Die
Pferdeflüsterin
erzählt
Geschichten

Die
Pferdeflüsterin
erzählt
Geschichten
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Der Abdruck des Gedichts »Stufen« von Hermann Hesse erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags, Frankfurt am Main. Aus: Hermann Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 10: Die Gedichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002.
Das Gedicht von William S. Cohen »Das ungesprochene Wort« wurde übersetzt von Cornelia Panzacchi, Potsdam
Originalausgabe
Copyright © 2006 by Bastei Lübbe AG, Köln
Redaktionelle Bearbeitung: Stefanie Stüting, Hamburg, und Marion Voigt, Zirndorf
Foto Vor- und Nachsatz: Privates Bildarchiv Andrea Kutsch
Foto Frontispiz: © Jacques Toffi Fotograf, Hamburg
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-3231-2
www.bastei-entertainment.de
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Für Winny und Momo.
Ihr fehlt mir sehr.
Wie wahrscheinlich Tausenden von Zuschauern der Fernsehdokumentation Gnadenfrist für Witty rollten mir vor dem Bildschirm die Tränen über die Wangen, als das Pferd im Hänger den Hof wieder in Richtung Heimat verließ. Ich war erleichtert, dass es dem Schlachter entgehen konnte und seine Beziehung zu seiner jungen Besitzerin gerettet wurde, und vor allem berührt von der Einfühlsamkeit der Pferdetrainerin. Gerettet wurde das Pferd nicht durch Magie, sondern durch die Fachkompetenz von Andrea Kutsch, die über den nötigen Pferdeverstand verfügte, um zu sehen, wo die Kommunikation zwischen dem Pferd und der Besitzerin auf Abwege geraten war.
Von Andrea blieb mir ein für sie typisches Bild im Gedächtnis haften, nämlich ihr ernstes, konzentriertes Gesicht, das während der Arbeit ganz auf das Pferd und seine junge Besitzerin gerichtet war, das dann im nächsten Moment des JOIN-UP aufleuchtete, als wäre ein inneres Licht entzündet worden und hätte den Raum um sie herum hell erleuchtet. Dieses Leuchten hatte mich angesteckt und seither für sie und ihre Arbeit eingenommen.
Monty Roberts hatte Andrea Kutsch und mich zusammengebracht. Abgesehen vom Fernsehen kannte ich wie viele der Zuschauer seiner Shows Andrea Kutsch als Helferin im Hintergrund oder während der folgenden Autogrammstunde, doch nicht persönlich und vor allem nicht ihre Art des Unterrichtens. Der erste Kontakt kam über Montys Handy zustande, als er in Deutschland auf Gestüt Fährhof Pferde trainierte und Andrea ihm dabei hilfreich zur Hand ging. Er meinte, dass wir zusammenarbeiten und unser Interesse für pferdegerechtes Training kombinieren sollten.
Seither sind viele Stunden mit Andrea vergangen; Zeit des gemeinsamen Diskutierens, der Seminare und der Arbeit mit Pferden. Längst ist aus der Arbeit persönliche Freundschaft entstanden und mehr noch: das gemeinsame Ziel, ihre Akademie aufzubauen.
»To make a better world for horses and people…« – Andrea Kutsch hat sich diesen Leitsatz ihres Lehrers Monty Roberts zum Maßstab ihres Lebens gesetzt, er spricht aus jeder Zeile ihrer Arbeit und ihres Buches und ist die Grundlage für die Faszination der Pferdeflüsterin, wie wir sie aus ihren Seminaren und von ihren Fernsehauftritten kennen. Sie hatte mit unglaublicher Beharrlichkeit und Zähigkeit von ihrem Lehrer, Monty Roberts, die Kunst der Pferdesprache gelernt und in ihrer täglichen Arbeit umgesetzt. Durch ihre Seminare hat sie sich längst unabhängig von ihrem Lehrer einen eigenen Namen gemacht. Ihr Erfolg wurde in unzähligen Fernsehauftritten und durch die Besucher ihrer Seminare dokumentiert, wo ihr nicht nur die Pferde gefolgt, sondern auch die Herzen der Zuschauer zugeflogen sind. Ihre geradlinige, transparente und auch humorvolle Art überzeugt ebenso wie ihre ausgewiesenen Kenntnisse des Pferdeverhaltens aus ethologischer Sicht und von reiterlichen Belangen her gesehen.
In ihren Seminaren erklärt und zeigt sie den Besitzern und Teilnehmern anhand ihrer eigenen Pferde genau und einleuchtend, wo die Kommunikation hapert und warum das Pferd die Gefolgschaft angeblich verweigert. Sie zeigt, dass Pferde nicht mit Magie zu bewegen sind, doch in höchstem Maß auf nonverbale Kommunikation reagieren und auch selbst kommunizieren. Demjenigen Pferdebesitzer, der sich nicht vor der eigenen Wahrheit fürchtet und sich von ihrem Wissen führen lässt, eröffnet sich eine ganz neue Welt der Partnerschaft mit dem Pferd, eine neue Dimension des Miteinanders, das auch dem Pferd seinen artgerechten Umgang ermöglicht und ihm den Weg dafür ebnet, endlich zu verstehen und verstanden zu werden.
