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ISBN 978-3-7751-7140-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5431-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg
© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Umschlaggestaltung: Kathrin Retter, Weil im Schönbuch
Titelbild: shutterstock.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Einleitung
I. Kapitel: »Kraft Gottes zur Rettung«
II. Kapitel: »Verflucht und von Christus getrennt«
III. Kapitel: »Die Israeliten sind …«
1. Die Kindschaft
2. Die Herrlichkeit
3. Die Bundesschlüsse
a) Gottes Bund mit Abraham
b) Der Bundesschluss Gottes mit Israel am Sinai
c) Der Sabbatbund
d) Gottes Bund mit Pinchas
e) Gottes Bund mit David
f) Der neue Bund
4. Die Gesetzgebung
5. Der Gottesdienst
6. Die Verheißungen
7. Die Väter
8. Die Herkunft des Messias
IV. Kapitel: »Mensch, wer bist du?«
1. Isaak und Ismael
2. Jakob und Esau
3. Der Lebenssinn des Pharao
4. Die Erwählung der Nichtjuden
5. Die Bevorzugung der Nichtjuden
V. Kapitel: »Hier ist kein Unterschied«
VI. Kapitel: »Die Füße der Freudenboten«
1. Eine gute Botschaft
2. Eine Botschaft des Trostes
3. Eine Botschaft gegen allen Augenschein
4. Eine uralte Botschaft
VII. Kapitel: »Damit Israel ihnen nacheifern sollte«
1. Echt sein
2. Schuld bekennen
3. Festhalten am Wort
4. Der barmherzige Samariter
VIII. Kapitel: »Ein Geist der Betäubung«
1. »Auch ich bin ein Israelit«
2. »7 000 Mann, die ihre Knie nicht gebeugt haben«
3. »Ein Geist der Betäubung«
IX. Kapitel: »Leben aus den Toten«
X. Kapitel: »Ihm sei Ehre in Ewigkeit!«
Zur Literatur
Index
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Den Herrn aber, den Messias, heiligt in euren Herzen, indem ihr jederzeit bereit seid, jedem Antwort zu geben, der euch um eine Erklärung bittet über die Hoffnung in euch.
1.Petrus 3,15
Rechenschaft ablegen über die Hoffnung, die ihn trieb – das wollte auch der Apostel Paulus. Deshalb schrieb er seinen Brief an die Gemeinde in Rom. Der Römerbrief ist eine Einführung in das Denken des Apostels. Er wollte sich vorstellen, um dann später die Christen in der Hauptstadt des Römischen Weltreiches persönlich kennenzulernen.
Im Zentrum des Römerbriefs stehen die Kapitel 9 bis 11. Im Zentrum des Heilsplanes Gottes mit dieser Welt steht Israel. Trotzdem wird das jüdische Volk bis heute an den Rand christlichen Denkens gedrängt. In den meisten Gemeinden sind es lediglich die »Israelfans«, die sich damit beschäftigen. Das Thema »Israel« gehört zu den »Exotika« der christlichen Theologie.
Rechenschaft ablegen ist eine intellektuelle Herausforderung. Paulus hat seinen Brief nicht nur an die theologische Elite geschrieben. Ausdrücklich richtet er sich »an alle, die in Rom sind« (Röm 1,7). Deshalb ist unsere Aufgabe, zu erklären, warum wir Israel lieben. Wir müssen biblisch belegen, warum Israel im Blick auf die Hoffnung, die in uns ist, eine so zentrale Rolle spielt.
Dass bei Paulus »einiges schwer verständlich ist«, hat schon sein Apostelkollege Petrus bemerkt (2.Petr 3,16). Das soll uns jedoch nicht von der Denkarbeit abschrecken. Denn das Ziel ist nicht, recht zu behalten, sondern Jesus Christus, den Messias Israels, in unseren Herzen zu heiligen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Der Textzusammenhang von Römer 9–11
Der Kontext ist entscheidend, wenn wir Einzelaussagen richtig verstehen wollen. Wir müssen wissen, in welchem Rahmen der Autor argumentiert. Deshalb wollen wir uns zuerst einen Überblick über die ersten acht Kapitel des Römerbriefs verschaffen. Röm 1-8 beantwortet die Fragen:
Im ersten Teil seines Briefs beschreibt Paulus den Heilsweg, den Gott jedem Menschen anbietet.
Ausgangspunkt ist in Röm 1,20 die Feststellung, dass Gottes »unsichtbares Wesen«, »seine ewige Kraft und Gottheit« seit Erschaffung des Universums aus den Werken Gottes mit dem Verstand erkennbar sind. Deshalb kommt der Apostel zu dem Schluss: Die Völker haben keine Entschuldigung. »Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn doch weder als Gott verehrt noch ihm gedankt, sondern wurden irre in ihren eigenen Überlegungen und verfinstert in ihrem unverständigen Herzen« (Röm 1,21).
