also kannst du auch akzeptieren, dass ich eine schwarze, womöglich aidsinfizierte Freundin habe.«

Das vor uns stehende ältere Ehepaar versteckte sich erschreckt hinter seinem Kofferberg.

»Nun sei doch nicht gleich sauer!«, maulte Kiki.

»Ich bin nicht sauer. Ich möchte nur etwas klarstellen.«

Das Ehepaar lugte zu uns herüber. Ich zeigte ihnen mein Gebiss. »Wissen Sie, dass Aids in Flugzeugen, die höher als zehntausend Meter fliegen, auch durch die Luft übertragen werden kann?«

 

Georg Wilsbergs Schwester Christiane (»Kiki«) bedrängt den Detektiv, der sich auf einer Karibikinsel von den Folgen eines Unfalls erholt, nach Hause zu kommen. Kikis Mann, Chef einer Metallwarenfabrik im münsterländischen Warenfeld, ist in Schwierigkeiten. Wilsberg hasst die spießige Unternehmerfamilie seines Schwagers, aber Kiki zuliebe übernimmt er den Fall. Kein Fall für Wilsberg, wie sich bald herausstellt.

 

 

»… bewegt sich hart an der Realität und steckt voller Überraschungen.« (Gießener Anzeiger)

Jürgen Kehrer

 

 

 

Kein Fall für Wilsberg

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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© 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung des Kriminalromans
Jürgen Kehrer: Kein Fall für Wilsberg

© 1993 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de/

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagzeichnung: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-888-7

Der Autor

 

 

Jürgen Kehrer, geboren 1956 in Essen, lebt in Münster. Er ist der geistige Vater des Buch- und Fernsehdetektivs Georg Wilsberg. Neben bisher achtzehn Wilsberg-Krimis (zuletzt zus. mit Petra Würth: Todeszauber), verfasste er mehrere Wilsberg-Drehbücher, veröffentlichte historische Kriminalromane, Sachbücher zu realen Verbrechen, den Thriller Fürchte dich nicht! sowie zahlreiche Kurzgeschichten mit und ohne Wilsberg, von denen viele in Wilsbergs Welt nachzulesen sind.

www.juergen-kehrer.de

»Aber im Moment bin ich vor allen Dingen müde.«

Jean-Patrick Manchette

Vorbemerkung

 

 

Allen, die ihrer Landkarte misstrauen, sei versichert: Warenfeld im Münsterland gibt es tatsächlich nicht. Allerdings gibt es zwischen Warendorf, Burgsteinfurt, Borken und Coesfeld genügend Orte, die Warenfeld so oder so ähneln.

Münster dagegen musste ich nicht erfinden. Das hat schon jemand vor mir getan.

I

 

 

Über mir blauer Himmel, links und rechts ein paar Palmen, unter mir feinkörniger, weißer Sand. Und auf meiner Brust lag ein schokoladenfarbiger Arm. Nicht in der Farbe des Kakaos, den man früher mit kochender Milch und Kakaopulver zusammenrührte und den die heutigen Kinder gar nicht mehr kennen, nein, ein Arm in der Farbe dieser sofortlöslichen Fertigmischungen. Der Arm gehörte Nellie, die sich zufrieden neben mir rekelte und dabei leise seufzte.

Ich sah das alles nicht, denn ich hatte die Augen geschlossen. Ich wusste aber, dass es so war, denn in den letzten zehn Minuten konnte sich unmöglich viel verändert haben.

Plötzlich schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne, Schatten fiel auf meinen Kopf. Ich riskierte es, mein rechtes Augenlid ein wenig anzuheben, und die Wolke begann zu sprechen: »Habe ich dich endlich gefunden!«

Die Wolke sah aus wie der Kopf meiner kleinen Schwester.

»Du glaubst gar nicht, wie schwierig es war, deine Adresse herauszubekommen.«

Ich öffnete beide Augen.

»Was machst du hier?«, fragte ich blöde.

»Ich habe dich gesucht.« Sie hockte sich hin. Ein weißes Kleid umspielte ihren schlanken Körper. Ihr Haar glänzte wie bei den Frauen in der Fernsehwerbung.

Nellie nahm ihren Arm von meiner Brust. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich aufzurichten.