Problempferde zu therapieren ist eines, Prophylaxe zu betreiben das andere. Diese Erkenntnis führte bei Andrea Kutsch zu dem Wunsch, ihre Akademie aufzubauen. Eine Schule soll es sein, an der Pferdefachleute ausgebildet werden, die neue Wege gehen, das Pferd als vollwertigen Partner akzeptieren und es mit seinen tierlichen Rechten in ihre Überlegungen während der Ausbildung der Jungpferde oder beim Training einbeziehen. Eine Schule soll es sein, welche die Einstellung, dass »ein Pferd muss…«, überwinden hilft und dem Zuhören und Verstehen der Sprache der Pferde die Zukunft eröffnet. Eine Schule soll es sein, welche die Welt der Pferde verbessert und ihr Zusammenleben mit uns Menschen für sie zum artgerechten Erlebnis macht. Dieses Buch über die Pferdeflüsterin zeigt in sympathischer und beeindruckender Weise den Weg und die Gedanken, die den Hintergrund zu Andreas Arbeit bilden.
Zürich, im Frühjahr 2006
Brigitte von Rechenberg
PD Dr. med. vet., Dipl. ECVS
Musculoskeletal Research Unit,
Pferdeklinik, Universität Zürich
Warum lässt sich ein Pferd, das vor der kleinsten Berührung zurückschreckt, innerhalb weniger Augenblicke wieder anfassen? Aus welchem Grund schenkt ein durch Gewalt traumatisiertes Lebewesen einem Menschen plötzlich wieder sein Vertrauen? Was unkommentiert schwer verständlich ist und nahezu mystisch anmutet, was auf den großen Tourneen von Monty Roberts im Auge des Zuschauers zu Magie wird, ist die Arbeit mit einer besonderen Form der Kommunikation: der nonverbalen Sprache der Pferde.
In einer Realität, in der der weltweit meistverkaufte Reitsportartikel nach wie vor die Peitsche ist, soll es hier darum gehen, die Natur und die Kommunikation der Pferde verstehbar zu machen und die Leserinnen und Leser teilhaben zu lassen an dem, was auf den ersten Blick oft wie Zauberei wirkt. Auf der Grundlage unserer neuartigen Erkenntnisse habe ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht, für ein artgerechtes, gewaltfreies Training von Pferden einzutreten.
Weniger um ein Flüstern geht es in der Arbeit der Pferdeflüsterer als vielmehr um ein Zuhören, ein Lesen der nonverbalen Sprache des Pferdes – und ein Verstehen dieser Spezies, deren Verhalten von uralten Naturgesetzen bestimmt wird. Auch im domestizierten Pferd wirken die evolutionsgeschichtlich entwickelten Reaktionsmuster seiner Vorfahren nach, die, lange bevor der Mensch die Bildfläche betrat, als Herdenverband von Fluchttieren in Freiheit lebten.
Wer mit Pferden arbeitet und lebt, mag einmal den ebenso kindlichen wie tief gehenden Wunsch verspürt haben, dass sein Partner und Freund sprechen könne. Dass Frage und Antwort möglich werden, Austausch und Kommunikation die Grundlagen dieser Interaktion zwischen zwei Lebewesen bilden. Warum kannst du bloß nicht sprechen? Diese Frage, die sich kleine Pferdenärrinnen wie versierte Pferdemänner gleichermaßen stellen, hat seit Monty Roberts eine Antwort. Pferde können »sprechen« – sie kommunizieren in der ihnen eigenen, uralten Sprache.
Weil diese Sprache eine auf Gesten beruhende, nonverbale Form der Kommunikation mit Reaktionszeiten von Sekundenbruchteilen ist, erscheint die Kommunikation zwischen Mensch und Pferd dem ungeschulten Auge oftmals wie eine Form von Magie, wie ein übernatürlicher Vorgang, bei dem es »nicht mit rechten Dingen« zugehen kann. Auf eine Distanz von mehreren Metern kann ein Pferd Pulsfrequenz und Adrenalinspiegel seines Gegenübers wahrnehmen. Für das Fluchttier ein überlebenswichtiger Instinkt.
Vor diesen Dimensionen wird erahnbar, wie hoch sensibel das Pferd auf die für uns zumeist unbewusste Körpersprache des Menschen reagiert. Pferde registrieren alles und tun eines niemals: sich in strategischer Absicht gegen den Menschen wenden. Berechnung und Strategie sind in ihrer Natur nahezu nicht verankert. Jedes Tun dient allein dem Überleben und der Fortpflanzung. Und das Herdentier Pferd wird immer die Gemeinschaft mit anderen – sogar mit einer fremden Spezies – suchen, anstatt sich dem Gegenüber in einer Konfliktsituation im Kampf zu stellen. Schon zu zweit ist es stärker als allein. Der Ausschluss aus der Herde ist gleichbedeutend mit dem Tod des Individuums.