Juden haben gegenüber Nichtjuden vor allem einen Vorteil: »Ihnen sind die Worte des einen, wahren Gottes anvertraut« (Röm 3,2). Bei näherer Betrachtung jüdischer Lebenspraxis muss Paulus seinen Volksgenossen allerdings vorhalten: »Du lehrst andere, aber nicht dich selbst! Du rühmst dich im Gesetz, verunehrst aber gleichzeitig den einen Gott durch Gesetzesübertretung! So kommt es, dass der Name des wahren Gottes euretwegen unter den Nichtjuden verhöhnt wird« (Röm 2,21-24).
Paulus, der unter seinen jüdischen Volksgenossen als Scha’ul aus Tarsus bekannt war, weiß: »Die Beschneidung ist nur nützlich, wenn du das Gesetz tust. Wenn du aber ein Gesetzesübertreter bist, dann ist deine Beschneidung zum Unbeschnittensein geworden« (Röm 2,25). Er erkennt: Im Blick auf die Rebellion gegen Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden: »Alle haben gesündigt. Ihnen fehlt die Herrlichkeitsgegenwart des einen, wahren Gottes« (Röm 3,23).
Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, dass ein Mensch gerechtfertigt wird allein durch eine Vertrauensbeziehung mit Gott, ohne eigene Leistung. »Denn es ist Einer, der eine, wahre Gott, der rechtfertigt, jüdische Menschen aus Glauben und Nichtjuden durch den Glauben« (Röm 3,28.30). Schritt für Schritt erklärt Paulus seinen Lesern, wie sie Frieden mit Gott erreichen können. Vorbild ist Abraham, der Vater des Glaubens (Röm 4,1 f.). Hintergrund ist der Opfertod und die Auferstehung des Messias Jesus (Röm 5), sodass ein Leben für Gott möglich wird, in dem die Sünde ihre Macht verloren hat (Röm 6).
Paulus steht mit beiden Beinen im Leben. Er ist Realist. Er weiß um die Kämpfe im Leben eines Gläubigen: »Ich tue nicht, was ich eigentlich will; sondern was ich verabscheue, das tue ich« (Röm 7,15). Seinem Schüler Timotheus schreibt er die froh machende Botschaft: »Der Messias Jesus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten!«, ohne darüber zu vergessen: »Dabei bin ich der Erste« (1.Tim 1,15). Er erklärt nicht, dass er irgendwann einmal ein Sünder war. Auch nach seiner Rechtfertigung betont Paulus nicht die eigene Gerechtigkeit, sondern denjenigen, der ihn errettet hat. Er ist sich vollkommen darüber im Klaren: In mir gibt es nichts, das die Qualifikation »gut« verdient. Ich habe zwar den Willen, Gutes zu tun, bringe das aber nicht fertig (Röm 7,18).
Trotz dieser Zwickmühle, die Paulus in Kapitel 7 beschreibt, weiß er, dass es keine Verurteilung gibt für diejenigen, die im Messias Jesus sind (Röm 8,1). Entscheidend ist: Wer vom Geist Gottes getrieben wird, der ist Gottes Kind (Röm 8,14). Aus dieser Erkenntnis schließt er, dass die Leiden der Gegenwart keinerlei Gewicht haben angesichts der künftigen Herrlichkeit, die in uns offenbart werden wird (Röm 8,18).
Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Röm 1-8 konzentriert sich auf den einzelnen Menschen, seine Verlorenheit, seine Trennung von Gott, das Werk des Messias Jesus für ihn, die Gnade Gottes und die Errettung von Sünde und Tod, die sich darin eröffnet.
In Röm 12-16 ordnet Paulus den erlösten Menschen ein in sein soziales Umfeld, in die Gemeinde und die Welt, wo er sich jeweils zu bewähren hat. Dabei beantwortet er folgende Fragen:
Die letzten fünf Kapitel des Römerbriefs ordnen das Leben als Gottesdienst und das Leben im Gottesdienst der Gemeinde, reden von Gnadengaben, von der Liebe sowie auch vom Dienst aneinander (Röm 12). Dabei kommt das Verhältnis zur staatlichen Gewalt (Röm 13) genauso zur Sprache wie Beziehungen innerhalb der Gemeinde im Blick auf das Leben in einer säkularen Welt, die von Gott nichts wissen will (Röm 14).
Paulus bringt alle Anordnungen auf den Punkt: »Keiner von uns lebt für sich selbst und keiner stirbt für sich selbst. Wenn wir leben, leben wir für den Herrn. Wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn. Ganz gleich, ob wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn« (Röm 14,7-8). Zweck und Zielpunkt der Errettung von Gottesferne und Tod ist, dass »ihr eines Sinnes mit einem Munde verherrlicht den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« (Röm 15,6).