»Du bist doch nicht zweitausend Kilometer geflogen, nur um mich mal zu besuchen!«

»Wer ist das?«, fragte meine Schwester.

Ich drehte mich um. Nellie starrte die Frau in Weiß misstrauisch an. Sie verstand kein Deutsch.

»Das ist Nellie. Nellie, das ist meine Schwester«, erklärte ich auf Englisch.

»Hat sie auch einen Namen?«, fragte Nellie.

»Christiane. Wir sagen Kiki zu ihr.«

Die beiden Frauen nickten sich mit starren Gesichtern zu. Kiki spielte mit den Fingern im Sand.

»Nun sag schon!«, drängte ich. »Was ist passiert?«

»Ich möchte, dass du zurückkommst.«

»Warum? Ist jemand gestorben?«

»Nein.« Sie hob eine Handvoll Sand in die Höhe und ließ ihn fliegen. »Es geht um Jochen.«

Jochen war ihr Ehemann, mein Schwager. Besitzer einer Metallfirma im münsterländischen Warenfeld. Ich mochte ihn nicht. Ich mochte die ganze Familie nicht. Eine kleinkarierte, spießige, erzreaktionäre Familie, besonders der Alte, Jochens Vater. Bis vor einigen Jahren hatte er die Firma geleitet und sie dann seinen beiden Söhnen übergeben. Aber im Hintergrund zog er noch die Drähte, saß im Gemeindeparlament und im Kirchenvorstand. Ich hatte nie verstanden, wie Kiki mit diesen Leute klarkam, mal abgesehen davon, dass Jochen Geld hatte, reichlich Geld.

Die Gefühle beruhten übrigens auf Gegenseitigkeit. Für Jochens Familie war ich zuerst ein bunter Hund und später, nach dem Entzug meiner Anwaltslizenz, ein schwarzes Schaf. Ich hatte die sowieso nur sporadischen Verwandtenbesuche eingestellt. Ich konnte nicht sagen, dass mir danach etwas fehlte.

»Was ist mit Jochen?«, fragte ich frostig.

Kiki schaute mich ernst an. »Er ist in Schwierigkeiten.«

»Was für Schwierigkeiten? Finanzielle?«

»Nein. Ich glaube, er wird erpresst.«

Ich betäubte mit einem gezielten Schlag eine Fliege, die die Frechheit besessen hatte, sich auf meinem Bauch niederzulassen.

»Von wem?«

»Ich weiß es nicht. Er spricht mit mir nicht darüber.«

Ich nahm die Kappe vom Kopf und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Dann fischte ich die Schachtel Zigarillos aus dem Beutel, der neben mir im Sand ruhte, und zündete mir umständlich einen braunen Stängel an.

»Wie hast du es gemerkt?«

»Er ist in letzter Zeit sehr nervös. Immer, wenn das Telefon klingelt, schrickt er zusammen.«

»Vielleicht eine andere Frau.«

Kiki lächelte gequält und wedelte den Rauch beiseite. »Das hätte ich gemerkt. Eine Frau spürt, wenn eine andere im Spiel ist.«

»Wer könnte es dann sein?«

»Die Araber.«

Ich kratzte mich am Kopf. »Die Araber, soso.«

»Ja. Jochens Firma macht Geschäfte mit arabischen Staaten. Ich nehme an, dass er ihnen nicht mehr das liefern will, was sie verlangen.«

»Und deshalb erpressen sie ihn?«

»Oder sie drohen, ihm etwas anzutun.«

Ich blies den Rauch nach oben. »Na gut, das ist ein ernstes Problem. Aber was habe ich damit zu tun?«

»Ich möchte, dass du mit mir zurückfliegst und ihm hilfst.«

»Nein«, sagte ich entschieden. »Kommt gar nicht infrage. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich vor sechs Monaten einen schweren Unfall hatte. Ich muss mich erholen. Es geht mir zwar schon wieder besser, aber …« (ich zeigte auf den Stock, der im Sand steckte) »… ich gehe am Stock. Der Arzt sagt, dass ich mich noch ein paar Monate schonen soll. Für meine Neurodermitis ist das Inselklima hier die reinste Kur und …«

»… du hast eine schwarze Freundin«, sagte Kiki.

