kapitel 2 Glas- und Metallsplitter spritzten durch die Gegend, regneten aus der Luft herab, prallten vom Boden ab und wurden hochgeschleudert. Ich lag auf dem Rücken, gut abgeschirmt von dem Starter, der sich schützend über mich beugte. Ich schloss die Augen und verschränkte die Arme über dem Kopf. Eine Frau wimmerte. Angst- und Schmerzensschreie drangen aus allen Richtungen auf mich ein, und ich konnte nicht ausschließen, dass ich ebenfalls laut aufgeschrien hatte. Das Ganze schien eine Ewigkeit zu dauern, obwohl in Wahrheit wohl nur Sekunden verstrichen waren.

Endlich verebbte das grauenhafte Scheppern und Klirren der Explosion. Einen Moment lang herrschte Stille in der Mall, als hielten alle Besucher die Luft an. Dann atmeten sie gleichzeitig aus, und der Lärm begann von Neuem, etwas gedämpfter diesmal. Er erreichte mich in Wogen gespenstischer Echos. Verwundete Enders stöhnten. Starters schluchzten. Manche riefen in Panik nach ihren längst von den Sporen dahingerafften Müttern und Vätern.

Ich schlug die Augen auf. Der Starter, der mich gerettet hatte, richtete sich auf.

»Dir ist nichts geschehen«, sagte er. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und horchte angestrengt. »Die Marshals kommen. Ich muss los.«

»Warte.« Ich setzte mich mühsam auf.

»Ein anderes Mal. Wir sehen uns wieder.«

Als ich mich endlich aufgestützt hatte, war er im Chaos untergetaucht, ohne mir die Möglichkeit zu geben, ihm zu danken. Ich schüttelte Glassplitter von meinen Klamotten.

Blut sprenkelte meine Handrücken. Wie konnte so etwas geschehen? Wie schaffte es der Old Man, den Chip in eine Bombe zu verwandeln?

Dann wanderten meine Gedanken weiter.

Tyler. Michael.

Ich orientierte mich und entdeckte das Schuhgeschäft gleich neben der Stelle, wo die Bombe den schlimmsten Schaden angerichtet hatte. Schutt und Trümmer hinderten mich daran, die kurze Strecke im Laufschritt zurückzulegen. Ich arbeitete mich bis zum Ladeneingang vor, wo ein Wachtposten soeben das, was von Reece noch übrig war, mit seiner Jacke zugedeckt hatte. Einer der silbernen Pumps, die ich noch vor wenigen Minuten bewundert hatte, lag als Aschenputtels verlorener Schuh inmitten von Glasscherben auf dem Boden.

Meine Sohlen knirschten, als ich das Schuhgeschäft betrat. Auf den Hockern saßen Menschen, die Taschentücher und Golfhandtücher an ihre blutenden Köpfe, Gesichter, Arme und Beine pressten.

Dann erspähte ich Michael hinter einer Theke im hinteren Teil des Ladens. Er starrte mit gesenktem Kopf nach unten. Ich rannte auf ihn zu.

Er schaute erleichtert auf. »Callie!«

»Wo ist Tyler?«, schrie ich ihm entgegen. Tyler erhob sich hinter der Theke. Er hatte ein paar Schrammen abbekommen. Sonst offenbar nichts. Ich umrundete die Schaukästen und drückte ihn an mich.

»Was ist passiert?«, wollte Tyler wissen.

»Es gab eine Explosion.«

»Aber warum? Was ist hier los?«

Ich las tiefes Unbehagen in seinen Augen. Auch wenn er äußerlich so gut wie unversehrt war, würde diese Begebenheit Narben in seinem Innern hinterlassen.

»Ich gäbe viel darum, wenn ich das wüsste.«

Stunden später hatten Marshals und Ermittler das Schuhgeschäft abgeriegelt und die Mall in eine provisorische Polizeistation verwandelt. Ein aus den Läden ringsum herbeigeschlepptes Sammelsurium von Stühlen und Tischen wurde so zu Büroinseln zusammengestellt, dass keiner der Zeugen mithören konnte, was der andere aussagte. Tyler und ich standen in der Schlange und warteten, bis wir drankamen. Ich hatte meinem Bruder die Arme um die Schultern gelegt und ihn ganz eng an mich gezogen. Wir waren als Nächste an der Reihe. Sollte ich preisgeben, was ich wusste? Was würden sie mit mir machen, wenn sie erfuhren, dass ich Stimmen im Kopf hörte? Sie würden mich für verrückt halten.