In Röm 1-8 konzentriert sich Paulus auf die Rettung des einzelnen Menschen. Er vertritt das Anliegen der missionarisch Gesinnten, der Evangelisten. In die heutige kirchenpolitische Lage eingeordnet, könnte man plakativ sagen, dass er das Anliegen der »Evangelikalen« zur Sprache bringt. Im Mittelpunkt steht das Erlösungswerk Jesu Christi.
Röm 12-16 behandelt die Frage der Gemeinde, das Verhältnis der einzelnen Glieder untereinander, aber auch die Stellung der Gläubigen in der Gesellschaft. Als Gemeindebauer spricht Paulus seelsorgerlich. Karikierend gesagt: Hier wird das Anliegen der »Charismatiker« vorgebracht. Im Mittelpunkt steht das Leben im Heiligen Geist.
In Röm 9-11 erklärt Paulus
Hier macht sich der Apostel zum Sprachrohr der Israelfreunde und unterstreicht die prophetisch-heilsgeschichtliche Komponente der christlichen Theologie. Anders ausgedrückt und um das Raster des trinitarischen Denkmodells fortzusetzen: Im Mittelpunkt steht Gott, der Vater.
Interessant ist, dass diese drei Teile des Römerbriefs oft nur einzeln behandelt werden – so wie wir jetzt auch nur Röm 9-11 betrachten.
Evangelistisch und missionarisch gesinnte Leute konzentrieren sich auf Röm 1-8, »Israelliebhaber« auf Röm 9-11, und wem Gemeindeaufbau, das Zusammenleben in der Gemeinde am Herzen liegt, hat Röm 12-16. Aber die drei Teile des Römerbriefs gehören zusammen. Ursprünglich hat Paulus einen Brief verfasst, an eine Gemeinde.
Wenn der Römerbrief als Einheit gelesen und verstanden werden will, wozu ist dann die Sache mit Israel (Röm 9-11) nach der Rechtfertigungslehre (Röm 1-8) notwendig? Warum schiebt Paulus zwischen die »persönliche Beziehung mit Jesus« und die »Gemeinde« (Röm 12-16) das Thema »Israel« ein? Was fehlt, wenn wir uns ausschließlich auf die Frage der persönlichen Erlösung und des Gemeindebaus in unserer Gesellschaft konzentrieren? Was geht verloren, wenn wir die Israelfrage ausklammern?
Alle Religionen bieten eine Lösung des Problems der persönlichen Schuld, des Versagens und suchen das Verlangen nach persönlicher Erfüllung zu befriedigen. Alle Heilswege zeigen eine Möglichkeit der Versöhnung mit Gott, meinen, die Harmonie unter den Menschen herstellen zu können und stellen einen Moralkodex auf. Alle religiösen Systeme mühen sich, dem menschlichen Dasein und der Existenz der Welt einen Sinn zu geben. Insofern bietet Paulus in Röm 1-8 und 12-16 nichts Besonderes. Mit den Ausführungen in Röm 9-11 stoßen wir auf den grundlegenden Unterschied zwischen allen religiösen Bemühungen und der biblischen Offenbarung.
Der natürliche Mensch hat ein Empfinden für die Existenz Gottes (siehe Röm 1,19 f.). Wenn er dann aber nach Erklärungen über den Charakter und das Wirken Gottes sucht, ist er auf seine Beobachtungsgabe angewiesen. Die menschliche Erfahrung lehrt, dass die ganze Welt in Kreisläufen funktioniert: Die Kreisläufe von Tag und Nacht, der Monate, Jahreszeiten und Jahre prägen unser Leben. Ausgehend von diesen Beobachtungen kann man auch die Welt und die menschliche Existenz in Kreisläufen erklären, woraus etwa die Reinkarnationslehre (Wiedergeburtentheorie) der östlichen Mystik entspringt.
Der Heiligen Schrift ist dieses Denken nicht fremd. Das Predigerbuch stellt einen Mann vor, der sein Herz darauf gerichtet hat, Weisheit zu suchen und alles zu erforschen, was unter dem Himmel getan wird (Pred 1,13). Aufgrund seiner Beobachtungen kommt dieser Gelehrte zu dem logischen Schluss: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Gibt es etwas, von dem man sagen könnte: Sieh, das ist neu? Es ist längst schon einmal passiert in den Zeiten, die vor uns gewesen sind (Pred 1,9 f.). Die Analyse dessen, was er empirisch wahrgenommen hat, führt den Prediger zur Schlussfolgerung eines ewigen Kreislaufs: Alles ist aus Staub geworden und alles wird zum Staub zurückkehren (Pred 3,20).
