Georg Wilsberg, Exanwalt, Exbriefmarkenhändler und Exprivatdetektiv, bewegt sich finanziell im freien Fall Richtung Armut. Da kann er nicht Nein sagen, als er eines Abends in seiner Stammkneipe einen Anruf eines leibhaftigen Monsignore erhält, der ihn engagieren will, um einer antiklerikalen Erpresserbande namens ›Kommando Jan van Leiden‹ 500.000 Mark zu überbringen.
Jan van Leiden war der König der Wiedertäufer, die im 16. Jahrhundert in Münster die Macht übernahmen. Und ähnlich wie ihre Vorbilder verüben die neuen Wiedertäufer Anschläge auf Einrichtungen der katholischen Kirche.
Jürgen Kehrer
Wilsberg und die Wiedertäufer
Kriminalroman
© 2013 by GRAFIT Verlag GmbH
Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung des Kriminalromans
Jürgen Kehrer: Wilsberg und die Wiedertäufer
© 1994 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
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Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagzeichnung: Peter Bucker
eISBN 978-3-89425-889-4
Jürgen Kehrer, geboren 1956 in Essen, lebt in Münster. Er ist der geistige Vater des Buch- und Fernsehdetektivs Georg Wilsberg. Neben bisher achtzehn Wilsberg-Krimis (zuletzt zus. mit Petra Würth: Todeszauber), verfasste er mehrere Wilsberg-Drehbücher, veröffentlichte historische Kriminalromane, Sachbücher zu realen Verbrechen, den Thriller Fürchte dich nicht! sowie zahlreiche Kurzgeschichten mit und ohne Wilsberg, von denen viele in Wilsbergs Welt nachzulesen sind.
www.juergen-kehrer.de
»Ich habe da eine Inhaltsangabe. Ein Kaufhausdirektor ist hinter der Dorfschullehrerin her, sie flüchtet ins Gebirge und lebt dort unter der Obhut eines Eremiten, der sie später auch heiratet. Stimmt das?«
»Ja, leider.«
(François Truffaut im Gespräch mit Alfred Hitchcock)
Dies ist ein Roman. Bitte lesen Sie ihn wie einen Roman, verstehen Sie ihn wie einen Roman und stellen Sie ihn auf der Seite des Bücherschrankes ab, wo auch die anderen Romane stehen! Danke.
Der Autor
PS In diesem Roman gibt es Anmerkungen. Lassen Sie sich davon nicht irritieren! Es ist trotzdem ein Roman.
»Georg, Telefon für dich!«
Meine Lieblingskellnerin schwenkte den Telefonhörer, und ich versuchte mich verzweifelt zu erinnern, wem ich verraten hatte, dass ich hier und heute im Alcatraz zu finden sei, mal abgesehen davon, dass ich in letzter Zeit fast jeden Abend im Alcatraz gewesen und selten vor Mitternacht wieder herausgekommen war. Genau genommen brauchte ich es also niemandem zu verraten, und diejenigen, die es interessierte, kamen einfach vorbei, tranken ein Glas mit mir und verließen mich dann mit einem aufmunternden Lächeln. Das Lächeln bedeutete so viel wie: es wird schon wieder, du kommst auf die Beine, wenn du nur willst, wenn du aufhörst zu trinken, wenn du mal wieder arbeitest und so weiter und so fort.
»Georg, nun komm schon!«
Ja, richtig, jemand wollte mit mir sprechen. Elegant glitt ich vom Barhocker und machte die paar Schritte bis zur Wand, wo mir Anna, inzwischen leicht genervt, den Hörer in die Hand drückte.
»Wer ist es denn?«, erkundigte ich mich bei ihr.
»Keine Ahnung, ist so laut hier.« Sprach's, nahm ihr Tablett und verschwand im Gewimmel der Nach-Kinogänger, die sich lautstark erzählten, wie toll das gewesen sei, als sich Bruce Willis zusammen mit dem Hochhaus in die Luft sprengte.
