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Die Autorin

EVELYN STEINTHALER

Geb. 1971 in Klagenfurt. Lebt und arbeitet in Wien. Autorin, Herausgeberin. Neben Texten in div. Anthologien veröffentlichte sie zuletzt das Hörbuch Nicht nur in Worten, auch in der Tat (supposé, 2012) und die Richard-Tauber-Biografie Morgen muß ich fort von hier (Milena, 2011). Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis für Frauen 1938 (Milena, 2008).

Evelyn
Steinthaler

WIEN
1945

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Für die vielgestaltige Anteilnahme und intensive Unterstützung gilt mein Dank Vanessa Wieser, Manuela Hofer, Metka Wakounig, Ines Doujak und besonders Lisa Rettl.

INHALT

Vorwort

Die Alliierten und ihre Verwaltung

Befreiung

Belastete Kunst

Bombardierungen

Bricha

Das erste Fußballländerspiel in Wien

Floridsdorf, 8. April 1945

Fraternisierungsverbot

»Wir konnten nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört hatten.« Erinnerungen von Rudolf Gelbard

Gemeinschaftsarbeit

Hakoah

Identifikationskarte

Internationales Komitee

Israelitische Kultusgemeinde

Joint

Die ersten Kinderverschickungen

Kriegsgefangene

Erste Kriegsverbrecherprozesse

KZ-Heimkehrer und Flüchtlinge in Wien

Landesgericht

»Die Rückkehr.« Erinnerungen von Elisabeth Markstein

Das Massaker in der Förstergasse

Mauthausen-Außenlager Wien

Hotel Métropole

Militärschießplatz Kagran

Moskauer Deklaration

Nationalratswahl 1945

»Es war eine Wiedergeburt.« Erinnerungen von Vilma Neuwirth

O5

Provisorische Regierung/Regierungserklärung

Radio Wien, Sender Rot-Weiß-Rot, die ersten Tageszeitungen

Reichsbrücke

Riesenrad

Rothschild-Spital

Russendenkmal

»Wir waren einfach nur froh, dass es vorbei war.« Erinnerungen von Katharina Sasso

Schleichhandel

Stephansdom und Innere Stadt

Straßenumbenennungen

Trümmerfrauen

UNRRA

Die Vier im Jeep

Volkssolidarität

Volkssturm

»Weder vergessen noch verzeihen.« Erinnerungen von Richard Wadani

Währungsumstellung

Weihnachtsansprache 1945

Literatur

Markierung einer Wende

1944

1945

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Ernst Jandl

VORWORT

Über die letzten Kriegstage und die Zeit der Besetzung durch die Alliierten wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Bücher veröffentlicht. Meist wurde dabei der Blick auf die großen politischen Zusammenhänge gelenkt. Für mich haben sich bei der Lektüre Fragen gestellt, die den Alltag in Wien im Jahr 1945 betreffen. Auch in Gesprächen, die ich über die Jahre mit Zeitzeugen für andere Projekte führen durfte, nahm dieses Jahr immer eine ganz besondere Rolle ein.

Dieser Reader verortet das Jahr 1945 im heutigen Wien: im Koordinatensystem der Stadt zwischen Russendenkmal beim Hochstrahlbrunnen und der Stiftskaserne, zwischen Resselpark und Reichsbrücke, zwischen dem Floridsdorfer Spitz und der Villa Blaimschein in Hietzing.

Kaum jemand weiß noch, dass Wien zu Kriegsende eine wichtige Drehscheibe für Flüchtlinge aus dem Osten war, oder dass die Reichsbrücke die einzige Donaubrücke war, die nicht von der SS gesprengt wurde. Vielleicht ist so manchen der älteren Generationen noch bewusst, dass das damalige Radio Wien unter der Regie der Sowjets im Funkhaus in der Argentinierstraße produziert wurde. Wo aber wurden in Wien die Sendungen des amerikanischen Senders Rot-Weiß-Rot produziert? Und wo begann jüdisches Leben in der Stadt kurz nach dem Krieg wieder Fuß zu fassen? Diesen und vielen anderen Fragen geht dieses Buch in kompakten Texten nach. Es unternimmt den Versuch, ein Jahr greifbar zu machen, das im Krieg begann und im Frieden endete.