Alle Religionen dieser Welt sind auf Beobachtungen aufgebaut und kommen letztendlich zu einem zirkulären, das heißt, auf Kreisläufen basierenden Weltbild. Der weise Prediger kommt zu dem Schluss: »Ich hasse das Leben! Aus meiner Sicht ist das, was unter der Sonne getan wird, böse, denn alles ist vergeblich und dem Wind nachgejagt« (Pred 2,17).
Wie anders klingen da die Worte des Paulus, der übersprudelt von der Botschaft, die kein Auge je gesehen und kein Ohr jemals gehört hat, die in keines Menschen Herz je gekommen ist und das Gott doch denen bereitet hat, die ihn lieben (1.Kor 2,9). Er weiß: »Wenn jemand im Messias ist, ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden« (2.Kor 5,17). Dabei beruft er sich nicht auf seine eigene Beobachtungsgabe, sondern auf denjenigen, der auf dem Thron sitzt und sagt: »Siehe, ich mache alles neu!« (Offb 21,5). Wenn wir etwas über Ursprung oder Ziel unseres Seins erfahren wollen, sind wir auf Offenbarung angewiesen, darauf, dass Gott selbst sie uns erschließt. Da helfen uns weder menschliche Weisheit noch Erfahrung oder Beobachtungen weiter.
Im Gegensatz zu allem religiösen Streben der Menschheit bezeugt uns die Bibel, dass Gott am Anfang allen Seins steht und dass diese Welt auch wieder auf ihn zuläuft: »Wer ruft die Generationen vom Anfang her? Ich, der Herr, der Erste, und den Letzten bin ich [derselbe]« (Jes 41,4). Als Schöpfer steht er am Anfang. Und am Ende der Zeiten wird sich die Menschheit vor ihm als höchster richterlicher Instanz zu verantworten haben. Zwischen Schöpfung und Neuschöpfung macht Gott Geschichte und offenbart sich als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als Gott der Väter, als Gott Israels.
Der rote Faden in Gottes Geschichte mit dieser Welt ist Israel. Die Existenz Israels »beweist« das lineare Weltbild der Bibel. An Israel zerbrechen die religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Kreislauftheorien der Menschheit, nicht weil Juden besser wären als der Rest der Menschen, sondern weil der Schöpfer dieser Welt dieses Volk erwählt hat und es niemals loslassen wird.
Damit wird Israels Existenz zu einer Herausforderung für unser Verantwortungsgefühl, unsere Egozentrik und unseren Humanismus. Paulus weist nicht nur auf den Erlöser, sondern auch auf den Richter, vor dem wir uns zu verantworten haben. Martin Luther hat vor einem halben Jahrtausend die Frage gestellt: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Diese Frage hat die Welt verändert und die Finsternis des Mittelalters durchbrochen. Die Pfingst- und charismatischen Bewegungen haben im 20. Jahrhundert gefragt: Wie werde ich begabt, geheilt, mit dem Heiligen Geist erfüllt? Dadurch wurde die Christenheit aufgerüttelt.
Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hat aber weit mehr im Blick als die Erlösung, Heilung, Begabung und Geisterfüllung einzelner Christen. Sein Heilsplan zielt auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. In dieser Heilsgeschichte ist nicht der Mensch Mittelpunkt, Maßstab und Zweck, auch nicht ein erwählter, erlöster oder berufener Mensch. Ziel und Zweck von Gottes Handeln ist seine eigene Ehre. Dazu wurden wir geschaffen und dazu wurden wir erlöst.
Dazu hat er sich auch das jüdische Volk auserwählt. Denn »so spricht Gott der Herr: Nicht um euretwillen handle ich, Haus Israel, sondern um meines heiligen Namens willen, den ihr entweiht habt unter den Völkern, wohin ihr gekommen seid. Ich werde meinen großen Namen heiligen, der unter den Völkern entweiht wurde, den ihr unter ihnen entweiht habt. Und die Völker sollen erkennen, dass ich der Herr bin – prophetischer Ausspruch Gottes des Herrn – wenn ich mich unter euch vor ihren Augen heilig erweisen werde« (Hes 36,22 f.).
Jeder, der zum Glauben an Jesus kommt, stößt auf Israel – wenn er wirklich eine Beziehung mit Jesus, dem Messias Israels, eingeht. Röm 9-11 ist die logische Folge von Röm 1-8. Andererseits muss von der Wirklichkeit einer lebendigen Beziehung mit Jesus herkommen, wer einen Blick für Gottes Handeln mit Israel bekommen will. Eine geistlich gesunde Beziehung zum Gottesvolk ist undenkbar ohne die in Röm 1-8 beschriebene Vorbedingung der Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben an den Messias Jesus. Das Verstehen von Gottes Handeln mit Israel und eine Glaubensbeziehung mit Jesus stehen in einer untrennbaren Wechselbeziehung zueinander.