Ein Starter-Mädchen erhob sich und verließ einen der Tische. Ein Marshal nickte uns zu und winkte Tyler auf den leeren Platz zu sich. Ich nahm in der nächsten Station Platz. Der Ermittler, der mich befragen sollte, überragte mich selbst im Sitzen. Er war ein muskelbepackter Ender um die hundert, tief gebräunt und mit einem dichten weißen Haarschopf. Ich bemerkte, dass er eine Pistole trug, aber es war der Anblick seines Zip-Tasers, der mich erstarren ließ.

»Name?«, fragte er.

»Callie Woodland.«

Sein handtellergroßer Airscreen zeichnete meine Stimme auf. Ich konnte die Worte in Spiegelschrift auf dem Display sehen.

»Alter?«

»Sechzehn.«

»Großeltern?«

Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihm, dass Lauren die gesetzliche Vormundschaft für mich übernommen hatte. Er notierte sich meine Adresse und Telefonnummer.

»Was hatten Sie an diesem Ort zu suchen?«

»Ich war mit meinem Bruder Tyler verabredet. Wir wollten Schuhe für ihn kaufen.«

»Ist er hier?«

Ich nickte. Er deutete auf das Airscreen-Display.

»Bitte antworten Sie laut und deutlich.«

»Ja, er wird gerade an dem Tisch dort drüben verhört.«

Ich kratzte mich am Hinterkopf und ließ die Hand sinken, als mir bewusst wurde, was ich tat. Der Ermittler sah mich an. Hatte er etwas gemerkt? Ich schob die Hand unter meinen Oberschenkel.

»Schildern Sie einfach, was Sie gesehen haben«, bat er.

Ich holte tief Luft. Ich hatte mir meine Sätze in der Warteschlange zurechtgelegt. Aber würde ich das jetzt hinbekommen?

»Ich sah ein junges Mädchen das Einkaufszentrum betreten.«

»Beschreibung?«

»Langes rotes Haar, etwa eins fünfundsechzig groß, sehr hübsch. Sie trug ein grün bedrucktes Kleid und Silberschuhe mit kleinen Absätzen.«

»Und …?«

»Sie benahm sich irgendwie komisch …«

»Inwiefern?«

Wage es nicht.

Die Stimme versetzte mich in Alarmbereitschaft. Der Ermittler blickte von seinem Airscreen auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Du weißt, welche Mittel mir zur Verfügung stehen, Callie. Hast du verstanden?

Ich nickte.

»Können Sie bitte fortfahren?«, fragte der Marshal.

»Das Mädchen wirkte … nervös. Sie schaute sich um.«

Seine Augen verengten sich. »Weiter.«

»Als sie vor dem Schuhgeschäft stand, erfolgte plötzlich eine Explosion. Ich machte die Augen zu, schützte meinen Kopf mit den Armen. Und dann sah ich, dass sie tot war. Sie muss die Bombe … am Körper getragen haben.« Meine Stimme schwankte bei der Erinnerung an die schlimmen Bilder.

Sein Ausdruck wurde sanfter. Mitfühlend. Am liebsten hätte ich ihm die Wahrheit gesagt. Aber das wagte ich nicht.

»Das ist alles, was ich weiß«, bekräftigte ich.

Er stellte mir noch ein paar Fragen. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Tyler aufstand. Michael nahm ihn in Empfang und führte ihn zum Ausgang des Einkaufszentrums.

Bis sich der Ermittler endlich zufriedengab und ich die Mall entlangging, hatte mich der Old Man verlassen. Ich schätzte, dass er mit seinen Leuten Kontakt aufnehmen musste, zumindest mit der- oder demjenigen, der die arme Reece gesteuert hatte. Was immer der Grund sein mochte, ich war erleichtert über das Verschwinden der Stimme.