»Wilsberg«, schrie ich in die Muschel.
Eine leicht piepsige, aber eindeutig männliche Stimme antwortete.
»Ich verstehe nichts«, brüllte ich zurück und stopfte mir einen Finger in das unbenutzte Ohr.
»Monsignore Kratz«, sagte die deutlicher gewordene Stimme. »Wir möchten Sie engagieren.«
Ich lachte. »Aber, aber, Herr Monsignore! Was soll der Scheiß?«
»Das ist kein Scherz. Wir bieten Ihnen eine anständige Bezahlung.«
Ich überlegte krampfhaft, wem die piepsige Stimme gehörte. Aber ich kam nicht drauf. »Wenn das ein Witz sein soll …«
»Ich gebe Ihnen mein Wort als Geistlicher.«
»Sie meinen, Sie sind wirklich ein Monsignore?«
»Ja. Ich arbeite im Bischöflichen Generalvikariat.«
Wenn mich jemand verarschen wollte, tat er das ziemlich gründlich. »Offen gestanden, habe ich mit der katholischen Kirche nichts am Hut.«
»Wir wollen Sie ja auch nicht bekehren, wir wollen Sie mit einer Aufgabe betreuen.«
»Und warum?«
»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht erklären. Kommen Sie bitte morgen früh um zehn Uhr in das Bischofspalais.«
Ich lehnte mich an die Wand und steckte mir einen Zigarillo ins Gesicht. »Das reicht nicht«, brummte ich in den Hörer. »Ich arbeite nicht für jeden.«
Die Stimme des Monsignore wurde etwas weniger pastoral. »Wir haben Sie nicht ausgesucht. Sie sind uns empfohlen worden.«
»Von wem?«
»Auch das darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Hören Sie mal, Herr Monsignore …«
»Kratz.«
»… Kratz: Bei meiner Arbeit habe ich ein paar Grundsätze. Unter anderem verkaufe ich mich nicht an die Mafia, den Unternehmerverband und die katholische Kirche, falls das nicht sowieso ein und dasselbe ist.«
»Weg da!« Anna schubste mich zur Seite, weil ich die Durchreiche zur Küche versperrte.
Kratz stöhnte. »Machen Sie es uns nicht unnötig schwer, Herr Wilsberg. Wir wissen, dass Sie finanziell, nun, wie soll ich sagen, nicht in der besten Lage sind.«
Was die Kirche alles wusste! Vermutlich hatte mein Vermieter seinen Mietwucher gebeichtet oder die böse Absicht, mich aus dem Haus zu werfen, falls ich nicht bald die rückständige Miete bezahlte. Tatsächlich befand ich mich, sah man mal von der ganzen Schönfärberei ab, im freien Fall Richtung Armut.
»Können Sie nicht einen Vorschuss von zehntausend Mark gut gebrauchen?«
Ein ganzes Gläschen Adrenalin gluckste durch meine Adern. Plötzlich sah ich einen Haufen Geldscheine vor mir. »Sagten Sie: zehntausend Mark?«
»Richtig. Als Vorschuss. Bei Erfolg winkt Ihnen eine weitere Prämie.«
»Georg, du stehst im Weg.« Anna balancierte ein gefährlich beladenes Tablett an meiner Nase vorbei. Ich strahlte sie an. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Herr Kratz?«
»Ich finde es bedauerlich, dass in unserer Welt allein materielle Reize zählen.«
»Sie vielleicht. Ich mag materielle Werte. Mehr als die höheren.«
»Also dann!« Kratz wurde beinahe geschäftsmäßig. »Kann ich morgen früh mit Ihnen rechnen?«
»Rechnen Sie, Herr Kratz, rechnen Sie!«
Er legte auf. Versonnen starrte ich auf den Hörer. Zehntausend Mark. Damit konnte ich fünf Monatsmieten und auch noch meine Rechnung im Alcatraz bezahlen.
Anna nahm mir den Hörer aus der Hand und hängte ihn ein.