In diesem Reader sind neben historischen Tatsachen auch Erinnerungen von Zeitzeugen zu finden: Auszüge aus Elisabeth Marksteins Buch »Moskau ist viel schöner als Paris«, und Interviews mit weiteren Zeitzeugen:

Vilma Neuwirth, die laut Nürnberger Rassegesetze als »Mischling 1. Grades« die NS-Zeit in Wien dank der Courage ihrer Mutter in Wien überstand und die Befreiung in der Leopoldstadt erlebte.

Käthe Sasso, die als Jugendliche im kommunistischen Widerstand organisiert war, lange Zeit im Landesgericht einsaß und Ende Mai 1945 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück zu Fuß nach Wien zurückkam.

Rudolf Gelbard, der 1942 aus »rassischen Gründen« ins KZ Theresienstadt deportiert wurde und 1945 mit seinen Eltern auf einem Lastwagen nach Wien zurückkam.

Richard Wadani, der 1944 desertierte und 1945 als Angehöriger der britischen Armee nach Wien zurückkam.

Ohne ihre Bereitschaft, über das erlebte Grauen in den letzten Monaten des Krieges und über die Hoffnungen und Schwierigkeiten nach Kriegsende im zerstörten Wien zu sprechen, gäbe es dieses Buch nicht. Es sei ihnen im Dank gewidmet.

Evelyn Steinthaler, Wien 2015

DIE ALLIIERTEN UND IHRE VERWALTUNG

Sie waren die Befreier nach sieben Jahren NS-Diktatur und wurden doch von der Bevölkerung als Besetzer gesehen: die alliierten Streitkräfte der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion und Frankreichs.

Die jahrelange NS-Propaganda wirkte bei vielen auch nach dem Ende Hitlerdeutschlands und der Aufdeckung der Verbrechen weiter: Die Alliierten, allen voran die Sowjets, trugen für viele Österreicher die eigentliche Kriegsschuld. Nicht Hitler, nicht die Nationalsozialisten waren schuld, sondern diejenigen, die Österreich befreiten.

Nachdem die Sowjets Wien in den ersten Monaten nach der Befreiung allein verwaltet hatten, wurde die Stadt ab 1. September 1945 von den vier alliierten Siegermächten in ihre Verwaltungszonen aufgeteilt.

In den ersten Tagen Wiens als geteilte Stadt folgten erste Lebensmittellieferungen der Westalliierten, die Sowjets hatten bereits mit der sogenannten »Maispende« mit der Lebensmittelversorgung begonnen. 9.500 Tonnen Getreide, 800 Tonnen Mehl, 300 Tonnen Fleisch, 200 Tonnen Zucker, 200 Tonnen Fett und Hülsenfrüchte, darunter alleine 1.000 Tonnen Erbsen, wurden »als Geschenk der Roten Armee« zum 1. Mai übergeben. Da die in der Stadt vorhandenen Nahrungsmittel in den Tagen der Befreiung und kurz danach zum großen Teil geplündert wurden, waren die Hilfslieferungen der Alliierten höchst notwendig.

Sowohl für die Westalliierten als auch für die Sowjets war die politische Umerziehung der österreichischen Bevölkerung von großer Bedeutung. Wurden zum Beispiel in Wiener Wohnhäusern aller Zonen Listen mit den Parteizugehörigkeiten der Hausbewohner gefunden, unterbanden die Alliierten diese politische Alltagskontrolle, da sie an die Blockwartmentalität der NS-Zeit erinnerte.