Die Sprache der Pferde ist keine Erfindung, keine neue Theorie und auch nicht, wie oftmals von Laien verbreitet, eine Methode. Es handelt sich dabei so einfach wie weit reichend um ein spezifisches Kommunikationssystem, das seit Urzeiten in dieser Form existiert und auf nichts anderem als Naturgesetzen basiert. Genau deshalb tritt die Arbeit mit dieser neuen Form der Kommunikation nicht in Konkurrenz zur so genannten klassischen Reitlehre, die in Deutschland wie in kaum einem anderen Land über starke Wurzeln und eine lange Tradition verfügt. Dass Pferde ihre eigene Sprache haben, ist keine Ansichtssache, sondern ein Faktum. Und diese Sprache ist im weitesten Sinne einer Fremdsprache vergleichbar. Man kann sie – so weit unsere Kenntnisse reichen – erlernen.
Die Möglichkeit einer intensiven, aufrichtigen und auf Vertrauen basierenden Kommunikation zwischen Mensch und Pferd verblüfft viele Menschen. Umso mehr, wenn sie sehen, wie effektiv sie den Umgang mit Pferden macht. Jegliche Form von Gewalt wird von vornherein vermieden und vollständig aus dem Szenario verbannt. Gewalt wird nicht länger als Instrument der Interaktion verstanden. Es darf nicht länger legitim sein, Gewalt auf das Gegenüber auszuüben, ohne dass ihm eine in seiner Sprache verständliche Wahlmöglichkeit bleibt, im Sinne von »Wenn du nicht tust, was ich will, tu ich dir weh«.
Die wichtigste Einsicht am Anfang meiner Ausbildung war, dass das menschliche Kommunikationssystem gänzlich anders funktioniert als das der Pferde. Anthropomorphismus, also das Vermenschlichen tierischer Gedanken, ist in der Ausbildung von Pferden, Reitern und Trainern weit verbreitet. Pferde haben die schwierige Aufgabe, in möglichst kurzer Zeit herauszufinden, was der jeweilige Trainer in seiner eigenen – dem Pferd fremden – Wahrnehmung der Welt von ihnen verlangt, um entsprechend ihren »Dienst« erfüllen zu können.
Im Umgang mit Pferden wendet der Mensch das verbale Sprechen als sein ureigenes und zentrales Kommunikationsmittel an. Meine Erfahrung und meine persönliche Sicht des gesamten Szenarios geben mir Grund zu der Annahme, dass die menschliche Sprache in der Wahrnehmung der Pferde nichts anderes ist als eine Anhäufung akustischer Geräusche ohne Intention: Lippenlärm – ein Begriff, den der Autist Axel Brauns geprägt hat. Unsere Sprache und unsere Gesten erreichen die Tiere in ihrer Welt nicht; sie erreichen ihren Geist vermutlich in einer anderen Form, als von uns gewünscht oder erhofft. Einige Pferde sind besser darin, unsere Sprache zu deuten, andere schlechter. Das führt zu Fehlinterpretationen.
So haben beispielsweise Schulpferde über die immer wiederkehrenden Reize der Stimme, die ganz bestimmten Aktionen und Reaktionen des Menschen entsprechen, eine bessere Möglichkeit, einzelne menschliche Worte und Signale zu deuten, als andere Pferde, deren Trainer, Reiter, Bereiter und Pfleger ständig wechseln. Jeder einzelne Mensch versucht auf seine individuelle Art und Weise, den Geist des Pferdes zu erreichen. Betrachtet man die Gehirnstruktur der Pferde und ihre instinktiven Verhaltensweisen, versteht man, dass das zwangsläufig zu Missverständnissen führt.
Sich im Geräuschedschungel der Menschen zurechtzufinden stellt an das Pferd immense Anforderungen. Und es verlangt höchste Aufmerksamkeit zu erschließen, welche Worte der Mensch mit welcher Intention an es richtet. Pferde leben in einer Erfahrungswelt, die wir nicht betreten können. Über vieles können wir mutmaßen, vieles können wir interpretieren und vieles erahnen, wenn wir ihr Verhalten beobachten und analysieren. Letztendlich bleibt uns ihre Erfahrungswelt aber verschlossen. Zumindest so lange, wie wir versuchen, Pferde auf der Basis unserer eigenen Natur und unseres Kommunikationssystems zu trainieren und zu verstehen.