»Weißt du was?«, sagte ich zu ihr. »Ich habe gerade zehntausend Mark verdient.«
Sie zog unsanft an meinem Arm. »Setz dich wieder auf den Hocker, Georg. Guck mal, ich verdiene nur hundert Mark pro Abend. Und wenn mir dann noch dauernd Leute im Weg stehen …«
»Pah! Hundert Mark!«, sagte ich.
»Ich weiß, das ist viel zu wenig. Aber Norbert, der Geizhals, zahlt nicht mehr.«
Norbert, der hinter dem Zapfhahn stand, machte lange Ohren. »Redet ihr über mich?«
Ich beugte mich über die Theke. »Ich habe gerade mit einem echten Monsignore gesprochen.«
Norbert tätschelte meine Hand. »Steht's so schlimm um dich?«
»Im Gegenteil. Er hat mir zehntausend Mark geboten. Für eine kleine Gefälligkeit.«
»Wär nicht schlecht, wenn's stimmen würde«, nuschelte er. »Im Schrank liegt ein ganzer Stapel von Deckeln, die du hier gemacht hast.«
»Morgen Abend«, raunte ich ihm zu, »zahle ich alles. Auf einmal.«
Norbert sah irgendwie bekümmert aus. Ich fürchtete fast, er glaubte mir nicht. »Willst du noch ein Bier?«
Ich nickte. Van Morrison, die alte Rockröhre, dröhnte mir die Ohren voll. Es gibt Abende, die sind besser, als man morgens denkt.
Natürlich stand ich viel zu spät auf, nachdem sich der Radiowecker eine halbe Stunde lang vergeblich bemüht hatte, meine Gehirnströme aufzumischen. Nach zwei Aspirin-Ersatztabletten (die billigeren) sah die Welt wieder halbwegs in Ordnung aus, und ich beschloss, dass ein Monsignore auf nüchternen Magen noch schwerer zu ertragen wäre als die Tatsache, dass ich eine geschlagene Viertelstunde zu spät kommen würde. Also stellte ich die Espressokanne auf den Herd und schob etwas Weiches, Gummiartiges in den Toaster, das laut Packungsaufschrift ein Toastbrot sein sollte. Dann stand ich zehn Sekunden vor dem Schrank und überlegte, welche Kleidung für ein Zehntausend-Mark-Quickie in höherem Auftrag angemessen sei. Ich entschied mich für ein beigefarbenes Hemd und meinen dunkelblauen Schlips.
Das hätte ich besser noch etwas aufschieben sollen, denn nach dem ersten Bissen klebte ein hässlicher Fleck Erdbeermarmelade auf der Krawatte, der durch sofortiges Wischen zwar breiter, aber nicht unbedingt unkenntlich wurde. Doch jetzt war es wirklich zu spät, um den Schlips zu wechseln, zumal ich meinen zittrigen Fingern nicht zutraute, dass sie den schwierigen Knoten innerhalb so kurzer Zeit zweimal schaffen würden.
Es war eisig kalt an diesem Februarmorgen, aber die Soutane schien ziemlich wetterfest zu sein. So ein dickes, um die Knöchel schlabberndes Ding, das bei den aufgeregten Schritten des hageren Monsignore hin- und herflog.
»Na endlich!«, rief er, als er mich durch die Gitterstäbe sah. »Kommen Sie! Kommen Sie!«
Ich öffnete das Tor und betrat den gepflasterten Innenhof. Strafend guckte er auf seine Armbanduhr.
Ich probierte es mit einer Notlüge: »Ich bitte um Verzeihung, aber ich musste noch Schnee räumen.«
»Schon gut«, gab er kurz angebunden zurück. »Der Bischof wartet.«
Dann sauste er die Treppe hinauf, und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
»Der Bischof?«, fragte ich atemlos.
