Richard Swartz
Notlügen
Roman
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Carl Hanser Verlag
Die schwedische Originalausgabe erschien 2010
unter dem Titel Vita lögner bei Norstedts in Stockholm.
ISBN 978-3-446-23928-9
© Richard Swartz 2010
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2012
Covergestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München,
unter Verwendung eines Ausschnitts
aus dem Bild „Jennifer and Mathieu“
von Alex Katz, 1986 © Christie’s Images / CORBIS
2. E-Bookversion April 2013
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Der Mann hatte sich an seine zwei Zimmer gewöhnt, mehr hätten seine Einsamkeit nur unterstrichen, dass sie ganz oben im Haus lagen, gab ihm außerdem ein Gefühl des Überblicks, fast der Kontrolle. Aber das war natürlich nicht mehr als ein Gefühl. Trotzdem meinte er, dass ihn hier nichts überrumpeln könnte, obwohl die kleinen Fensteröffnungen nicht erlaubten, mehr zu sehen als einen Zipfel des Himmels über dem schrägen, schwarzgestrichenen Blechdach. Das war alles, was der Mann von dieser riesigen Stadt sehen konnte; ein Stück Dach und den Himmel darüber.
So hoch über den anderen Mietern einquartiert, hatte er das Gefühl, als wäre etwas von seiner einstigen Würde wiederhergestellt. Denn auf diesem Kontinent befand er sich nicht aus freiem Willen, sondern als Strafe. Die Familie des Mannes hatte ihn aus dem Weg schaffen wollen, nachdem sein Name, das heißt, jener der Familie, in Zusammenhängen aufgetaucht war, die als kompromittierend aufgefasst wurden, mit Schuldverschreibungen und protestierten Wechseln.
Also weg mit ihm; und weg war ein anderer Name für Amerika.
Manche hatten von Unachtsamkeit gesprochen, sogar von Fahrlässigkeit, andere von Veruntreuung. Der Mann selbst hatte zu alledem geschwiegen, ohne dass es zu seinem Vorteil gereicht hätte. Mit einer einfachen Fahrkarte hatte ihn die Familie aus dem Weg geschafft. Aber auch eine solche Strafe hatte ihre Grenzen, und manche seiner Gewohnheiten, wenn auch nur wenige Ansprüche, hatte er trotz allem auf die andere Seite des Atlantiks hinübergerettet. Es gab noch Hoffnung, ein Gefühl, das dadurch verstärkt wurde, dass fast alle, die in dem Haus wohnten, ebenfalls aus Europa kamen. Das schien die Strafe und Amerikas Macht über die Verbannten zu mildern. So leicht würde man ihn doch nicht demütigen können. Aber auch das war nicht viel mehr als ein Gefühl.
Doch diese anderen Menschen waren nach Amerika gekommen, um zu bleiben. Der Mann hingegen hatte nicht die geringste Absicht, hier von vorn anzufangen; die Vorstellung, für den Rest seines Lebens auf diesem Kontinent zu leben, wäre die reinste Beleidigung, und er bemühte sich, jeden derartigen Gedanken von sich fernzuhalten. Das machte ihn in dieser Stadt noch fremder, als er ohnedies schon war. Die anderen Europäer waren rasch heimisch geworden. Wie Bienen schwärmten sie in dem Haus am Riverside Drive ein und aus; einen solchen Bienenkorb Zuhause zu nennen weigerte sich der Mann, mit Bienen hatte er sich nie anders befasst denn als Hintergrundmusik an warmen Sommertagen.
Traf er manchmal im Lift oder draußen auf der Straße die Nachbarn aus den unteren Wohnungen, erkannten sie ihn zwar, sie grüßten ihn, jedoch nachlässig und ohne den Respekt, den der Mann aus dem siebzehnten Stock meinte von ihnen erwarten zu dürfen, obwohl sie ja nicht viel mehr über ihn wissen konnten als wo er wohnte. Trotzdem konnte er sich mit so viel Nonchalance und Gleichgültigkeit nicht zufriedengeben.
Dann verschwanden sie in ihren Wohnungen, er hörte, wie die Schlüssel im Schloss gedreht wurden. Wieder lag das Treppenhaus verlassen da.
Mitunter hatte der Mann sie im Verdacht, sich über ihn lustig zu machen, das heißt, über einen Fremden, genau wie sie selbst hier Fremde waren, über jemanden aus der sogenannten Alten Welt, aber ohne dessen Eile und flatternde Gesten, über jemanden, der seine Zimmer nicht voll von bleichen Kindern und Möbeln hatte, die ebenso oft nahe dem Lift im Treppenhaus gestapelt waren wie sie in der eigenen Wohnung standen, jemanden, der nicht von morgens bis abends große Suppentöpfe auf dem Herd hatte, stattdessen eine Person, die in einer Stadt wie New York einen Fehler nach dem anderen machte, obwohl er im Unterschied zu ihnen die Sprache beherrschte.
Sie grüßten ihn. Das stimmt. Aber mit solchen Menschen hatte er nichts gemein.
Nachts träumte der Mann manchmal von dem Tag, an dem er nach Europa zurückkehren würde. Diesen Traum teilte er hier mit niemandem. Seine Nachbarn, etwa Cohn oder Friedmann, träumten stattdessen von Amerika, und ihre Träume waren Wachträume, die sie durch den Tag jagten und darauf pochten, verwirklicht zu werden. Ein solcher Wachtraum treibt den, der ihn im Kopf hat, aus dem Bett oder vom Sofa hoch, aber da es der höchste Wunsch des Mannes war, im Bett oder auf dem Sofa liegen zu bleiben, zog er seinen europäischen Traum vor. An diesen hielt er sich von dem Moment an, in dem er aufstehen musste, bis es wieder Schlafenszeit war.