»Die Hautfarbe ist doch wohl egal. Im Übrigen ist sie nicht schwarz, sondern braun. Millionen Touristinnen legen sich jedes Jahr in die Sonne, um so auszusehen wie sie. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass ich keinen Ärger mit Arabern haben will. Araber sind impulsive Menschen, und ich bin zu gehbehindert, um vor ihnen weglaufen zu können.«

Kiki guckte nach oben, wo ein sanfter Wind in den Palmkronen rauschte. »Du bist der einzige Mensch, der mir helfen kann.«

»Warum gerade ich?«

»Weil ich dir vertraue. Du bist mein Bruder.«

»Oh nein«, ich wurde sauer, »du hast doch gar kein Problem. Dein Mann ist in Schwierigkeiten. Und vermutlich hat er sich selbst da hineingebracht. Für Erpressungen und Morddrohungen ist die Polizei zuständig. Ich gebe dir gerne den Namen eines vertrauenswürdigen Kriminalhauptkommissars in Münster, der euch weiterhelfen kann.«

Kiki schaute mich an. Ihre Mundwinkel zuckten, ihre Augen schimmerten feucht. »Er ist mein Mann, und ich liebe ihn.«

Dazu fiel mir nichts ein.

»Was hat sie gesagt?«, fragte mich Nellie flüsternd.

»Sie ist besorgt, dass ihrem Ehemann etwas zustoßen könnte. Sie möchte, dass ich nach Hause fliege und ihm helfe«, flüsterte ich zurück.

»Hat er denn keine Verwandten?«

»Doch. Eine richtig nette Familie.«

»Sei nicht zynisch!«, mischte sich Kiki ein. »Du weißt, wie Alfons ist. Jochen kann von ihm keine Unterstützung erwarten. Und das Verhältnis zu Ludger ist seit längerer Zeit gespannt.«

Alfons war Jochens Vater und Ludger sein jüngerer Bruder.

»Wirst du nach Hause fliegen?«, fragte Nellie.

»Nein. Ich glaube nicht.«

»Du wirst«, zischte Nellie. »Ich sehe es.«

Kiki zog ein Papiertaschentuch aus einer versteckten Tasche ihres Kleides und tupfte sich die Augen ab. Meine kleine, traurige Schwester.

»Wo wohnst du?«, fragte ich.

»Noch gar nicht. Ich bin vom Flughafen direkt hierhergekommen.«

»Und dein Gepäck?«

»Steht noch am Flughafen.«

»Wir wohnen im Old Delft«, sagte ich. »Ganz nett, so eine Mischung aus Kolonial- und Karibikstil.« Das Old Delft war eine von zwei Möglichkeiten, an diesem Teil der Küste abzusteigen.

»Ich hab's gesehen«, nickte Kiki. »Sehr hübsch.«

»Dann wollen wir mal sehen, ob wir ein Zimmer für dich organisieren können.« Ich stand auf und nahm meinen Stock. »Ich könnte auch einen kleinen Imbiss vertragen.«

Eingerahmt von zwei eifersüchtigen Frauen hinkte ich zur Uferstraße hinauf.

 

Am Abend hockten wir an der Bar und tranken den regional üblichen Irgendwas-mit-weißem-Rum-Cocktail. Halb belustigt, halb gelangweilt betrachtete ich das Abendprogramm, das die Hotelleitung zur allgefälligen Unterhaltung ihrer Gäste nun schon zum vierten Mal wiederholte, seitdem ich im Old Delft logierte. Den Neckermännern und Neckerfrauen, die nur für zwei Wochen kamen, gefiel es. Sie klatschten in die Hände und stampften mit den Füßen, wie sie es aus den täglichen Fernseh-Game-Shows kannten.

Die Tänzerinnen und Tänzer in den paillettenbesetzten bunten Kostümen bedankten sich mit einem karibischen Grinsen und schwenkten ihre Hüften, Oberkörper, Federn und durchsichtigen Tücher, begleitet von einer Combo, die fröhlich trommelte und rasselte. Bei der anschließenden Polka machten die rotgesichtigen und übergewichtigen deutschen Männer erhebliche Anstrengungen, um ihre Ehefrauen auszumanövrieren und an die Schultern einer Karibikschönheit zu geraten.

Während der Lindwurm durch das Hotelfoyer tapste, zeigte ich dem Barmann mein leeres Glas und streckte drei Finger in die Luft. Gleich würde der Run auf die Bar einsetzen.