Zu guter Letzt bleibt noch festzuhalten, dass eine lebendige Glaubensbeziehung immer auf die Gemeinschaft der Heiligen (Röm 12-16) abzielt. Im biblischen Denken ist ein christlicher Einzelkämpfer undenkbar – nicht einmal um Israels willen. Oder, um es noch einmal vom Ende des Römerbriefs her zu sagen: Gemeindebau im Sinne des Messias Jesus (Röm 12-16) ist nur möglich auf der doppelten Basis einer persönlichen Glaubensbeziehung mit Gott (Röm 1-8) und des Wissens um den bis heute noch nicht abgeschlossenen Heilsplan Gottes (Röm 9-11). Wer einen der drei Teile des Römerbriefs unterbelichtet oder gar ausblendet, wird in letzter Konsequenz geistlich verkrüppeln.
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Die Liebe des Apostels Paulus zu Israel (Römer 9,1–3)
Ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Behörden, weder Gegenwärtiges noch das, was auf uns zukommt, noch Geistermächte, weder Hohes noch Tiefes, noch irgendetwas anderes, das geschaffen wurde, uns trennen kann von der Liebe Gottes, die im Messias Jesus ist, unserm Herrn.
Römer 8,38 f. |
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Mit diesem persönlichen Bekenntnis beschließt der Apostel Paulus seine Ausführungen darüber, wie aus Sündern, denen die Herrlichkeitsgegenwart des lebendigen Gottes fehlt (Röm 3,23), Gottes Kinder und Miterben des Messias (Röm 8,17) werden.
Wahrheit rede ich, im Messias! Ich lüge nicht! Mein Gewissen bestätigt mir im Heiligen Geist: …
Römer 9,1 |
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Dies ist nicht das einzige Mal, dass Paulus seine persönliche Autorität zu unterstreichen sucht.1 Aber an keiner Stelle beteuert er so ausführlich und so eindringlich wie hier, dass seine Botschaft wahr ist.
Die meisten vergleichbaren Beteuerungen finden sich im zweiten Korintherbrief. Alle haben eine persönliche Vorgeschichte in der Beziehung des Apostels mit seinen Adressaten und stehen im Kontext eines Konflikts. Keine der vergleichbaren Beteuerungen steht vor den beabsichtigten Aussagen oder am Anfang einer Beziehung. Zudem schreibt der Apostel hier in Röm 9 an eine Gemeinde, die er noch gar nicht persönlich kennt. Es ist nicht ersichtlich, warum er sich verteidigen müsste.
Warum muss er dann gleich »drei Zeugen« zu seiner Unterstützung aufrufen? Theophylact, der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Ochrida (ca. 1050–1109), hat dies erstmals beobachtet.2 Der erste Zeuge ist der Messias, der zweite sein eigenes Gewissen und der dritte der Heilige Geist. Alle drei »stoßen ins selbe Horn«, das heißt sie bezeugen dasselbe (symmartyrouses). Frédéric Godet (131) betont, dass angesichts dieser drei Zeugen »keine Lüge, nicht einmal eine Übertreibung möglich ist«.
War sich Paulus bewusst, welcher Affront die gleich folgende Aussage gerade für diejenigen sein muss, die seine Heilsgewissheit teilen? War es für ihn absehbar, wie sehr er diejenigen vor den Kopf stoßen musste, die aus tiefstem Herzen das oben zitierte Bekenntnis von Röm 8,38 f. mitsprechen können? Ahnte der Apostel, wie grundlegend die Praxis der folgenden zweitausend Jahre Kirchengeschichte seinem Herzenswunsch widersprechen würde?
Meine Traurigkeit ist groß und unablässig der Schmerz in meinem Herzen.
Römer 9,2 |
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Die Gefühle des Paulus sind geprägt von großer (innerer) Traurigkeit und den Schmerzen, die einen Orientalen zu lautem Wehklagen veranlassen. Und diese Qual verspürt er nicht nur dann und wann, gelegentlich, wenn er zufällig an den Zustand oder das Schicksal seines Volkes erinnert wird, sondern ohne Unterlass.
Mit dem Gebrauch des griechischen Wortes adialeiptos (ohne Unterlass, ununterbrochen) gibt Paulus einen ersten konkreten Hinweis darauf, wie diese schmerzhafte Trauer ihren Ausdruck findet. Dieses Wort verwendet von den neutestamentlichen Autoren nur Paulus. An drei der sechs Stellen3 steht es parallel zu pantote (allezeit). Mit adialeiptos beschreibt er sonst ausschließlich Gebet, meist die Fürbitte für andere.