Die Dankbarkeit des Mannes für ihn war groß und aufrichtig, mit der Zeit wurde sie zu etwas wie Zuneigung, obwohl es niemanden in Manhattan gab, um einen solchen Traum mit ihm zu teilen. Und er fühlte sich in diesem Amerika wirklich nicht wohl: damit, wie man hier miteinander verkehrte und einander begrüßte, mit der Hitze, der stagnierenden drinnen und der feuchten draußen, mit Gerüchen und Düften, mit dem Tag und Nacht mahlenden Lärm der Stadt, mit frechen und vulgären Menschen, und damit, dass es hinter jeder Ecke so viele von ihnen gab.
Immer öfter ertappte sich der Mann dabei, dass er die Stille Europas vermisste. Früher hatte er selten an sie gedacht, aber hier in Manhattan erschien ihm diese europäische Stille wie etwas sehr Seltenes und fast Liebgewordenes. Er versuchte sich mit aller Macht zu erinnern, wie sie geklungen hatte. Seine Reitpferde waren zusammen mit Reitgerte, Mänteln und Stiefeln auf der anderen Seite des Atlantiks zurückgeblieben, und er vermisste auch sie, vielleicht mehr als irgendetwas anderes von alledem, was er nicht hatte mitnehmen können. Der Mann dachte an die Pferde und dann an Maiglöckchen, an einen Tisch, der gedeckt oder abgeräumt wird, an eine Standuhr, die im Nebenzimmer schlägt, an das Summen von Bienen und Fliegen, an einen gebohnerten Parkettboden; und an eine ganze Menge von alledem, was ihm erst in Amerika eingefallen war, dachte er vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben.
Der Mann ertappte sich manchmal dabei, dass er in seinen zwei Zimmern auf und ab ging, als wären sie einer jener europäischen Parks mit Rasenflächen, Gipsfontänen und Kieswegen, und dabei, dass er selbst nichts Besseres zu tun hatte, als dort auf und ab zu gehen.
Aber der amerikanische Traum war fordernd: mit seinem Lärm und Krach übertönte er das Getöse draußen auf der Straße, und das irritierte den Mann, nicht gewohnt wie er es war, herumkommandiert und herumgeschickt zu werden, gewohnt, selbst seine Meinung zu sagen und Anweisungen zu erteilen, wenn es nötig war, aber hier gehorchte man ihm nur in dem Warenlager unten am Hafen, nicht mehr auf dem Stallhof oder in seinem eigenen Zuhause.
Der amerikanische Traum erniedrigte ihn. Er wollte ihn dazu bringen, Heringe zu enthäuten, Saft auf Flaschen zu ziehen, Konservendosen mit etwas zu füllen, das stank oder schmierte; es roch nach Schweiß, Terpentin, Teer oder Malerfarbe und schien alles zu enthalten, womit er sich dank der Familie auf der anderen Seite des Atlantiks nicht hatte befassen müssen. Aber jetzt war die Absicht, dass er ausgerechnet mit Heringen, Saft oder Konservendosen reich werden sollte, und er verachtete den amerikanischen Traum dafür, dass er auf diesem Kontinent mit einer solchen Leidenschaft von allen geträumt wurde, obwohl er unbequem und voller Anstrengungen und Entbehrungen war, und gerade deshalb für Leute anderen Schlags gemacht als er selbst.
Stattdessen sank der Mann immer tiefer in das hinein, was, wie er eines Tages (es war ein Donnerstag) zu seiner Überraschung feststellte, er selbst war. Der Mann war dabei, in seinem eigenen Unglück zu ertrinken. Fast unmerklich musste es ihn so erfüllt haben, wie wenn Wasser langsam einen Keller überflutet, ohne dass es sich im Haus darüber anders bemerkbar macht als in Feuchtigkeitsflecken an Tapeten oder einem Geruch nach Verwesung an einem frühen Frühlingsmorgen. Gern wollte er glauben, dass niemand außer ihm selbst bemerkt hatte, wie es um ihn stand.
Gab es eine Rettung?
Die Ehefrau des Mannes hätte an seiner Seite sein sollen, aber seine Frau befand sich in Stockholm, während er immer tiefer sank, durch alle Risse sickerte weiterhin das Unglück herein, während der Atlantik Mann und Frau trennte, bald spiegelblank, bald windgepeitscht, mit meterhohen Wellen voller Salz, und genau so stellte er sich gelegentlich seine eigene Lage vor, wie einen Stillstand zwischen einer Art Ebbe und Flut, zwischen vager Hoffnung und totaler Verzagtheit, und er tat das gern, eine süße und knisternde Hülle umschloss diese Vorstellung von seinem eigenen Unglück. Aber auch diese war nicht viel mehr als ein Gefühl, während er mit jedem Tag immer tiefer in dem versank, was durchaus wirklich war.