In Tageszeitungen wie Neues Österreich oder der Arbeiter-Zeitung wurde bereits 1945 in Interviews mit den Alliierten wiederholt betont, dass man Österreich beim Aufbau helfen wolle und kein Interesse daran habe, allzu lange im Land zu bleiben. Bereits im Dezember 1945 wurden in den österreichischen Tageszeitungen baldige Truppenreduktionen in Aussicht gestellt.

Die Arbeit der Alliierten umfasste auch die Suche nach Kriegsverbrechern, sowohl auf internationaler als auch auf österreichischer Ebene. Dieser Aufgabe widmeten sich die Nachrichtendienste der Siegermächte, die in Wien bereits in den ersten Nachkriegsmonaten in Stellung gebracht wurden. Völlig offen, ohne jegliche Tarnung agierten sie in Wien. In einer vom österreichischen Innenministerium zitierten CIA-Studie aus dem Jahr 1948 gab es in der Nachkriegszeit in Wien rund 600 US-amerikanische und etwa 2.500 sowjetische Geheimdienstmitarbeiter. Damit wurde Wien schon 1945 zu einer wichtigen Drehscheibe der internationalen Spionage.

Mit 14. Januar 1944 wurde von der Europäischen Beratungskommission in London die Ausarbeitung der notwendigen Instrumente zur Nachkriegsordnung Deutschlands und Österreichs aufgenommen. Dabei wurden die Besatzungszonen Österreichs und auch die politische, wirtschaftliche und administrative Kontrolle durch die Alliierten festgelegt.

Gemäß dem Ersten Alliierten Kontrollabkommen, das am 4. Juli 1945 unterzeichnet wurde, war die Errichtung eines alliierten Verwaltungsapparates vorgesehen, um die Administration Österreichs zu gewährleisten. Hierzu zählte neben dem Alliierten Rat, der sich aus den Militärkommissaren der vier Siegermächte zusammensetzte, ein Exekutivkomitee und eine Abteilung der Alliierten Kommission. Die zentralen Aufgaben des Alliierten Rates bestanden darin, die österreichische Unabhängigkeit von Deutschland zu garantieren, freie Wahlen und den Aufbau einer österreichischen Zentralverwaltung zu fördern und diese vorerst selbst zu übernehmen.

Dabei setzte sich der Alliierte Rat aus den jeweiligen Oberbefehlshabern der Alliierten zusammen, die mit dem Zweiten Alliierten Kontrollabkommen 1946 als Hochkommissare bezeichnet wurden.

Wenige Tage, nachdem das Erste Alliierte Kontrollabkommen unterzeichnet worden war, kam es am 9. Juni 1945 mit dem »Zonenabkommen« zur endgültigen Zonenaufteilung Wiens und Österreichs.

Am 11. September 1945 fand die erste offizielle Sitzung im »Haus der Industrie« am Schwarzenbergplatz (dessen südlicher Teil von 1946 bis 1956 »Stalinplatz« hieß) statt. Bis das Haus der Industrie zum dauerhaften Sitz des Alliierten Rates wurde, fanden die Sitzungen in den jeweiligen Hauptquartieren der Alliierten statt: im Hotel Imperial, dem Hauptquartier der Sowjetunion; im Gebäude der Österreichischen Nationalbank, dem Hauptquartier der USA; im Schloss Schönbrunn, dem Hauptquartier der Briten und im Hotel Kummer auf der Mariahilferstraße, dem vorläufigen Hauptquartier der Franzosen. Bald wurde ein Teil des französischen Hauptquartiers in einer ehemaligen Kadettenschule in Penzing untergebracht. Als Hauptsitz der französischen Kommandantur fungierte danach das Hotel De France am Schottenring.

Die Treffen des Alliierten Rates fanden jeweils am 10., 20. und 30. jeden Monats statt. Monatlich wurde auch der Vorsitz gewechselt. Die USA übernahmen die Leitung in den Monaten Januar, Mai und September; die Briten in den Monaten Februar, Juni und Oktober; die Franzosen im März, Juli und November und die Sowjetunion im April, August und Dezember.