Ich huschte wie ein Gespenst durch das Einkaufszentrum in Richtung Ausgang. Mir kam die Warnung von Helenas Neurotechnologen Redmond in den Sinn. Er hatte gesagt, dass der Chip in meinem Kopf wie eine Bombe explodieren könnte. Arme Reece. Warum tat der Old Man so etwas? Warum? Um uns zu zeigen, dass wir tatsächlich nur Prime vernichten konnten, aber nicht ihn? Oder einfach nur, um mich zu terrorisieren?

Mein Magen verkrampfte sich. Wie ich diesen Chip hasste, dieses DING in meinem Kopf! Ich würde nicht zulassen, dass ich für den Rest meines Lebens tun musste, was dieser unheimliche Ender von mir forderte.

Große Worte, aber zitternde Hände.

Mir war schwindlig. Ich trat in eine Nische neben einem Liefereingang und atmete tief ein. Es gelang mir nicht, das Bild von Reece und ihrem Schuh aus meinen Gedanken zu verdrängen. Das rote Haar, das unter der Jacke hervorquoll, mit der sie der Wachtposten zugedeckt hatte. Hätte ich irgendetwas tun können, um sie zu retten? Ich presste die Arme fest an meinen Körper, um mich zu beruhigen.

Dann warf ich einen Blick über die Schulter. Ich war inzwischen so weit vom Ort des Geschehens entfernt, dass sich niemand um mich kümmerte. Ich holte mein Handy aus der Tasche und rief Senator Bohn an. Es fiel mir schwer, ruhig und zusammenhängend zu sprechen.

Der Senator gehörte zu den wenigen Leuten, denen ich vertraute. Und zwar deshalb, weil er mir geholfen hatte, Prime Destinations zu vernichten. Er gehörte außerdem zu den wenigen Leuten, die wussten, was dort vor sich gegangen war. Und er verfügte über die nötigen Verbindungen, um Gegenmaßnahmen in die Wege zu leiten. Ich schilderte ihm, was geschehen war. Er hatte bislang vergeblich versucht, den Aufenthaltsort des Old Man ausfindig zu machen. Ich erklärte ihm, dass die Explosion sein Werk gewesen sei.

»Ich habe eine Idee, wie man ihn aufspüren könnte«, fügte ich hinzu.

Dem Senator gefiel meine Idee, und er versprach, eine besondere Durchsuchungsgenehmigung zu erwirken. Der Weg durch die Instanzen würde einige Stunden in Anspruch nehmen.

Ich wusste, wie ich diese Wartezeit nutzen musste, auch wenn ich mich innerlich dagegen sträubte. Mir blieb nämlich keine andere Wahl, als ein Versprechen zu brechen.

Michael und Tyler warteten am Rand des Einkaufszentrums auf mich. Jenseits der Glastüren waren Marshals postiert, die Neuankömmlinge am Betreten der Mall hinderten. Wir blieben in der Nähe des Ausgangs stehen. Jetzt erst fiel mir auf, wie ramponiert wir alle aussahen.

»Wie lief’s bei euch?«, fragte ich.

Michael zuckte mit den Schultern. »Viel konnten wir ihnen nicht erzählen.«

»Das war eine Riesenexplosion!« Tyler hob die Arme und breitete sie weit aus, um die Größe des Feuerballs anzudeuten.

Ich konnte nicht anders, als ihn fest an mich zu drücken. »He, du brichst mir die Nase!«, beschwerte er sich mit halb erstickter Stimme.

Er kam mit der Geschichte besser zurecht, als ich erwartet hatte. Vielleicht hatte ihn das Leben auf der Straße tatsächlich abgehärtet. Ich ließ ihn los und wandte mich Michael zu.

»Könntest du Tyler heimbringen und ihm beim Waschen und Umziehen helfen?«

Michael hielt den Kopf schräg. »Und wohin gehst du?«

Ich ließ meine Blicke umherschweifen und entdeckte die Toiletten. »Ich will mich dort drinnen ein wenig frisch machen. Danach habe ich noch etwas zu erledigen.«

Michael warf mir einen besorgten Blick zu. Schließlich erwiderte er: »Komm, Tyler, gehen wir! Sie wird in ein paar Stunden nachkommen.«

Ich trat einen Schritt vor und schloss beide in meine Arme. »Ich weiß nicht, was ich ohne meine Jungs täte!«

Michael musterte mich. »Schon klar.«

Ich drückte Tyler einen Kuss auf die Wange, löste mich von ihm und nickte Michael zum Abschied zu. Ich war ihm so dankbar, dass er auf meinen Bruder aufpasste.