Das Geld – hier finanzielle Mittel genannt –, von dem er hoffte, dass es ihm aus Stockholm geschickt würde, Geld, das ihm gegen Legitimation und Unterschrift in der Filiale der National City Bank an der Riverside Avenue 12 ausbezahlt werden sollte, einem düsteren Haus mit blaugestrichener Fassade, war nicht da. Es war kein Geld geschickt worden. Der Kassierer, an Donnerstagen und Freitagen jede zweite Woche abgelöst von einer Kassiererin, die ein wenig Norwegisch sprach, teilte ihm jedes Mal mit einer rauhen und fast tonlosen Stimme dieselbe Tatsache mit, aber sowohl der Kassierer wie die Kassiererin taten dies mit dem gleichen mitleidig beschämten Lächeln, als wäre der Mann nicht alt genug, um sich seiner selbst zu schämen, oder als würden sie selbst ihm gern Geld auszahlen, in der Form eines privaten Kredits, wenn nicht die strengen Vorschriften der Branche sie daran gehindert hätten.
Trotzdem empfand er dieses Banklächeln als persönliche Kränkung. Gebrochenes Norwegisch machte die Sache nicht besser. Seit bald drei Monaten hatte er die Filiale unverrichteter Dinge verlassen. Es gab kein Geld zu holen. Der Zwang, eine solche Bank vergeblich aufzusuchen, wäre schon ohne dieses Lächeln demütigend genug, und diese Demütigung würde nicht ausgelöscht werden, selbst wenn sich zeigen sollte, dass wider alles Erwarten und von einem Tag auf den anderen – der Mann setzte mittlerweile seine ganze Hoffnung auf Cedergren – plötzlich Geld auf dem Konto gewesen wäre.
Also zog der Mann es vor, sich fernzuhalten. Wie seine Nachbarn hatte er begonnen, hinter verschlossenen Türen viel Zeit in der Wohnung zu verbringen. Doch die Hitze war fast unerträglich. Schon in der ersten Juniwoche war er gezwungen gewesen, bei drei geöffneten Fenstern zu schlafen, auch das in der Küche hatte er weit aufgemacht, aber durch die Fenster kam bis zur frühen Morgendämmerung keine Kühle. Da hatte es der Mann bereits geschafft, alle Versuche zu schlafen aufzugeben; im graubleichen Morgenlicht lag er erschöpft und klatschnass auf dem Rücken im Bett.
Dieses Morgenlicht würde bei Anbruch des Tages von aller Feuchtigkeit in der Luft und dem Ruß der Lokomotiven unten am Hudson River bald die Farbe wechseln. Mit vom Schlafmangel schmerzenden Kreuz und Nieren und dem Kopf schwer wie ein Mehlsack blieb der Mann im Bett liegen, wo er sich die ganze Nacht lang gedreht und gewendet hatte, als hätte er unter den Laken nach jemandem gesucht oder wenigstens nach dem Schlaf, der ihm in dieser Wohnung, im siebzehnten Stock, verwehrt wurde.
Vermutlich war es ein Fehler gewesen, in dem Haus eine Wohnung unter dem Dach zu mieten. Nach jeder schlaflosen Nacht war der Mann von dieser Tatsache überzeugt. Es wäre besser gewesen, weiter unten zu wohnen.
Aber auch Friedmann und Cohn mussten doch wohl manchmal einen Fehler begehen. Der Mann überlegte eine Weile, was für Fehler das sein könnten, bestimmt von ganz anderer Art als seine eigenen, aber ohne dass er sie sich richtig hätte vorstellen können. Solange er in Europa gewesen war, hatte er nichts von Menschen wie Friedmann und Cohn gewusst; erst in Amerika hatte er solche Leute von nahem gesehen und war sogar gezwungen gewesen, mit ihnen zusammen zu wohnen. Wie hätte er etwas von ihren Irrtümern wissen sollen, wenn er nicht einmal etwas von ihren Verdiensten wusste? Und jeden Tag war es das Gleiche: wenn er einigen von den Nachbarn zufällig im Treppenhaus auf dem Weg hinaus oder herein begegnete, diesen dunkel flackernden Schatten, unterwegs von oder zu ihren schwarzgekleideten Frauen, die den ganzen Tag mit ebenso schwarzgekleideten Kindern oder mit der Essenszubereitung in der Küche beschäftigt waren, grüßten sie ihn zwar, aber eben nur nachlässig und flüchtig, und ihr Lächeln war hart und höhnisch.
An solchen Morgen oder Abenden kam es vor, dass der Mann es bereute. Es war ein Fehler, jemanden zu grüßen, bloß weil eine solche Person sich Nachbar nennen durfte. Immerhin war der Titel des Mannes im Lager unten am Hafen »Bürovorsteher«. Auch wenn dieses Büro nicht mehr war als ein Verschlag und er einen großen Teil seiner Arbeitszeit trotz seines Titels in der Gesellschaft seiner Untergebenen mit einem Besen in den Händen verbrachte, während der Freund, der ihm diese Stellung im Lager verschafft und selbst einen solchen Erfolg in Amerika gehabt hatte (Patente und verschiedene Bergwerksgeschäfte), ohne auch nur anwesend zu sein, die Ehefrau des Mannes zu Hause in Stockholm in seinen Armen hielt.
Auch war es ein Fehler gewesen, eine solche Person als Freund zu betrachten. Und die Untergebenen im Lager? Sie erschienen ihm stumpfsinnig oder, wie er selbst, ohne jedes Interesse für die Lagerarbeit. Im Lager wurden ihre an sich schon dunklen Gesichter vom Zwielicht in diesen Speicherräumen mit nur einer Handvoll schmaler Fenster verschluckt.