Seine Mundwinkel zuckten in Andeutung eines Lächelns. »Der Weihbischof.« Während wir an Kreuzigungsbildern im surrealistischen Stil vorbeigingen, klärte er mich auf. »Weihbischof Becker ist für das Administrative zuständig. Er ist für Sie die entscheidende Instanz. Der Bischof selbst ist über die Vorgänge sehr bekümmert, und wir möchten ihn nicht unnötig belasten.«
Einige Ecken, ein paar geschäftig aussehende Junggeistliche und zwei huldvoll lächelnde Nonnen später klopfte Monsignore Kratz an eine Tür.
»Herein!«, dröhnte ein Bass aus dem Inneren.
Kratz schob mich in ein geräumiges Arbeitszimmer, das ganz in unaufgeregtem Braun gehalten war, mit einem überlebensgroßen Porträt von Kardinal von Galen, dem Vorzeige-Anti-Nazi der katholischen Kirche, an der Wand.
Der Besitzer der Dröhnstimme legte die Tageszeitung, in der er geblättert hatte, beiseite und stand auf. Er war groß und breit, etwas schlanker als Helmut Kohl, aber von ähnlicher Statur. Dichte, weiße Haare wuchsen über dem runden, gar nicht sinnenunfreudigen Gesicht. Was er von dem Fenster hinter seinem Rücken übrig ließ, gestattete den Blick auf eine schneeüberzogene Parklandschaft. Irgendwo da hinten musste die Aa fließen, und im Sommer, bei geöffnetem Fenster, zählte dieser Arbeitsplatz sicher zu den schönsten in Münsters Innenstadt.
Der Weihbischof streckte mir eine Pranke entgegen und quetschte meine Hand. »Becker. Schön, dass Sie kommen konnten.«
Ich bemühte mich, den Schmerz nicht zu zeigen, und versteckte die geschundene Hand in der Hosentasche. »Ihr Monsignore Kratz hatte ein überzeugendes Argument.«
»Ja ja, das Geld. Ich verstehe das. Um ein Haar hätte ich Volkswirtschaft studiert anstatt Theologie. Setzen Sie sich doch!«
Ein bequemer Ledersessel verschluckte mich, und ich versteckte den Marmeladenfleck unter dem Jackett.
»Kratz, Sie auch!«, donnerte der Weihbischof in Richtung des Monsignore, der sich unauffällig im Hintergrund gehalten hatte. »Er ist meine rechte Hand«, fügte er erklärend hinzu, »die Allzweckwaffe des Bistums, und manchmal auch so etwas wie unser hauseigener advocatus diaboli.«
Kratz verzog das Gesicht, verkniff sich aber einen Kommentar, während er einen einfachen Lehnstuhl an die Stirnseite des Schreibtischs zog.
Becker hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt und sah aus wie ein meditierender Lama. Ich harrte der Dinge, die da kommen würden.
So schwiegen wir gemeinsam fünf Sekunden, dann lächelte mich der Weihbischof an: »Was wissen Sie über die Wiedertäufer?«
Kalt erwischt, nennt man das wohl. Ich sortierte die gängigen Klischees und frivolen Anekdoten über die Vielweiberei in meinem Gedächtnis.
»Ist das die Zehntausend-Mark-Frage?«
»Nein, nein, aber es wichtig für die Geschichte, in die Sie jetzt zwangsläufig involviert werden.«
»Eine radikalchristliche Sekte, die im sechzehnten Jahrhundert in Münster die Macht übernahm. Die Wiedertäufer vertrieben alle Andersgläubigen aus der Stadt und trotzten anderthalb Jahre dem Bischof, der die Stadtmauern belagerte. Schließlich, durch Hunger und Verrat, gelang es dem Bischof, die Stadt zu erobern, und er rächte sich blutig. Kaum ein Wiedertäufer überlebte.«
Missbilligend zog Becker eine Augenbraue in die Höhe. »Der Bischof war nicht für das Gemetzel der Söldner verantwortlich. Damals gehörte es dazu, dass man den Landsknechten nach einer Belagerung die Stadt zum Plündern überließ.«
»Und was ist mit den Käfigen an der Lambertikirche?«
»Sie meinen die Anführer?«
»Ja. Die hat man doch Monate später und mit Einverständnis des Bischofs gefoltert, verbrannt und zur Schau gestellt.«
»Zur Warnung der Nachgeborenen. Was Sie als urchristlich bezeichnen, war nichts weiter als Ketzerei. Und darauf standen allerdings drakonische Strafen.«
Ich nickte. »Gut und schön. Ich muss gestehen, dass ich auf einen theologischen Disput nicht vorbereitet bin. Ich habe vermutet, dass Sie mich für etwas Handfesteres engagieren wollen.«
Kratz rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.