Ich bete darum, selbst verflucht zu sein vom Messias weg für meine Brüder, meine Blutsverwandten.
Römer 9,3 |
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Der Ausdruck »verflucht« (anathema) wird verstärkt durch die Worte apo tou Christou (von Christus weg). Paulus ist bereit, jedes Opfer für Israel zu bringen. Nicht nur sein irdisches Leben, sondern sogar seine ewige Gemeinschaft mit dem Herrn ist er bereit aufzugeben, wenn das dem Wohl des jüdischen Volkes dienen würde.
Der einfache Wortsinn ist relativ leicht verständlich. Aber der Inhalt ist für das Gefühl eines jeden Christen anstößig. Sich zu wünschen, verflucht und von Christus getrennt zu sein, aus welchem Grund auch immer, widerspricht der biblischen Lehre von der Heilsgewissheit, die Paulus doch gerade in den vorangegangenen Kapiteln entwickelt hat.
Deshalb qualifiziert Adolf Schlatter (172) diese Aussage auch sofort als »unerfüllbaren Wunsch«: »Christus stellt den nicht unter seinen Fluch, in dem sein Geist und seine Liebe so mächtig sind.« Übersetzer und Ausleger übertreffen einander darin, zu zeigen, dass Paulus nicht gemeint haben kann, was er geschrieben hat. Alte lateinische Übersetzungen geben das griechische Wort euchomen (ich wünschte) mit optabam (ich wünschte [in der Vergangenheit]) wieder. Sie erklären es als Bestandteil des blinden Fanatismus, der den Saulus aus Tarsus als Verfolger der ersten Christen gekennzeichnet habe.4
Doch Apostel Paulus spricht hier nicht von längst vergangenen Gefühlen. Ganz abgesehen davon, dass diese Aussage nur einem Herzen entspringen kann, das den wahren Wert der Gemeinschaft mit Jesus Christus erkannt hat, niemals aber aus dem Munde eines Juden, der die Messianität Jesu Christi ablehnt und aktiv bekämpft.
Deshalb geben die meisten Übersetzer euchomen mit »ich könnte wünschen« oder »ich würde erstreben« wieder. Dabei schwingt der Unterton mit, »wenn es nicht falsch wäre« oder »wenn dies möglich wäre, aber mir ist klar, dass es unmöglich ist«.5
Frédéric Godet (132) bemerkt dagegen vollkommen richtig, dass euchomen zwar grammatikalisch ein Imperfekt Indikativ sei und wörtlich übersetzt »ich wünschte« bedeute. Damit werfe die griechische Form den Wunsch in die Vergangenheit zurück, aber in eine Vergangenheit, die immer unvollendet bleibe. Der Apostel hätte durchaus eine Konjunktivform (»ich hätte/würde/könnte wünschen, wenn …«) wählen können. Er hat es aber nicht getan! Sein Wunsch bringt ein tatsächlich bestehendes Sehnen zum Ausdruck, das in der Vergangenheit entstanden ist und bis in die Gegenwart hinein existiert. Wörtlich müsste man ins Deutsche übersetzen: »Ich habe (in der Vergangenheit) angefangen, zu wünschen (und tue das bis in die Gegenwart hinein).«
Wenn wir die Wurzel des Wortes »wünschen« (euchomai) durch das Neue Testament hindurch verfolgen, bekommt der Wunsch des Apostels eine noch tiefer gehende Qualität. euchomai wird meist mit »beten« übersetzt.6 Das Hauptwort euche wird in der Apostelgeschichte (18,18; 21,23) verwendet, wenn Menschen sich durch ein Gelübde, ein Versprechen oder einen Schwur vor Gott verbindlich festlegen.7
In Apg 27,29 wünschten (euchonto) die mit dem Unwetter kämpfenden Seeleute, dass es Tag würde. Der Apostel Paulus wünscht sich vor König Agrippa, »dass über kurz oder lang nicht nur du, sondern auch alle, die mir heute zuhören, das würden, was ich bin« (Apg 26,29), und im Blick auf die Gemeinde in Korinth: »dass ihr nichts Böses tut!« (2.Kor 13,7). Dies sind samt und sonders Wünsche, Bitten, Sehnsüchte und Gebete, die fatalistisch, wenn nicht gar lächerlich wirkten, wären sie nicht ernst gemeint, und ein echtes Zeugnis dafür, was sich derjenige, der sie ausspricht, wirklich zum Ziel gesetzt hat.
Paulus steht mit seinem »verrückten« Gebet, »verflucht und vom Messias getrennt zu sein anstelle seiner Blutsverwandten«, nicht allein in der Geschichte.