Einer davon schien sich wenigstens zu bemühen, man konnte es nicht anders sagen, dieser Chinese war tüchtig, und der Mann war sich fast sicher, dass dieser Chinese genau wie er selbst die anderen verachtete. Dass der Chinese und er der gleichen Meinung waren, wollte er Chinas so uralter wie unerschöpflicher Kultur zuschreiben, die auf geheimnisvollen Wegen auch einen einsamen Chinesen in der Diaspora bereicherte, obwohl dieser nicht viel mehr schaffte, als fremde Böden mit einem Besen einigermaßen sauber zu halten. Die Kultur des Mannes selbst war wohl nicht großartig, aber doch verwandt.
Gelegentlich kam der schwedische Freund zu Besuch nach New York. Es stand sogar etwas darüber in der Zeitung. Aber das war auch schon alles; nur in den amerikanischen Zeitungen gab sich der sogenannte Freund zu erkennen. Für den Mann hatte er in Amerika keine Zeit, der Freund musste sich ja um seine Patente und seinen Ruf kümmern, und während der Besen des Mannes sich auf dem Boden hin und her bewegte, der Besen, mit dem der Freund ihn aus reinem Mitleid versehen hatte, damit er sich zumindest auf diesem fremden Kontinent würde versorgen können, dachte der Mann an die Briefe, in welchen seine Frau schrieb, wie sehr sie sich nach ihrem Mann sehnte.
Aus Stockholm schrieb seine Frau, dass sie nichts lieber täte, als sich so bald wie möglich mit ihm in New York zu vereinen, damit die Familie wieder zusammen wäre, »aber da alle Kabinen bis Ende September ausgebucht sind und die Hoffnung, dass eine Einzelkabine während der Saison storniert wird, gering erscheint, musste ich wiederum meine Reise verschieben, obwohl mir das Herz blutet …«
In Anbetracht der Umstände hielt der Mann dieses blutende Herz für eine Übertreibung und obendrein für eine Kränkung, auch wenn das Herz seiner eigenen Frau gehörte, dieses arme Organ, das von Brief zu Brief viel mehr zu bluten schien als dass es für ihn schlug, während es der Frau mit jedem dieser Briefe gelang, neue und vollständig unerwartete Gründe dafür vorzubringen, dass die Reise noch ein weiteres Mal verschoben werden musste.
Ja. Alles, was einmal das Seine gewesen war und ihm Freude bereitet hatte, war in Europa zurückgeblieben.
Worüber verfügte er in Amerika außer der gemessenen Höflichkeit, der hier so geringe Wertschätzung zuteil wurde?
Sein Stil war wirkungslos, nachdem er seinen Inhalt verloren hatte, seit Pferde, Teppiche und alles Silber verkauft worden, die Gemälde im Pfandhaus gelandet waren und seine eigene Familie ihn mit einer einfachen Fahrkarte nach Amerika geschickt hatte. Der Freund hatte ihn dann in seinem Lager untergebracht. Die Wochen vergingen mittlerweile in der Erwartung, dass jemand – aber wer, vielleicht doch Cedergren? – sich seiner erbarmen und ihm aus Schweden eine kleinere Summe telegrafieren würde. Dafür wollte er eine einfache Rückfahrkarte kaufen und damit alle überraschen.
Stil ohne das, was für gewöhnlich dazugehört, war hier nicht gefragt. Was war ihm eigentlich geblieben? Außer einer gewissen zerstreuten Nonchalance, ein paar Seidentaschentüchern und der Kunst, eine Konversation über fast jedes beliebige Thema zu führen, hatte der Mann nicht viel zu bieten. Ihm war das durchaus bewusst. Seine reservierte Haltung, weniger gegenüber den niederen Klassen als gegenüber Leuten ganz allgemein, empfanden die Menschen hier als persönlichen Angriff, und empört brachten sie das gegen ihn vor.
Sie hatten den Mann dazu gebracht, sie auch als Individuen zu verachten. So hatten sich ihre Vorurteile gegenüber Europäern gerade seines Schlags bestätigt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie, in diesem Land, das meinte, die Klassen abgeschafft zu haben und die Menschlichkeit für das höchste Gut zu halten, sich an ihm persönlich rächen würden. Was in Europa gereicht hätte und mehr als genug gewesen wäre, zählte in diesem Land überhaupt nicht, und dies war mehr als ein Gefühl; es wurde zur Wirklichkeit, sobald er in Amerika jemanden ansprach oder beim Essen Messer und Gabel in den Händen hielt.
So hatte der Mann einsehen müssen, dass ihm ganz und gar fehlte, was ihm hier helfen würde, vorwärts zu kommen. Draufgängertum und Zielstrebigkeit waren seine Sache nicht, und gerade das Stilbewusstsein, das in allen Wechselfällen des Lebens und auf welchem Kontinent er sich auch befand, immer einen Teil seiner Persönlichkeit ausgemacht hatte, war hier zum Hindernis geworden: Form wurde in dieser Gesellschaft nicht geschätzt, die so lärmend damit beschäftigt war, stattdessen Inhalte zu schaffen, ein Glücksreich mit heulenden Fabriksirenen, Paraden, Grammofonen, beschwipsten Frauen in Abendkleidern, Tanzmusik, verschütteten Drinks, qualmenden Zigarren oder Schornsteinen und wogenden gelben Kornfeldern, bereit, von einer Armee von Mähdreschern gemäht zu werden, eine Gesellschaft, die sich in das Unersättliche und Endlose gestürzt hatte, ohne einen Gedanken an andere Grenzen als jene, die überschritten werden sollten.