Als sie gegangen waren, holte ich mit einem Seufzer mein Handy aus der Tasche und starrte die Liste von Zings an, die mir Blake geschickt hatte.

Auf der Fahrt zu Blake verschwamm mir ohne Vorwarnung alles vor den Augen. Es geschah nicht das erste Mal, dass mich dieses merkwürdige Gefühl überfiel, und ich steuerte zum Straßenrand, weil ich wusste, was nun kam.

Ich durchlebte, wohl als Nachwirkung des Körpertausches, eine Erinnerung von Helena, als sei es meine eigene.

Sie spielte sich in meinen Gedanken genauso ab, wie es eine eigene Erinnerung getan hätte. Ich konnte sehen, was geschah, und fühlen, was Helena fühlte:

Ich betrete die Räumlichkeiten von Prime zum ersten Mal. Alle empfangen mich mit einem Lächeln, die Dame am Empfang, Mister Tinnenbaum und dann der Old Man. Helenas Gedanken verschmelzen mit meinen, aber es ist nicht so, als hörte ich ihre Stimme, nein, ich empfinde tatsächlich, was sie empfindet. Die Empörung, dass mir diese Leute Emma weggenommen, sie mir gestohlen und mit Laser und Skalpell verändert haben. Sie tragen die Schuld daran, dass Emma nun fort ist. Vermisst. Spurlos verschwunden. Sehr wahrscheinlich tot.

Wie die meisten Erinnerungen flackerte auch diese hier nur kurz auf und war dann vorbei. Aber sie durchlief mich wie eine Woge starker Emotionen, und die Trauer ließ mich fast während der gesamten Fahrt nicht mehr los. Warum geschah das? Und war ich die einzige Spenderin, die unter diesen seltsamen Nachwehen unseres Geist-Körper-Tausches litt?

Ich wählte einen Park in der Nähe des Treffpunkts, an dem ich später den Stabschef des Senators treffen würde, sobald er die Durchsuchungsgenehmigung hatte. Blake saß wartend auf einem der Picknicktische. Unvermittelt blieb ich stehen.

Der Anblick erinnerte mich an unsere Begegnung in einem anderen Park. Nur steckte damals in Wahrheit der Old Man in Blakes Körper. Warum hatte ich diesen Ort ausgewählt? Nun, dafür sprachen gleich mehrere Dinge: Er befand sich in der Nähe, und nach der Bombenexplosion im Einkaufszentrum kam mir ein Treffen im Freien sicherer vor. Außerdem gab es hier zum Schutz der Besucher einen privaten Wachdienst. Das klang alles sehr logisch und vernünftig, oder? Dennoch fragte ich mich, ob es noch andere Gründe gab, weshalb ich wieder einen Park gewählt hatte.

Ich ging weiter, ohne Blake aus den Augen zu lassen. Er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und hielt die Hände verschränkt, genau wie ich es in Erinnerung hatte. Aber das hier war nicht die gleiche Person wie damals. Das hier war der echte Blake, der Junge, dem sie eingeredet hatten, er sei schwer krank gewesen, der Junge, der nichts von der Body Bank wusste und dessen einziger Hinweis auf unsere frühere Bekanntschaft ein Handy-Foto von uns beiden war.

Er streckte einen Arm aus und half mir auf die Tischplatte.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte er.

»Ich habe nicht viel Zeit. Ich warte auf eine Zing.«

Er nickte.

»Aber ich bin gekommen, weil ich dir etwas sagen muss«, fuhr ich fort.

»Und ich wollte dir einige Fragen stellen. Du weißt alles über uns. Ich dagegen habe keinerlei Ahnung.«

»Das ist jetzt nicht wichtig.«

»Für mich ist es wichtig.« Er holte sein Handy hervor. »Diese Aufnahme …«

Wir starrten das Foto an, das uns beide eng umschlungen und vor Glück strahlend zeigte. Das Foto, das eine Lüge war. Das Foto, das nicht Blake zeigte, sondern denjenigen, der von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Den Old Man.