Sich ein authentisches Bild vom Verstand eines Pferdes zu verschaffen hieße, in eine Welt einzutreten, in der es keine Worte gibt, diese zu beschreiben. Eine Welt, die für den Menschen ohne Sinn und Bedeutung bleibt. In den philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein findet man das Zitat: »Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.« Stephen Budiansky meint in seinem Buch über die Intelligenz der Tiere (Wenn ein Löwe sprechen könnte, Reinbek 2003) dazu, dass wir den Löwen wahrscheinlich durchaus verstehen könnten, er wäre eben nur kein Löwe mehr. Sein Verstand wäre kein Löwenverstand mehr.
Der Ansatz meiner Arbeit ist, die Sprache der Pferde, die eigentlich keine Sprache ist, sondern vielmehr ein effektives nonverbales Kommunikationssystem, zu analysieren und zu erforschen. Ich möchte sie versteh- und praktizierbar machen. Die Grundlagen dafür bilden naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten. Immer mehr widme ich meine Aufmerksamkeit dem praktischen Transfer von ethologischen Erkenntnissen in die Verwendung und Umsetzung am Pferd.
Oskar Heinroth und sein späterer Schüler Konrad Lorenz waren Pioniere auf diesem Gebiet. Bereits 1906 hatte Heinroth festgestellt, dass bestimmte Verhaltensmuster bei Gänsen angeboren und damit erblich sind. Er verglich Rufe, Ausdrucksformen bei der Balz und der Aufzucht von Jungen. Dabei entwickelte er Begriffe wie Prägung, Drohgebärden, Imponiergehabe – Begriffe, die Konrad Lorenz später übernehmen und als Erster definieren sollte.
Viele Wissenschaftler bezeichnen Oskar Heinroth als einen der Begründer der Tierpsychologie, einem Zweig der Biologie. Die Forschungen von Charles Otis Whitman, Wallace Craig und Oskar Heinroth – später auch von Konrad Lorenz – eröffneten ein neues Feld für ethologische Untersuchungen. Erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde mit der Forschung unter dem Begriff Tierpsychologie begonnen. Equitane Themen fanden in diesen frühen Studien allerdings keinen Platz. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass in der jahrhundertealten herkömmlichen Reitlehre ausreichend Wissen gesammelt worden sei, sodass es keinen Bedarf an neuen Erkenntnissen und Forschungsergebnissen gebe.
Die heute als Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung) bezeichnete Forschungsrichtung steckt, was das Thema Pferd betrifft, noch immer in den Kinderschuhen. Monty Roberts war einer der ersten praktischen Ethologen, der in Kooperation mit vielen Wissenschaftlern und Veterinärmedizinern zwischen angeborenen und antrainierten Verhaltensweisen beim Pferd unterschied. Er begann, seine umfangreichen Beobachtungen auszuwerten und die Gesten und Verhaltensweisen entsprechend zu deuten. Gesten und Strukturen, die er später als die Sprache der Pferde definierte und Equus nannte.
Als ich im Jahr 1999 begann, mit Monty Roberts zu arbeiten, wurde mir die Tragweite seiner Arbeit und seiner Erkenntnisse schnell bewusst. Nicht nur dass Pferde über ein Kommunikationssystem verfügen sollten, das erlernbar und im täglichen Training anwendbar sei, war eine Sensation. Hier handelte es sich um eine Erkenntnis, die dafür Sorge tragen könnte, die allgemein übliche Gewalt im Umgang mit Pferden zu eliminieren.
Zum damaligen Zeitpunkt war Monty Roberts in Deutschland noch relativ unbekannt. Als wir hier gemeinsam die ersten Vorführungen und Tourneen starteten, die auf den Einfluss von Königin Elisabeth II. von England zurückgingen, war uns nicht mal ansatzweise bewusst, dass wir eine ganz neue Epoche im Umgang mit Pferden einleiten sollten.
Die Begründer der Ethologie standen in völligem Gegensatz zur damals international vorherrschenden Überzeugung der Behavioristen. Vertreter des Behaviorismus wie John Broadus Watson und sein Schüler Burrhus Frederic Skinner behaupteten im Gegensatz zu den Ethologen, bei Tieren gäbe es kein angeborenes Verhalten und subjektives Erleben. Bei jedem Verhalten, so ihr Ansatz, handele es sich um erlernte Reaktionsmuster.
Bedenkt man, dass das System der herkömmlichen Reitlehre nach wie vor auf dieser Ansicht basiert, wird deutlich, warum es noch immer zu unsäglichen Missverständnissen in der Kommunikation zwischen Mensch und Pferd kommt. Seit 1935 wurden immer mehr wissenschaftliche Stimmen laut, die die Entdeckung von instinktiven Verhaltensweisen bei Tieren als Lösung für viele Probleme im Umgang mit ihnen und als Schlüssel zu ihrem Verständnis bezeichneten.
Als Monty Roberts 1948 in Nevada die Verhaltensweisen von Pferden in der freien Wildbahn zu beobachten begann, fand er Muster, die bei domestizierten Pferden selten in dieser Deutlichkeit zu sehen waren. Er fing an, Hypothesen aufzustellen und sie zu überprüfen. Er versuchte, die Gesten zu entschlüsseln, die für das Kommunikationssystem des Pferdes von größter Bedeutung sind und sein Überleben in der freien Natur sichern. Und er verstand, dass die Ausbildung von Pferden mittels Zwang auf einem gewaltigen Missverständnis beruht.