»Lebt Nellies Familie auf der Insel?«, fragte Kiki.

»Ja. Aber nicht in einer Wellblechhütte, sondern in einem relativ komfortablem Haus. Ihr Vater ist Fischer.«

»Und wovon lebt sie?«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wovon wohl? Von einzelreisenden männlichen Touristen.«

»Sie ist also eine – Hure?«

»Das sieht sie anders. Sie sucht sich die Männer aus.«

»Und dann?«

»Dann lebt sie eine Zeit lang mit ihnen. Was soll die Fragerei?«

»Hast du keine Angst vor Aids?«

»Liebe Kiki«, sagte ich mit drohendem Unterton, »da drüben, im hoteleigenen Supermarkt, gibt es Kondome. Und es interessiert mich überhaupt nicht, ob dir mein Lebenswandel gefällt oder nicht.«

»Was sagt sie?«, fragte Nellie.

»Sie sagt, dass du eine bezaubernde Frau bist.«

Nellie funkelte Kiki an. »Das hat sie nicht gesagt.«

»Okay, das hat sie nicht gesagt. Vergiss es!«

»Sie hat ›Hure‹ gesagt. Ich kenne das Wort Hure. Und dann hat sie von Aids geredet.«

»Ganz allgemein.«

»Deine dumme Schwester meint, dass ich Aids habe.«

»Nein, das hat sie nicht gesagt.«

Nellie nahm ihr Cocktailglas und schleuderte den Inhalt in Richtung von Kikis Gesicht. Kiki quiekte und fiel vom Hocker.

Nellie baute sich vor mir auf: »Fahr doch mit deiner Schwester nach Hause! Mir reicht es.« Sie machte eine Handbewegung in der Höhe ihres Halses. Dann rauschte sie davon, erstaunlich schnell auf ihren hochhackigen Pumps, die gaffenden Touristen beiseite schubsend.

Das lebendige Treiben um uns herum war zu einem Standbild erstarrt.

»Das gehört nicht zur Show«, verkündete ich laut. »Machen Sie ruhig weiter!«

»Ist das jetzt meine Schuld?«, meldete sich Kiki kleinlaut.

»Wessen sonst?«, knurrte ich.

II

 

 

Ich küsste Nellie auf den Mund, und sie lächelte mich an. Wir standen in der Abflughalle des Flughafens. Am Tag nach dem Streit im Hotel hatte ich sie im Haus ihrer Eltern besucht. Zunächst gab sie sich kühl und reserviert, doch schließlich akzeptierte sie die Entschuldigung für das Verhalten meiner Schwester. Sie willigte sogar ein, die letzten Tage bis zum Abflug mit mir im Hotel zu verbringen (allerdings unter der Bedingung, dass meine Schwester in das nebenliegende Palm Beach Ressort wechselte). Ich fand das akzeptabel, Kiki weniger. Ich sagte ihr, das sei mein Preis für die brüderliche Hilfe.

Auch jetzt, im Flughafen, bestand Nellie darauf, dass sich Kiki in gebührender Entfernung aufhielt.

»Ich erledige die Sache in Deutschland, und dann komme ich zurück«, sagte ich. »In zwei Wochen bin ich wieder da.«

Nellie grinste. »Der Detektiv Georg Wilsberg.« Sie sprach es Dschordsch Wilsbörg aus.

»Detektiv im Ruhestand.« Ich klopfte mit dem Stock gegen mein kaputtes Bein. »Ich eigne mich nicht mehr für Schnüffelarbeit. Ich werde dafür sorgen, dass die Polizei die Sache übernimmt, und das war's dann.«

»Polizei?« Nellie machte große Augen. Wie die meisten Amerikaner konnte sie Deutschland nicht von Belgien oder Dänemark unterscheiden. Aber noch weniger konnte sie sich vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt eine Polizei gab, die nicht korrupt und nicht sadistisch war.

»Die Polizei in Deutschland ist gar nicht so schlecht«, sagte ich. »Ich habe sogar einen Freund, der bei der Polizei arbeitet.«

Nellie schüttelte sich. »Ihr seid schon ein komisches Volk, ihr Holländer.«

Ich umarmte sie. »Gib mir zwei Wochen!«

Sie lachte. »Ich warte einen Monat auf dich, Georg Wilsberg, keinen Tag länger. Ist dir das klar?«

 

»Welch rührender Abschied«, bemerkte Kiki, als wir nebeneinander in der Schlange standen, um einzuchecken.

»Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht, dass du einen Kapitalisten mit konservativer Gesinnung, arrogantem Benehmen und lächerlicher Föhnfrisur geheiratet hast. Also kannst du auch akzeptieren, dass ich eine schwarze, womöglich aidsinfizierte Freundin habe.«

Das vor uns stehende, ältere Ehepaar versteckte sich erschreckt hinter seinem Kofferberg.

»Nun sei doch nicht gleich sauer!«, maulte Kiki.

»Ich bin nicht sauer. Ich möchte nur etwas klarstellen.«

Das Ehepaar lugte zu uns herüber. Ich zeigte ihnen mein Gebiss. »Wissen Sie, dass Aids in Flugzeugen, die höher als zehntausend Meter fliegen, auch durch die Luft übertragen werden kann?«

Das Flugzeug ruckte an, und ich bekam Flugangst. Eigentlich ist es keine Flugangst, es ist nur die Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wenn der Steigflug vorbei ist, geht es mir wieder besser.

Ich atmete mit offenem Mund wie ein Blasebalg, mein Puls war jenseits von Gut und Böse.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Kiki besorgt.

»Es geht schon«, keuchte ich. »Ist gleich vorbei.«

»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich die Stewardess geschäftsmäßig.

»Alles in Ordnung. Vielen Dank.«

Endlich waren wir oben, und mein Körper hatte akzeptiert, dass der Flugzeugboden nun als Erdoberfläche herhalten musste.

Ich hatte Kiki bereitwillig den Fensterplatz überlassen, Blicke in die Tiefe gehören nicht zu meinen bevorzugten Vergnügungen. Sie aber konnte sich nicht sattsehen an den vorbeifliegenden Wolkenfetzen.

Meine kleine Schwester. In Ermangelung anderer Geschwister meine Lieblingsschwester. Sie ist zwei Jahre jünger als ich (inzwischen auch schon weit über dreißig). Als Kind musste ich sie immer mitnehmen, wenn ich mit meinen Freunden spielen wollte. Dafür bekam sie dann die Aufgabe, auf den Wigwam aufzupassen, während wir Jungs den feindlichen Indianerstamm bekämpften. Hinterher beschwerte sie sich bei unserer Mutter, und ich durfte nicht Kobra, übernehmen Sie! gucken.

Später profitierte sie davon, dass ich schon mühsam alle Freiheiten erkämpft hatte, bevor sie in das entsprechende Alter kam.

Während des Studiums – wir studierten beide Jura in Münster – verloren wir uns ein wenig aus den Augen. Ich war zuerst ein linker Student und dann ein linker Anwalt, sie hatte nichts übrig für Demonstrationen, Agitation und Rektoratsbesetzungen. Gegen Ende ihres Studiums lernte sie den Betriebswirtschaftsstudenten Jochen Große-Hülskamp kennen, Spross einer alteingesessenen Warenfelder Familie. Jochens Großvater hatte mit einer Werkstatt für landwirtschaftliche Geräte begonnen, und Jochens Vater, Alfons Große-Hülskamp, hatte das Ganze zu einer modernen Maschinenbaufabrik weiterentwickelt. Mit rund dreihundert Beschäftigten war die Grohü GmbH inzwischen der größte Betrieb in Warenfeld.

Nach ihrem Zweiten Staatsexamen heiratete Kiki Jochen Große-Hülskamp, der bereits in der väterlichen Firma arbeitete. Nach allem, was ich weiß, wäre Kiki eine gute Juristin geworden, aber sie begnügte sich mit ihrer Rolle als Hausfrau, mal abgesehen von gelegentlichen juristischen Ratschlägen und Briefdiktaten für die Firma, die ihr Mann mittlerweile leitete.

»Es ist mein Leben«, sagte Kiki.

Ich hasse es, wenn sie meine Gedanken liest.

