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Titel

Über dieses Buch

Weihnachten 2004. In Indonesien verwüstet ein Tsunami die gesamte Küstenregion. Nica überlebt die Katastrophe im Gegensatz zu ihrem Vater. Eine indonesische Familie kümmert sich um sie und hilft ihr dabei, ihre Mutter wiederzufinden. Nica gewinnt durch dieses Erlebnis ein zweites Paar Eltern – und nennt sie fortan auch Bapak und Ibu, Papa und Mama. Ihre Kinder Kali und Riani werden für Nica zu Bruder und Schwester, die Familien halten Kontakt.

Als Bapak und Ibu Jahre später mit Kali nach Deutschland übersiedeln, ist die Freude groß. Doch es gibt eine Frage, die Bapak und Ibu nicht dulden, die Nica aber immer mehr umtreibt.

»Das Schicksal des Menschen
ist der Mensch.«

Bertolt Brecht

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

»Thea hat ’ne Dauerwelle, die sich dauernd wellt.

Thea hasst die dauernde Welle, sie hätt das Haar lieber glatt.

Doch ihr Freund liebt die Welle, er hat Theas Jammern satt ...«

Gähnend schaut Nica auf die Uhr über der Eingangstür der Aula, wo der große Zeiger offenbar ebenfalls aus Langeweile kurz vor dem Einschlafen steht. Noch zwanzig Minuten bis zur Pause.

Vorne auf der Bühne zeigt Lukas das, was er für den besten Poetry-Slam-Beitrag ever hält. Dabei ist er einfach nur grottenschlecht, so wie die Mehrheit der Möchtegern-Dichter, die sich heute dem Publikum gestellt haben, um die Schulmeisterschaft zu gewinnen.

»Alles Kacke!«, murmelt Nica und muss schon wieder gähnen.

»Das ist nicht fair. Nur weil du nicht mitmachst, sind doch nicht alle anderen Idioten!«, schimpft Emma, die zwar Nicas beste Freundin und meistens ihrer Meinung, allerdings seit Kurzem auch in Lukas verliebt ist und daher seinen Beitrag begeistert beklatscht. »Das Thema ist wirklich Kacke! Wellen! Was soll man da denn schreiben? Aber was über Dauerwellen zu machen ist doch witzig!«

»Wenn man’s kann«, murmelt Nica. Ein echter Slammer kann aus jedem Thema was machen, leider ist Lukas zwar ein netter Typ, aber kein guter Slammer. Und daran änderte auch die Verliebtheit ihrer besten Freundin nichts.

In den letzten beiden Jahren hat Nica den Wettbewerb gewonnen, durfte ihre Schule bei der Stadtausscheidung vertreten, die sie auch souverän gewonnen hat. Diesmal hat sie ihre Teilnahme zurückgezogen. Das Thema in diesem Jahr lautet: »Wellen«. Wasserwellen, Dauerwellen, Hitzewellen, Hauptsache Wellen.

Aber beim Gedanken an Wellen wird ihr übel. Sie hasst Wellen.

Der große Zeiger der Uhr wandert im Zeitlupentempo weiter. Noch zwei Teilnehmer, dann ist es endlich vorbei. Für heute. Es haben sich so viele Schüler angemeldet, dass der Poetry-Slam-Wettbewerb über drei Tage geht. Morgen treten die besten acht erneut gegeneinander an mit einem anderen Gedicht zum selben Thema. Den Schulsieger machen dann in der Endausscheidung am Freitagabend in der alten Brauerei die besten vier untereinander aus.

Und für jeden Termin besteht Anwesenheitspflicht. »Es ist eine Schulveranstaltung!«, hat Herr Kreuzer extra betont. Nica lehnt sich seufzend zurück, holt ihr Handy heraus und loggt sich bei Facebook ein.

»Und nun kommen wir zum allerletzten Beitrag für heute. Kali aus der 9a.«

Begeistertes Kreischen vor allem bei den Mädchen. »Kali! Kali!« Sie sind verrückt nach Kali. Kali mit seinen schwarzen geheimnisvollen Augen und dem frechen Lachen im Gesicht.

Mit klopfendem Herzen schaut Nica zur Bühne, wo Kali das Mikrofon zurechtrückt. Was will er dort? Kali hatte bei der Bekanntgabe des Themas genau wie sie nur das Gesicht verzogen und abgewinkt. Mit Wellen will auch er nichts mehr zu tun haben. Nica hat keine Ahnung, warum er nun auf einmal seine Meinung geändert hat. Sie weiß nur, dass vor zwei Wochen etwas geschehen ist, dass nicht nur Kalis Meinung, sondern den ganzen Kali verändert hat.