Tatsächlich handelte es sich zu diesem Zeitpunkt noch um ein Teilkonzept, ausschließlich beruhend auf seinen zahlreichen Beobachtungen und auf herkömmlichem Pferdewissen. Monty Roberts fand als Beispiele für angeborene Verhaltensweisen das In-den-Druck-Syndrom oder auch das Lecken und Kauen, das sich beispielsweise zeigt, wenn ein ranghöheres Pferd ein rangniederes Pferd diszipliniert. Wir bezeichnen das Lecken und Kauen als eine demütige Geste, die eine Konfrontationsreaktion beim Gegenüber vermeidet. Auch die so genannte Prägung von Fohlen und Mutterstute ist eine, wie Dr. Robert M. Miller inzwischen nachgewiesen hat, durch bestimmte Auslöser in Gang gesetzte, instinktive Verhaltensweise.1 Prägung wurde zu einem Schlüsselbegriff der ethologischen Epoche, und man unterschied zwischen instinktiven und antrainierten Verhaltensweisen. Unzählige Probleme im Training von Pferden ließen sich plötzlich erklären und analysieren. Instinktives Verhalten, präzise, eindeutig und seit Jahrtausenden unverändert, war einfach nie als solches erkannt und verstanden worden. Wie oft werden Pferde für ein Verhalten bestraft, das ihnen angeboren ist. Bestraft für ein natürliches Reaktionsmuster, einen Instinkt. Wer die Natur nicht kennt, kann auch nicht wissen, wann er gegen ein Naturgesetz verstößt.
Hinsichtlich geistig-seelischer Zusammenhänge haben sich in der zeitgenössischen Verhaltensforschung zwei Lager gebildet. Die kognitive Strömung besagt, dass ein Tier im Rahmen seiner Möglichkeiten wahrscheinlich darüber nachdenkt, was es tut. Die behavioristische Ansicht verneint das bewusste Denken anderer Lebewesen. Strenge Behavioristen gehen so weit, das Vorhandensein von Gedanken und Gefühlen bei Tieren in der wissenschaftlichen Diskussion nicht zuzulassen.
Angeregt durch Menschen wie Monty Roberts, die den Mut haben, Thesen weiterzuentwickeln, beginnen einige wenige Fachleute heute schüchtern hinter den behavioristischen oder sonstwie konventionellen Scheuklappen hervorzuschauen. Seit dem Ersten Weltkrieg haben die Wissenschaftler die geistig-seelischen Zusammenhänge weitgehend vernachlässigt, in erster Linie, weil die Verhaltensforscher zu der Überzeugung gekommen waren, es sei völlig unmöglich, bei Tieren automatische und gedankenlose Reaktionen von Verhaltensweisen zu unterscheiden, die eine bewusste Wahl einschließen.
Durch den von Monty Roberts entwickelten Prozess des JOIN-UP können wir heute nach Studien mit vielen Tausenden von Pferden ethologisch nachweisen, dass ein Pferd im Moment des JOIN-UP in der Lage ist, selbst eine bewusste Entscheidung zu treffen. Durch die eindrucksvollen Ergebnisse und die Integration psychologischer Zusammenhänge findet das Denken der Tiere heute wieder ernsthafte Beachtung.
Der Wissenschaftler Donald R. Griffin hat weit reichende Thesen über das bewusste Denken aufgestellt: Inhalte bewussten Denkens können aus unmittelbaren Empfindungen, aus Erinnerungen an Vorfälle in der Vergangenheit oder aus einer Vorwegnahme der Zukunft entstehen. Ein bewusst denkender Organismus tut mehr, als nur zu reagieren. Neben Konrad Lorenz (1963) und Heini Hediger (1947, 1968, 1980) haben sich nur wenige Ethologen über Gedanken und Gefühle der Tiere geäußert. Sie haben selten ihre Existenz dogmatisch in Abrede gestellt, aber sie betonen, es sei außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich, etwas über das subjektive Erleben anderer Arten zu erfahren. Theodore Savory formulierte hingegen schon 1959: »Natürlich ist es schwierig, die Gedanken oder ihre Äquivalente, die das Verhalten eines Tieres bestimmen, zu interpretieren. Jedoch ist das kein Grund, es nicht zu versuchen.« (FN: Theodore Savory, Instinctive Living. A Study of Invertebrate Behaviour, New York: Pergamon Press 1959.)