Der Weihbischof lächelte wieder. »Da vermuten Sie ganz richtig. Einer der Anführer der Wiedertäufer, der sich sogar zu ihrem König machte, nannte sich Jan van Leiden. Auch er landete im Käfig.« Becker öffnete eine Schublade und zog einen Brief heraus. »Dieser Jan van Leiden oder Johan Bockelson, wie er wirklich hieß, ist auf wundersame Weise wieder lebendig geworden.«
Ich verstand nur Bahnhof.
»Lesen Sie Zeitung, Herr Wilsberg?«
»Gelegentlich. Meistens den Sportteil.«
»Nun, vor etwa einem Monat ereignete sich ein Vorfall an der Lambertikirche. Eigentlich kaum mehr als ein Dummejungenstreich. Über Nacht wurden die Käfige gelb angemalt. Eine blöde Geschichte. Wir haben die Käfige natürlich sofort reinigen lassen. Das Ganze wäre nicht der Rede wert, wenn es jetzt nicht eskalieren würde.« Der Weihbischof machte eine Pause und starrte mich grimmig an. »Ein Anschlag im Dom. Das Porträt von Franz von Waldeck, gemalt von Lucas Drueger dem Jüngeren. Ein kleines Meisterwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert. Mit Säure bespritzt. Vielleicht lässt sich das Bild retten, aber der Schaden geht in die Zehntausende.«
»Das ist mir neu«, sagte ich.
»Wir haben die Sache unter dem Teppich gehalten. Aber inzwischen hat die Presse davon Wind bekommen. Nachher gebe ich dazu eine Pressekonferenz.«
»Entschuldigen Sie«, wandte ich ein, »ich sehe immer noch nicht, wozu …«
Die breite Hand des Weihbischofs klatschte auf den Brief. »Wir haben einen Bekennerbrief bekommen, so nennt man das wohl. Darin erklärt sich ein Kommando Jan van Leiden für den Anschlag verantwortlich. Sie drohen mit weiteren Anschlägen, falls wir nicht fünfhunderttausend Mark zahlen. Die Dagobert-Masche, verstehen Sie.«
Ich verstand und gab ein zischendes Geräusch von mir. »Deshalb Franz von Waldeck, der Bischof, der den Wiedertäuferaufstand niedergeschlagen hat.«
Beckers Stimme bekam einen durchdringenden Kanzel-Ton: »Der Mann hat Europa vor einer Krise gerettet. Was glauben Sie denn, was passiert wäre, wenn Waldeck den Wiedertäuferunsinn nicht im Keim erstickt hätte? Überall gab es Wiedertäufergruppen, in Straßburg, vor allem in den Niederlanden. Nicht nur die kirchlichen, auch die weltlichen Autoritäten hätten Schaden genommen. Das Habsburger Reich wäre in der Anarchie versunken. Leute wie Sie …«
»Leute wie ich?«
»Ich kenne die Schwärmerei für die Wiedertäufer. Das ist eine altlinke Tradition. Marx, Bebel, Kautsky, alle feierten die Wiedertäufer als Revolutionäre.«
Das Gesicht des Weihbischofs war rosarot angelaufen. Seine Erregung konnte nicht allein vom Historikerstreit stammen.