Der Anblick verursachte mir Frösteln.

»Wie ist sie entstanden?«, fragte er. »Ich meine, was haben wir damals unternommen?«

»Einen Reitausflug.«

»Auf der Ranch meines Großvaters?«

»Ja.« Ich hasste es, an jenen Tag zurückzudenken, der so trügerisch zauberhaft gewesen war.

Er lächelte. »Sieht so aus, als hätten wir uns wunderbar verstanden.«

»Genau so war es.«

Unsere Blicke trafen sich. »Und sonst? Was haben wir … sonst noch gemacht?«

»Wir besuchten das Musikcenter … ein Drive-in-Restaurant … genossen den Sonnenuntergang.«

Ich ließ die Einzelheiten weg, die ich vor meinem inneren Auge sah. Wie wir Seite an Seite im Sattel saßen und die Pferde mit den Hufen scharrten, während die Sonne langsam hinter den Bergen versank. Wie er mir die gefleckte Orchidee überreichte, die erste Blume, die mir ein Junge je geschenkt hatte. Es waren Erinnerungen, die schmerzten. Nicht weil sie der Vergangenheit angehörten, sondern weil sie nie wirklich existiert hatten. Zumindest nicht mit ihm.

»Nein, ich meine, war sonst … nichts zwischen uns?« Er spannte die Nackenmuskeln an, als sei ihm der Kragen zu eng.

»Wir haben uns nur einen Kuss gegeben.«

Damals war es mehr als »nur« ein Kuss für mich gewesen. Aber das musste er nicht unbedingt erfahren.

»Schade, dass ich mich daran nicht erinnern kann.«

»Ja, schade.«

Er zögerte einen Moment, als überlegte er, ob meine Antwort ernst gemeint war. Dann beugte er sich vor, unsicher, abwägend.

Ich neigte mich ihm entgegen, bis sich unsere Gesichter fast berührten. Er roch wunderbar nach Wald und frisch gemähtem Gras, genau wie damals.

Wir küssten uns. Es war …

… anders.

Anfangs fühlte es sich richtig an. Seine weichen Lippen, der Duft seiner Haut. Aber der elektrisierende Funke, den ich beim ersten Mal gespürt hatte, sprang nicht über. Es gab ihn nur in meinen Erinnerungen. Ich versuchte es noch einmal. Vielleicht lag es ja an mir. Vielleicht war ich heute nicht einfühlsam genug. Vielleicht war ich nervös.

Entspann dich. Lass los.

Aber es ging nicht. Ich löste mich von ihm.

Nein.

Es war nicht wie damals.

Blake löste sich ebenfalls. Sein Blick wanderte in die Ferne. Er stellte keine Fragen. Wir saßen nebeneinander, ohne uns zu berühren. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Immer noch keine Nachricht.

»Du hast es eilig, von hier wegzukommen, nicht wahr?«

»Das nicht.« Ich legte das Handy weg. »Aber es geht um eine echt dringende Angelegenheit.«

»Verstehe. Du wolltest mir etwas Wichtiges sagen?«

»Ja. Du schwebst in großer Gefahr. Genau wie ich.«

»Was?«

»Du hast von dieser Bombendetonation im Einkaufszentrum gehört?«

»Eine Bombe? Bisher war von einer Explosion unbekannter Ursache die Rede.«

»Es war eine Bombe. Und ich hätte das Opfer sein können.«

Er schüttelte den Kopf. Ich würde meine liebe Mühe haben, ihn zu überzeugen.

»Ich gab deinem Großvater das Versprechen, dir nichts zu erzählen«, begann ich. »Er versuchte dich zu schützen. Aber nun musst du die Wahrheit erfahren. Erinnerst du dich noch an dieses Bürogebäude in Beverly Hills? Den Sitz von Prime Destinations? Wir begegneten uns dort, als es abgerissen wurde.«

Er nickte.