Zwar gilt das Pferd als Tier seit 1990 juristisch nicht mehr als Sache, sondern als »Mitgeschöpf«, das durch besondere Gesetze geschützt wird (vgl. § 90a BGB). Doch es unterliegt noch immer wie ein Gebrauchsgegenstand den Rechtsnormen des Kaufrechts beziehungsweise des so genannten Gebrauchsgüterrechts. Monty Roberts hat mit seiner Arbeit den Grundstein für ein Verständnis von Pferden gelegt, das vielen Biologen, Ethologen, Veterinärmedizinern, Reitern und Pferdetrainern eine neue Sichtweise dieser Lebewesen eröffnet. Die Universität Zürich verlieh ihm dafür im Jahr 2002 den Ehrendoktortitel.
Eines von unzähligen Beispielen, die Monty Roberts gerne anführt: Ein Beute- und Fluchttier wie das Pferd wird in der Natur nur von einem Raubtier fokussiert. Auch wenn die Bejagung durch Raubtiere fehlt, ist trotzdem die Furcht davor tief verankert. Deshalb wird sich jedes Fluchttier vom Menschen wegbewegen, wenn dieser direkten, festen Augenkontakt hält. Ein Absenken des Blicks kann auf große Distanz gelesen werden, ebenso wie Schulterstellungen und Handbewegungen. Jede einzelne Bewegung des Menschen ist Kommunikation für das Pferd und hat eine Reaktion zur Folge. Damit entsteht eine Bindung zwischen Mensch und Tier, die auf Taten statt auf Worten basiert.
Das Zusammenleben mit uns steckt für Pferde voller Fehlerquellen, voller Fallen und Missverständnisse. Durch die meist schmerzhaften, negativen Konsequenzen, die sich aus einem Fehler ergeben, wird das Leben zum Spießrutenlaufen, das Unsicherheit und Angst mit sich bringt. Nach einer Studie, die ich 2005 durchgeführt habe, klagten über 75 Prozent der von mir befragten Besitzer von Problempferden über deren hohes und unkontrollierbares Angstniveau. Pferde, die mit unverständlichen Signalen und Informationen konfrontiert werden, etwa mangelndem Nachlassen von Druck oder Schmerzen durch unkorrekte Ausbildung, erhalten oft den Ruf, schwierig zu sein. Nicht selten werden sie in der Folge an Freizeitreiter verkauft, wo dann wiederum mangelnde Erfahrung zu Problemen führt. Viele solcher Pferde werden vom Menschen als dumm, aggressiv oder dominant bezeichnet, und das oftmals nur, weil sie nicht tun, wonach wir fragen.
In den Richtlinien der Deutschen Reiterlichen Vereinigung ist zu lesen: »Widersetzlichkeiten und Untugenden während der Ausbildung sind in den meisten Fällen auf eine ungenügende Grundlagenarbeit, Überforderung, auf Missverständnisse zwischen Reiter und Pferd oder eine zwangvolle Vorgehensweise zurückzuführen.«2 Das ist eine sehr wichtige Aussage, die auf menschliches Fehlverhalten gegenüber Pferden verweist. Doch in der Praxis müssen sich Lösungsansätze erst noch durchsetzen, die das ureigene Kommunikationssystem der Pferde und ihre natürlichen Verhaltensweisen berücksichtigen. Die »Ausbildungsordnung der deutschen Pferdewirte«, die im Wesentlichen den Wissensstand von 1975 spiegelt, ist im Hinblick darauf sicher verbesserungswürdig.
Ob der Mensch das Ziel, Problemverhalten bei Pferden auszumerzen, über seine derzeitige Vorgehensweise erreichen wird, sei infrage gestellt. Auch der Ansatz, über die Zucht zu gehen, ist in zahlreichen Fällen weder sinnvoll noch praktikabel. Nach einer französischen Studie mit über 3000 Pferden außerhalb des Rennsports wurden mehr als 66,4 Prozent im Alter zwischen zwei und sieben Jahren getötet, und zwar nicht etwa aufgrund von gesundheitlichen Schwierigkeiten, sondern vor allem wegen angeblich unakzeptabler Verhaltensweisen.3
Solche hohen Verluste haben ihren Grund keineswegs in orthopädischen Erkrankungen oder Problemen des Atmungsapparats, wie es Auswertungen der Rennindustrie nahe legen.4 Die Konsequenz daraus sollte sein, dass sich Tiermediziner und Pferdewissenschaftler, aber auch alle anderen, vermehrt mit Lerntheorien auseinander setzen, die als Basis eines guten Trainings, kontinuierlicher Erziehung und Verhaltensmodifikation dienen. Falsche Trainingsansätze können zu negativen Konsequenzen führen, die weit über die bloße Verschwendung von Zeit hinausgehen.