Mose hatte von Gott die beiden steinernen Gesetzestafeln bekommen, die vom Finger Gottes beschrieben waren. Unmittelbar danach schickt Gott seinen Diener zum Volk zurück, »denn dein Volk, das du aus Ägypten heraufgeführt hast, ist korrupt geworden. Sie sind schnell abgewichen von dem Weg, den ich ihnen befohlen hatte. Sie haben sich ein Kalbsbild gemacht, sich davor auf den Boden geworfen und ihm Opfer dargebracht« (Ex 32,7 f.).
Mose verschafft sich daraufhin selbst ein Bild von der Lage. Ihm wird klar, dass das vernichtende Urteil Gottes über sein auserwähltes Volk (Ex 32,10) gerechtfertigt ist. Doch anstatt Gottes Absichten zuzustimmen, fleht Mose: »Vergib doch ihre Sünde! Und wenn das nicht möglich ist, dann lösche mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast« (Ex 32,32).
Mose war in einer Lage, in der er sich keine theoretisch-theologischen Überlegungen leisten konnte: »Ich wünschte, aus deinem Buch, das du geschrieben hast, ausgetilgt zu werden, für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, wenn es denn möglich wäre und nicht meiner Theologie widerspräche …« Nie zuvor und nie wieder danach in der Geschichte der Menschheit hat sich der lebendige Gott einem ganzen Volk geoffenbart. Trotzdem hatte sich dieses Volk innerhalb weniger Tage Götzen gemacht und gesagt: »Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben« (Ex 32,8). Angesichts der offenbarten Heiligkeit Gottes und der Ungeheuerlichkeit der Schuld dieses Volkes sah Mose nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Volk muss den Fluch selbst tragen, den es durch den Götzendienst auf sich geladen hat, und zum Tode verurteilt werden – oder er selbst tritt an ihre Stelle und nimmt das (ewige) Todesurteil an ihrer Stelle auf sich.
Mehrere Ausleger haben vermutet, dass der Grund für die Fürbitte des Paulus in einer nationalistisch begründeten Liebe des jüdischen Rabbiners zu seinem Volk zu suchen sei. »Schon der Instinkt der Natur, welcher für die leiblichen Brüder jegliches Opfer der Liebe zu bringen gebietet«, vermutete Friedrich A. Philippi (401) unter Berufung auf den pietistischen Theologen Johann Albrecht Bengel, ist »causa amoris tanti« (Grund einer so großen Liebe).8 Adolf Schlatter (171) wollte in der Liebe des Apostels zu Israel gar einen Maßstab für die Nationalliebe eines jeden zu seinem eigenen Volk erkennen.
Diese Ausleger übersehen zum einen den grundlegenden Unterschied zwischen Israel und den nichtjüdischen Völkern, der die gesamte Heilige Schrift durchzieht. Zum anderen bleibt zu fragen: Welche Nationalliebe hält dem stand, wenn der lebendige Gott selbst Mose das unglaubliche Angebot unterbreitet: »Lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre. An ihrer Stelle will ich dich zu einem großen Volk machen!« (Ex 32,10)? In seinem Zorn über den Götzendienst des Volkes Israel bietet der Herr Mose genau das an, wovon die christlichen Kirchen zweitausend Jahre lang geträumt haben: Die Übertragung aller Berufungen, Verheißungen, Begabungen und Vorrechte auf ihn selbst. Dafür wollte er Israel enterben und sogar vernichten. Doch Mose lehnt dieses Angebot Gottes ab!
Schließlich bleibt hier noch festzuhalten, dass auch ein weiterer Grund, der von Schlatter (ebd.) mit Verweis auf Röm 10,1 f. für die Liebe des Paulus vermutet wurde, hinfällig wird: Die Hingabe Israels an seinen Gott. Gott selbst beurteilt das Verhalten und Wesen Israels mit den Worten: »Dein Volk ist korrupt geworden! Sie sind schnell von dem Weg abgekommen, den ich ihnen befohlen habe! Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist« (Ex 32,7-9). Mose bleibt nichts anderes, als dem zuzustimmen: »Ja, dieses Volk hat eine große Sünde begangen« (Ex 32,31). Trotzdem bleibt er dabei: »Wenn es sein muss, dann lösche mich aus deinem Buch!« Moses Liebe zu Israel ist unabhängig vom moralischen Verhalten, geistlichen Zustand oder sündhaften Wesen des Volkes. Sie ist bedingungslos, total!