Seinerseits hatte der Mann ein anderes Verhältnis zu Begrenzungen. Hatte er früher, in Europa, ein Bedürfnis nach Grenzen verspürt, so hatte er sie selbst gezogen. Aber hier war er ohne eigenes Verschulden zu einem in allem Wesentlichen begrenzten Menschen geworden, wo nicht er selbst, sondern andere es waren, welche diese Grenzen zogen. Das hatte ihn bitter gemacht. Aber der Mann ahnte, dass auch dies ein Teil dessen war, was man als Strafe für ihn ersonnen hatte.
Nach Amerika war er ja geschickt worden, um gezüchtigt zu werden, damit all seine Forderungen und Erwartungen enttäuscht würden, all seine Gepflogenheiten beschnitten und vermutlich ausgelöscht, um entdecken zu müssen, wie leicht es ist, ganz unten zu landen, und wie widerwärtig es ist, dort bleiben zu müssen, und das meiste von diesem Teil der Strafe hatte er sehr früh und ohne größere Anstrengung erkannt; es hatte gereicht, sich gegen Ende des Tages die sechzehn Stockwerke hinunterzubegeben, um dort, auf dem Trottoir stehend, zum Abendbrot einen sogenannten hot dog oder hamburger zu verzehren.
Mehr als das hatte es nicht gebraucht, um ihn daran zu erinnern, wie weit unten am Boden er sich befand, im Gedränge auf der Straße unter vollkommen fremden Menschen, alle in der Abenddämmerung irgendwohin unterwegs, die ihn hin und her schubsten, während er mit Hilfe der Finger versuchte, sich den Mund mit etwas vollzustopfen, was mittlerweile sein sogenanntes Abendessen war, diese Mahlzeit, die früher die wichtigste des Tages gewesen war, aber damals auf einem weißen Tischtuch mit Silberbesteck und Serviette von einem Hausmädchen serviert, und doch konnte der Mann nicht leugnen, am allerwenigsten vor sich selbst, wie gut das schmeckte: also dieser hot dog oder hamburger.
Vorsichtig sah sich der Mann um, obwohl es überflüssig, fast lächerlich war, hier gab es ja niemanden, der ihn kannte. Innerhalb kurzer Zeit hatte er gelernt, dieses amerikanische Essen, im Stehen auf der Straße verzehrt, zu lieben, obwohl er es proletarisch fand und sich immer noch dafür schämte.
Aber vor wem hätte er sich hier schützen müssen?
In solchen Augenblicken konnte es geschehen, dass er von einer Vereinigung seiner beiden Welten träumte. Ja, es waren immer noch zwei, denn diesen letzten Rest von europäischem Misstrauen und seiner Nüchternheit hinsichtlich der eigenen Lage aufzugeben, zu leugnen, dass er aus Europa verbannt war, und zwar vermutlich fürs ganze Leben, war ihm erschienen, als würde er sich ein für alle Mal diesem Amerika unterwerfen, mit seiner kindlich optimistischen Überzeugung davon, dass alle Träume sich verwirklichen lassen; und dieser sein Tagtraum, vielleicht doch das Beste aus zwei Welten vereinen zu können, hatte seinen Weg zu ihm durch den Mund gefunden.
Er kaufte noch einen hot dog.
Bald würde seine Frau nach Amerika nachkommen, davon und von nichts anderem handelten alle ihre Briefe. Im letzten hatte sie von ihrem Wunsch geschrieben, bald hier zu sein, »… mit der Ankunft einer neuen Jahreszeit, die mich daran erinnert, wie lange ich meinen geliebten Mann entbehrt habe, und an den großen Schmerz, welcher diese Abwesenheit in meinem blutenden Herzen verursacht hat«.
Schon wieder das blutende Herz!
Und der Mann dachte an seine Frau und daran, wie sie in den Händen eines anderen Mannes verblutete, seines sogenannten Freundes, und wieder war es der Mund, der ihn inspirierte, als er plötzlich erkannte, dass seine Frau Amerika viel mehr zu bieten hätte als er selbst. Beispielsweise könnten Masthähnchen auf die gleiche Weise serviert werden, also auf einem solchen Spirituskocher an der Straße. Oder Pasteten. Die berühmte Hühnerleber seiner Frau könnte von diesen amerikanischen Menschenmengen verspeist werden, die jeden Abend irgendwohin unterwegs waren, einsame und rastlose Menschen, auf die kein gedeckter Tisch wartete, überhaupt kein Essen, arme Teufel, die vielleicht nicht einmal eine richtige Küche zu Hause hatten; und der Mann beobachtete in der Abenddämmerung, wie jeder dieser Menschen immerzu irgendwohin unterwegs war, ohne den geringsten Gedanken an einen von den anderen, die doch in genau derselben Lage waren, dieses Gewimmel von stummen und hungrigen Menschen ohne Küche daheim, nur auf sich selbst bezogen.