Die sowjetische Zone umfasste ab 1. September 1945: Leopoldstadt, Wieden, Favoriten, Brigittenau, Floridsdorf und die 1938 unter den Nazis eingemeindeten Bezirke Groß-Enzersdorf, Schwechat, Mödling und Klosterneuburg sowie den heutigen 23. Bezirk Liesing.

Die von den Amerikanern verwalteten Bezirke waren: Neubau, Josefstadt, Alsergrund, Hernals, Währing und Döbling.

Die britische Zone erstreckte sich auf die Bezirke: Landstraße, Margareten, Simmering, Meidling und Hietzing.

Die französischen Streitkräfte verwalteten die Bezirke: Mariahilf, Penzing, Rudolfsheim-Fünfhaus und Ottakring.

Der Vorsitz der interalliierten Kommandantur für den 1. Bezirk wechselte monatlich. Sitz der interalliierten Kommandantur war der Justizpalast am Schmerlingplatz.

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Der während der Befreiung Wiens brennende Stephansdom. Sein Wiederaufbau wurde zum Symbol für den gesamten Wiederaufbau Österreichs.

(Aus dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

BEFREIUNG

Am 29. März 1945 nahm die 3. Ukrainische Front unter dem sowjetischen Marschall Fjodor I. Tolbuchin den Südostwall an der ungarischen Reichsgrenze ein und befreite nur wenige Tage später Wien.

Noch am 3. April veröffentlichte NS-Statthalter Baldur von Schirach in der Presse einen Aufruf zum Kampf gegen die Rote Armee unter dem Titel »Die Stunde Wiens ist gekommen«. Wie in Goebbels’ Tagebüchern nachzulesen ist, begab sich Schirach mit Fortschreiten der Kämpfe alsbald unter den Schutz der deutschen Truppen, was Schirach in Berlin, vor allem von Goebbels, großen Spott eintrug. Tags darauf veröffentlichte Tolbuchin einen Aufruf an die Wiener Bevölkerung: »Die Stunde der Befreiung Österreichs vom deutschen Joch ist da. Die Rote Armee kam nach Österreich nicht als Eroberungsarmee, sondern als Befreiungsarmee. Sie steht auf dem Boden der Moskauer Deklaration der verbündeten Mächte vom Oktober 1943 über die Unabhängigkeit Österreichs.«

Die Kämpfe zwischen der SS und der Roten Armee wurden von Aufständen in den ehemals roten Bezirken begleitet. Schon am 6. April, unterstützt von der 2. Ukrainischen Front, die von Bratislava den Weg nach Wien nahm, begannen die Kämpfe um die »zweite Reichshauptstadt«, wie Hitler Wien nannte. Die SS und die in Wien eingesetzte Wehrmacht sollten beim Kampf um Wien, ging es nach dem Diktator, auch vor der völligen Zerstörung der Stadt nicht zurückschrecken. Am 19. März 1945 hatte Hitler seinen Befehl zu »Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet« unterschrieben, der als Hitlers »Nero-Befehl« in die Geschichte einging.

Der Versuch Major Carl Szokolls, Wien mit der »Operation Radetzky« kampflos an die Rote Armee zu übergeben, wurde verraten und so kam es in den folgenden Tagen zu schweren Kämpfen zwischen der SS und der Roten Armee, obwohl das Kräfteverhältnis zwischen Deutschen und Sowjets mit 1:10 beschrieben werden kann. Neben verbissenen SS-Männern und guerillaartig kämpfenden Werwolfverbänden, die einen aussichtslosen Kampf auf Leben und Tod führten, gab es auf deutscher Seite einzelne Soldaten, die nicht länger bereit waren zu kämpfen. Desertionen nahmen in diesen Tagen deutlich zu. Die Rotarmisten kämpften sich von Häuserblock zu Häuserblock durch die Stadt und kennzeichneten die Gebäude jeweils für ihre nachrückenden Kameraden mit den Worten »Kwartal prowiereno«, d.h. »Häuserblock überprüft«.