»Man hatte dich entführt und dorthin gebracht. In dein Gehirn wurde ein Chip implantiert, mit dessen Hilfe der Boss von Prime deinen Körper kontrollierte. Deshalb hast du keine Erinnerung an jenes Foto. Weil damals ein Fremder in dir steckte. Der Old Man.«

Er blickte mich lange an. »Das … verstehe ich nicht.«

»Dein Geist befand sich währenddessen in einer Art Tiefschlaf.« Ich winkte ab. »Es würde zu weit führen, das jetzt in allen Einzelheiten zu erklären. Wichtig ist nur, dass du dich unbedingt von diesem Old Man fernhältst. Er trägt eine elektronische Maske und spricht mit verzerrter Stimme. Er hatte den Plan gefasst, Tausende von Starters als dauerhafte Körperspender zu missbrauchen – sodass sie nie mehr aus ihrem Tiefschlaf erwachen würden. Aber es gelang uns, das zu verhindern.«

Er schüttelte den Kopf und lächelte, doch ich erwiderte das Lächeln nicht. »Das ist verrückt«, sagte er dann.

»Mir ist klar, dass es verrückt klingt. Doch ich weiß, wovon ich spreche. Ich trage selbst so einen Chip.« Ich machte eine Pause. »Frag deinen Großvater. Aber tu mir den Gefallen und verrate nicht, von wem du das alles erfahren hast.«

Er rieb sich die Stirn. Ich hatte ihm eine Menge Stoff zum Nachdenken geliefert. Mein Handy kündigte eine Zing aus dem Büro von Senator Bohn an.

»Ich muss los«, sagte ich.

»Jetzt schon?«

»Tut mir leid. Aber wir müssen ihn stoppen.«

Ich ließ ihn nur ungern mit all den beunruhigenden Neuigkeiten allein zurück. Aber die anderen warteten auf mich.

»Sprich zuallererst mit deinem Großvater!«, riet ich ihm.

Als ich ging, zog mir ein heftiger Schmerz die Brust zusammen. Ich musste es mir eingestehen – Blake fehlte mir.

Aber nicht dieser Blake.

Und was das bedeutete … nein, ich mochte nicht darüber nachdenken. Es war zu entsetzlich. Ich musste ihn aus meinen Gedanken verbannen und mich darauf konzentrieren, seinem Tun ein Ende zu bereiten.

Ich saß mit Lauren, die mein gesetzlicher Vormund war, und dem Stabschef des Senators auf der Rückbank der Limousine. Vor der Bombenexplosion hatte Senator Bohn im Kongress einen Untersuchungsausschuss gegen Prime Destinations geleitet, der bis jetzt allerdings kaum Erfolge vorweisen konnte. Die beschlagnahmten Computer gaben nichts her, da Prime rechtzeitig alle Daten offenbar unwiederbringlich gelöscht hatte, und die Fahndung geriet von einer Sackgasse in die nächste.

Aber die Bombe hatte der Suche nach dem Old Man neuen Druck verliehen. Mit der Sondergenehmigung in Händen waren wir zu der einzigen Einrichtung unterwegs, die unseres Wissens nach Geschäfte mit ihm gemacht hatte. Der Haken an der Sache war, dass wir in der Eile nur die Erlaubnis zu einer Inspektion erhalten hatten. Damit konnten wir lediglich Einsicht in ihre Akten und Computer nehmen, aber nichts kopieren.

»Die Sache mit Reece macht mir entsetzlich zu schaffen«, sagte Lauren. »Ich fühle mich verantwortlich für ihren Tod.«

»Dich trifft keine Schuld«, sagte ich. »Reece schloss einen Spendervertrag ab, bevor du deine Wahl trafst.« Doch auch mich quälte die Frage, warum sich der Old Man ausgerechnet für Reece entschieden hatte. War es Zufall, dass er den Spenderkörper der Frau geopfert hatte, die mir als gesetzlicher Vormund zur Seite stand? Ich bezweifelte es, aber ich schwieg, um Lauren nicht noch mehr zu belasten.

»Deinen Worten nach hat sie sich äußerst merkwürdig verhalten?« Lauren sah mich fragend an.

»Ich glaube, sie war irgendwie fremdgesteuert. Aber wer immer in ihrem Körper steckte, machte seinen Job nicht sonderlich geschickt. Ihre Mimik wirkte starr, und sie bewegte sich ruckartig. Unnatürlich.«

Lauren murmelte etwas.

»Was?«, machte ich.

»Sonderbar.«


Ende der Leseprobe