Ebenso weiß der Prophet Jeremia, wo die Ursache des Leides, das über das Gottesvolk gekommen war, zu suchen war: »Der Grund für deine Züchtigung ist deine Bosheit, dein Ungehorsam ist die Ursache für deine Strafe« (Jer 2,19). Aber er fühlt sich als Gerichtsprophet nicht wohl. Dreimal muss Gott ihm sagen: »Bete nicht für dieses Volk! Erhebe kein Geschrei und Gebet für sie! Bedränge mich nicht ihretwegen, denn ich werde dich nicht hören!«9 Doch Jeremia lässt nicht locker. Immer wieder bedrängt er seinen Gott für das gefallene Volk. Bis ihm der Herr die gnadenlose Antwort entgegenschleudert: »Auch wenn Mose oder Samuel10 vor mir stünden, hätte ich doch kein Herz für dieses Volk. Treibe sie weg von mir!« (Jer 15,1).
Ist es nur ein rhetorisches Ausdrucksmittel, wenn der Gott und Vater Israels wenige Verse später fragt: »Wer erbarmt sich über dich, Jerusalem? Wer hat Mitleid mit dir? Wer kommt, nimmt sich die Zeit und erkundigt sich, wie es dir geht?« (Jer 15,5). Oder ist die Klage des Propheten Jeremia nach dem Herzen Gottes: »Wehe mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast, einen Mann der Auseinandersetzung, einen Mann, der umstritten ist im ganzen Lande« (Jer 15,10)? Immerhin antwortet der Herr ganz direkt darauf: »Ich werde dich übrig lassen zum Guten!« (Vers 11).
Jeremia muss seinem Volk noch viel untragbar hartes Leid androhen. Er zerbricht über seinem Auftrag: »Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde! Am Morgen soll er Wehklage hören, am Nachmittag Kriegsgeschrei, weil er mich nicht getötet hat vom Mutterleib an, sodass meine Mutter mein Grab geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben wäre! Warum bin ich aus dem Mutterleib herausgekommen?!« (Jer 20,14.16-18).
Doch vielleicht ist es gerade dieses Leiden am Leid seines Volkes, das Jeremia, wie keinen zweiten, zum Heilspropheten für Israel qualifiziert. Er darf voraussehen, dass der Herr »dem David einen gerechten Spross aufrichten« wird (Jer 23,5). Gerade weil er an seinem Auftrag, »auszureißen und einzureißen, zu zerschlagen und zu verderben«, zerbricht, darf er auch »bauen und pflanzen« (Jer 1,10) und seinem Volk die Worte des Gottes Israels verkündigen: »Mit ewiger Liebe liebe ich dich … Ich werde dich wieder aufbauen … Du sollst dich wieder schmücken, Tamburine schlagen, herausgehen und im Tanz spielen. Du wirst Weinberge pflanzen in den Bergen Samarias und ihre Früchte genießen« (Jer 31,3-5). Worte des Trostes, der Ermutigung und Hoffnung, die schließlich in das Versprechen einmünden: »Siehe, es werden Tage kommen, prophetischer Ausspruch des Herrn, da werde ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen … Ich werde meine Tora in ihr Innerstes geben und auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein« (Jer 31,30.33).
Dieselbe Einstellung wie bei Mose und Jeremia finden wir auch bei Jesus von Nazareth. Der Messias Israels klagt über das Volk, das nicht zur Umkehr bereit ist: »Jerusalem, Jerusalem … Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Vogelmutter ihre Küken unter ihre Flügel sammelt« (Mt 23,37). Der Herr verliert das furchtbare Gericht nicht aus dem Blick. Doch die Verheißung einer ungebrochenen Gemeinschaft mit dem Gott Israels behält das letzte Wort: Die Zeit wird kommen, in der sie ihn sehen und sprechen werden: »Gepriesen sei, der kommt im Namen des Herrn!« (Mt 23,39).
Diese Liebe zu Israel blieb bis zum Kreuz sichtbar. Dort hing Jesus als Verfluchter.11 Er war der Einzige, »der keine Sünde kannte« (2.Kor 5,21). Deshalb war er als Einziger in der Lage, für sein Volk in den Riss zu treten, seine Schuld zu tragen. Angesichts des Hasses, des Spottes und der Ablehnung, die ihm von den Führern derer, für die er litt, entgegenschlug, wurde der Verfluchte doch nicht zum Fluchenden. Unter größten inneren und äußeren Schmerzen bat der Erlöser mit letzter Kraft: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« (Lk 23,34). »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!« (Mt 27,46), schrie der, der wie kein anderer sagen konnte: »Ich und der Vater sind eins« (Joh 10,30). Nur der Messias Jesus konnte die Gottesferne an Israels Stelle bis zur letzten Konsequenz ausleben.
Von Mose bis Paulus hat mancher diese Liebe auf dem Herzen getragen und ausgesprochen. Anstatt sich von der Schuld seines Volkes zu distanzieren, hat sich auch Jesaja – wie Mose, Jesus Wir