Am Vormittag des 10. April 1945 hissten Unbekannte an der Südseite des Stephansdoms in 120 Meter Höhe eine weiße Fahne – als Zeichen für die heranrückende sowjetische Hauptarmee, keine Beschießungen mehr vorzunehmen, da die Innere Stadt bereits befreit sei. Die weiße Fahne blieb den Nationalsozialisten nicht verborgen, sie erregte den Unmut des Kommandanten einer SS-Artillerieabteilung, der den Befehl gab, den Turm durch Beschuss zu zerstören. Wehrmachtshauptmann Gerhard Klinkicht gelang es, den Befehl durch einen gezielten Beschuss abzuwenden und den Turm zu retten. Eine Meldung über die weiße Fahne am Stephansdom erreichte auch Propagandaminister Goebbels in Berlin, der erbost niederschrieb: »Der Führer hat die Wiener schon richtig erkannt. Sie stellen ein widerwärtiges Pack dar, aus einer Mischung zwischen Polen, Tschechen, Juden und Deutschen.« Der entscheidende Schritt in der Schlacht um Wien gelang der Roten Armee mit dem Überschreiten des Donaukanals von 11. auf 12. April. Die folgenden Gefechte in der Leopoldstadt und Brigittenau waren nur von kurzer Dauer.

Am 13. April 1945 um 14 Uhr erklärten die Sowjets die Schlacht um Wien für offiziell beendet. 18.000 Rotarmisten hatten bei der Befreiung Wiens ihr Leben verloren. Beigesetzt wurden sie in Wiener Parkanlagen wie etwa dem Wiener Volksgarten. Drei Tage nach der Befreiung Wiens, am 16. April 1945, stand die Rote Armee vor Berlin.

BELASTETE KUNST

»Also ich geh in dieses Konzert. Clemens Krauss hat dirigiert, der durfte noch, die waren doch auch alle dann belastet, aber der durfte noch, Gott sei Dank. Wir sitzen dort, und oben in der Loge da sitzt der kahl geschorene Paul Hörbiger. Plötzlich erkennen ihn die Wiener, stehen auf, bringen ihm eine Ovation. Wir haben alle geheult. Er hat überlebt, der Volksschauspieler, der Girardi unserer Zeit. Und dann kommen die Philharmoniker heraus, genauso wie sie im Keller waren: der eine mit einer Knickerbocker, der andere mit einem Pullover. Zuerst haben die Wiener zu applaudieren angefangen, dann hat das abgeebbt und was Ungeheures ist geschehen: der ganze Saal ist aufgestanden. Ihre Philharmoniker kommen! Wir haben stehend das Fürstenorchester empfangen. Und dann haben sie nichts Geringeres gespielt als die Unvollendete. Ich muß jetzt noch weinen, nur wenn ich’s erzähl’. Es ist kein Auge trocken geblieben.«

Oskar Werner, zitiert nach Sigrid Löffler, »Zum Beispiel Burg und Oper – zwei kulturimperialistische Großmythen«

Diese Erinnerung Oskar Werners kann als symptomatisch für den Umgang mit den belasteten Kulturschaffenden in Österreich verstanden werden: Man bejubelte auch in den ersten Tagen nach der Befreiung jene, die sich in der NS-Zeit politisch arrangiert hatten – zwar keine Parteimitglieder waren, aber dennoch von der gefallenen NS-Elite hoch geschätzt wurden –, wie eben den Dirigenten Clemens Krauss.

Am 27. April 1945, dem Tag der Erklärung der österreichischen Unabhängigkeit, trat Krauss mit den Wiener Philharmonikern im Wiener Konzerthaus vor das begeisterte Publikum. Sowohl Krauss, der Vertraute Goebbels’, als auch das Orchester, das auf eine beeindruckende NSDAP-Parteimitgliederquote von 50 Prozent verweisen konnte, wurden als Helden gefeiert.