»Was hast du denn aus deinem gemacht? Ein linker Anwalt, der Polizistenbeleidiger und Kasernenblockierer aus den Klauen der Klassenjustiz entrissen hat, gestürzt über die Veruntreuung von Mandantengeldern. Zurückgekehrt als Briefmarkenhändler und Privatdetektiv, inzwischen Berufsinvalide. Habe ich das richtig zusammengefasst?«

»Es gab auch schöne Zeiten«, verteidigte ich mich.

»Natürlich. Glaubst du eigentlich, dass ich in meiner Villa in Warenfeld sitze und langsam versauere? Ich spiele Tennis, ich bin in mehreren Vereinen aktiv, alle paar Wochen mache ich eine Reise, mit und ohne meinen Mann. Wenn es mir mal langweilig wird, organisiere ich ein Fest für irgendeinen guten Zweck.«

Kein Wunder, dass ihr das Alter nichts anhaben konnte. Wie sie da saß, in ihrem seriösen grauen Kleid, eine gepflegte, nahezu makellose Erscheinung, wusste man gleich, dass sie von den mörderischen Anforderungen der kapitalistischen Berufswelt verschont wurde.

»Was guckst du so?«, fragte Kiki.

»Ich dachte über unsere unterschiedlichen Auffassungen vom Leben nach. Im Gegensatz zu dir brauche ich die Herausforderung, die neue Aufgabe.«

»Das habe ich gesehen. Sah sehr anstrengend aus, was du da am Strand gemacht hast.«

Ich schnalzte. »Das ist nur vorübergehend. Sobald ich wieder gesund bin, mache ich etwas Neues.«

»Und was?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Aha!«

»Auf jeden Fall«, verteidigte ich mich, »würde ich mich nicht in die Klauen einer Familie vom Schlage der Große-Hülskamps begeben, nur um mir ein gutes Leben zu erkaufen. Alfons alleine genügte, um eine chronische Gastritis zu verursachen.«

»Ich sehe ihn ja nicht ständig. Und Jochen ist ganz anders. Er ist viel weltoffener und toleranter, als du denkst.«

»Wo wir schon dabei sind«, lenkte ich das Gespräch auf den Grund unserer Heimreise. »Gehören zur Weltoffenheit auch die Geschäfte mit den Arabern?«

»Es war nicht seine Idee. Er hat die Kontakte vom Alten übernommen.«

»Und was ist daran nicht koscher?«

Kiki senkte ihre Stimme. »Weißt du, was dual use ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das heißt, dass man etwas so oder so verwenden kann, für friedliche und für militärische Zwecke. Die Grohü GmbH produziert Werkzeugmaschinen. Dämmert dir etwas?«

Ich stieß einen Pfiff aus. »Außenwirtschaftsgesetz. Die Länder, mit denen dein Mann Geschäfte macht, stehen auf der schwarzen Liste.«

»Nehmen wir ein simples Beispiel: eine Maschine, die Radkappen herstellt, kann ohne großen Aufwand so umgerüstet werden, dass sie Granathülsen produziert.«

»Und was sagt dein Mann dazu?«

»Er sagt, dass das Wirtschaftsministerium bislang alle Exporte abgesegnet hat. Wenn die keine Bedenken hätten, warum sollte er dann welche haben.«

»Eine schmutzige Hand macht die nächste dreckig.«

»So ähnlich.«

»Und wo liegt das Problem?«

»Ich glaube, sie wollen mehr.«

»Die Araber?«

»Ja. Maschinenteile, Materialien, die eindeutig militärisch genutzt werden.«

»Und Jochen weigert sich?«

»Vermutlich. Wie gesagt, er spricht nicht mit mir darüber.«

»Dann wäre er doch aus dem Schneider.«

Kiki lächelte matt. »Sie haben ihn in der Hand. Kannst du dir vorstellen, was es bedeuten würde, wenn eine deutsche Illustrierte Fotos erhielte, die Grohü-Maschinen in einer Waffenfabrik zeigen? Die Grohü GmbH wäre am Ende.«

Ich lehnte mich im Sitz zurück und dachte nach. Dann träumte ich von Nellie, weißem Strand und Palmen.

»Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte ich nach einer Weile, »ist es mir scheißegal, ob die Grohü GmbH den Bach runtergeht. Eine Waffenschmiede weniger auf der Erde, kein Verlust für die Menschheit. Du könntest zur Abwechslung mal ein bisschen als Juristin arbeiten.«