Die Hühnerleber der Frau beschäftigte ihn auch am folgenden Tag, als er fast genau zur selben Zeit wie am Tag zuvor seinen hot dog am Stand unten an der Straße bestellte. Dieser bestand aus ein paar weißgestrichenen Brettern und einer schmalen, ebenfalls weißgestrichenen Theke, nicht viel mehr als ein Spirituskocher auf Rädern, aber während er seinen hot dog in den Mund steckte und es sich schmecken ließ, war der Mann an diesem Abend erfüllt vom Gedanken an Hühnerleber; seit gestern war diese Hühnerleber in seinem Kopf gewesen, wo sie die Form einer Geschäftsidee angenommen hatte, der allerersten, die ihm in Amerika gekommen war, etwas, das er zuerst mit einer gewissen Zufriedenheit festgestellt hatte, die aber bald in Irritation umgeschlagen war, war er doch immerhin lange genug in diesem Land, um sich etwas einfallen zu lassen, und als er sein Abendbrot in dieser amerikanischen Abenddämmerung verzehrt hatte, die von Neonlichtern und blinkenden Reklameschildern in Rot, Blau und Weiß erleuchtet war, so dass sie weniger melancholisch und statisch war, wenngleich auch weniger romantisch als eine europäische Abenddämmerung, steckte er die Finger in den Mund und lutschte einen nach dem anderen ab, schleckte in sich hinein, was von der dicken Soße aus Tomaten daran kleben geblieben war, sehr beliebt und gar nicht schlecht, und zusammen mit der amerikanischen Tomatensoße auch den amerikanischen Senf, der wie europäischer schmeckte, nur süßer, und als er fast fertig geschleckt hatte, war ein Finger, der Zeigefinger der linken Hand, im Mund stecken geblieben.
An diesem Zeigefinger sog der Mann länger als eigentlich nötig, jedenfalls im Hinblick auf Senf und Tomatensoße, ein Finger, der in der Abenddämmerung kränklich weiß leuchtete, bis er endlich damit fertig war und die Hand hochhielt, um sie im Licht der Wurstbude zu mustern.
Der Mann fand, der Finger gliche einem Spargel, obwohl die Saison für Spargel wie für Prinzessbohnen und Erdbeeren schon längst vorbei war, und es muss in diesem Moment gewesen sein, während er darüber nachdachte, wie es sich mit dieser Saison in Amerika verhielte, dass er diese Frau erblickte.
Sie stand dicht neben dem weißgestrichenen Stand. Der Mann, der ihn betrieb, beugte sich über die Würste und die Frikadellen, um sie zu wenden oder sie eine Spur von links nach rechts zu schieben, es zischte von dem schwarzen Blech, während er mit einem großen Bratenwender vorsichtig alles herumschob, was sich gerade dort befand, und auch dieser Straßenverkäufer mit seiner dünnen, spitzen Nase war in Weiß gekleidet, in eine weiße Schürze mit einer weißen Mütze ohne Schirm, einer Art Schiffsmütze wie von einem Matrosen oder von der Art, wie man sie bei Lehrlingen in einer Bäckerei findet, und die Frau, die da in dem schwachen Licht der Wurstbude stand, hätte der Mann vermutlich überhaupt nicht bemerkt, wenn sie nicht auch ein weißes Kleid getragen hätte, das in der Dunkelheit leuchtete, und ihre beiden Augen waren aufgesperrt und kreideweiß bis auf die Pupillen; so schien es jedenfalls, wenn der Mann sie von der Seite und gleichsam unabsichtlich zu betrachten versuchte, ja, wirklich, ganz kreideweiß und ohne Scheu, fast unverschämt, war der Blick der Frau dem seinen begegnet, als hätte sie keine Augen für jemand anders unter all den Menschen gehabt, die vorbeihasteten, nur für ihn.
Zuerst hatte das den Mann erstaunt. Hatte er Tomatensoße auf sein Jackett oder die Weste gekleckert? Oder (und das war beunruhigend) hatte sie gesehen, wie er seine Finger ableckte? Doch letzteres war ein allzu europäischer Gedanke; sofort verdrängte er ihn. Die Frau war neben dem Stand mit den Frikadellen und den Würsten stehengeblieben. Aber es sah nicht so aus, als wäre sie hungrig. Ohne anscheinend etwas Besonderes zu tun zu haben, stand sie da, unbeweglich, mit einer kleinen runden Tasche, die sie an ihren Schoß drückte. Trotz der Dunkelheit schien sie den Mann eingehend zu mustern, als stünde er mitten in dem schonungslosesten bloßstellenden Licht, das man sich vorstellen kann und das auf diesem Kontinent bei Polizeiverhören oder in Operationssälen verwendet wurde.
Es war Mittwoch Abend. Regen lag in der Luft. Das Gesicht des Mannes war von kleinen, fast unsichtbaren Tropfen leicht befeuchtet, der Asphalt blinkte ölig schwarz mit silbernen Schlingen in dem Schwarzen, obwohl es bisher nur genieselt hatte und nicht einmal sicher war, ob viel mehr kommen würde, aber allein schon die Möglichkeit, dass es bald richtig regnen könnte, ließ die Menschen sich noch mehr beeilen als sonst; einige hatten Regenschirme aufgespannt, die hier und da wie schwarzer Schaum auf dem Menschenmeer dahinflossen. Nur diese Frau am Wurststand wirkte so, als ginge sie der Regen nichts an, und wenn auch Stil und Form noch Macht über den Mann hatten, obwohl sie nichts mehr bedeuteten, nicht hier in Amerika, wurde ihre Anwesenheit doch zu einer beunruhigenden Erinnerung daran, dass er während einer Zeit von fünf Monaten gezwungen gewesen war, sich selbst zu zügeln, dass ihm seit seiner Landung in New York eine Frau fehlte, und der Mann drehte sich zu der Unbekannten hin und sprach sie an.