Ab 1941 dirigiert Clemens Krauss die Neujahrskonzerte und wurde in den Jahren seines Berufsverbotes von 1945 bis 1947 von dem einzigen politisch unbedenklichen österreichischen Dirigenten Josef Krips ersetzt, der wegen seines jüdischen Vaters in der NS-Zeit mit einem Berufsverbot belegt worden war.

Das Hochhalten Österreichs als Kulturnation wurde 1945 allem anderen vorangestellt. Auch wenn in den Medien darauf Wert gelegt wurde, sich von jenen abzugrenzen, die sich den braunen Machthabern erbötig gezeigt hatten, wurde in der Regel nicht allzu kritisch nachgefragt.

Ein Beispiel hierfür ist sicherlich der im Zitat Oskar Werners erwähnte Paul Hörbiger. Hörbiger hatte in der NS-Zeit seine Filmkarriere weitergeführt und stand auf der Liste von Filmschaffenden, die der »Gottbegnadeten«-Liste (von Hitler und Goebbels) beigefügt wurde. Er war somit vom Arbeits- und Kriegsdienst freigestellt. Hörbiger wurde Ende Januar 1945 wegen politischer Umtriebe von den Nationalsozialisten in Untersuchungshaft genommen und mit der Befreiung Wiens wieder auf freien Fuß gesetzt. Dass er in den Jahren zuvor in den Komödien der UFA und damit für die Propaganda Goebbels’ in überaus nützlichen Filmen Hauptrollen übernommen hatte, daran stieß sich niemand; Hörbiger wurde aufgrund der kurzen Haft als Held gefeiert, als aufrechter Österreicher.

Bemühungen des neuen Österreich, vertriebene Künstler zurückzuholen, gab es nicht. Die Wiener Schauspielerin Elisabeth Bergner (1897–1986), die bereits 1932 nach London geflüchtet war, sagte in späteren Interviews, dass sie auf eine Einladung aus Wien gewartet habe. Als Bruno Kreisky sie Jahrzehnte später zur Rückkehr einlud, war es für die mittlerweile an Krebs erkrankte Bergner zu spät.

Andere Künstler warteten nicht auf eine Einladung, sondern kamen mit den Alliierten zurück, wie etwa der Assistent des in die USA emigrierten Max Reinhardt, Ernst Haeussermann, der als US-amerikanischer Kulturoffizier nach Wien zurückkehrte und seine Karriere in Österreich fortsetzte.

An den großen Theatern der Stadt gab es nur wenig personellen Wechsel in den Monaten vor und nach Kriegsende. Auch hier ging es mehr um Fortschreibung denn um Neuanfang. Paula Wessely, die als belastete Schauspielerin von den US-amerikanischen Alliierten in Wien Auftrittsverbot erhielt, ging 1945 mit ihrem ebenfalls politisch belasteten Ehemann Attila Hörbiger nach Innsbruck in die französische Zone Österreichs. Wessely war dort am Landestheater zu sehen. Schon im Jahr darauf spielte sie wieder in Wien an der Josefstadt.

Raoul Aslan gehörte zu den wenigen Schauspielern, die sich nicht durch Führerhuldigung und Parteimitgliedschaft hervorgetan hatten. Aufgrund seiner, später von den Sowjets bestätigten, antifaschistischen Haltung war es Aslan möglich, am 20. April 1945 die Position des Burgtheaterdirektors zu übernehmen und bis 1948 im Amt zu bleiben. Da das Burgtheater bei der großflächigen Bombardierung vom 12. März 1945 massive Schäden erlitten hatte und darin aus bis heute ungeklärten Gründen im April auch noch ein Brand ausbrach, wurde das Etablissement Ronacher von Aslan als neue Spielstätte auserkoren. Am 30. April 1945 wurde hier der Spielbetrieb mit Grillparzers »Sappho« aufgenommen.

Wenige Wochen später, am 19. Mai 1945, wurde auch das von Bombenschäden verschont gebliebene Akademietheater wiedereröffnet. Auf dem Spielplan für die erste Vorstellung stand Henrik Ibsens »Hedda Gabler«.