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich etwas mit dem Anschlag zu tun habe?«
»Ich unterstelle gar nichts, Herr Wilsberg! Ich lese. Und hier steht …« Er hob den Brief hoch und kniff die Augen zusammen. »Die selbst ernannten neuen Wiedertäufer verlangen klipp und klar, dass die fünfhunderttausend Mark von Georg Wilsberg überbracht werden.«
Ich war baff, vollkommen platt und fingerte mit zittriger Hand nach meiner Zigarilloschachtel.
»Bitte nicht!«, meldete sich der Monsignore erstmalig zu Wort. »Ich vertrage keinen Rauch.«
Seufzend ließ ich die Schachtel in die Tasche zurückgleiten.
»Sie hatten wohl keine Ahnung, wie?« Das klang nach einer Fangfrage.
»Nein. Davon wusste ich nichts.«
»Na ja«, sagte Becker mit um einige Dezibel zurückgenommener Stimme, »dann ist es wohl Zufall. Von Fügung möchte ich in diesem unchristlichen Zusammenhang nicht sprechen.«
»Und Sie wollen zahlen?«, fragte ich ungläubig.
»Ja. Wir wollen diese missliche Angelegenheit nicht noch höher schaukeln. Wer weiß, was diesen Wahnsinnigen sonst noch einfällt. Aber das bleibt unter uns, versteht sich. Kein Wort an Außenstehende.«
»Sie können sich auf mich verlassen«, versicherte ich ihm.
Der Weihbischof strich mit einem Finger über seine fleischige Unterlippe. »Wir haben natürlich über Sie Erkundigungen eingezogen …«
»Ach ja«, hakte ich ein, »das ist ein Punkt, den ich auch ansprechen wollte. Ihr Herr Kratz deutete an, dass er über meine finanziellen Verhältnisse Bescheid weiß.«
Becker warf Kratz einen missbilligenden Blick zu. »Sie haben was?«
Kratz räusperte sich. »Ich brauchte ein triftiges Argument, um Herrn Wilsberg zu überzeugen. Und da schien mir …«
»Das meine ich nicht«, unterbrach ich ihn. »Woher wussten Sie es? Gibt es einen kirchlichen Geheimdienst? Hatten Sie eine Eingebung?«
»Ähm …« Kratz kämpfte erneut mit einem Frosch im Hals. »Das Bistum verfügt über eine eigene Bank. Und Banken untereinander können die Kreditwürdigkeit von Kunden … Sie verstehen?«
»Davon hatte ich keine Ahnung«, schaltete sich der Weihbischof wieder ein. »Ich kann auch nicht sagen, dass ich ein solches Vorgehen gutgeheißen hätte. Worauf ich vorhin ansprach, waren Ihre Lebensdaten. Wir wissen, dass Sie mal als Anwalt gearbeitet haben, Ihre Lizenz zurückgeben mussten, sich dann als Briefmarkenhändler und Privatdetektiv verdingt haben.«
Ich nickte. »Soweit korrekt.«
»Seit einiger Zeit scheinen Sie keiner geregelten Tätigkeit nachzugehen. Wie kommt das?«
»Ich hatte einen schweren Unfall. Und danach keine Lust, wieder als Schnüffler zu arbeiten. Im Moment bin ich auf der Suche nach was Neuem.«
»Hhmm.« Becker zog eine Schachtel Marlboro aus der Tasche und spielte mit der Verschlusskappe. »Sagen Sie nichts, Kratz!« Er legte die Schachtel zur Seite. »Sie nehmen bei der Geschichte eine Vertrauensstellung ein, Herr Wilsberg. Wir müssen uns darauf verlassen, dass Sie nicht gleich zu einer Illustrierten oder einem Privatsender rennen und Ihre Informationen brühwarm verkaufen.«
»Klar«, sagte ich. »Das würde die Geldübergabe unmöglich machen.«
»Eben«, bestätigte der Weihbischof. »Und Ihr Leumund ist nicht derart, dass man sich Ihnen bedingungslos anvertrauen möchte.«
Langsam wurde ich sauer. »Ich habe mich nicht aufgedrängt. Sie haben mich angerufen, haben Sie das vergessen?«
Becker hob begütigend die Hände. »Richtig, richtig. Es ging mir nur darum, Positionen klarzustellen. Wie auch immer Ihr Name in den Erpresserbrief geraten ist …«
»Wofür ich nichts kann«, fuhr ich dazwischen.