Die Frau lächelte ihn an. Ihre Lippen waren voll, und jetzt in der Abenddämmerung mit Regen in der Luft glänzten sie fast wie der Asphalt. In Europa, sagte er sich hinterher, hätte das nicht passieren müssen.
Ohne Fragen zu stellen, war die Frau ihm ins Haus gefolgt. Der Mann war erleichtert darüber, dass sie keinen seiner Nachbarn getroffen hatten. Im Lift hatte er es vermieden, sie anzusehen. Zusammen waren sie im siebzehnten Stock ausgestiegen, wo er die Tür zu seiner Wohnung aufgeschlossen hatte.
Drinnen hatte die Frau einen raschen Blick um sich geworfen, als suche sie nach Gefahren, einen raschen und, wie es dem Mann erschien, geübten Blick, aber da es in seinem Zimmer nichts anderes zu sehen gab als die billigen Möbel, seine Kleider auf dem Stuhl am Fenster, die verblichenen Gardinen und ein paar Zeichnungen aus dem New Yorker, die er an der Wand zum Schlafzimmer angepinnt hatte, war diese plötzliche Wachsamkeit fast genauso abrupt aus ihrem Gesicht verschwunden, wie sie dort aufgetaucht war.
Wie ein Tier, hatte der Mann gedacht, eine Katze vielleicht, und wieder lächelte sie ihm zu.
Es war das gleiche Lächeln wie unten auf der Straße, überschwenglich, feucht glänzend, aber zugleich gekünstelt, freundlich und trotzdem kühl steif, und es war dieses Lächeln, das den Mann erst jetzt darauf aufmerksam machte, was er im Begriff war zu tun: seine Frau zu betrügen.
Sofort begann die Frau sich auszuziehen, so schnell, als hätte die drückende Schwüle sie überrascht oder als wollte sie alles so schnell wie möglich erledigt haben, an nichts anderem interessiert als an der Bezahlung für ihre Dienste. Der Mann hatte nichts dagegen. Auch er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen, eigentlich wollte er sie jetzt schon loswerden, sobald wie möglich wieder allein sein.
Einen kurzen Moment lang erwog er, sie sofort wegzuschicken, aber die Begierde war stärker, und jetzt stand die Frau nackt da und hob ihm ihre Brüste entgegen.
Wie eine Hure, dachte der Mann, und so musste auch seine Frau dem sogenannten Freund ihre Brüste entgegengehalten haben, so oft und willig, dass eine Ohrfeige keine ausreichende Bestrafung gewesen wäre.
Doch diese Brüste gehörten einer anderen Frau, und der Mann griff danach. In der Küche surrte der Deckenventilator. Durch das offene Fenster hörte man das Brausen der Stadt und das Hupen der Autos von der Straße unten, aber fern und gedämpft, als wäre der Verkehr in einen großen, flauschigen Teppich eingerollt.
Auch der Mann hatte begonnen, sich auszuziehen, auf einmal unangenehm von seinem eigenen Körper überrascht, mit weichem schlaffen Fleisch wie ein Fischbauch; als er die Hose ausziehen wollte, blieb sie irgendwo unter den Knien hängen, fast wäre er gestolpert und hingefallen.
Wie sollten dieser Frau seine Krampfadern und diverse andere Defekte entgehen? Am liebsten hätte er sie streicheln wollen und ihr zuflüstern, dass auch sie ihn streicheln solle, lass uns hier auf dem Sofa liegen und einander nur streicheln, hätte der Mann gern zu der Frau gesagt, damit wäre er mehr als zufrieden gewesen, und danach hätte man weitergesehen, aber jetzt wäre er fast wieder über die Hose gestolpert, die in einem Haufen auf dem Boden lag, die Socken war er noch nicht einmal losgeworden, und um nicht ganz unmöglich zu erscheinen, umfasste er ihr Gesicht fest mit der rechten Hand, als wäre es kein Gesicht, sondern ein Stück Holz oder Metall, das man in einem Schraubstock festklemmt; aber trotzdem hatte sich dieses Gefühl, sich lächerlich zu machen, wieder eingeschlichen, als er gezwungen war, die Unterhosen über sein steifes Glied zu ziehen, aber mehr als ein Gefühl war es natürlich nicht.
Der Mann nahm sie von hinten. Er beugte sich über sie, auf allen vieren wie ein Tier auf einem anderen, klemmte sie mit Armen und Beinen unter sich fest. Die Frau stützte sich an der Sofalehne ab, die mit einem knirschenden, fast schabenden Geräusch gegen die Wand scheuerte, was ihn, statt ihn zu irritieren, erregte; unter dem Mann atmete die Frau schwer, und er hielt sie weiter fest, presste sich mit seinem ganzen schweren weißen Körper gegen den ihren und versuchte, sie in den Nacken zu beißen; mit der Zunge leckte er sie an Hals und Rücken, dann biss er wieder, in der Küche schepperte der Ventilator, und auf der Zunge spürte er den Geschmack von Salz, wieder und wieder stieß er sein Glied in den Spalt zwischen den blanken Hinterbacken der Frau.