Kali räuspert sich und fragt mit einem Grinsen auf gewohnt lockere Weise ins Publikum: »Hey, Leute! Was geht?«

»Nichts geht! Alles geht!«, schreit der ganze Saal begeistert.

Kali räuspert sich wieder.

Nica spürt, wie nervös er ist.

»Die Welle. Teil 1

Du stehst am Strand und schaust aufs Meer,

Fürchte dich nicht vor der Welle!

Das Meer ist blau

Die Gischt leicht grau.

Fürchte dich nicht vor der Welle!«

Kalis Stimme tönt durch die Aula. Alle schauen erwartungsvoll zu ihm hoch. Nur Nica, die schon bei den ersten Worten zusammengezuckt ist, starrt ungläubig nach vorne. Je länger Kali spricht, desto bleicher wird sie.

»Und dann kommt die Welle und du fürchtest dich nicht.

Alles ruft und rennt und schreit und schreit und ... stolpert,

rennt weiter und ruft und schreit und schreit und ... stürzt.

Die Welle kommt, aber du fürchtest dich nicht.

Du sitzt auf dem Baum und schaust hinunter.

Fürchte dich nicht vor der Welle!

Du sitzt auf dem Baum ganz munter

Darunter

Das schlammig-graue gurgelnde menschenmordende Meer.

Von unten fliegt stinkende Gischt daher.

Von oben kotzt der dicke Mann, der arme Tropf,

das Frühstücksrührei auf deinen Kopf.

Fürchte dich nicht vor der Welle!

Der Tropf schreit auf und schreit und schreit

Und ... stürzt ... mit dem Kopf voran ins Meer,

das ihn hungrig verspeist.

Du aber sitzt auf dem Baum, schaust aufs Meer und fürchtest dich nicht vor der Welle.

Du stehst am Strand und schaust aufs Meer.

Das Wasser ist satt ... blau,

der Himmel tränenleer.

Zu deinen Füßen schlafen die Toten

zwischen Laken und Brettern von gewesenen Fischerbooten.

Ihre Schreie sind für immer verstummt,

Tränen und Blut in der Sonne verklumpt.

Du schaust aufs Meer.

Keine Welle in Sicht!

Fürchte dich nicht!

Doch du traust dem Frieden nicht ... mehr.

Und du rufst und du schreist und schreist und rennst und ... stürzt ...

Und fällst und fällst ...

Die Welle aus Furcht und Grauen

lässt dich nie wieder aus ihren Klauen.

Sie packt dich und drückt dich und drückt und drückt,

zerdrückt dich.

Das Meer aber ist ruhig, keine Welle in Sicht.«

Für einen Augenblick ist es ganz still, ungewöhnlich still für einen Poetry-Slam.

»Boah, ey! Man konnte die Welle direkt sehen«, flüstert Emma. »Er sieht nicht nur unverschämt gut aus, er kann auch noch dichten.«

Nica beachtet sie nicht. Sie hat nur Augen für Kali, der da vorne steht und sich verbeugt. Sie kann es nicht fassen, dass er soeben den Albtraum ihres Lebens in ein Gedicht gepresst hat.

Endlich fängt das Publikum an zu klatschen und zu rufen. »Kali! Kali!« Alle sind begeistert.

Wie konnte er nur? Er musste wissen, dass seine Worte alles wieder hochspülen, was sie gerade erst vergraben hat.

Oder wollte er genau das?

Die Erinnerung wieder zum Leben erwecken?

Aber warum?

Während Kali unter dem Jubel der Zuhörer die Bühne verlässt und Olaf aus der 10b ans Mikrofon kommt, schleicht sich Nica aus der Aula.

Sie setzt sich auf eine Bank auf dem Schulhof, die Tränen laufen ihr über das Gesicht, während in ihrem Kopf der Film mit den Bildern von damals abläuft …

* * *

Weihnachten 2004. Ihre Eltern hatten beschlossen, vor dem Weihnachtsrummel zu flüchten und nahmen ihren Jahresurlaub nicht wie sonst im Sommer, sondern über Weihnachten. Ziel: Banda Aceh an der Nordküste von Sumatra.

Nica war sechs und gar nicht begeistert von der Idee. Sie liebte den Weihnachtsrummel mit Tannenbaum und Kerzen, die Lichterketten in den Einkaufsstraßen, sie wollte Kekse backen und wartete sehnsüchtig auf den ersten Schnee.