»Ja. Wir erwarten, dass Sie sich uns gegenüber fair verhalten. Kratz wird zu diesem Zweck einen kleinen Vertrag aufsetzen.«
»Bliebe noch eine Frage«, sagte ich rasch, »wie hoch ist mein Erfolgshonorar, wenn ich das Geld übergeben habe?«
Der Weihbischof drehte seinen schweren Kopf zu Kratz. »Was kriegt er?«
»Noch mal zehntausend«, schnarrte Kratz.
»Fein«, sagte ich, »dann kann's ja losgehen.«
Der Weihbischof lehnte sich zurück. »Na schön. Alles Weitere regeln Sie mit Kratz. Er ist Ihr Ansprechpartner. In dringenden Fällen bin ich selbstverständlich weiterhin …«
Das Kommando Jan van Leiden hatte sich noch nicht zu den näheren Modalitäten der Geldübergabe geäußert und auf einen folgenden Brief verwiesen.
Monsignore Kratz verabschiedete mich mit einem feuchtkalten Händedruck: »Kommen Sie morgen früh ins Generalvikariat. Dann regeln wir das Vertragliche. Und halten Sie sich bitte zur Verfügung!«
»Wohin soll ich schon reisen? Und mit wem?«
Kratz schenkte mir ein gallebitteres Lächeln. »Wenn Sie ein Ziel brauchen, Herr Wilsberg: die Kirche ist immer für Sie da.«
»Nein, danke, ich komme schon zurecht.«
»Wie Sie meinen.«
Dann schloss er die Tür hinter mir, und ich stand unter dem wolkenverhangenen Himmel, der nach mehr Schnee, Hagel oder saurem Regen roch. Ich steuerte eine Prise Zigarillorauch bei und schlenderte langsam aus dem Kirchenreich ins weltliche, das heißt auf den Marktplatz, hinüber.
Jemand schnäuzte sich geräuschvoll, und ich erkannte die dazugehörige, rot geschwollene Nase.
»Was treibst du dich bei diesem Wetter hier herum? Du solltest lieber im Bett liegen.«
»Würde ich ja gerne. Aber es gibt Kollegen, die sind noch kränker als ich. Zumindest behaupten sie es.«
Hauptkommissar Stürzenbecher steckte sein Taschentuch weg und sah mich aus triefenden Augen an. Eigentlich hatte er, seitdem ich ihn kannte, noch nie gesund ausgesehen, aber es ging eindeutig bergab.
»Wir werden alle nicht jünger«, sagte er, als hätte er meine Gedanken erraten.
»Wem sagst du das? Also: bis dann!«
»Warte mal!«
Ich blieb stehen.
»Was hast du da drin gemacht?«
»Mit dem Bischof geplaudert.«
»Worüber?«
»Tut mir leid, das darf ich dir nicht sagen.«
Stürzenbecher wurde hartnäckig. »Komm schon! Du arbeitest doch gar nicht mehr als Privatdetektiv.«
»Du wirst es nicht glauben, aber vor zehn Minuten habe ich mich entschlossen, wieder damit anzufangen.«
Ich machte ein paar Schritte Richtung Prinzipalmarkt, konnte Stürzenbecher jedoch nicht abhängen. »Ging es um den Anschlag im Dom?«
Ich guckte ihn mitleidig an. »Für wie blöd hältst du mich? Und bevor du es jetzt auf die harte Tour versuchst: Du wirst keinen Untersuchungsrichter finden, der mich in Erzwingungshaft nimmt, wenn ich denen verrate, dass der Bischof von Münster mein Mandant ist.«
»Ja, ja«, maulte Stürzenbecher, »ist mir schon klar. Die wissen mehr, als sie mir sagen. Wie soll ich denn die Täter finden, wenn mir wichtige Informationen vorenthalten werden?«
»Dein Problem.« Ich setzte meinen Weg unbeirrt fort.