Sicherlich können Pferde sowohl aus unangenehmen als auch aus angenehmen Erfahrungen lernen. In einem Test wurden Ponys nach den Prinzipien von Belohnung und Bestrafung durch einen Irrgarten geführt. Die Tiere der einen Gruppe erhielten Futter, wenn sie den richtigen Weg einschlugen; den Ponys der anderen Gruppe versetzte man milde Elektroschocks. Es zeigte sich, dass diese Ponys wesentlich länger brauchten, um sich für eine bestimmte Richtung zu entscheiden, als diejenigen, die keine negativen Erfahrungen während des Lernprozesses gemacht hatten. Die Tiere, die mit Futter belohnt wurden, fanden ihren Weg durch den Irrgarten ganz einfach durch das schnelle, mutige und sichere Treffen von Entscheidungen. Das Element der Bestrafung, beispielsweise der Einsatz von Peitschen und Sporen, kann also die angeborenen Problemlösungsfähigkeiten der Pferde beeinträchtigen.5
Pferde, mit denen nicht auf der Basis eines für sie verständlichen Kommunikationssystems gearbeitet wird, leben von den Menschen isoliert, deren Gesichter nicht zu lesen sind und deren Worte keinen Sinn ergeben. Die visuelle Wahrnehmung eines Pferdes erlaubt kein detailliertes Fokussieren auf Nähe. Seine Augen unterscheiden sich anatomisch stark von denen des Menschen. Pferde sehen die Welt in Silhouetten.
Der Autist Axel Brauns beschreibt in seinem Buch Buntschatten und Fledermäuse (München 2004) das Leben am Rand einer Welt, zu der ihm jeder Zugang fehlt. An Strukturrastern und wiederkehrenden äußeren Reizen richtet sich ein ungefähres Zurechtfinden in seiner unmittelbaren Umgebung aus. Kategorisierungen beleuchten einen vage erkennbaren Weg. Jede Form von Verständnis, Antizipation und Empathie entfällt:
»Mir fiel es nicht leicht, sie wahrzunehmen, sie waren nahezu unsichtbar in einer Welt, die sichtbar blieb… Da gab es die gutartigen Wesen, das waren die Buntschatten, und da gab es die bedrohlichen Wesen, das waren die Fledermäuse. Ein Buntschatten konnte sich urplötzlich in eine Fledermaus verwandeln und umgekehrt, ohne dass ich verstand warum.
Die pfützenhaften Gesichter dieser Wesen dampften wie nach einem Regen, und ihren Mündern entwich Lärm, aus dem ich weder Klang noch Bedeutung heraushören konnte. In mir kehrte Stille ein.« (Seite 15)
So ähnlich stelle ich mir die Situation von Pferden vor. Wie soll uns das Tier verstehen, wenn wir schlecht gelaunt in den Stall kommen und heute urplötzlich verboten ist, was gestern noch erlaubt war? In seiner Wahrnehmung entweicht unserem Mund Lippenlärm, da er die Worte nicht entschlüsseln kann.
Das Pferd lebt in einer anderen Welt. Um es dort zu erreichen, setzte Monty Roberts seine Beobachtungen der Wildpferde um und entwickelte den Prozess des JOIN-UP. Dieser dauert nicht länger als etwa zwei bis vier Minuten, je nach den charakterlichen Stärken von Pferd und Mensch. Er soll immer damit enden, dass zwei Partner das gemeinsame Ziel verfolgen, fair, umsichtig und in Ruhe miteinander umzugehen. Dann lassen sich die unterschiedlichen Welten von Mensch und Pferd verbinden. Monty Roberts definiert es so: »JOIN-UP ist ein Prozess, der auf der Verständigung in einer gemeinsamen Sprache beruht mit dem Ziel, eine Bindung auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen zu schaffen.« Können wir die Erfahrungswelten der Pferde vielleicht doch betreten?
Die menschliche Kommunikation besteht – meist unbewusst – zu rund 80 Prozent aus Körpersprache. In seinem Buch Körpersprache (München: Mosaik Verlag 1996) geht Samy Molcho, der Pantomime und Experte für Ausdrucksformen sowie Signale des Körpers, auf die Möglichkeiten und Interpretationen der menschlichen Körpersprache ein. Kleinste Gesten, mimische Ausdrucksweisen, Haltungen und Bewegungen bilden einen individuellen Gesamtausdruck und prägen jede noch so geringfügige Aktion oder Reaktion. Körpersprache ist die eigentliche Urform der Kommunikation. Der Körper ist primär, nicht das Wort. Über Kultur- und Altersgrenzen hinweg gleichen sich grundlegende Körpersignale beim Menschen seit Jahrtausenden. In ihrer weiteren Entwicklung drückt sich die Körpersprache je nach gelernten Mustern, Lebenskreisen und sozialen Schichten unterschiedlich aus. Körpersprache ist erlern- und trainierbar.