Aber mit sechs Jahren hielt sich ihr Mitspracherecht in Grenzen und so landete die Familie fünf Tage vor Weihnachten am Strand von Ulee Lheue. Ein Bungalow in einer Luxushotelanlage, unweit vom blauen Meer.

Statt Schnee gab es massenhaft weißen, weichen Sand, statt Lichterketten aus künstlichen Eiskristallen Sonnenuntergänge am Strand. Sand- und Wasserspiele ohne Ende. Nica hatte bald Freunde gefunden, mit denen sie jeden Tag neue Wasserschlösser bauen konnte. Ihr Vater erfüllte sich einen Jugendtraum und machte einen Tauchkurs. Ihre Mutter genoss das ungestörte Lesen im Liegestuhl.

»Das machen wir ab jetzt jedes Jahr!«, schwärmte der Vater und die Mutter stimmte begeistert zu. Auch Nica hatte in diesem Moment nichts dagegen. Tannenbaum und Lichterketten waren weit weg.

Einmal fuhren sie nach Banda Aceh, der Provinzhauptstadt, um sich in der Stadt umzusehen. Sie bummelten durch die Straßen und besichtigten die große Moschee mit den fünf schwarzen Kuppeln und den vier weißen Minaretten. Aber eigentlich interessierten sich weder der Vater noch die Mutter für das Land und seine Menschen. Sie waren hierhergekommen, um die Sonne, das Meer und den Strand zu genießen.

Sieben Tage lang war der Strand von Ulee Lheue ihr Paradies. Abends erzählte der Vater begeistert von der bunten Unterwasserwelt, in der sich Fahnenbarsche, Falterfische, Geistermuränen, Schildkröten und vor allem Clownfische in allen Farben tummelten. Wie gern wäre sie mit ihm getaucht, hätte die Clownfische aus ihrem Lieblingsfilm »Findet Nemo« persönlich kennengelernt. Der Vater versprach, Nica das Tauchen beizubringen, sobald sie zehn Jahre alt wäre.

Dazu aber sollte es nicht mehr kommen.

Am 2. Weihnachtstag wurde aus dem Paradies die Hölle. Der Tag begann wie alle Tage mit einem Frühstück auf der Hotelterrasse. Eigentlich wollten die Eltern an dem Tag einen Ausflug ins Hinterland machen, Nica aber hatte sich mit ihren neuen Freunden zum Wasserschlossbauen verabredet. Sie bettelte so lange, bis der Ausflug auf den nächsten Tag verschoben wurde, was Nica sich bis heute nicht verzeihen kann. Wären sie doch nur gefahren!

Zusammen mit ihrer Mutter begleitete sie den Vater zum Hafen, wo das Fischerboot wartete, mit dem er wie an den Tagen zuvor mit fünf anderen Touristen zum Tauchen fuhr. Nica winkte ihm nach. »Bis heute Abend!«, rief er und warf ihr einen Kuss zu.

Das war das Letzte, was sie von ihm sah.

Am Strand hatten Swea und Peer, Nicas neue Freunde, bereits mit der Burganlage begonnen. Nica wurde mit ihrem Eimer zum Wasserholen geschickt. Aber das Meer war nicht da. Sie sah sich suchend um.

»Das Meer zieht sich zurück«, sagte ein Mann neben ihr. »Merkwürdig. Hab ich hier noch nie gesehen.«

Nica brauchte Wasser und machte sich auf die Suche nach dem Meer. Sie war schon ein ganzes Stück gegangen, als ihre Mutter angelaufen kam, sie am Arm packte und schrie: »Lauf, Nica. Die Welle kommt!«

Sie zerrte Nica fort, und sie rannten und rannten.

»Schneller, Nica! Schneller! Die Welle kommt!«

Nica rannte, obwohl sie nicht so genau wusste, warum. Sie liebte die kleinen Wellen und kreischte immer vor Vergnügen, wenn sie von ihnen umgestoßen wurde. »Unsere Tochter ist mit Schwimmflossen geboren«, hatte der Vater immer gesagt.

Neben ihnen rannten andere Menschen, vorbei an verlassenen Sandburgen und einsamen Strandliegen. Einige Touristen hatten den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Sie liefen zum Meer, um die Welle zu fotografieren. Ein junger Mann rief seiner Freundin zu: »Wie geil ist das denn!« Hand in Hand rannten sie auf die Welle zu. Sie starben wie die anderen auch, weil sie in die falsche Richtung liefen.

Die meisten aber rannten landeinwärts um ihr Leben, kletterten auf Hügel, auf Gebäude oder in Bäume.

»Schneller, Nica! Schneller!«