»Scheiße.« Er nieste jämmerlich. »Du bist wirklich ein Freund.«
Er tat mir aufrichtig leid, aber nicht so leid, dass ich dafür zehntausend Mark aufs Spiel gesetzt hätte.
Als die traurige, frostgeschüttelte Gestalt verschwunden war, kehrte ich um. Mitten im Gespräch mit Stürzenbecher war mir eine Idee gekommen. Mehr ein Impuls. Ich wollte mir das Bild ansehen, von dem der Weihbischof gesprochen hatte. Irgendwie war ich ja in die Geschichte verwickelt. Zumindest ein Mitglied dieses ominösen Kommandos Jan van Leiden musste mich kennen, anders war nicht zu erklären, wieso mein Name in dem Bekennerbrief auftauchte. Und wenn schon der Weihbischof vermutete, dass ich mit den Erpressern unter einer Decke steckte, was würde dann erst die Polizei denken, wenn sie den Brief in die Finger bekam? Also konnte es nicht verkehrt sein, vor allen anderen herauszufinden, welcher von meinen Bekannten zum Kirchenhasser geworden war.
Der alte Mann mit Armbinde, der den Eingang des Paulus-Domes bewachte, wusste sofort Bescheid. »Das Waldeck-Bild von Lucas Drueger? Das hängt in der Domkammer. Aber im Moment ist es nicht zu besichtigen, es wird restauriert.«
Ich bedankte mich und ging durch das Kirchenschiff. Vor der astronomischen Uhr aus dem sechzehnten Jahrhundert standen ein paar Touristen und warteten auf einen Glockenschlag. Der meiste Andrang herrschte an der blank polierten und von Johannes dem 23. signierten Grabplatte von Kardinal von Galen. Schließlich kam ich zu der seitlich gelegenen Domkammer.
»Erste Etage«, sagte der noch ältere Mann an der Kasse. »Leider mussten wir es abhängen.«
Waldeck hatte, wie an dem hellen rechteckigen Fleck an der Wand zu erkennen war, zwischen Kilian Wegeworts Johannes-Altaraufsatz und sechs Sybillen-Porträts (leicht mollige Frauen im mittleren Alter) gehangen.
Ich nahm das dritte Mitglied der Rentner-Band beiseite. »Ich komme von Monsignore Kratz«, raunte ich ihm zu. »Er hat mir erlaubt, das beschädigte Bild zu sehen. Sie wissen schon.«
Der Name Kratz wirkte wie ein Türöffner. Ohne nach meiner Legitimation oder irgendwelchen Unterschriften zu fragen, schloss der alte Mann die Tür zu einem Nebenraum auf. »Da!«, sagte er und zeigte auf eine Wolldecke, aus der ein schwerer, goldbeschichteter Holzrahmen herausragte.
Ich lugte unter die Wolldecke. Franz von Waldeck saß auf einem Pferd, der zur Schlacht bereite Feldherr. Sein Blick war vermutlich fest und auf das in der Ferne gelegene Münster gerichtet gewesen, bevor er mitsamt dem ganzen Kopf von einem gezielten Säurespritzer weggeätzt worden war. Hinter mir blitzte es.
Ich fuhr herum. »Was soll das?«
»Schon gut«, lachte ein pockennarbiger Bursche mit Stoppelfrisur und umgehängten Fotoapparaten. »Du kommst nicht in die Zeitung.«
»Tobias Frank«, fauchte ich. »Der rasende Reporter der münsterschen Lokalpresse.«
Er schüttete sich aus vor Lachen. »Ein erhebender Moment, einen Meisterdetektiv bei der Arbeit zu sehen.«
Ich ging nicht darauf ein. Wie ich Frank kannte, würde er mich jetzt mit uninteressantem Klatsch vollquatschen. Deshalb musste ich so schnell wie möglich Land gewinnen.