Später erinnerte er sich an glatte Haut und etwas Anilingraues, das ins Blau spielte, eher wie ein Schimmer als wie eine Farbe, und daran, wie die Frau unter ihm vor Anstrengung gestöhnt hatte, nein, vor Lust, vor nichts anderem als Lust, sagte er sich, und an ihre schweren Brüste (ja, wirklich wie zwei überreife Früchte), ebenso wie an das Geräusch, das nur vom Schaben des Sofas herrühren konnte, eine Art knirschendes, quietschendes, leicht trockenes und mechanisches Geräusch, aber dann auch an dieses Schmatzen, ein Laut direkt aus dem Schoß der Natur, ja, fast dasselbe Schmatzen, wie wenn er in Reitstiefeln auf einem ganz anderen Kontinent nach dem Regen über den schlammig lehmigen Stallhof zu gehen pflegte.
Hätte etwas gesagt werden sollen? Hätte der Mann Worte ins Ohr der Frau flüstern sollen, die er schon vergessen hatte?
Nein. Das hielt er für ausgeschlossen. In ihre Ohren hatte er nur gebissen. Das Interesse des Mannes für diese Frau hatte dem gegolten, was man anfassen und wonach man greifen konnte, in das man beißen konnte, es auseinanderdrücken, in es eindringen, dem, was sich da unter seinen Händen und dem Mund befand, ohne dass man es in Worte kleiden musste.
Gerade damit, dass die Frau sich selbst ausgezogen hatte, war er unzufrieden, als wollte sie ihm auf diese Weise verweigern, ihren Körper auf eigene Faust zu entdecken und etwas mehr von ihr zu erfahren. Wer war sie eigentlich? Im Übrigen war der Mann nicht mehr ganz sicher, wer er selber war. Obwohl in Amerika, befand er sich in seinen Tagträumen ja doch irgendwo anders, auf einem ganz anderen Kontinent, wo er sich heimischer fühlte, und dieses sein europäisches Ich war viel wirklicher als sein amerikanisches, weshalb er an diesem Abend das Gefühl gehabt hatte, von einem sicheren Versteck aus und gleichsam als sein anderes Ich zwei fremde Menschen da auf dem Sofa zu betrachten, und hätte diese Frau es so gut verstanden, Schein und Wirklichkeit zu trennen (was er aber für ausgeschlossen hielt), wie sie es verstand, ihre Beine zu spreizen, hätte sie auch begriffen, dass sie betrogen worden war, dass sie sich von zwei Personen hatte benutzen lassen, aber nur von einer bezahlt worden war.
Hinterher bat ihn die Frau um Wasser. Der Mann holte ein Glas. Die Frau schickte ihn zurück in die Küche: kein Glas, sondern ein Becken mit Wasser. Und ein Handtuch. Es klang wie ein Befehl, als die Frau um das Handtuch bat, und auch als sie um das Wasser gebeten hatte, hatte sie nicht besonders demütig gewirkt.
Nichts anderes als Stöße und Schläge, dachte der Mann verärgert, immer Stöße und Schläge, und er bedauerte es, nicht gestoßen und geschlagen, sie nicht einmal fest an den Haaren gezogen zu haben.
Trotzdem war der Mann ein zweites Mal wegen des Wassers in die Küche gegangen und dann auch wegen eines Handtuchs, ehe er sich aufs Sofa setzte, um die Frau zu betrachten, während sie sich wusch.
Er war zufrieden mit sich.
Hatte die Frau nicht auch gestöhnt? Und nicht vor Qual, das wusste der Mann genau, sondern von der gemeinsamen Anstrengung der Vereinigung der Geschlechter, die zum Genuss geworden war.
Der Mann war wirklich zufrieden mit sich selbst; auch wenn die Frau vor Schmerzen gestöhnt hätte, hätte es keinen großen Unterschied gemacht. Ob ihr Kopf gegen die Wand geschlagen hatte, oder ob es nur die Sofakante gewesen war, die dagegengeschabt hatte, wusste der Mann nicht mehr sicher. Vielleicht hatte er sie auch an den Haaren gezogen. Tatsache war jedoch, dass sie zusammen zum Höhepunkt gekommen waren, trotz der Hitze und obwohl sie das Sofa verwendet hatten statt das Bett, und mit allem, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, war er daher zufrieden, obwohl es ihm eigentlich egal war.
Alles war ihm ziemlich egal. Was geschehen war, konnte nicht einmal als ein richtiger Ehebruch gelten, eher als etwas, womit seine Frau hätte rechnen müssen, als sie unter verschiedenen Vorwänden ihre Reise nach Amerika verschoben hatte, wobei sie ständig neue Gründe erfand, um noch eine Weile bei dem sogenannten Freund in Stockholm zu bleiben, statt sich hier in Manhattan mit ihrem Mann zu vereinen, in einer Wohnung, die sie erschrecken würde, sobald sie zur Tür hereinkäme.
Wenn der Mann sich vorstellte, wie empört sie bereits sein würde, wenn er die Tür öffnete, fragte er sich, ob es nicht besser wäre, wenn seine Frau in Europa bliebe. Brauchte er sie überhaupt hier? Selbst fürs Bett? Die Erfahrung des Mannes war, dass die einzige Art, das Einerlei des Begehrens und der Gefühle zu durchbrechen, darin bestand, die Lust auf mehr Frauen zu verteilen, als der gute Geschmack es für angemessen hielt oder eine Ehe es verlangte. Doch die Erfahrung hatte ihn auch gelehrt, dass es weniger Varianten beim Liebesakt gab als Adjektive, um sie zu beschreiben, und dass eine Frau doch der anderen glich.