Alles Leben, wie alle Kommunikation, beruht auf Interaktion. Ein ständiger Austausch, an dem wir Tag für Tag beteiligt sind. Unser gewohntes Verhalten läuft dabei in den meisten Situationen unbewusst ab. Deshalb registrieren wir auch nicht, dass es sich bei der Haltung der Außenwelt uns gegenüber immer auch um eine Antwort, eine Reaktion, einen Rückkopplungseffekt handelt. Die Aussage »Der andere verhält sich so, mich trifft keine Schuld« ist hierfür exemplarisch. Wir blenden unsere eigenen Verhaltensmuster aus, weil wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen, und übersehen dabei, dass der andere nicht nur agiert, sondern auch auf uns reagiert. Aus dieser – häufig nicht registrierten – Gegenseitigkeit zieht Samy Molcho den Schluss: »Ändere deine Einstellung zu den Menschen, und die Menschen ändern ihre Einstellung zu dir.«6
Ist uns eigentlich bewusst, dass wir permanent Signale aussenden, auf die unsere Außenwelt reagiert? Ist uns bewusst, dass wir uns dauernd in einem Wechselspiel von Aktion und Reaktion, von Wertung und Einschätzung bewegen? Was für die zwischenmenschliche nonverbale Kommunikation gilt, ist auf die Interaktion zwischen Mensch und Pferd übertragbar. Das Pferd als ein sensibler Beobachter von Gesten und Bewegungen nimmt unsere Körpersprache wahr – und reagiert darauf. Wer sendet zuerst einen Reiz aus und wer reagiert? Wo nimmt das Spiel seinen Anfang? Wer beeinflusst wen?
Fakt ist, was ich wahrnehme, entspricht nicht zwangsläufig der bewussten Absicht des anderen, ist nicht unbedingt das, was er mir von sich zeigen will. Im Positiven wie im Negativen. Begegnet mir jemand mit einer aggressiven Haltung, so war dies vielleicht nicht gewollt, sondern er reagiert nur, womöglich unbewusst, auf die von mir ausgesandten Signale. Schnell verändert sich im Bruchteil einer Sekunde der Tonfall, wird aus einer freundlichen Bitte eine nachdrückliche Forderung. Wie oft zwingen wir unser Gegenüber durch unser Verhalten in eine Rolle, die der andere gar nicht annehmen möchte, geschweige denn so beabsichtigt hat? Wir kreieren ein Szenario, in dem ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als auf die von uns gegebenen Reize und Signale zu reagieren.
Samy Molcho findet für diese Situation plakative Beispiele: Befindet sich ein Mensch ohne konkreten Grund in einer angstbesetzten Stimmung, so sind seine Sinne äußerst sensibilisiert. Bei einem hohen Adrenalinspiegel und schnellen Puls wird er in jede Person, die auf ihn zukommt, eher eine Gefahr hineinprojizieren als in einer gelassenen und entspannten Grundstimmung. Wenn eine Frau in ihrer Grundhaltung ein tief sitzendes Misstrauen gegen Männer verankert hat, wird sie in jedes Zeichen der Annäherung und Zuneigung eines Mannes negative Absichten hineininterpretieren (»er will mich rumkriegen, abhängig machen«). Von vornherein entsteht so eine negative Beziehungsqualität, die jede positive und offene Kommunikation zum Scheitern verurteilt.
Der berühmte Pantomime weiß, dass schon kleine Körperbewegungen Gefühle blockieren, verändern oder erschaffen können. Sie wirken auf den anderen als Reiz, noch bevor wir uns dessen bewusst werden. Was für unser Gegenüber gilt, trifft auch auf uns selbst zu. Der Standpunkt gewinnt dabei sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht an Bedeutung.7 Schon eine kleine Bewegung von meinem Standpunkt – im körperlichen Sinn – weg stimuliert neue Reize, Ideen und Überlegungen. Beginne ich, mich gedanklich im Kreis zu drehen und nicht mehr vorwärts zu bewegen, ist ein räumliches Wegbewegen von der Stelle, an der ich bis eben verharrt habe, meistens sehr zuträglich. Aber auch wenn ich den anderen von seinem – inhaltlichen – Standpunkt abbringen möchte, muss ich versuchen, ihn zunächst physisch davon wegzubewegen. Äußere Bewegung erzeugt innere Bewegung.
Das folgende Gedicht von William S. Cohen unterstreicht, wie nonverbale Kommunikation jede menschliche Transaktion durchflutet:
Das ungesprochene Wort
verhallt nicht ungehört.
Es verweilt im Auge,
im Brauenbogen.
Eine Handbewegung
ist beredter noch als Worte,
ihr Echo ruht im Herzen
wie Treibholz im Sand,
berieben von der Zeit,
bis es verrottet oder glänzt.
Das ungesprochene Wort
berührt uns wie Musik
den Geist.
In bestimmten Grenzen lässt sich dies auch auf die Beziehung zwischen Mensch und Pferd übertragen. Das Tier kann uns Aufschluss über unsere eigene Körpersprache geben, es kann einen Prozess des Lernens, ja sogar der Selbsterkenntnis anstoßen. Doch die Voraussetzung dafür ist, dass wir bereit sind, sowohl ehrlich zu uns selbst zu sein als auch uns ganz auf das Pferd einzulassen, uns dem fremden Lebewesen vorbehaltlos zu öffnen.